Zwei
»Also, was wissen Sie über diese Scheißkerle?«, fragte Joe, nachdem sie das Wartezimmer verlassen hatten. »Irgendwelche Zeugen, die gesehen haben, wie sie abgehauen sind?«
Manning schüttelte den Kopf. »Bisher hat sich niemand gemeldet. Wir wissen nicht mal, ob es nur zwei Täter waren.«
»Großartig.«
»Hören Sie, wir tun unser Bestes. Das hier ist eine College-Stadt, die Eltern sämtlicher Studenten werden uns im Nacken sitzen, sobald sie von diesem Vorfall erfahren.«
»Zu Recht.«
»Ms MacGuire hat angeboten, von dem Gesicht des einen Täters eine Zeichnung anzufertigen. Glauben Sie, dass sie brauchbar sein wird?«
Joe nickte knapp. »Wenn sie den Mann gesehen hat, dann wird die Zeichnung Ihnen helfen. Sie ist verdammt gut.«
Fox hob eine Braue. »Kann es sein, dass Sie voreingenommen sind?«
»Allerdings. Voll und ganz. Trotzdem entspricht das, was ich sage, der Wahrheit. Ich habe sie schon Leute zeichnen sehen, die sie nur kurz und in extremen Stresssituationen gesehen hat, trotzdem stimmten die Porträts bis ins Detail.«
»Wir haben bisher noch kein überzeugendes Motiv. Besitzen Sie so viel Geld, dass jemand in Versuchung kommen könnte, Ms MacGuire zu entführen?«
»Ich bin kein Rockefeller, aber ich bin nicht unvermögend.« Er zuckte die Achseln. »Wer zum Teufel kann schon sagen, für wie viel Geld einer ein Verbrechen begeht? Ich habe schon Drogensüchtige erlebt, die für zehn Dollar ihrer Mutter die Kehle durchgeschnitten hätten.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. Eve müsste inzwischen mit ihrer Mutter unterwegs zum Krankenhaus sein. Gott, er hätte ihnen so gern Hoffnung gemacht. »Was ist mit Reifenspuren? Irgendwelche DNA?«
»Die Forensiker gehen gerade noch mal mit dem Läusekamm über den Tatort.« Manning warf einen Blick über die Schulter auf die Tür zum Wartezimmer. »Sie ist eine hartgesottene junge Dame.«
»Darauf können Sie sich verlassen.« Hartgesotten, loyal und liebevoll, und sie hatte schon genug in ihrem Leben durchgemacht, sie hatte es nicht verdient, dass ihr so etwas passierte, verdammt.
»War Sie Ihr Pflegekind?«
Joe nickte. »Sie war zehn, als sie zu uns kam. Davor ist sie in mindestens einem Dutzend Kinderheimen gewesen und praktisch auf der Straße aufgewachsen.«
»Aber bei Ihnen hat sie doch dann ein recht behütetes Leben geführt.«
»Ganz so behütet nun auch wieder nicht, wenn man bedenkt, dass sie jahrelang jeden Schülerjob angenommen hat, den sie kriegen konnte, um für ihr Studium zu sparen. Jane nimmt nichts an, was sie nicht bezahlen kann.«
»Ich wünschte, dasselbe könnte ich von meinem Sohn behaupten«, bemerkte Fox stirnrunzelnd. »Sie kommt mir … irgendwie bekannt vor. Sie erinnert mich an jemanden. Irgendwas an ihrem Gesicht.«
O Gott. Nicht schon wieder. »Sie haben Recht. Sie ist ausgesprochen hübsch.« Joe wechselte das Thema. »Was uns auf ein anderes mögliches Motiv bringt. Versuchte Vergewaltigung? Oder Zwangsprostitution?«
»Wir lassen gerade bei der Sitte alles überprüfen –«
»Verdammter Mist.« Die Aufzugtüren hatten sich geöffnet und Joe sah, wie Eve und Sandra gerade in den Korridor traten. »Hören Sie, Mike Fitzgeralds Mutter ist gerade gekommen. Ich muss sie und Eve zu Jane ins Wartezimmer bringen. Aber ich habe Jane versprochen, mich nach Mikes Zustand zu erkundigen. Würden Sie sich eine von den Krankenschwestern schnappen und mal sehen, ob Sie was aus ihr rausquetschen können?«
»Sicher, ich übernehme das«, sagte Manning. »Gehen Sie nur und kümmern Sie sich um Ihre Familie.«
»Ein zäher Hund. Einen Moment lang hatte ich fast das Gefühl, einem Verhör unterzogen zu werden. Ich weiß nicht, ob ich mich auf Ermittlungen konzentrieren könnte, wenn meine eigene Familie betroffen wäre«, sagte Manning, als er mit Fox zum Schwesternzimmer ging. »Und es ist nicht zu übersehen, dass ihm das Mädchen am Herzen liegt.«
»Stimmt.« Fox war immer noch nachdenklich. »Er beschützt sie wie ein Wolf. Wie hieß noch mal ihre –« Plötzlich schnippte er mit den Fingern. »Eve Duncan!«
