Neunzehn

Noch zwei Tage

»Wir sollten tanken«, sagte Jane. »Da vorne kommt eine Lkw-Raststätte. Da gibt es meistens ganz leckere Sachen zu essen.«

»Ja.« Jock betrachtete die hell erleuchtete Tankstelle. »Und sehr guten Kaffee.« Er lächelte. »Seltsam, wie gut ich mich an Kleinigkeiten erinnere und wie schwer es mir fällt, mich an die wichtigen Dinge zu erinnern. Die gehen mir irgendwie durch die Lappen.«

»Wie lange warst du bei Reilly?«

»Schwer zu sagen. Die Tage gingen ineinander über.« Er legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Vielleicht ein Jahr … anderthalb …«

»Das ist eine lange Zeit.« Jane fuhr an die Tankstelle. »Und du warst noch sehr jung.«

»Das fand ich damals überhaupt nicht. Ich hielt mich für alt genug, um alles zu tun, was ich will. Ich hab mir Gott weiß was auf mich eingebildet. Deswegen hatte ich auch kein Problem damit, den Job anzunehmen, den Reilly mir angeboten hat. Die Vorstellung, dass ich eine Situation falsch einschätzen könnte, war mir fremd.« Sein Gesicht verzerrte sich. »Aber Reilly hat mir das Gegenteil bewiesen, stimmt’s?«

»Offenbar ist er ein Meister auf seinem Gebiet.« Jane stieg aus dem Wagen. »Während ich tanke, kannst du reingehen und uns zwei Becher Kaffee holen. Wir haben noch eine lange Fahrt vor uns.«

»Mach den Tank nicht zu voll«, sagte Jock, der ebenfalls ausgestiegen war. »Nimm nur so viel Sprit, wie wir brauchen, um bis zur nächsten größeren Stadt zu kommen.«

»Wie bitte?’«

»Wir müssen diesen Wagen irgendwo stehen lassen und einen anderen mieten. Der Burgherr hat bestimmt längst unser Kennzeichen rausgefunden.«

»Sehr scharfsinnig von dir.«

Er schüttelte den Kopf. »Training. Man fährt nie länger als nötig mit ein und demselben Mietwagen herum.« Er grinste spöttisch. »Das hätte Reilly nicht gefallen, und das bedeutete Strafe.«

»Welche Art von Strafe?«

Er zuckte die Achseln. »Hab ich vergessen.«

»Das glaube ich nicht. Ich habe das Gefühl, dass du dich an viel mehr erinnerst, als du zugibst. Jedes Mal, wenn du keine Lust hast, mir eine Antwort zu geben, hast du das, was ich wissen will, praktischerweise ›vergessen‹.«

Jock schaute sie traurig an. »Tut mir Leid. Ich hab es wirklich vergessen«, wiederholte er. »Ich hole uns den Kaffee.«

Als sie wieder unterwegs waren, sagte Jane: »Ich wollte dir kein schlechtes Gewissen machen. Wahrscheinlich bin ich einfach ein bisschen nervös. Wir rücken ihm immer näher. Bist du sicher, dass du weißt, wo wir Reilly finden?«

»Ganz sicher.« Jock hob seinen Kaffeebecher an die Lippen. »Wir fahren zu dem Haus, wo er mich ausgebildet und konditioniert hat. Er ist absolut davon überzeugt, dass ich meine Konditionierung niemals durchbrechen würde. Er hat das Haus garantiert nicht aufgegeben. Denn damit würde er sich eingestehen, versagt zu haben, und das verkraftet sein Ego nicht.«

»Und was ist, wenn du dich irrst?«

»Es gibt noch ein paar andere Orte, wo ich ihn suchen kann, von denen er nicht weiß, dass ich sie kenne.«

»Und wie hast du die herausbekommen?«

»Ich habe überhaupt nichts herausbekommen. Wer bei Reilly ist, findet nichts heraus. Kim Chan hat mir davon erzählt, während sie mich ausgebildet hat. Sie ist so etwas wie seine rechte Hand.«

»Für welche Art von Ausbildung war diese Frau denn zuständig?«

»Sex. Sex ist eine starke Antriebskraft. Für Reilly war Sex eine von vielen Methoden, vollkommene Kontrolle über uns zu gewinnen. Und Kim war sehr versiert darin, einem beim Sex Schmerzen zuzufügen. Sie hat es genossen.«

»Es wundert mich, dass Reilly einer Frau, die für ihn arbeitet, gestattet, aus dem Nähkästchen zu plaudern.«

»Davon durfte Reilly natürlich nichts erfahren. Womöglich kann sie sich nicht mal daran erinnern, dass sie mir das alles erzählt hat. Sie hat fest darauf vertraut, dass Reillys Konditionierung unumkehrbar ist, deswegen hielt sie es in meiner Gegenwart nicht für nötig, vorsichtig zu sein. Sie ist inzwischen schon seit über zehn Jahren bei ihm.«

»Haben die beiden ein persönliches Verhältnis zueinander?«

»Nur insofern, als sie sich gegenseitig benutzen. Er gesteht ihr eine gewisse Macht zu, dafür tut sie alles, was er von ihr verlangt.«

»Du scheinst dich sehr gut an sie zu erinnern«, sagte Jane trocken.

