Siebzehn
Wenige Minuten vor ihrem Abflug aus Detroit telefonierte Trevor mit Bartlett.
»Bisher hat sich noch niemand auf MacDuff’s Run blicken lassen, obwohl inzwischen mehrere Stunden vergangen sind. Also würde ich mal sagen, dass wir aufatmen können.«
»Gott sei Dank.«
»Bedank dich lieber bei Eve und ihrem Freund John Logan.« Er ging auf das wartende Flugzeug zu. »Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht versuchen werden, uns ausfindig zu machen. Wir befinden uns widerrechtlich auf ihrem Territorium. Die werden nicht so kooperativ sein wie Venable.« Er seufzte. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mal wehmütig an die Zusammenarbeit mit Venable zurückdenken würde.«
»Das liegt daran, dass Venable jemand war, den du unter Kontrolle hattest«, bemerkte Jane.
»Nein, das liegt daran, dass ich Respekt vor ihm hatte, ob du’s glaubst oder nicht.« Er lächelte, als er ihr die Stufen hinauffolgte. »Und, ja, ich hatte ihn unter Kontrolle. Ich hoffe bloß, dass Sabot ihm keinen Ärger gemacht hat.«
Das Ferienhaus, das sich in einem Tal zwischen zwei Bergen an einen Hang schmiegte, verfügte über drei Schlafzimmer. Es gehörte zu einer kleinen Ferienhaussiedlung am Rand eines zugefrorenen Sees.
Jock stieg aus dem Mietwagen, den Blick auf die Haustür geheftet. »Ich erinnere mich an das Haus.«
»Das solltest du auch«, sagte MacDuff. »So lange ist es schließlich nicht her, dass wir hier waren.« Er schloss die Tür auf.
»Erinnerst du dich auch noch daran, wo du warst, als er dich gefunden hat?«, fragte Jane, als sie aus dem Wagen stieg.
»Ärzte.« Langsam stieg er die Stufen zur Veranda hinauf. »Die haben überhaupt nichts verstanden. Die wollten mich nicht – Blut … Die haben mich ans Bett gefesselt und wollten mich nicht tun lassen, was ich tun musste.«
»Weil es falsch war«, sagte Jane. »Sich das Leben zu nehmen ist falsch.«
Er schüttelte den Kopf.
»Lass ihn in Frieden«, sagte Trevor, nachdem er und Mario aus dem Auto gestiegen waren. »Lass ihm erst mal Zeit, sich einzugewöhnen.«
Jane nickte. »Ich hab ihn ja nicht gedrängt.« Sie verdrehte die Augen. »Na ja, zumindest war das nicht meine Absicht. Das kam irgendwie spontan.«
»Jock und ich werden uns das Zimmer gleich neben dem Esszimmer teilen«, sagte MacDuff über die Schulter hinweg. »Am Ende des Flurs ist ein Zimmer mit einem Schrankbett und daneben eins mit einem Doppelbett. Einigen Sie sich untereinander, wer wo schläft.«
»Wieso sind wir überhaupt hier?«, fragte Mario. »Verdammt, wir können uns doch jetzt nicht gemütlich in diesem kleinen Ferienhaus einrichten! Wann fangen wir denn an, etwas zu unternehmen?«
»Heute Abend.« MacDuff bedachte ihn mit einem kühlen Blick. »Jock muss sich ausruhen und etwas essen. Danach machen wir uns auf den Weg.«
»Tut mir Leid«, murmelte Mario. »Ich bin halt ein bisschen nervös.« Er ging an MacDuff und Jock vorbei ins Haus. »Ich nehme das Schrankbett. Wir sehen uns später.«
»Geh ins Wohnzimmer und mach Feuer im Kamin, Jock«, sagte MacDuff. Nachdem Jock im Haus verschwunden war, wandte MacDuff sich wütend an Jane und Trevor. »Das wird nicht funktionieren. Mario ist nervös? Und was ist mit Jock? Er ist so schon durcheinander genug, soll er sich jetzt auf Schritt und Tritt von einem Komitee ausfragen lassen? Fahren Sie doch alle zurück nach Schottland und überlassen Sie ihn mir.«
»Das entspricht nicht Jocks Wünschen«, sagte Jane. Aber sie konnte MacDuff verstehen. Die Situation auf der Veranda hatte auch sie erschüttert. Es war klar, dass Jock sich an den Selbstmordversuch im Obdachlosenheim erinnerte und dass ihn das verwirrte. »Was hatten Sie denn für heute Abend geplant?«
»Jock wurde auf einer Straße außerhalb von Boulder von der Polizei aufgegriffen. Ich werde ihn dorthin bringen und losschicken.«
»Sie werden nicht bei ihm bleiben?«
»Ich werde ihn nicht aus den Augen lassen. Aber ich möchte, dass er sich allein fühlt.«
»Und mir werfen Sie vor, ich wäre gnadenlos?«
»Das ist etwas anderes. Er ist einer von –«
»Ihren Leuten«, beendete Trevor den Satz für ihn. »Dann ist also alles vergeben und vergessen?«
»Fragen Sie ihn«, erwiderte MacDuff. »Das hätten er und ich allein durchziehen sollen. Sie alle sind Außenstehende.«
»Aber Jock möchte diese spezielle Außenstehende dabeihaben.« Trevor zeigte auf Jane. »Und da es sich nur um einen vorbereitenden Ausflug handelt, bleibe ich freiwillig hier und sorge dafür, dass Mario keine Schwierigkeiten macht, wenn Sie Jane mitnehmen.«
MacDuff antwortete nicht gleich. »Sie überraschen mich. Ich hätte mehr Widerstand von Ihnen erwartet.«
»Warum? Es ist kein schlechter Plan. Sie wollen Jocks Erinnerung wecken, und zu viele Zuschauer würden ihn bei seiner Konzentration stören. Mario ist ein Problem. Die einzige Gefahr in dieser Situation dürfte von Jock ausgehen, aber solange Sie dabei sind, dürfte Jane in Sicherheit sein.« Ihre Blicke begegneten sich. »Hauptsache, Sie kommen nicht auf die Idee, mich aus dem Spiel zu werfen, sobald wir in Reillys Nähe sind.«
MacDuff zuckte die Achseln und verschwand im Haus.