»Wie?«
»Sie sagte, ihre Pflegemutter heißt Eve Duncan.«
»Und?«
»Jetzt weiß ich, an wen sie mich erinnert.«
»An Eve Duncan?«
»Nein, vor ungefähr einem Jahr hab ich auf dem Discovery Channel mal eine Sendung über eine Gesichtsrekonstruktion gesehen, die Eve Duncan angefertigt hat. Sie hatte das Gesicht einer Schauspielerin rekonstruiert, die vor zweitausend Jahren in den Ruinen von Herkulaneum unter der Vulkanasche begraben worden war. Jedenfalls nahm man an, dass es sich um diese Frau handelte, aber es wurde auch was von irgendeiner groß angelegten Ermittlungsaktion erwähnt, und zwar im Zusammenhang mit …« Er schüttelte den Kopf.»Ich kann mich nicht mehr erinnern. Vielleicht lese ich das noch mal nach. Ich weiß nur, dass die Geschichte damals einen Riesenwirbel verursacht hat.«
»Du kommst vom Thema ab. Wolltest du mir nicht sagen, an wen Jane MacGuire dich erinnert?« Manning sah ihn verwundert an.
»Nein, ich komme nicht vom Thema ab. Es war die Rekonstruktion. Sie sieht genauso aus wie die tote Frau, deren Gesicht Eve Duncan rekonstruiert hatte.« Fox legte die Stirn in Falten, als er versuchte, sich an den Namen zu erinnern. »Cira.«
Cira.
Auch Manning hatte den Namen schon einmal gehört. Er erinnerte sich dunkel an einen Zeitungsartikel, in dem nebeneinander eine Statue und die Rekonstruktion abgebildet gewesen waren. »Was du nicht sagst! Dann ist Eve Duncan vielleicht gar nicht so gut wie ihr Ruf –« Er brach ab, als die Tür des Operationssaals sich öffnete und zwei in Grün gekleidete Ärzte heraustraten. »Sieht aus, als bräuchten wir niemanden auszuquetschen. Die Operation ist offenbar beendet.«
Sandra sah furchtbar aus, dachte Jane, als die drei ins Wartezimmer kamen. Eingefallen, blass und zwanzig Jahre älter als noch vor einem Monat, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten.
»Ich verstehe das nicht.« Sandra schaute Jane vorwurfsvoll an. »Was ist denn passiert?«
»Ich habe dir doch erklärt, was passiert ist«, sagte Eve und legte Sandra eine Hand auf den Arm. »Jane weiß auch nicht mehr als wir.«
»Aber sie muss mehr wissen. Sie war doch dabei«, entgegnete Sandra gepresst. »Was zum Teufel hattest du überhaupt mit meinem Sohn in der dunklen Seitenstraße hinter der Kneipe zu suchen? Du müsstest doch wissen, dass sich in solchen Gegenden alle möglichen Drogensüchtige und Verbrecher rumtreiben!«
»Beruhige dich, Sandra«, sagte Eve. »Sie kann dir das bestimmt erklären. Es ist ja schließlich nicht ihre Schuld, dass –«
»Es ist mir egal, wessen Schuld es ist. Ich will Antworten.« Tränen liefen ihr über die Wangen. »Und sie hat mir versprochen, dass sie –«
»Ich hab’s versucht.« Janes Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich konnte doch nicht wissen – Ich dachte, ich hätte das Richtige getan, Sandra.«
»Er ist doch noch ein Junge«, schluchzte Sandra. »Mein Junge. Er ist von dieser schrecklichen Mutter zu mir gekommen und mein Kind geworden. Mein Junge. Das hätte ihm nicht passieren dürfen. Das hätte uns nicht passieren dürfen.«
»Ich weiß«, erwiderte Jane mit zittriger Stimme. »Ich liebe ihn doch auch. Er ist für mich immer wie ein kleiner Bruder gewesen. Ich habe versucht, mich um ihn zu kümmern.«
»Du hast dich um ihn gekümmert«, sagte Joe. »Sandra ist verzweifelt, sonst würde sie sich daran erinnern, wie oft du ihm aus der Patsche geholfen hast.«
»Du redest, als wäre er ein schlechter Junge«, entgegnete Sandra. »Er benutzt vielleicht nicht immer seinen Kopf, aber so sind Jungs nun mal –«
»Er ist ein wunderbarer Junge.« Jane trat auf Sandra zu. Am liebsten hätte sie sie in den Arm genommen und getröstet, aber Sandra wurde plötzlich ganz steif. »Er ist intelligent und lieb und er –«
»Quinn?« Manning erschien in der Tür. »Die Operation ist beendet, Doktor Benjamin ist auf dem Weg hierher, um mit Ihnen zu reden. Wir melden uns dann später wieder bei Ihnen.«
Jane fiel auf, dass der Detective nur Joe anschaute und darauf bedacht war, mit niemand anderem Blickkontakt aufzunehmen.