»Kim mochte es, wenn ich hellwach war und nicht unter Drogen stand, sobald sie an der Reihe war, mich zu bearbeiten.«

»Aber jetzt wirst du es ihr heimzahlen.«

»Ja.«

»Keine Begeisterung? Du hast mir doch gesagt, du hasst Reilly.«

»Ja, ich hasse ihn. Aber daran kann ich jetzt nicht denken.«

»Warum nicht?«

»Es würde mich behindern. Wenn ich an Reilly denke, ist in meinem Kopf kaum noch Platz für was anderes. Ich muss ihn finden und dafür sorgen, dass er dem Burgherrn nichts antun kann.« Er wechselte das Thema. »Laut Karte ist die nächste größere Stadt Salt Lake City. Wenn wir den Wagen am Flughafen abstellen, kann es Tage dauern, bis er gefunden wird. Wir mieten einen anderen Wagen und machen dasselbe in –«

»Du hast ja alles genau geplant«, bemerkte Jane mit sarkastischem Unterton. »Ich komme mir schon vor wie deine Chauffeurin.«

Jock sah sie verunsichert an. »Meinst du, wir sollten es anders machen?«

Sie entspannte ihr Gesicht. »Natürlich machen wir es, wie du sagst. Ich bin nur ein bisschen gereizt. Es ist eine gute Idee. In Salt Lake City wechseln wir das Fahrzeug. Eigentlich bin ich inzwischen ein bisschen optimistischer, was diese ganze Sache angeht, auch wenn es mir immer noch nicht gefällt, dass du mich erpresst hast. Selbst wenn das bei dir fast automatisch geht, hast du in diesen Dingen wesentlich mehr Erfahrung als ich. Es ist, als würden wir Reilly mit seinen eigenen Waffen bekämpfen.«

Jock lächelte. »Ganz genau. Wenn ich mir das vor Augen führe, geht es mir besser.« Er studierte die Landkarte. »Am besten, wir besorgen uns als Nächstes einen Jeep mit Allradantrieb. Im Wetterbericht haben sie eben für den Nordwesten einen Schneesturm angekündigt. In der Gegend, in die wir fahren, werden die Straßen ziemlich unwegsam bei derart schlechtem Wetter.«

Noch ein Tag

»Wie weit noch?« Jane spähte angestrengt durch die Windschutzscheibe. »Ich kann nicht mal mehr die weißen Streifen auf der Straße erkennen.« Der Schnee wirbelte vor ihnen herum wie ein tanzender Derwisch.

»Nicht mehr weit.« Jock warf einen Blick auf die Karte, die er auf dem Schoß ausgebreitet hatte. »Nur noch ein paar Kilometer.«

»Das ist eine ziemlich einsame Gegend hier. Auf den letzten dreißig Kilometern hab ich nicht mal eine Tankstelle gesehen.«

»So hat Reilly es am liebsten. Keine Nachbarn. Keine Fragen.«

»Dasselbe hat Trevor über MacDuff’s Run gesagt.« Sie warf Jock einen kurzen Blick zu. »Der Nachteil ist, dass man in einer so abgeschiedenen Gegend nur schwer Hilfe holen kann. Du hast gesagt, du würdest mir erlauben, die Polizei oder sonst jemanden zu rufen, sobald wir in Reillys Nähe sind. Aber du hast mir nicht gesagt, dass sie sich in einem Schneesturm durch urzeitliches Niemandsland kämpfen müssen, um hierher zu gelangen.«

»Jetzt bist du unfair. Ich konnte doch nicht wissen, dass wir in einen Schneesturm geraten. Aber das ist eigentlich noch gar kein richtiger Schneesturm. Die Böen kommen und gehen. Wart’s ab, wie das erst in ein paar Stunden losgeht.« Er lächelte. »Und so clever Reilly auch sein mag, ich glaube nicht, dass er über die Technologie verfügt, um einen Schneesturm auszulösen. Es ist einfach Pech.«

»Das scheint dich aber nicht weiter zu beunruhigen.« Im schwachen Schein der Armaturenbrettbeleuchtung musterte sie sein Gesicht. Er wirkte angespannt, hellwach und freudig erregt. Es schockierte sie zu sehen, dass seine Augen leuchteten wie die eines kleinen Jungen, der sich auf ein großes Abenteuer freut.

»Warum sollte es mich beunruhigen? Mir macht Schnee nichts aus. Reilly hat mir beigebracht, meine Aufträge bei jedem Wetter zu erledigen. Er hat immer gesagt, niemand rechnet mit einem feindlichen Angriff, wenn er bereits von den Elementen angegriffen wird.«

»Reilly dagegen wird damit rechnen.«

»Vielleicht. Aber er glaubt, wir wären immer noch auf der Burg. Da vorne rechts kommt eine Straße.« Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. »Da biegen wir ab. Noch ungefähr anderthalb Kilometer, dann wirst du die Hütte sehen.«

Sie erstarrte. »Reilly?«

»Nein, nur eine alte Jagdhütte, ziemlich heruntergekommen, aber es gibt einen Propangasofen, da wirst du wenigstens nicht frieren, bis jemand kommt. Es gibt auch einen offenen Kamin, aber mach kein Feuer. Wahrscheinlich würde bei dem Wetter niemand den Rauch sehen, aber geh lieber kein Risiko ein.«

Jetzt konnte sie die Hütte erkennen. Sie war genauso baufällig, wie Jock sie beschrieben hatte. Mit Brettern zugenagelte Fenster, und auf der Veranda fehlten mehrere Bohlen. »Und da willst du mich einfach absetzen?«

»Es ist der sicherste Ort, den ich kenne. Aber nur, wenn du vorsichtig bist.«

Sie hielt vor der Hütte. »Wie weit ist es noch bis zu Reillys Haus?«

Er antwortete nicht.