»Ich wundere mich auch«, sagte Jane ruhig. »Normalerweise reißt du dich nicht um den Job des Babysitters.«
»Ich wollte dir nur beweisen, wie vernünftig und aufopferungsvoll ich sein kann.«
Sie sah ihn skeptisch an.
»Willst du die Wahrheit hören?« Er wurde ernst. »Seit wir in Aberdeen ins Flugzeug gestiegen sind, habe ich ein ungutes Gefühl. Diese ganze Geschichte könnte jeden Augenblick nach hinten losgehen.«
»Aber wir handeln, endlich geschieht etwas.«
»Ich weiß. Deswegen komme ich MacDuff jetzt ein bisschen entgegen, um mich für später seiner Kooperation zu vergewissern. Wenn ihr heute Abend unterwegs seid, versuche ich mal, Mario dazu zu überreden, dass er uns etwas über Ciras Brief erzählt. Vielleicht jage ich ihm ein paar Holzsplitter unter die Fingernägel. – Keine Sorge, war nur ein Scherz.« Er gab ihr einen kurzen, leidenschaftlichen Kuss. »Sei vorsichtig mit Jock. Er mag vielleicht willig sein zu helfen, aber er könnte auch ganz unerwartet durchdrehen.«
»Erinnerst du dich an irgendetwas, Jock?« Jane, die neben ihm auf dem Rücksitz saß, konnte seine Anspannung deutlich spüren. Seit zwei Stunden waren sie nun schon unterwegs, doch erst seit wenigen Minuten zeigte Jock leichte Veränderungen. Sie schaute aus dem Fenster. Sie befanden sich in einem dicht besiedelten Außenbezirk von Boulder, und die Häuser, an denen sie vorbeifuhren, schienen aufgeteilt in Golfersiedlungen und andere Wohnbezirke für Wohlhabende. »Bist du hier schon mal gewesen?«
Er starrte stur vor sich hin und schüttelte heftig den Kopf.
»Wie weit ist es noch bis zu der Stelle, wo die Polizei ihn aufgelesen hat?«, fragte sie MacDuff.
»Zehn, zwölf Kilometer. Nahe genug, um zu Fuß dorthin zu gelangen.« Er schaute Jock an. »Auf jeden Fall zeigt er eine Reaktion. Er hat wie erwartet dichtgemacht.« Plötzlich hielt er am Straßenrand. »Mal sehen, ob wir ihn ein bisschen öffnen können. Steig aus, Jock.«
Jock schüttelte den Kopf.
»Er hat schreckliche Angst«, flüsterte Jane.
»Los, steig aus, Jock«, wiederholte MacDuff mit schneidender Stimme. »Wird’s bald!«
Schwerfällig legte Jock eine Hand auf den Türgriff. »Bitte …«
»Mach schon. Du weißt genau, warum du hier bist.«
Jock stieg aus. »Zwingen Sie mich nicht dazu.«
MacDuff gab Gas und fuhr los.