O Gott.
»Mike?«, flüsterte Sandra. »Mike?« Sie hatte Mannings Verhalten auf dieselbe Weise gedeutet wie Jane und ihre Augen weiteten sich vor Schreck.
»Der Arzt wird gleich hier sein.« Manning wandte sich hastig ab und ging an dem Arzt vorbei, der gerade kam.
Doktor Benjamins Gesichtsausdruck war ernst und mitfühlend – und traurig.
»Nein«, flüsterte Jane. »Nein, nein, nein!«
»Es tut mir Leid«, sagte der Arzt. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie Leid es –«
Sandra schrie.
»Er ist tot, Trevor«, sagte Bartlett. »Der Junge ist auf dem OP-Tisch gestorben.«
»Verdammt.« In einer ohnehin schon schwierigen Situation war das Schlimmste eingetreten. »Wann?«
»Vor zwei Stunden. Sie haben gerade das Krankenhaus verlassen. Jane sah furchtbar aus.«
Trevor fluchte vor sich hin. »Sind Quinn und Eve bei ihr?«
»Ja, sie sind im Krankenhaus eingetroffen, kurz bevor der Junge gestorben ist.«
Dann hatte Jane wenigstens Beistand und Schutz. »Weißt du, wann die Beerdigung stattfinden wird?«
»Himmel, es ist doch gerade erst passiert. Und du hast mir eingeschärft, ich soll sie beobachten, aber auf keinen Fall Kontakt zu ihr aufnehmen.«
»Finde raus, wann die Beerdigung ist.«
»Willst du etwa daran teilnehmen?«
»Weiß ich noch nicht.«
»Soll ich zum MacDuff’s Run zurückkommen?«
»Nein, verdammt. Bleib, wo du bist, und behalt sie im Auge. Sie ist jetzt mehr denn je in Gefahr.«
»Glaubst du, dass Grozak dahintersteckt?«
»Sieht ganz danach aus. Wäre sonst ein unwahrscheinlicher Zufall. Sie waren hinter Jane her und der Junge ist ihnen in die Quere gekommen.«
»Traurige Sache«, sagt Bartlett bedrückt. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie Leid es mir tut, dass ich das nicht verhindern konnte. Mit so was hab ich einfach nicht gerechnet. Es ging alles so schnell. Sie ist mit dem Jungen in der Seitenstraße verschwunden, und ehe ich mich’s versah, kam der Wagen rückwärts wieder rausgerast.«
»Es ist nicht deine Schuld. Wir waren uns ja nicht mal sicher, dass Grozak sie im Visier hat. Du hattest schließlich nichts Verdächtiges bemerkt.«
»Traurige Sache«, wiederholte Bartlett. »Das Leben ist so kostbar, und er war noch so jung.«
»Genau wie Jane. Und ich will nicht, dass sie Grozak in die Finger gerät. Pass auf sie auf.«
»Du weißt, dass ich das tue. Aber gegen Typen wie Grozak habe ich keine Chance, falls die Situation sich zuspitzt. Ich bin zwar nicht auf den Kopf gefallen, aber auch nicht als Kampfmaschine ausgebildet. Du solltest entweder Brenner schicken oder selber herkommen.«
»Brenner ist in Denver.«
»Dann bleibt dir wohl keine Wahl, oder?«, fragte Bartlett. »Du wirst mit ihr Kontakt aufnehmen und ihr reinen Wein einschenken müssen.«
»Und damit Grozak wissen lassen, dass er genau richtig getippt hat? Auf keinen Fall. Womöglich hat er diese Leute nur auf einen vagen Verdacht hin nach Harvard geschickt. Ich werde nichts unternehmen, was ihn womöglich darauf bringt, dass Jane etwas mit Ciras Gold zu tun haben könnte.«
»Das war aber ein äußerst brutales Vorgehen auf einen vagen Verdacht hin. Er hat immerhin Mike Fitzgerald getötet.«
»Für Grozak ist das normal. Ich habe schon erlebt, wie er einem Mann die Kehle durchgeschnitten hat, bloß weil der ihm aus Versehen auf die Füße getreten war. Er ist der bösartigste Typ, dem ich je über den Weg gelaufen bin. Aber dieser Anschlag wurde eigentlich zu stümperhaft durchgeführt. Wer auch immer für den Tod des Jungen verantwortlich ist, hat sich viel zu tief in die Karten gucken lassen. Ich tippe auf Leonard, und ich wette, dass Grozak den Mord nicht wollte. Bestimmt hat Leonard es vermasselt.«
»Dann wird er sich jetzt vielleicht zurückziehen, wo Jane auf der Hut ist und unter dem Schutz ihrer Familie steht.«
»Vielleicht.« Trevor hoffte, dass Bartlett Recht hatte, konnte sich jedoch nicht darauf verlassen. »Vielleicht aber auch nicht. Bleib an ihr dran.« Er legte auf und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er hatte so sehr gehofft, dass der Junge es überleben würde. Nicht nur weil er ein unschuldiges Opfer war, sondern auch weil Jane nicht schon wieder einen Schicksalsschlag gebrauchen konnte. Sie hatte als Slum-Kind so viele schlimme Erfahrungen gemacht, dass es für ein ganzes Leben reichte. Nicht dass sie je über ihre Kindheit gesprochen hätte. In der kurzen Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, war kein Raum gewesen, um gegenseitiges Vertrauen zu entwickeln. Nicht einmal für eine normale menschliche Beziehung. Andererseits war nichts an ihrer Begegnung vor vier Jahren normal gewesen. Er hatte diese Zeit als stimulierend, erschreckend, irritierend und … sinnlich in Erinnerung. Ja, verdammt, sinnlich. Lange unterdrückte Erinnerungen kamen wieder hoch und sein Körper reagierte, als stünde Jane vor ihm.