»Jock, du hast es mir versprochen. Ich muss Trevor sagen können, wo er zu finden ist. Du hast doch deinen Vorsprung. Also gib mir jetzt die Informationen, die ich brauche, verflixt noch mal.«

Er nickte. »Du hast Recht.« Er stieg aus dem Jeep und ging auf die Hütte zu. »Komm rein. Ich muss da drin was holen, und wir haben nicht viel Zeit.« Er grinste. »Schließlich möchte ich meinen Vorsprung nicht verkleinern.«

Die Möblierung der Hütte bestand aus einem wackeligen Tisch, zwei Stühlen, dem Propangasofen, den Jock erwähnt hatte, und einem von Motten halb zerfressenen Schlafsack, der in einer Ecke lag. Jock zündete den Ofen an, dann breitete er eine Landkarte von Idaho auf dem Tisch aus. Er zeigte mit dem Finger auf einen Punkt im Norden des Staates. »Hier sind wir jetzt.« Er zog seine Handschuhe aus und fuhr mit dem Zeigefinger über die Karte bis zu einer Stelle an der Grenze zu Montana. »Da liegt Reillys Hauptquartier. Es war früher mal ein Handelsposten, aber Reilly hat das Gebäude gekauft, umgebaut und um knapp zweihundert Quadratmeter erweitert. Der Anbau ist zum Teil unterirdisch, und in diesem Teil hat er seine Privatwohnung eingerichtet. Er hat ein Schlafzimmer, ein Büro und einen Raum für spezielle Akten. Daneben liegt sein Lieblingsraum, das Antiquitätenzimmer.«

»Antiquitäten?«

»Da stehen Regale mit allen möglichen antiken Kunstwerken aus Herkulaneum und Pompeji drin. Urkunden, antike Dokumente, Bücher. Münzen. Jede Menge antike Münzen.« Er zeigte auf eine andere Stelle auf der Karte. »Durch eine Tür in seinem Büro gelangt man zum Hubschrauberlandeplatz.«

»Wie viele Leute hat er um sich?«

»Meistens nur ein oder zwei Wachmänner. Das Hauptausbildungslager liegt jenseits der Grenze zu Montana. Die Einzigen, die in dem Haus wohnen, sind Reilly, Kim Chan und derjenige von seinen Schülern, für den Reilly sich momentan am meisten interessiert.« Seine Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. »Sein Liebling.«

»Wie du.«

»Wie ich.« Er zeigte auf die Stelle jenseits der Grenze, wo das Lager sich befand. »Aber wenn es ihm gelingt, im Lager anzurufen, dann kommen die Jungs über die Grenze wie ein Schwarm Killerbienen. Sag Trevor, er muss unbedingt verhindern, dass Reilly diesen Anruf macht.«

»Er soll ihn überrumpeln?«

»Es ist schwer, Reilly zu überrumpeln. Überall in den Bäumen um das Haus herum sind Videokameras angebracht, und auf dem Gelände liegen in unregelmäßigen Abständen Landminen. Im Haus gibt es einen Überwachungsraum, von wo aus man die Kameras bedienen und die Landminen zünden kann. Jeder Fremde, der sich dem Haus nähert, wäre leicht auszuschalten.«

»Aber könnte er denn bei einem solchen Schneesturm sehen, wenn jemand kommt?«

»Nicht gut. Aber vielleicht gut genug.«

»Und er hat nur wenige Wachleute?«

»Als ich da war, hatte er manchmal überhaupt keine. Bei den vielen Videokameras braucht er die nicht.« Er trat an eine mit Holz verkleidete Wand, legte die Hände auf zwei Punkte und drückte zu, woraufhin ein Teil der Wand wegklappte und ein Hohlraum sichtbar wurde, in dem sich eine große, rechteckige Holzkiste befand. »So sieht’s aus. Ich wünsche deinen Leuten viel Glück.«

»Sie hätten bestimmt mehr Glück, wenn du warten und sie zu Reilly führen würdest.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe dir alles gegeben, was ich dir versprochen hatte.« Er hob den Deckel der Kiste an. »Komm her.«

Sie trat zu ihm und warf einen Blick in die Kiste. »Mein Gott, das sind ja genug Waffen, um einen Krieg anzufangen.« Die Kiste war gefüllt mit automatischen Gewehren, Handgranaten, Messern, Pistolen …

»Reilly wollte immer, dass ich vorbereitet bin. Solche Waffenlager hat er überall im ganzen Staat versteckt. Dieses hier liegt seinem Hauptquartier am nächsten. Jedes Mal, wenn er mir einen Auftrag erteilt hat, hat er mich zuerst hierher geschickt, damit ich mir eine Waffe aussuche. Ich war mir nicht sicher, ob das Versteck noch da sein würde.« Er lächelte freudlos. »Aber warum hätte er es auflösen sollen, wenn er davon überzeugt ist, dass ich nie wieder in der Lage sein würde, wie ein denkendes menschliches Wesen zu funktionieren? Wahrscheinlich benutzt er es für die Ausbildung seines derzeitigen Lieblings.« Er nahm eine Pistole, ein Gewehr, ein Stück Draht, ein paar Stangen Dynamit und etwas Plastiksprengstoff aus der Kiste. »Weißt du, wie man mit einer Schusswaffe umgeht?« Als sie nickte, reichte er ihr die Pistole und nahm eine zweite für sich aus der Kiste. »Behalt sie immer bei dir. Leg sie keinen Augenblick weg.«

»Keine Sorge.«

Er gab ihr das Handy zurück. »Jetzt bist du auf dich allein gestellt.«

»Du auch. Aber es muss nicht so sein.«

»Doch, das muss es. Weil ich es so will. Und es tut gut zu wissen, dass ich in der Lage bin, eine eigene Entscheidung zu treffen.« Er ging zur Tür. »Wenn du hier bleibst und dich ruhig verhältst, passiert dir nichts.« Als er die Tür öffnete, fegte ein nasskalter Windstoß in die Hütte. Dann war Jock verschwunden.