Als Jane sich nach Jock umdrehte, brach ihr fast das Herz. »Er steht einfach nur da. Er versteht überhaupt nichts mehr.«
»Er versteht sehr wohl«, sagte MacDuff barsch. »Wenn nicht, kann ich ihm nur raten, dass er es bald kapiert. Das muss ein Ende haben. Sie wollen, dass Jock die Welt rettet. Ich möchte nur, dass er sich selbst rettet. Und das schafft er nicht, indem er den Kopf in den Sand steckt. Das ist seine große Chance, und so wahr mir Gott helfe, ich werde dafür sorgen, dass er sie ergreift.«
»Ich wollte ja gar nicht mit Ihnen streiten.« Jane riss sich von Jocks Anblick los. »Wie lange werden wir ihn da draußen rumlaufen lassen?«
»Eine halbe Stunde. Wir fahren bis zur nächsten Abfahrt und kehren wieder um.«
»Eine halbe Stunde kann lang sein.«
»Endlos lang.« Er gab Gas. »Und sie kann ihn den Verstand kosten.«
»Ich sehe ihn nicht.« Panisch suchte Jane mit den Augen beide Seiten der Straße ab. MacDuff fuhr zum dritten Mal langsam die Straße entlang, auf der sie Jock abgesetzt hatten, sie konnten jedoch noch immer keine Spur von ihm entdecken. »Wo steckt er nur?«
»Er könnte in eine der anderen Siedlungen gelaufen sein. Auf dem Weg hierher sind wir durch mehrere hindurchgefahren. Wir machen noch einmal kehrt, dann suchen wir ihn –«
»Da ist er!« Jane hatte eine Gestalt entdeckt, die im Straßengraben hockte. »O Gott. Hoffentlich hat ihn kein Auto angefahren oder –« Sie sprang aus dem Wagen, als MacDuff mit quietschenden Reifen hielt. »Jock, bist du –«
»Vier acht zwei.« Jock blickte nicht zu ihr hoch, sondern starrte vor sich hin in die Dunkelheit. »Vier acht zwei.«
»Ist er verletzt?« MacDuff kauerte sich neben sie und leuchtete dem Jungen mit der Taschenlampe ins Gesicht. »Jock, was ist passiert?«
Jock schaute ihn mit starrem Blick an. »Vier acht zwei.«
MacDuff betastete Jocks Arme und Beine. »Ich glaube nicht, dass er von einem Auto angefahren wurde. Keine sichtbaren Verletzungen.«
»Ich glaube, seine Verletzung ist verdammt sichtbar.«
Jane hatte Mühe, mit fester Stimme zu sprechen. »Mein Gott, was haben wir getan?«
»Wir hatten keine andere Wahl.« MacDuff packte Jock an den Schultern und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. »Wir sind bei dir, Jock. Jetzt kann dir nichts mehr passieren. Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Vier acht zwei.« Plötzlich krümmte er sich vor Schmerzen und presste die Augen ganz fest zu. »Nein! Ich kann es nicht. Klein. Zu klein. Vier acht zwei.«
»Mein Gott«, flüsterte Jane.
MacDuff reichte ihr die Taschenlampe. »Wir müssen ihn zurück ins Haus bringen.« Er nahm Jock auf die Arme. »Sie fahren. Ich setze mich mit ihm nach hinten. Wer weiß, was er als Nächstes tut.«
»Ich habe keine Angst. Herrgott noch mal, sehen Sie denn nicht, wie er sich quält?«
»Sie fahren«, wiederholte er und richtete sich auf. »Wenn es ein Risiko gibt, dann nehme ich es auf mich.«
Weil Jock einer von seinen Leuten war. An der besitzergreifenden Art, wie er Jock hielt, erkannte sie, dass es zwecklos war, mit ihm zu streiten. Und sie wollte nichts lieber, als Jock auf schnellstem Weg zurück zum Haus zu bringen.
482.
Der Strahl der Taschenlampe, die MacDuff ihr gegeben hatte, fiel auf die Stelle, wo Jock im Graben gesessen hatte.
482. Die Ziffern waren tief in die Erde geritzt. Immer und immer wieder. 482. 482. 482.
»Jane.«
Sie blickte auf, als MacDuff sie rief, und rannte zum Wagen.
»Wie geht es ihm?«, fragte Mario, als sie aus Jocks Zimmer kam.
»Ich weiß nicht.« Sie drehte sich noch einmal zur Tür um. »Sieht aus, als leide er unter Krampfzuständen. Der Ärmste.«
»Es mag an meiner religiösen Erziehung liegen, aber es fällt mir schwer, mit einem Mörder Mitleid zu empfinden.« Seine Lippen spannten sich. »Und wenn man’s sich recht überlegt: Wenn er für Reilly gearbeitet hat, dann ist er ein Mörder wie die.« Er hob eine Hand. »Ich weiß. Ich bin hier in der Minderheit. Aber bei mir findet er weder Verständnis noch Vergebung.«
»Dann sollten Sie sich besser von MacDuff fern halten«, sagte Trevor. »Er ist im Moment ziemlich reizbar.«
Mario nickte. »Ich habe kein Interesse daran, ihn gegen mich aufzubringen. Vielleicht gelingt es ihm ja tatsächlich, irgendetwas aus Jock herauszuholen.« Er ging in Richtung Küche. »Ich setze eine Kanne Kaffee auf.«
»Vier acht zwei«, wiederholte Trevor, den Blick auf Jocks Zimmer geheftet. »Sagt er das noch immer?«
Jane nickte. »Wie ein Mantra.«
»Aber er hat erst damit angefangen, als ihr ihn dort auf diesem Straßenabschnitt abgesetzt habt. Hat MacDuff versucht, ihm irgendwelche Fragen zu stellen?«
»Noch nicht. Hättest du das getan?«