Er musste sich unbedingt wieder in den Griff bekommen. Gerade jetzt war der denkbar ungünstigste Zeitpunkt, um Sex ins Spiel kommen zu lassen. Nicht nur für ihn selbst, sondern auch für Jane MacGuire.
Je weiter er sie von sich fern halten konnte, umso größer war ihre Chance, am Leben zu bleiben.
»Sie schläft.« Eve kam aus dem Hotelzimmer in den Aufenthaltsraum. »Der Arzt hat ihr ein so starkes Beruhigungsmittel verabreicht, dass er damit einen Elefanten ins Land der Träume schicken könnte.«
»Das Problem ist nur, dass der Schock sie dann ein zweites Mal treffen wird, wenn sie aufwacht«, sagte Jane. »Ich wusste, dass sie es sehr schwer nehmen würde, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie völlig zusammenbricht. Sie kam mir immer so stark vor wie du, Eve.«
»Sie ist stark. Sie hat ihre Drogensucht überwunden, sie hat mir damals beigestanden, als Bonnie ermordet wurde. Sie hat sich ein ganz neues Leben aufgebaut und anschließend die Scheidung von Ron überlebt.« Eve rieb sich die Schläfen. »Aber der Tod eines Kindes ist so schlimm, dass man daran zugrunde gehen kann. Ich selbst wäre beinahe daran zugrunde gegangen.«
»Wo ist Joe?«
»Er trifft Vorbereitungen für die Beerdigung. Sandra will Mikes Leichnam nach Atlanta überführen lassen. Wir reisen morgen ab.«
»Ich komme mit. Bleibst du heute Nacht bei ihr?«
Eve nickte. »Ich möchte gern bei ihr sein, wenn sie aufwacht. Womöglich schläft sie nicht so gut, wie wir hoffen.«
»Oder sie kriegt Albträume«, fügte Jane müde hinzu. »Andererseits ist wach zu sein ja schon ein Albtraum. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass das passiert ist. Ich kann einfach nicht glauben, dass Mike –« Ihr versagte die Stimme. Als sie sich wieder gefangen hatte, fuhr sie fort: »Manchmal ergibt alles einfach keinen Sinn. Er hatte sein ganzes Leben noch vor sich. Warum hat er bloß –« Sie brach erneut ab. »Verdammt, ich hab ihn angelogen. Er hatte solche Angst. Ich hab ihm gesagt, er soll mir vertrauen, ich würde dafür sorgen, dass alles gut wird. Und er hat mir geglaubt.«
»Und das hat ihn getröstet. Du konntest doch nicht wissen, dass es eine Lüge war. In gewisser Weise war es eher ein Flehen.« Eve lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Ich bin froh, dass du bei ihm warst. Wenn Sandra erst mal anfängt, ihren Schmerz zu überwinden, wird sie auch dankbar dafür sein. Sie weiß, wie sehr Mike dich gemocht hat, wie sehr du für ihn da warst.«
»Vielleicht hat er das ganz anders empfunden … Als ich gestern in die Kneipe kam, um ihn da rauszuholen, hat er ein paar Dinge gesagt, die – Mike war nicht besonders selbstsicher und ich hab ihn manchmal ganz schön hart rangenommen.«
»Aber die meiste Zeit bist du ganz wunderbar mit ihm umgegangen. Also hör auf, dir den Kopf darüber zu zerbrechen, was hätte gewesen sein können. Dieses Spiel kann man nicht gewinnen. Erinnere dich lieber an die guten Zeiten.«
»Das fällt mir im Moment ziemlich schwer. Ich kann an nichts anderes denken als daran, dass dieser Dreckskerl Mike erschossen hat. Vielleicht war es meine Schuld. Ich hab ganz instinktiv reagiert, als der Typ auf mich losgestürzt ist. Wenn ich mich nicht gewehrt hätte, hätten die uns vielleicht einfach nur ausgeraubt. Mike hat mich gefragt, warum ich dem Mann nicht mein Geld gegeben hab. Aber der hat gar kein Geld von mir verlangt. Andererseits, wenn ich ihm Gelegenheit gegeben hätte –«