Um Reilly zur Strecke zu bringen. Er hatte sich einen Vorsprung verschafft und wollte ihn nutzen.

Gott steh ihm bei, dachte Jane.

Sie klappte ihr Handy auf und wählte Trevors Nummer.

»Bleib, wo du bist«, sagte Trevor. »Wir sind in Boise. Wir kommen so schnell wie möglich.«

»Keine Sorge, ich werde mich schon nicht allein irgendwohin auf den Weg machen. Ich würde sowieso nur halb blind durch den Schnee stapfen und auf eine von Reillys Landminen treten oder eine von seinen Kameras aktivieren.« Sie sah hinaus in den fallenden Schnee. Er schien dichter zu werden. »Kannst du nicht Venable anrufen und die CIA oder Homeland Security dazu bringen, dass sie die ganze Gegend hier einkesseln?«

»Erst wenn du in Sicherheit bist.«

»Ich bin in Sicherheit.«

»Von wegen. Du hockst auf Reillys Türschwelle. Außerdem könnten die eh auf die Schnelle keine solche Operation auf die Beine stellen. Erst recht nicht bei den ganzen Konflikten zwischen den verschiedenen Behörden. Die würden am Ende noch Fehler machen und Reilly warnen, so dass er seine Leute aus dem Trainingslager aktiviert, von dem Jock dir erzählt hat. Und wenn Reilly wirklich über so viele Schlupflöcher verfügt, wie Jock behauptet, würde er ihnen womöglich sogar durch die Lappen gehen.« Sie hörte ihn etwas zu jemand anderem sagen. »MacDuff studiert gerade die Landkarte. Sieht so aus, als könnten wir mit dem Auto in einer Stunde bei dir sein. Eine Viertelstunde, wenn wir fliegen. Wir sind unterwegs. MacDuff will einen Hubschrauber organisieren, falls das verdammte Scheißwetter es erlaubt.« Wieder hörte sie Stimmen im Hintergrund. »Mario mietet einen Jeep mit Schneeketten und macht sich sofort auf den Weg. So oder so, wir werden zu dir kommen.« Er legte auf.

Nach dem Gespräch fühlte sie sich schon ein bisschen besser. Sie war nicht ganz allein. Sie konnte Trevor anrufen und seine Stimme hören.

Wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? Sie war in ihrem ganzen Leben noch nie so allein gewesen wie hier in dieser baufälligen Hütte, nur wenige Kilometer von Reillys Unterschlupf entfernt.

Okay, aber sie hatte eine Waffe. Ihre Hand umklammerte den Griff der 357er Magnum.

Sie schob einen Stuhl unter die Türklinke, kauerte sich in die Ecke in der Nähe des Ofens und schlang die Arme um die Knie, um sich zu wärmen. Dieser Propangasofen würde wahrscheinlich verhindern, dass sie erfror, aber gemütliche Wärme verbreitete er nicht.

Also gut, Trevor. Schnappen wir uns den Schweinehund.

 

Jemand war in der Nähe.

Jock blieb stehen und lauschte.

Er hatte von der Hütte aus erst wenige hundert Meter zurückgelegt, als er plötzlich etwas … spürte.

Jetzt konnte er es auch hören. Das Knirschen von Schritten im Schnee.

Wo?

Auf der Straße, von wo er gekommen war.

Wer? Die Wachen waren immer in der Nähe des Hauses postiert, nicht so weit weg. Doch jetzt, da Reilly sich mit Grozak eingelassen hatte, war er womöglich vorsichtiger geworden.

Aber wenn das einer der Wachmänner war, dürfte Jock ihn eigentlich nicht hören. Lautlosigkeit war eins der obersten Gebote bei Reilly. Geräusche verrieten Ungeschicklichkeit, und die duldete Reilly nicht.

Noch ein knirschender Schritt im Schnee.

Die Schritte bewegten sich auf die Hütte zu, wo er Jane zurückgelassen hatte.

Verdammt, dafür hatte er keine Zeit.

Dann musste er sie sich nehmen.

Er wirbelte herum und bewegte sich lautlos durch den Schnee.

Das heftige Schneetreiben behinderte seine Sicht. Erst als er sich bis auf wenige Meter genähert hatte, konnte er etwas erkennen.

Da vorne, ein dunkler Schatten. Groß, sehr groß. Lange Beine …

Die Entfernung einschätzen.

Stille.

Er musste lautlos sein.

 

Wo blieben sie bloß? Es war mindestens eine Stunde her, dass sie Trevor angerufen hatte. Jane warf einen Blick auf ihre Uhr. Eine Stunde und fünfzehn Minuten. Noch kein Grund zur Panik. Die Straßen waren in einem schrecklichen Zustand, und der Schnee war in der letzten halben Stunde immer dichter geworden. Vielleicht war Trevor mit seiner Schätzung zu optimistisch gewesen.