»Nein, wahrscheinlich nicht. Wir wollen den Jungen schließlich nicht fertig machen.«
»Es ist traurig, dass wir uns den Kopf darüber zerbrechen, was wir brauchen, anstatt darüber, was Jock braucht.« Sie bremste ihn, als er den Mund öffnete, um etwas zu entgegnen. »Ich weiß«, sagte sie. »Es ist unumgänglich. Und ich bin diejenige, die dafür plädiert hat, es zu versuchen. Trotzdem bricht es mir das Herz, ihn so leiden zu sehen.«
»Dann hast du die Wahl. Entweder machst du weiter, bis wir einen Durchbruch erzielen, oder du machst einen Rückzieher und lässt ihn in sein Schneckenhaus zurückkriechen. Vielleicht wird es ihm in ein paar Jahren besser gehen. Vielleicht aber auch nicht. Und könntest du mit den Folgen leben, wenn du so lange abwarten würdest?«
»Nein.«
»Dachte ich’s mir.« Er wandte sich zum Gehen. »Aber du wirst besser gewappnet sein, wenn du weißt, womit er sich herumquält. Ich arbeite dran.«
»Vier acht zwei?«
Er nickte. »Ich bin kein Meister im Trösten, aber man gebe mir ein abstraktes Problem, und ich bin in meinem Element. Ich habe mir genau notiert, was Jock deinen Angaben nach heute Abend gesagt hat, und ich werde versuchen rauszufinden, was es mit seiner Besessenheit hinsichtlich dieser Zahl auf sich hat. Das Rätsel wird nicht leicht zu knacken sein. Vier acht zwei. Das kann alles Mögliche sein: die Kombination für ein Zahlenschloss, etwas von einem Nummernschild, ein Code für eine Alarmanlage, ein Passwort für einen Computer –«
»Verstehe«, fiel Jane ihm ins Wort. »Und wenn du mir noch mehr Möglichkeiten aufzählst, werde ich noch deprimierter, als ich es jetzt schon bin. Also, mach dich einfach an die Arbeit.«
Er nickte. »Ich fange mit dem Einfachsten an und gehe dann die anderen Möglichkeiten durch.« Zärtlich legte er ihr eine Hand auf den Arm. »Geh in die Küche und trink eine Tasse Kaffee. Du siehst aus, als könntest du eine gebrauchen.«
»Ja, vielleicht mach ich das.« Seine warme Hand hatte etwas Beruhigendes und Tröstendes, und am liebsten hätte sie ihn gar nicht gehen lassen. »Und MacDuff werde ich auch eine bringen. Er wird vorerst nicht von Jocks Seite weichen. Er kümmert sich um ihn wie eine Mutter um ihr Baby. Seltsam, mit anzusehen, wie ein harter Typ wie MacDuff so mütterliche Gefühle entwickelt.«
»Er mag das Beste gewollt haben, als er Jock heute auf der Straße ausgesetzt hat, aber in solchen Situationen macht man sich immer auch ein bisschen schuldig. Ich melde mich bei dir, sobald ich ein paar Möglichkeiten gefunden habe.«
»Wach auf.«
Als Jane verschlafen die Augen aufschlug, hockte Trevor neben ihrem Sessel und streichelte ihr zärtlich die Wange. »Was …«
»Wach auf.« Er lächelte. »Kann sein, dass ich was gefunden habe. Keine Garantie, aber einen Versuch ist es wert.«
Sie streckte sich in ihrem Sessel und schüttelte den Kopf, um klar denken zu können. »Was ist einen Versuch wert?«
»Vier acht zwei. Ich hab ein bisschen mit Telefonkurzwahlnummern rumgespielt und anschließend mit den Adressen weitergemacht. Du hast gesagt, Jock ist erst ausgeflippt, als ihr durch die Straße gefahren seid, die zwei Siedlungen voneinander trennt. Ich habe mir übers Internet eine Straßenkarte besorgt. In einer der beiden Siedlungen gibt es ein Haus mit der Hausnummer vier acht zwei.« Er reichte ihr einen Ausdruck. »Lilac Drive Nummer vier acht zwei.«
Vor Aufregung bekam sie Herzklopfen, doch sie bemühte sich, die Ruhe zu bewahren und logisch zu denken. »Das könnte reiner Zufall sein.«
»Ja.«
Zum Teufel mit der Logik. Sie würde sich nicht selbst die Hoffnung rauben. »Könnte das Reillys Adresse sein?«
Trevor schüttelte den Kopf. »Laut Internet wohnen in dem Haus Matthew und Nora Falgow mit ihrer Tochter Jenny. Falgow ist Gewerkschaftsführer, der Mann hat einen makellosen Ruf.« Er gab ihr noch ein Blatt. »Das ist ein Foto von den dreien. Es wurde bei der letzten Gewerkschaftswahl aufgenommen. Ein süßes Mädchen.«
Jane nickte abwesend, während sie das Foto betrachtete. Die Falgows waren etwa Mitte vierzig. Ein attraktives Paar mit einem reizenden blonden Mädchen von etwa vier oder fünf Jahren. Falgows Lebenslauf war so blitzsauber, wie Trevor gesagt hatte, und enthielt nicht den geringsten Hinweis auf irgendwelche subversiven Aktivitäten. »Keine Verbindung zu Reilly …«
»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.« Trevor setzte sich auf den Boden. »Versuch dich an alles zu erinnern, was Jock heute Abend gesagt hat. Und lass dir alles noch mal von verschiedenen Gesichtspunkten aus durch den Kopf gehen.«
Sie schaute ihn an. Dann begriff sie, worauf er hinauswollte, und ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken.