»Du hast gesagt, der andere Mann hätte seinem Komplizen zugeraunt, sie müssten das Mädchen schnappen. Das klingt nicht so, als wären die auf Geld aus gewesen.«
»Nein. Du hast Recht. Ich bin ganz wirr im Kopf.« Müde schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf. »Vielleicht hatten die vor, mich zu vergewaltigen oder zu entführen, wie Manning meinte. Woher zum Teufel soll ich das wissen?« Sie ging zur Tür. »Ich gehe ins Wohnheim und packe meine Sachen. Wir sehen uns morgen früh. Ruf mich an, falls du mich brauchst.«
»Ich möchte nur eins: Dass du dich an die guten Zeiten mit Mike erinnerst.«
»Ich werd’s versuchen.« Sie blieb an der Tür stehen und schaute Eve an. »Weißt du, an was ich mich am deutlichsten erinnere? Als wir noch Kinder waren, ist Mike von zu Hause ausgerissen und versteckte sich ein paar Straßen weiter in einer Gasse. Seine Mutter war Prostituierte, und du weißt ja, wie schlimm es jedes Mal für Mike war, wenn sein Vater nach Hause kam. Ich hab ihm tagsüber was zu essen gebracht, und abends hab ich mich aus dem Haus geschlichen, um ihm da draußen ein bisschen Gesellschaft zu leisten. Er war ja erst sechs, und er hatte Angst im Dunkeln. Er hatte überhaupt ganz oft Angst. Aber wenn ich bei ihm war, ging es ihm besser. Dann hab ich ihm Geschichten erzählt und dann ist er –« Gott, sie hatte schon wieder einen Kloß im Hals. »Dann ist er eingeschlafen.« Sie öffnete die Tür. »Und jetzt wird er nie wieder aufwachen.«
»Sie können da nicht hin, Trevor«, sagte Venable scharf. »Sie wissen ja nicht mal, ob es Grozak war.«
»Es war Grozak.«
»Das wissen Sie nicht mit Bestimmtheit.«
»Ich bitte Sie nicht um Ihre Erlaubnis, Venable. Ich hab Ihnen gesagt, was Sie zu tun haben, und ich komme Ihnen entgegen, indem ich Sie darüber informiere, dass es ein Problem gibt. Wenn ich entscheide, dass es das Beste ist, bin ich weg.«
»Es geht mir mehr um das, was Sie dort vorhaben. Warum auf den vagen Verdacht hin handeln, dass es Grozak gewesen sein könnte? Manchmal glaube ich, Sabot hat Recht, wenn er behauptet, dass Grozak das unmöglich allein durchziehen kann. Er ist brutal und durchtrieben, trotzdem ist er ein kleiner Fisch.«
»Wie gesagt, ich gehe davon aus, dass Thomas Reilly die Finger im Spiel hat. Und das ändert die Situation grundlegend.«
»Aber das sind alles theoretische Schlussfolgerungen. Sie haben keinerlei Beweise. Und die Kleine ist nicht wichtig. Sie können nicht alles aufs Spiel setzen und –«
»Machen Sie Ihren Job. Wer oder was wichtig ist, entscheide immer noch ich.« Damit legte er auf.
Gott, Venable konnte einem das Leben echt schwer machen. Am liebsten hätte Trevor ihn in Bezug auf Jane im Dunkeln gelassen, aber das ging nicht. Bei einer derart komplizierten Operation einen der Beteiligten über irgendetwas im Unklaren zu lassen war leichtsinnig, wenn nicht glatter Selbstmord. Selbst wenn es nicht um die Entscheidung ginge, ob er seine Arbeit hier am MacDuff’s Run vernachlässigte, musste er sicherstellen, dass Venable ihm den Rücken freihielt.