Es klopfte an der Tür. »Jane?«

Sie zuckte zusammen. Die Stimme kannte sie. Gott sei Dank, sie waren da. Sie sprang auf, lief zur Tür und schob den Stuhl zur Seite. »Was hat euch so lange aufgehalten? Ich dachte schon –«

Ein Handkantenschlag traf ihr Handgelenk und ließ die Pistole zu Boden fallen.

»Tut mir Leid, Jane.« In Marios Stimme lag echtes Bedauern. »Ich hätte das lieber nicht getan. Das Leben ist manchmal einfach beschissen.« Er drehte sich zu dem Mann um, der neben ihm stand. »Lieferung wie versprochen, Grozak.«

Grozak. Fassungslos starrte Jane den Mann an. Das war das Gesicht des Mannes, dessen Foto Trevor ihr gezeigt hatte. »Mario?«

Er zuckte die Achseln. »Es war nicht zu vermeiden, Jane. Sie und Ciras Gold scheinen ganz oben auf Grozaks Liste zu stehen, und ich musste –«

»Sparen Sie sich die Erklärungen«, sagte Grozak. »Ich bin nicht hergekommen, damit Sie meine Zeit vergeuden.« Er hob eine Hand und richtete eine Pistole auf Jane. »Raus hier. Wir werden Reilly einen Besuch abstatten. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ungeduldig er Sie erwartet.«

»Sie können mich mal.«

»Ich will Sie lebend, aber ob Sie unversehrt sind, ist mir egal. Entweder Sie kommen mit oder ich zerschieße Ihnen eine Kniescheibe. Für das, was Reilly mit Ihnen vorhat, macht es nichts, wenn Sie ein bisschen beschädigt sind.«

Jane starrte Mario immer noch ungläubig an. Mario ein Verräter?

»Mario, was haben Sie getan?«

Er zuckte die Achseln. »Tun Sie, was er sagt, Jane. Wir haben nicht viel Zeit. Ich hatte schon befürchtet, dass Trevor vor mir hier eintreffen würde, aber sein Hubschrauber musste in irgendeinem Kaff landen, und jetzt versucht er verzweifelt, einen Mietwagen aufzutreiben.«

»Eigentlich war ich enttäuscht«, sagte Grozak. »Ich hatte mich schon darauf gefreut, Sie beide an Reilly auszuliefern. Damit wäre ich auf der sicheren Seite gewesen.«

»Wenn Trevor herkommt und mich nicht hier vorfindet, wird er die Polizei einschalten.«

»Wenn Trevor kommt, wird er Wickman in die Arme laufen, und der wird ihn mit Vergnügen ins Jenseits befördern, bevor er dazu kommt, die Polizei zu benachrichtigen.«

»Wickman ist hier?«

»Er wird bald hier sein. Wir wollten uns schon vor zehn Minuten hier treffen. Der Schnee muss ihn aufgehalten haben.« Er lächelte. »Und jetzt versuchen Sie nicht länger, mich aufzuhalten. Ich habe keine Zeit. Morgen ist der große Tag.«

»Damit werden Sie nicht durchkommen. Sie sind am Ende, Grozak.«

Grozak lachte in sich hinein. »Haben Sie das gehört, Mario? Ich ziele mit einer Pistole auf sie, aber ich bin am Ende.«

»Ich habe es gehört.« Er richtete die Pistole, die er Jane abgenommen hatte, auf Grozak. »Sie sind tatsächlich am Ende.«

Mario schoss Grozak eine Kugel zwischen die Augen.

»Mein Gott.« Jane sah, wie Grozak zu Boden sank. »Sie haben ihn getötet …«

»Ja.« Mario starrte Grozak ausdruckslos an. »Ist das nicht seltsam? Ich dachte, ich würde Genugtuung empfinden, doch das tue ich nicht. Er hätte meinen Vater nicht auf diese Weise töten dürfen. Ich hatte Grozak gesagt, dass ich meinen Vater nicht liebe, dass er ihn von mir aus beseitigen kann, wenn er es für nötig hält. Aber er hätte es nicht auf diese Weise tun dürfen. Es hat mich irritiert. Dadurch hatte es so was … Persönliches.«

Sie konnte es nicht fassen. »Vatermord ist allerdings etwas sehr Persönliches.«

»Ich habe ihn nie als meinen Vater betrachtet. Vielleicht, als ich noch ein kleines Kind war. Aber er ist weggegangen und hat meine Mutter und mich in diesem stinkenden Dorf zurückgelassen, wo wir beide von morgens bis spätabends arbeiten mussten, um zu überleben.«

»Dafür hat er nicht die Todesstrafe verdient.«

Er zuckte die Achseln. »So hatte ich es auch nicht geplant. Und Grozak war sich noch nicht mal sicher, ob es nötig sein würde. Es war nur für den Fall vorgesehen, dass meine Position gestärkt werden müsste. Doch er konnte an keinen von den Leuten in der Burg rankommen, und ich habe nicht schnell genug Fortschritte mit den Schriftrollen gemacht, die er brauchte, um das Gold zu finden. Ich war der Einzige auf der Burg, der erreichen konnte, was er wollte, deswegen musste ich über jeden Verdacht erhaben sein.«

Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich weiß, dass Sie schockiert waren, als es passiert ist. Kein Mensch ist ein so guter Schauspieler.«