Sie durfte jetzt kein Feigling sein. Sie musste sich der Situation stellen. Schließlich hatte sie von Anfang an gewusst, dass es nicht angenehm werden würde. Alles, was mit Reilly zu tun hatte, war korrupt und hässlich.
Sie holte tief Luft und betrachtete noch einmal das Foto der Falgows.
»Ist er wach?«, fragte Jane MacDuff, während sie Jock anschaute. Jocks Augen waren geschlossen, doch die Anspannung in seinen Muskeln zeigte deutlich, dass er alles andere als entspannt war.
»Ja, er ist wach«, sagte MacDuff. »Er reagiert nicht, wenn ich ihn anspreche, ist aber nicht katatonisch, und er weiß, dass ich mit ihm rede.«
»Darf ich es versuchen?«
»Bitte sehr.«
»Würden Sie uns allein lassen?«
MacDuffs Augen verengten sich. »Das würde Trevor nicht gefallen.«
»Himmelherrgott, der Junge ist doch vollkommen hilflos.«
»Das könnte sich blitzschnell ändern.« Er warf einen Blick auf das Blatt Papier in ihrer Hand. »Warum wollen Sie mit ihm allein sein?«
»Trevor hat möglicherweise eine Erklärung für vier acht zwei gefunden. Jock liebt Sie, und das stürzt ihn in innere Konflikte. Mich liebt er nicht. Mir könnte es gelingen, zu ihm durchzudringen.«
MacDuff starrte immer noch auf den Computerausdruck. »Ich will das sehen.«
»Nachher.«
MacDuff schwieg eine Weile. »Weiß Trevor, was Sie vorhaben?«
»Er weiß nicht, dass ich Sie bitte, uns allein zu lassen. Er ist mit Mario draußen auf der Veranda.«
»Und Sie wollen natürlich nicht, dass ich mich zu ihnen geselle.« Langsam stand er auf. »Ich werde vor der Tür warten. Falls Sie irgendein Anzeichen von Aggression bemerken, rufen Sie sofort. In dreißig Sekunden könnte alles vorbei sein.«
»Bisher habe ich ihn nur aggressiv werden sehen, wenn er meinte, Sie beschützen zu müssen. Ich werde mich bemühen, ihm keinen Anlass zu der Annahme zu geben, dass ich eine Gefahr für Sie darstelle.«
»Wir haben ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Womöglich ist er wieder in einem ähnlichen Zustand wie damals, als ich ihn aus diesem Krankenhaus geholt habe.«
»Sehr beruhigend.«
»Mir liegt nichts daran, Sie zu beruhigen. Es kann tödlich enden, wenn man sich zu sicher fühlt.« Er öffnete die Tür. »Rufen Sie mich, wenn Sie mich brauchen.«
Sie fühlte sich alles andere als behaglich. Als sie dastand und diesen hübschen Jungen betrachtete, empfand sie eine Mischung aus Trauer, Wut und Entsetzen. »Jock, kannst du mich hören?«
Keine Antwort.
»Du kannst mir ruhig antworten. Ich glaube, dass du gehört und verstanden hast, was ich mit MacDuff besprochen habe.«
Keine Antwort.
Sie setzte sich auf die Bettkante. »Vier acht zwei.«
Seine Muskeln verkrampften sich noch mehr.
»Lilac Drive. Fliederweg. Du hast mir mal gesagt, du magst keinen Flieder. Solche schönen Blüten. Damals habe ich nicht verstanden, warum du sie nicht magst.«
Seine Hände auf der Bettdecke waren zu Fäusten geballt.
»Lilac Drive Nummer vier acht zwei.«
Sein Atem ging schneller.
»Vier acht zwei, Jock.«
Inzwischen hatte er angefangen zu keuchen, und Jane sah, dass sein Puls raste. Doch er öffnete nicht die Augen, verdammt. Sie musste ihn so schockieren, dass er aus seinem Schneckenhaus herauskam.