Er stand auf und ging den Korridor hinunter zu dem Büro, in dem Mario arbeitete. Mario hatte sich bereits ins angrenzende Schlafzimmer zurückgezogen. Ohne Licht zu machen durchquerte Trevor das Büro und trat vor die Statue von Cira, deren Gesichtszüge vom Mondlicht beschienen wurden. Er konnte nie genug davon bekommen, die Figur zu betrachten. Die hohen Wangenknochen, die feinen Augenbrauen, die ein bisschen an die von Audrey Hepburn erinnerten, die sanft geschwungenen Lippen. Eine schöne Frau, deren Attraktivität eher in ihrer Stärke und ihrer Persönlichkeit lag als in ihren Gesichtszügen.
Jane.
Bei dem Gedanken, wie wütend es sie machen würde, wenn sie wüsste, dass er sie mit Cira verglich, musste er lächeln. Sie sträubte sich schon so lange dagegen. Und eigentlich stimmte es auch gar nicht. Zwar gab es eine gewisse Ähnlichkeit, doch seit er Jane kennen gelernt hatte, dachte er nicht mehr an Cira, wenn er die Statue betrachtete, sondern an Jane, die lebendige, vor Energie sprühende, intelligente und sehr direkte Jane.
Sein Lächeln verschwand. Ihre Direktheit konnte ihr jetzt zur Gefahr werden. Sie kannte nur eine Art, zu reagieren, jedes Problem packte sie ohne Zögern an und ließ sich durch kein Hindernis aufhalten. Sie würde sich nicht damit zufrieden geben, einfach abzuwarten, bis die Polizei Mike Fitzgeralds Tod aufgeklärt hatte.
Zärtlich streichelte er die Wange der Statue. Sie fühlte sich glatt und kühl an. Er wünschte, er könnte immer noch Cira in der Figur sehen.
Glatt und kalt.
Ohne Leben …
Sein Handy klingelte. Venable?
»Hallo, Trevor, hier spricht Thomas Reilly.«
Trevor erstarrte.
»Wir sind uns noch nicht begegnet, aber ich denke, Sie haben von mir gehört. Wir haben ein gemeinsames Interesse. In Herkulaneum wären wir uns in den vergangenen Jahren mehrmals beinahe über den Weg gelaufen.«
»Was wollen Sie von mir, Reilly?«
»Das, was wir beide wollen. Aber ich werde es bekommen, weil ich es mehr will als jeder andere. Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen und festgestellt, dass Sie eine weiche Seite haben, einen gewissen Idealismus, den ich Ihnen gar nicht zugetraut hätte. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass Sie bereit wären, mir das Gold einfach zu überlassen.«
»Träumen Sie weiter.«
»Selbstverständlich würde ich Ihnen einen großzügigen Anteil überlassen.«
»Wie großzügig? Und was ist mit Grozak?«
»Unglücklicherweise stellt mein Freund Grozak sich manchmal ein bisschen tollpatschig an, weshalb ich den Eindruck habe, dass ich Unterstützung gebrauchen kann.«
»Mit anderen Worten, Sie wollen ihn reinlegen.«
»Das liegt bei Ihnen. Ich verhandle mit jedem, der mir geben kann, was ich haben will. Wahrscheinlich werde ich Grozak sogar sagen, dass ich zu Ihnen Kontakt aufgenommen habe, um seinen Ehrgeiz ein wenig anzustacheln.«
»Sie wollen das Gold.«
»Ja.«
»Ich habe es noch nicht. Und wenn ich es hätte, würde ich es Ihnen nicht geben.«
»Ich würde sagen, Sie haben ziemlich gute Aussichten, es zu finden. Aber das Gold ist nicht alles, was ich haben will.«
»Die Cira-Statue. Die kriegen Sie nicht.«
»O doch, ich werde sie in meinen Besitz bringen. Sie gehört mir. Sie haben Sie mir vor der Nase weggeschnappt, als ich sie von dem Händler kaufen wollte. Ich werde alles in meinen Besitz bringen.«
»Alles?«
»Ich bin an noch etwas anderem interessiert. Ich mache Ihnen ein Angebot …«
»Das war Joe Quinn«, sagte Manning, nachdem er aufgelegt hatte. »Er hat vom Flughafen aus angerufen. Er verlangt Personenschutz für Jane MacGuire, wenn sie nach der Beerdigung wieder zur Uni geht.«
»Und? Wirst du das beantragen?«, fragte Fox und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Klar, werde ich das.« Manning schüttelte den Kopf. »Aber nachdem das Budget mal wieder gekürzt wurde, wird der Captain mir den Kopf abreißen, wenn ich ihm keinen überzeugenden Grund nennen kann. Können wir irgendwas von dem, was du im Internet rausgefunden hast, mit dem Fall in Verbindung bringen?«