»Ja, ich war schockiert. Ich hatte Anweisung, keinerlei Kontakt zu Grozak aufzunehmen, es sei denn, ich konnte ihm sagen, wo das Gold zu finden ist. Er wollte nicht riskieren, dass meine Tarnung auffliegt. Guter Plan, aber ich schätze, es hat meine Reaktion auf den Tod meines Vaters glaubwürdiger erscheinen lassen. Scheißkerl.«

»Heißt das, Sie haben von Anfang an für Grozak gearbeitet?«

»Von dem Tag an, als Trevor mich angeheuert hat. Ich sollte am nächsten Morgen nach Schottland aufbrechen, aber am Abend vor meiner Abreise hat Grozak mir einen Besuch abgestattet und mir ein Angebot gemacht, das ich nicht ablehnen konnte.«

»Das Gold?«

Er nickte. »Ich habe allerdings schon bald durchschaut, dass das eine Lüge war. Warum sollte er mir das Gold geben, wenn er es als Verhandlungsmasse brauchte?«

»Gute Frage.«

»An dem Abend war ich wirklich sehr gefragt. Reilly hat mich ebenfalls angerufen und erklärt, er würde mir einen Bonus geben, wenn ich ihm Bescheid gab, sobald Jock die Burg verließ. Offenbar traute er Grozak nicht über den Weg. Ich traute dem Geizkragen auch nicht. Also musste ich mir meinen eigenen Plan zurechtlegen.«

»Also ein doppeltes Spiel?«

»So hat es sich dann entwickelt. Nachdem wir die Burg verlassen hatten, habe ich Grozak angerufen und ihn informiert, dass Sie unterwegs in die Staaten sind, dann habe ich Reilly angerufen, um meine eigene Abmachung mit ihm zu treffen. Reilly wollte sichergehen, dass Jock nicht redet, und er wollte entweder Sie oder das Gold. Oder beides.«

»Deswegen wollten Sie also unbedingt Zeit mit Jock verbringen. Hatten Sie vor, ihn zu töten?«

Er zögerte. »Nicht, solange ich mir sicher war, dass er sich an nichts erinnerte. Ich bin nicht wie Grozak oder Reilly. Ich töte nicht willkürlich. Außerdem hat Wickman das Haus am See beobachtet, und wenn Jocks Erinnerung zurückgekehrt wäre, hätte ich Wickman jederzeit rufen können, dann hätte der das übernommen.«

»Aber Jock hat Sie reingelegt. Er hat Ihnen nicht erzählt, dass er sich an alles erinnerte. War Grozak deswegen sauer auf Sie?«

»Ja, aber Wickman ist Ihnen gefolgt. Ich habe Grozak dann geraten, er soll Sie ruhig von Jock in die Höhle des Löwen bringen lassen, ich würde ihm Bescheid geben, wann und wo er Sie erwischen konnte.«

»Und das haben Sie getan.«

Er schüttelte traurig den Kopf. »Sie verstehen das nicht. Ich möchte das alles nicht tun. Aber ich bin nicht wie Sie. Ich brauche schöne Sachen. Ein Haus, wundervolle alte Bücher, Gemälde. Es ist eine Leidenschaft.«

»Es ist Korruptheit.«

»Vielleicht.« Er machte eine Geste mit der Pistole. »Aber wenn Sie Reilly erst mal kennen gelernt haben, werde ich Ihnen vorkommen wie ein Engel. Soviel ich weiß, ist er ein äußerst unangenehmer Zeitgenosse.«

»Sie wollen mich tatsächlich zu Reilly bringen?«

»Selbstverständlich, und zwar so schnell wie möglich.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Trevor und MacDuff werden bestimmt keine Zeit verschwenden. Die müssten gleich hier sein.«

»Warum tun Sie das? Damit werden Sie niemals davonkommen.«

»Und ob. Ich werde Sie Reilly übergeben. Ich werde ihm die Informationen über das Gold aus Ciras letztem Brief liefern und ihm verraten, wo er die Übersetzung finden kann, die ich auf der Burg versteckt habe. Er händigt mir das versprochene Geld aus, und ich mache mich aus dem Staub. Falls ich Trevor oder MacDuff über den Weg laufen sollte, werde ich ihnen sagen, dass Reilly Sie in seiner Gewalt hat, und so tun, als wäre ich unterwegs, um die Polizei zu holen.«

»Und ich werde ihnen alles erzählen, was Sie getan haben.«

»Ich bezweifle, dass Sie dazu Gelegenheit haben werden. Reilly wird die Flucht gelingen, und wahrscheinlich wird er Sie mitnehmen. Er hat sein halbes Leben damit zugebracht, sich Verstecke zu suchen und Schlupflöcher zu schaffen, die CIA ist schon seit zehn Jahren vergeblich hinter ihm her. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass sie diesmal mehr Erfolg haben werden.« Er zeigte auf die Tür. »Die Zeit für Plauderstündchen ist um. Los, bewegen Sie sich.«

»Und wenn nicht, werden Sie mir wohl auch androhen, mir die Kniescheibe zu zerschießen, was?«

»Es würde mir zutiefst widerstreben. Ich mag Sie sehr, Jane.«

Aber er würde es tun. Ein Mann, der zuließ, dass sein Vater brutal abgeschlachtet wurde, hatte keinerlei Hemmungen. Wahrscheinlich hatte sie bei Reilly bessere Karten. Solange Mario die Waffe auf sie gerichtet hielt, hatte sie jedenfalls keine Chance gegen ihn. Sie ging zur Tür. »Machen wir uns auf den Weg. Wir wollen Reilly doch nicht warten lassen.«

Der Schnee schlug ihr eiskalt ins Gesicht, als sie die Tür öffnete. Mario führte sie an drei Wagen vorbei, die vor der Hütte standen.