»Du hast immer wieder gesagt: ›Klein, zu klein.‹ In dem Haus im Lilac Drive wohnt ein kleines Mädchen. Ein hübsches Mädchen mit rosigen Wangen und blonden Locken. Sie heißt Jenny. Sie ist vier Jahre alt.«
Er begann, den Kopf hin und her zu werfen. »Nein, drei …«
»Wahrscheinlich weißt du das besser als ich.« Sie ließ einen Augenblick verstreichen. Er war noch nicht so weit. Also gut, sie würde ihm einen harten Schlag versetzen. Egal wie. »Du hast das Mädchen getötet.«
»Nein!« Er riss die Augen auf. »Sie war klein. Sie war viel zu klein.«
»Aber du bist zu dem Haus gegangen, um sie zu töten.«
»Vier acht zwei. Vier acht zwei. Vier acht zwei.«
»Reilly hat dir die Adresse genannt und dir gesagt, was du tun sollst. Du bist ins Haus eingedrungen und in ihr Zimmer gegangen. Es war nicht schwer, du warst topfit. Und dann hast du getan, was Reilly dir aufgetragen hatte.«
»Nein.« Seine Augen flackerten. »Hör auf, das zu sagen. Ich sollte sie töten, aber ich konnte es nicht. Sie war so klein. Ich hab es versucht, aber ich konnte sie – nicht anfassen.«
»Aber du tust doch immer, was Reilly dir sagt. Ich glaube, du lügst mich an.«
»Halt den Mund.« Er packte sie mit beiden Händen am Hals. »Ich habe es nicht getan. Ich habe es nicht getan. Ganz falsch. Reilly hat mir gesagt, ich soll es tun, aber ich konnte es nicht.«
Sie spürte, wie er mit jedem Wort fester zudrückte. »Lass mich los, Jock.«
»Halt die Klappe, halt die Klappe.«
»Was war falsch, Jock? Dass du das kleine Mädchen nicht getötet hast? Oder dass Reilly dir gesagt hat, du sollst es tun?« Was tat sie da eigentlich? Sie sollte lieber nach MacDuff rufen. Jock drückte ihre Kehle inzwischen so fest zu, dass sie nur noch krächzen konnte. Nein, sie war zu nah dran. »Du weißt die Antwort. Sag sie mir.«
»Reilly – hat – immer – Recht.«
»Blödsinn. Wenn er an dem Abend Recht gehabt hätte, dann hättest du die kleine Jenny getötet. An dem Abend ist dir bewusst geworden, was für ein Monster er ist und wie viele schreckliche Dinge er dich hatte tun lassen. Aber als du von dem Haus weggegangen bist, war es vorbei. Seine Macht über dich mag immer noch wirksam sein, aber du gehörst ihm nicht mehr.«
Tränen liefen über Jocks Wangen. »Nein, es ist nicht vorbei. Es ist niemals vorbei.«
»Okay, vielleicht ist es noch nicht vorbei.« Gott, sie wünschte, er würde seine Hände von ihrem Hals nehmen. Sie durfte nichts sagen, was ihn dazu brachte, ihr das Genick zu brechen. »Aber als du von dem Haus im Lilac Drive Nummer vier acht zwei weggegangen bist, hast du angefangen, dich von Reilly zu lösen. Er hat keine Macht mehr über dich. Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit.«
»Nein.«
»Jock, es ist die Wahrheit. MacDuff und ich haben beide gemerkt, dass du dabei bist, dich zu verändern, dass du immer stärker wirst.«
»Der Burgherr?« Er schaute ihr in die Augen. »Das hat er gesagt? Lügst du mich an? Du hast gelogen, als du gesagt hast, ich hätte das kleine Mädchen getötet.«
»Mir ist nichts anderes eingefallen, wie ich dich aus deiner Starre lösen konnte. Ich musste dich mit dem konfrontieren, was du getan hast. Oder vielmehr mit dem, was du nicht getan hast. Als du Reillys Macht durchbrochen hattest, hast du dich beinahe genauso schuldig gefühlt, wie du dich nach dem Mord an dem Kind gefühlt hättest.«
»Nein, ich konnte es nicht tun.«
»Ich weiß, dass du es nicht konntest. Aber ich musste dich schockieren, um dich dazu zu bringen, dass du mit mir redest. Und ich hab es geschafft, stimmt’s?«
»Ja.«
»Und du weißt, dass ich es dir zuliebe getan habe. Stimmt’s?«
»Ich … glaube, ja.«
»Würdest du dann bitte die Hände von meinem Hals nehmen? MacDuff und Trevor wären auf uns beide wütend, wenn sie reinkommen und sehen würden, dass du versuchst, mich zu erwürgen.«
Er betrachtete seine Hände, die immer noch ihre Kehle umklammerten, als gehörten sie ihm nicht. Langsam ließ er sie los und sank aufs Bett. »Ich glaube … sie wären vor allem wütend auf mich.«
Konnte es sein, dass da eine Spur von Humor mitklang? Sein Gesicht war ausdruckslos und seine Augen waren immer noch mit Tränen gefüllt, doch die rohe Gewalt war aus seinem Ausdruck gewichen. Jane atmete tief durch und rieb sich den Hals. »Und zu Recht. Es gibt so etwas wie Verantwortlichkeit.« Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. »Nicht nur für dich. Reilly wird sich wegen einer Menge verantworten müssen.«
»Nicht … der Burgherr. Meine Schuld. Alles meine Schuld.«
»Das Wichtigste ist, dass wir ihn zu fassen kriegen.«
»Nicht der Burgherr.«
»Dann musst du dich zwingen, dich zu erinnern, wo Reilly steckt, damit wir uns auf seine Fährte setzen können.«
»Ich versuch’s …«