»Vielleicht. Mal sehen …« Fox beugte sich vor und tippte einen Zugangscode in den Computer. »Als wir vom Krankenhaus zurückgekommen sind, habe ich diesen Zeitungsartikel runtergeladen. Er ist sehr interessant, aber ich glaube nicht, dass wir darin eine Verbindung zu jemandem finden, der unter Mordverdacht steht. Es sei denn, wir reden über Gespenster.« Er lud den Artikel auf den Bildschirm, dann drehte er den Laptop um, damit Manning den Text lesen konnte. »Offenbar hatte der Vater dieses Serienmörders Aldo Manza einen Narren an einer Schauspielerin gefressen, die vor zweitausend Jahren bei dem Vulkanausbruch, der Herkulaneum und Pompeji zerstört hat, ums Leben gekommen ist. Der Mann war Archäologe, und er war sich nicht zu schade, einen illegalen Handel mit Kunstgegenständen zu betreiben. Aber er hat in den Ruinen von Herkulaneum eine Statue von dieser Schauspielerin gefunden, die übrigens Cira hieß.«
»Und?«
»Aldo selbst hatte auch einen Tick. Er konnte keine Frau am Leben lassen, die irgendeine Ähnlichkeit mit dieser Cira-Statue hatte. Er hat gezielt nach solchen Frauen gesucht, und wenn er sie gefunden hat, dann hat er ihnen zuerst die Gesichtshaut abgezogen und sie dann getötet.«
»Was für ein perverses Schwein. Und du meinst, Jane MacGuire sieht dieser Cira ähnlich?«
Fox nickte. »Sie ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Deswegen hat Aldo versucht, sie zu töten.«
»Hat er ihr aufgelauert?«
»Ja, aber Eve Duncan und Joe Quinn haben den Spieß umgedreht. Sie haben ihm in den unterirdischen Gängen in Herkulaneum eine Falle gestellt. Eve Duncan hat das Gesicht von einem der Skelette rekonstruiert, die man im Hafen von Herkulaneum gefunden hatte, und dann haben sie in Fachzeitschriften fingierte Berichte veröffentlicht, denen zufolge es sich um den Schädel von Cira handelte. Aldo ist darauf reingefallen und so konnten sie ihn ausschalten.«
»Er ist tot?«
»Mausetot. Wie sein Vater.«
»Irgendwelche Angehörigen, die auf Rache aus sein könnten?«
»Meinst du nicht, die wären längst aktiv geworden? Das alles ist doch schon vier Jahre her.«
Manning runzelte die Stirn. »Vielleicht«, murmelte er vor sich hin, während er den Artikel las. Alles stimmte mit dem überein, was Fox ihm erzählt hatte, aber eine Zeile erregte seine Aufmerksamkeit. »Hier werden Duncan, Quinn und das Mädchen erwähnt. Außerdem ein Mann namens Mark Trevor. Wer ist das?«
Fox schüttelte den Kopf. »Ich habe noch mehr Artikel gefunden, er wird in einigen davon erwähnt. Doch keiner von denen, die an der Aktion beteiligt waren, wollte eine Aussage über ihn machen. Er war auf jeden Fall dabei, hat sich jedoch verdrückt, bevor die Polizei oder irgendein Journalist ihn befragen konnte. In einem Artikel steht was von Hinweisen auf eine kriminelle Vergangenheit.«
»Aber aus unerfindlichen Gründen schützt Quinn diesen Mann.«
»Das habe ich nicht gesagt. Er redet einfach nicht über ihn.«
»Aber wenn dieser Trevor irgendwas mit dem Tod von Mike Fitzgerald zu tun hat, verstehe ich nicht, warum Quinn uns nicht auf seine Spur bringt. Quinn will das Mädchen um jeden Preis schützen. Ist Trevor bei der Polizei aktenkundig?«
»Möglich.«
»Was soll das heißen? Ja oder nein.«
»Irgendwie komme ich nicht in die richtige Datenbank rein. Ich fliege jedes Mal raus.«
»Merkwürdig. Versuch’s weiter.«
Fox nickte und drehte den Laptop wieder zu sich. »Aber du hast gesagt, Quinn würde Trevor nicht schützen, wenn er ihn im Verdacht hätte, etwas mit dem Mord zu tun zu haben. Warum soll ich also meine Zeit mit ihm vergeuden?«
»Weil immer noch die Möglichkeit besteht, dass Quinn uns außen vor halten und diesem Trevor eigenhändig die Kehle durchschneiden will.«
»Quinn ist Polizist, Herrgott noch mal. Das würde er doch nie tun.«
»Ach nein? Wie würdest du reagieren, wenn deine Tochter betroffen wäre, Fox?«
»Was machst du denn hier draußen auf der Veranda?«, fragte Eve, als sie die Stufen heraufkam. »Es ist mitten in der Nacht.«