»Fahren wir nicht mit dem Auto?«

Mario schüttelte den Kopf. »Reilly hat gesagt, wenn man die Deaktivierungscodes für die Auffahrt nicht kennt, löst jedes Fahrzeug die Sprengladungen aus. Und diese Codes wollte er mir auf keinen Fall verraten. Er meinte, wir sollten durch den Wald gehen. Ich soll ihn anrufen, sobald wir den Waldrand erreichen, und wenn er auf den Videos sieht, dass wir kommen, deaktiviert er den Zündmechanismus für die Tretminen.«

Bei dem Schneetreiben konnte sie kaum einen Meter weit sehen. Wie zum Teufel wollte Reilly irgendwas auf seinen Kamerabildern erkennen?

»Tun Sie’s nicht, Mario«, rief sie ihm über die Schulter hinweg zu. »Das einzige Verbrechen, das Sie bisher begangen haben, ist die Erschießung eines Mörders.«

»Und Komplizenschaft mit einem Terroristen. Dafür bekommt man entweder die Todesstrafe oder man wandert lebenslänglich ins Gefängnis. An dem Abend, als Grozak mich angeheuert hat, habe ich eine Entscheidung getroffen. Ich habe beschlossen, reich zu werden. Und es wird funktionieren.« Er blieb stehen. »Halt. Wir haben den Waldrand fast erreicht.« Er wählte eine Nummer auf seinem Handy. »Reilly, hier spricht Mario Donato. Ich habe sie. Wir kommen.« Er hörte einen Moment lang zu. »Okay.« Er schaltete das Handy ab. »Wir werden vor dem Haus von einem Empfangskomitee erwartet.« Er machte ein angewidertes Gesicht. »Noch so einer wie Jock. Noch so ein Schwächling.«

»Jock ist kein Schwächling. Er ist ein Opfer.«

»Wer sich so manipulieren lässt, leidet unter Charakterschwäche.«

»Sie glauben also nicht, dass Ihnen dasselbe passieren könnte?«

»Niemals.« Er zeigte mit seiner Pistole auf sie. »Und Ihnen könnte es genauso wenig passieren.«

»Aber Sie haben nichts dagegen, es Reilly versuchen zu lassen.«

»Wenn sich herausstellt, dass Sie genauso ein Schwächling sind, dann haben Sie es nicht besser verdient.« Er lächelte. »Vielleicht haben Sie ja Glück, und dieser unterbelichtete Jock rettet Sie im letzten Moment.« Mit einer Kinnbewegung deutete er auf den Wald vor ihnen. »Los, weiter.«

Sie zögerte. Sobald sie die Bäume erreicht hätten, würden die Überwachungskameras sie erfassen, und dann befände sie sich in Reillys Revier.

»Jane.«

»Ich gehe ja schon.« Sie stapfte durch den Schnee auf die Bäume zu. »Gegen eine Pistole kommt man mit Argumenten nicht an. Ich habe schließlich keine Lust, erschossen zu werden …« Sie wirbelte herum und holte zu einem gezielten Tritt aus. Ihr Stiefel traf die Pistole, die im hohen Bogen durch die Luft flog, im nächsten Augenblick versetzte sie Mario einen Tritt in den Bauch. »Haben Sie Schwächling gesagt? Sie verdammter Hurensohn.«

Mario ging grunzend in die Knie.

Mit einem Handkantenschlag schickte sie ihn zu Boden. »Sie verfluchter –«

Himmel, die Waffe lag in seiner Reichweite. Sie sah, wie er nach ihr langte. Sie machte einen Hechtsprung in den Schnee. Ihre Hand bekam den Pistolengriff zu fassen. Er war kalt, nass und glitschig …

Im nächsten Moment saß er auf ihr und versuchte, ihr die Pistole zu entreißen. »Miststück. Sie sind ein Schwächling. Reilly wird Ihnen zeigen –«

Sie drückte ab.

Mario richtete sich auf wie eine Marionette und starrte sie ungläubig an. »Sie – haben – mich – erschossen.« Blut lief ihm aus dem Mundwinkel. »Es tut weh …« Er brach auf ihr zusammen. »Mir ist kalt … kalt. Warum bin ich –« Dann sackte er in sich zusammen.

Sie schob ihn von sich und betrachtete ihn. Seine Augen waren weit aufgerissen. Er war tot. Schaudernd setzte sie sich im Schnee auf. Sie war wie gelähmt. Sie musste hier weg. Reillys Haus war nur wenige Kilometer entfernt. Vielleicht hatte man dort die Schüsse gehört.

Unerheblich. Sie hatte einen Menschen getötet, das musste sie erst einmal verdauen. Sie musste an den Mario denken, den sie anfangs kennen gelernt hatte, den Mann, für den sie ihn gehalten hatte. Im Tod waren seine Züge weicher, jungenhafter, so wie sie an jenem ersten Abend gewesen waren.

Alles Lüge. Alles Täuschung.

Jetzt kam es darauf an, dass sie sich zusammenriss. Sie musste unbedingt hier weg.

Mühsam rappelte sie sich auf.

»Was zum Teufel –« Eine Stimme hinter ihr.

Instinktiv wirbelte sie mit erhobener Pistole herum.

»Keine Bewegung!«

MacDuff. Sie ließ den Arm sinken.