»Nein, du musst es tun, Jock. Deswegen haben wir dich hierher gebracht. Deswegen lassen wir dich durch diese Hölle gehen. Glaubst du, wir würden das tun, wenn wir eine andere Möglichkeit hätten, deinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin müde. Ich möchte schlafen.«
»Versuchst du, dem Gespräch mit mir auszuweichen, Jock?«
»Vielleicht.« Er schloss die Augen. »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Ich muss mit ihm allein sein.«
Sie spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. »Mit wem?«
»Reilly«, flüsterte er. »Er ist immer bei mir, weißt du. Ich versuche, ihm zu entkommen, aber er ist immer da. Ich fürchte mich davor, ihn anzusehen oder ihm zuzuhören, aber ich muss es tun.«
»Nein, das musst du nicht.«
»Du verstehst das nicht …«
»Ich verstehe, dass er dir auf die schlimmstmögliche Weise seinen Willen aufgezwungen hat. Aber jetzt ist er nicht mehr da.«
»Wenn er nicht mehr da wäre, würdest du jetzt nicht versuchen, mir beim Erinnern zu helfen. Solange er lebt, wird er mich nicht in Frieden lassen.« Er wandte sich ab. »Geh weg, Jane. Ich weiß, was du von mir willst, und ich werde versuchen, es dir zu geben. Aber du kannst mir nicht helfen. Entweder ich kann es tun oder ich kann es nicht.«
Sie stand auf. »Soll ich MacDuff reinschicken?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht, dass er mich so sieht. Reilly macht mich schwach. Ich … schäme mich.«
»Du brauchst dich nicht zu schämen.«
»Doch. Bis an mein Lebensende. Meine Seele ist schwarz, sie wird nie wieder rein sein. Aber MacDuff will mich nicht sterben lassen. Ich habe es versucht, aber er hat mich zurückgeholt. Wenn ich also nicht sterben kann, dann muss ich … stark sein.« Seine Stimme wurde heiser. »Aber es ist so verdammt schwer.«
Sie zögerte. »Bist du ganz sicher, dass ich nicht bleiben soll und –« Er schüttelte den Kopf. »Also gut, ruh dich ein bisschen aus.« Sie ging zur Tür. »Wenn du mich brauchst, ich bin für dich da. Ruf mich einfach.«
»Sie sind ja nicht sehr lange da drin gewesen.« MacDuff erhob sich von seinem Stuhl, als sie die Tür hinter sich schloss.
»Nicht?« Ihr selbst war es wie eine Ewigkeit vorgekommen. »Lange genug.«
»Braucht er mich?«
»Wahrscheinlich. Aber er will Sie nicht sehen. Er will im Moment niemanden sehen. Und ich glaube nicht, dass er in akuter Gefahr schwebt.«
Sein Blick fiel auf das Blatt Papier in ihrer Hand. »Irgendeine Reaktion?«
»Allerdings. Aber ob es reicht, um seine Erinnerung an Reilly wachzurufen, weiß ich nicht. Von jetzt an muss alles von ihm kommen. Er scheint … sich verändert zu haben.«
»Inwiefern?«
Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Vorher hat er mich an diese Schriftrolle erinnert, an der Mario gearbeitet hat. In dem Text fehlten Wörter und Satzfragmente, die Mario mit einigem Geschick einfügen musste, damit der Gesamttext einen Sinn ergab. Ich glaube, an diesem Punkt ist Jock auch angelangt.«
»Dann müssen Sie ihn ordentlich erschüttert haben.« Seine Kiefermuskeln spannten sich. »Ich will das Papier in Ihrer Hand sehen.«
»Ich möchte, dass Sie es sehen.« Sie ging in Richtung Küche. »Ich erzähle Ihnen alles bei einer Tasse Kaffee. Die brauche ich jetzt.«
»Das glaube ich Ihnen. Knöpfen Sie sich die Bluse bis oben hin zu.«
»Wie bitte?«
»Versuchen Sie, die blauen Flecken an Ihrem Hals zu verbergen. Ich möchte nicht, dass Trevor auf Jock losgeht.«
Sie befühlte ihren Hals. »Er hat mir nicht wehgetan. Nicht sehr. Und er wollte mich nicht –«
»Erzählen Sie das Trevor. Sie leben, und wenn Sie zu dumm waren, um zu tun, was ich Ihnen gesagt habe, dann haben Sie ein paar blaue Flecken verdient.« Er setzte sich an den Küchentisch. »Und jetzt klären Sie mich über vier acht zwei auf.«
Vier acht zwei. Zu klein. Zu klein.
Sie ist böse. Sie ist ein Kind des Teufels. Töte sie.
Kind. Kind. Kind. Jock spürte, wie ihn das Wort regelrecht zerriss, wie es aus ihm herausschrie.
Es spielt keine Rolle. Tu deine Pflicht. Ohne deine Pflicht bist du nichts. Wenn du versagst, bin ich enttäuscht von dir. Du weißt, was das bedeutet.
Schmerz. Einsamkeit. Dunkelheit.
Und Reilly lauerte in der Dunkelheit. Jock konnte ihn nie sehen, doch er wusste, dass er da war. Er brachte Angst. Er brachte Schmerz.
Vier acht zwei. Töte das Kind. Geh zu dem Haus. Es ist noch nicht zu spät. Wenn du es tust, werde ich dir verzeihen.
»Nein!« Jock riss die Augen auf. Sein Herz pochte wie wild. Er würde sterben. Reilly hatte ihm gesagt, er würde sterben, wenn er ihn jemals verraten oder ihm den Gehorsam verweigern würde, und jetzt war es so weit. »Ich bin nicht gestorben, als ich das kleine Mädchen nicht getötet habe. Du kannst mir nichts antun.«
Stirb.
Sein Herz wurde immer größer, schwoll an, bis er keine Luft mehr bekam.
Stirb.
Er konnte spüren, wie er sich auflöste, immer kälter wurde, wie er starb …
Schwäche. Schande. Nicht lebenswert.
Stirb.
Wenn er starb, wenn ihn diese Schande umbrachte, dann würde der Burgherr auch sterben. Er würde versuchen, Reilly umzubringen, und er, Jock, würde nicht da sein, um ihn zu schützen.
Stirb.
Nein, ich werde nicht sterben.
Stirb.
Er konnte Reilly jetzt deutlicher sehen. Wie er im Schatten herumlungerte. Kein Geist. Kein Geist. Ein Mann.
Stirb. Hör auf zu kämpfen. Dein Herz ist dabei, zu bersten. Es wird bald aufhören zu schlagen. Du willst, dass es aufhört.
Reilly wollte, dass es aufhörte zu schlagen. Und Jock wollte nicht mehr tun, was Reilly ihm befahl. Dieser Weg führte in die Schande.
Nicht in Panik geraten. Konzentrier dich darauf, den Schmerz zu beherrschen. Verlangsame deinen Herzschlag.
Stirb.
Du kannst mich mal.
»Jock.« MacDuff rüttelte ihn an der Schulter. »Antworte mir. Verdammt, Jane hat mir gesagt, es geht dir gut. Ich hätte nie –«
Langsam öffnete Jock die Augen. »Es ist nicht – Ich werde nicht sterben.«
MacDuff atmete erleichtert auf. »Jeder muss sterben.« Er zauste das blonde Haar des Jungen. »Aber du hast noch viele Jahre vor dir.«
»Das habe ich nicht geglaubt. Reilly wollte nicht –« Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck des Staunens. »Aber es spielt keine Rolle, was er will, oder? Ich kann tun, was ich will.«
»Du kannst nicht von einem hohen Dach springen.« MacDuff räusperte sich. »Aber alles, was vernünftig ist, kannst du tun.«
»Er wartet immer noch auf mich. Aber er kann mir nicht mehr wehtun, wenn ich es nicht zulasse.«
»Genau das versuche ich dir schon lange klar zu machen.«
»Ja …« Er legte den Kopf zur Seite. »Ich möchte noch ein bisschen schlafen. Ich bin so müde … Er wollte nicht aufhören. Aber ich habe ihm nicht nachgegeben.«
»Sehr gut.« MacDuff schluckte. »Kannst du mir sagen, wo er ist?«
»Noch nicht. Ich sehe Bilder, aber es gibt keinen Zusammenhang. Und vielleicht ist er ja gar nicht mehr dort. Er hält sich häufig an anderen Orten auf.«
»Idaho?«
Jock nickte. »Ich denke immer noch, dass es Idaho ist.«
»Wo?«
Er antwortete nicht sofort. »In der Nähe von Boise.«
»Bist du sicher?«
»Nein. Manchmal hat Reilly mir Erinnerungen an Dinge eingeflößt, die nie passiert sind. Aber als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin, habe ich in einem Skiort in der Nähe von Boise in einem Sportgeschäft gearbeitet. Er hat mir einen Job angeboten, und wir sind in eine Kneipe in der Stadt gegangen. Nach dem dritten Bier bin ich bewusstlos geworden. Das nehme ich jedenfalls an. Danach gab es nur noch Reilly.«
»Wie hieß der Skiort?«
Jock überlegte. »Powder Mountain.«
»Und die Kneipe?«
»Harrigan’s.« Er zog die Stirn kraus. »Aber ich habe Ihnen ja gesagt, manchmal weiß ich nicht, was wirklich war und was –«
»Ich werde das überprüfen.« MacDuff stand auf. »Ich gebe dir Bescheid. Versuch einfach weiter, dich zu erinnern.«
»Mehr kann ich nicht tun.« Jock lächelte freudlos. »Ich werde diese Erinnerungen nicht los. Es wirbelt alles im Kreis, mit Reilly im Zentrum.«
»Wir müssen so viel wie möglich über ihn wissen.«
»Ich versuch’s. Aber es steht zu viel im Weg. Straßensperren …«
»Spring einfach drüber.« MacDuff wandte sich zum Gehen. »Du schaffst das.«
»Ich weiß«, antwortete Jock ruhig. »Aber vielleicht nicht rechtzeitig.«
Noch vor einer Woche hätte MacDuff es nicht für möglich gehalten. Aber dass Jock sich plötzlich Gedanken über Konsequenzen machen konnte, erfüllte ihn mit Mut und Hoffnung, und Jock war so normal, wie er ihn nicht mehr erlebt hatte, seit er ihn als Jungen kennen gelernt hatte. »Unsinn. Ich habe großes Vertrauen in dich.«
»Wirklich?«
»Glaubst du, ich hätte das alles mit dir zusammen durchgestanden, wenn ich kein Vertrauen zu dir hätte?« Er lächelte ihm über die Schulter hinweg zu. »Tu, was du zu tun hast. Sieh zu, dass ich stolz auf dich sein kann, Junge.«
»Dazu ist es zu spät. Aber ich werde tun, was ich tun muss.« Er schloss die Augen. »Es könnte ein bisschen dauern.«
»Wir lassen dir Zeit.«
»Gut. Er kommt mir immer wieder in die Quere. Ich kann nicht richtig sehen …«
»Das wird sich ändern. Lass einfach alles an dich heran.«