»Danke.« Er kam näher und betrachtete den toten Mario. »Grozak oder Reilly?«

»Ich.«

Er drehte sich zu ihr um. »Warum?«

»Er stand auf Grozaks Lohnliste und hatte nebenher eine Abmachung mit Reilly. Sein Plan bestand darin, mich Reilly auszuliefern.«

MacDuff lächelte schwach. »Aber Sie wollten Reilly nicht die Ehre erweisen.« Er wurde ernst. »Wo ist Jock?«

»Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er mich in der Hütte zurückgelassen hat. Wo ist Trevor?«

»Hier.« Trevor kam auf sie zu. »Ich war hinter MacDuff und bin über ein Hindernis gestolpert.« Grimmig schaute er auf Mario hinunter. »Ich wünschte, der Scheißkerl würde noch leben, damit ich ihm persönlich den Hals umdrehen könnte. Hat er dich verletzt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Was für ein Hindernis?«

»Wickman. Seine Leiche lag unter einem Schneehaufen in der Nähe der Hütte.« Er schaute Jane an. »Wir haben Grozak in der Hütte gefunden. Hat Mario ihn erschossen?«

Sie nickte.

»Wickman auch?«

»Keine Ahnung. Aber ich glaube nicht. Grozak wollte sich mit ihm treffen. Könnte schon sein, dass Mario ihn getötet hat. Jedenfalls müssen wir hier verschwinden. Jemand könnte den Schuss gehört haben.«

MacDuff schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn kaum gehört, und ich war ganz in der Nähe. Der Schnee dämpft alle Geräusche.« Er schaute Trevor an. »Was meinen Sie?«

»Ich habe ihn gehört. Aber sehr dumpf.« Er wandte sich an Jane. »Erzähl uns, was passiert ist, während wir zum Wagen zurückgehen.«

»Zurück zum –« Sie brach ab, den Blick auf die Bäume geheftet. »Ich gehe nicht zurück.« Sie drehte sich zu Trevor um. »Mario hat mit Reilly ausgemacht, dass er mich durch den Wald zum Haus führt. Reilly wollte die Tretminen deaktivieren, sobald die Kameras uns erfassen. Wir könnten es immer noch schaffen.« Sie hob eine Hand, als Trevor protestieren wollte. »Auf den Videos wird man bei dem Schneetreiben nicht erkennen können, ob du bei mir bist oder Mario. Du hast eine ähnliche Statur wie er. Wenn du deinen Kopf gesenkt und die Pistole sichtbar in der Hand hältst, wird niemand den Unterschied bemerken. Ich gehe voraus, dann sieht er mich als Erstes.«

»Und was wollen Sie tun, wenn Sie das Haus erreichen?«, fragte MacDuff.

»Improvisieren. Kim Chan und Norton, einer von Reillys Protegés, sollen uns in Empfang nehmen. Wenn wir die überwältigen, können wir problemlos ins Haus eindringen. Vielleicht werden wir dem großen Mann ja gleich begegnen.« Sie ging auf die Bäume zu. »Los, packen wir’s an.«

»Kommt nicht in Frage«, sagte Trevor barsch. »Mach, dass du zum Auto zurückkommst.«

Sie schüttelte den Kopf. »In Anbetracht der Umstände ist es ein guter Plan. Wir können Reilly schnappen und die Information aus ihm rausquetschen, die wir brauchen, um Grozaks Anschlag zu verhindern.«

»Es ist ein beschissener Plan«, erwiderte Trevor.

Sie wandte sich an MacDuff. »Kommen Sie mit mir? Sie haben zwar nicht ganz Marios Statur, aber es könnte trotzdem funktionieren. Jock hat sich wahrscheinlich schon hier in der Nähe in Position gebracht. Sie werden Kontakt mit ihm aufnehmen können. Das ist doch das Einzige, was Sie wollen, oder?«

MacDuff lächelte. »Das ist alles, was ich will. Gehen wir.«

»Nein!« Trevor holte tief Luft. »Also gut, ich komme mit dir.« Er zog sich die Kapuze seines Anoraks über den Kopf. »Los, geh schon. Nach spätestens hundert Metern werden wir wissen, ob sie den Unterschied zwischen mir und Mario bemerkt haben.«

MacDuff zuckte die Achseln. »Ich werde hier anscheinend nicht mehr gebraucht. Dann werde ich Jock wohl allein suchen müssen.«

»Wie denn?«

»Mit Tretminen kenne ich mich ganz gut aus. Ich habe in Afghanistan eine Menge Erfahrung damit gesammelt. Ich werde zwar lange brauchen, um die Kameras auszuschalten und die Tretminen zu entschärfen, doch ich schaffe das schon.«

»Wenn Sie nicht in die Luft gesprengt werden«, sagte Jane.

Er nickte. »Aber überlegen Sie mal, was für ein gutes Ablenkungsmanöver das wäre.« Er ging in einem Bogen auf die Bäume zu. »Nachdem Sie im Wald verschwunden sind, warte ich fünf Minuten ab. Wenn wir Glück haben, werden die sich ganz auf Sie konzentrieren, sobald die Kameras Sie erfasst haben.«

»Ich könnte mit ihm gehen«, sagte Trevor, als sie MacDuff nachschauten. »Du solltest zurück zum Wagen gehen und uns das überlassen, verdammt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie erwarten Mario und mich. Wenn sie niemanden kommen sehen, werden sie nach uns suchen.« Sie machte sich auf den Weg. »Ich gehe ihnen lieber entgegen, anstatt mich bei einem Schneesturm im Wald zu verstecken.«