»Ich konnte nicht schlafen.« Jane bugsierte ihren Hund Toby aus dem Weg, damit Eve sich neben sie auf die oberste Stufe setzen konnte. »Ich dachte, du übernachtest bei Sandra.«
»Das hatte ich auch vor, aber dann ist Ron gekommen, da hab ich mich ein bisschen überflüssig gefühlt. Sie mögen vielleicht geschieden sein, aber sie haben Mike beide geliebt. Ich bin froh, dass er bei ihr ist.«
Jane nickte. »Ich weiß noch, wie er Mike früher immer mit zum Angeln genommen hat. Kommt er morgen auch zur Beerdigung?«
»Heute«, korrigierte Eve. »Wahrscheinlich. Ist Joe schon schlafen gegangen?«
»Ja. Er hatte nicht mit dir gerechnet. Du solltest auch zusehen, dass du ein bisschen Schlaf bekommst. Es wird ein anstrengender Tag.« Sie schaute zum See hinüber. »Ein Albtraum von einem Tag.«
»Für dich auch. Für dich hat der Albtraum angefangen, als du Mike aus dieser Kaschemme rausgeholt hast.« Sie holte tief Luft. »Sag mal, träumst du eigentlich immer noch von Cira?«
Jane schaute sie verblüfft an. »Wie bitte? Wie kommst du denn plötzlich darauf?«
Eve zuckte die Achseln. »Albträume. Ist mir einfach so in den Sinn gekommen.«
»Ausgerechnet jetzt? Seit vier Jahren hast du mich nicht mehr nach meinen Albträumen gefragt.«
»Das bedeutet nicht, dass ich nicht daran gedacht hätte. Ich hielt es nur einfach für besser, zu vergessen, was damals passiert ist.«
»Das ist leichter gesagt als getan.«
»Offensichtlich«, erwiderte Eve trocken. »Seit du in Harvard bist, hast du an drei archäologischen Exkursionen nach Herkulaneum teilgenommen.«
Jane streichelte Tobys Kopf. »Du hast kein einziges Mal versucht, mich davon abzuhalten.«
»Damit hätte ich einer Sache, von der ich mir wünschte, dass du sie vergisst, zu große Bedeutung beigemessen. Trotzdem fand ich es schrecklich, dass du diese Reisen unternommen hast. Ich wollte nicht, dass du deine Jugend mit einer Besessenheit vergeudest.«
»Das ist keine Besess… Na ja, vielleicht doch. Ich weiß nur, dass ich mir über Cira Gewissheit verschaffen muss. Ich will wissen, ob sie bei diesem Vulkanausbruch umgekommen ist oder ob sie überlebt hat.«
»Warum? Das alles ist zweitausend Jahre her, Herrgott noch mal.«
»Du weißt, warum. Sie hatte mein Gesicht. Oder ich habe ihr Gesicht. So oder so.«
»Und du hast schon von ihrem Gesicht geträumt, bevor du überhaupt wusstest, dass sie je existiert hat.«
»Wahrscheinlich hab ich irgendwann mal was über sie gelesen.«
»Wofür du nie eine Bestätigung gefunden hast.«
»Das heißt nicht, dass ich nicht vielleicht doch irgendwo mal was über Cira gelesen habe.« Sie verzog das Gesicht. »Auf jeden Fall ist mir diese Erklärung angenehmer als irgendein Blödsinn über parapsychologische Fähigkeiten.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet. Hast du in letzter Zeit von ihr geträumt?«
»Nein. Bist du jetzt zufrieden?«
»Zum Teil.« Eve schwieg einen Moment. »Hast du Kontakt mit Mark Trevor?«
»Was ist das? Ein Verhör?«
»Nein, das bin ich, die dich liebt und versucht, sich zu vergewissern, dass es dir gut geht.«
»Es geht mir gut. Und ich habe nicht mehr mit Mark Trevor gesprochen, seit er vor vier Jahren aus Neapel verschwunden ist.«
»Ich dachte, du wärst ihm vielleicht auf einer von diesen Exkursionen über den Weg gelaufen.«
»Der würde doch nicht auf allen vieren im Dreck rumkriechen und mit ein paar Studenten nach antiken Scherben suchen. Der weiß genau, wo die Schriftrollen begraben liegen, verdammt noch mal!« Trevor war in den Schmuggel von römischen Antiquitäten verwickelt gewesen, als ein zwielichtiger Professor und dessen Sohn Aldo Kontakt zu ihm aufgenommen hatten. Die beiden hatten in einem Tunnel, der von der Villa des Julius Precebio, einem einflussreichen Bürger der Stadt, wegführte, eine Bibliothek entdeckt. Und diese Bibliothek enthielt mehrere bronzene Röhren mit wertvollen Schriftrollen, die den Vulkanausbruch, bei dem die Stadt und die Villa zerstört worden waren, unbeschadet überdauert hatten. Auf vielen der Schriftrollen hatten sich Lobeshymnen auf Julius’ Geliebte Cira gefunden, eine gefeierte Schauspielerin am Theater von Herkulaneum. Aldo und sein Vater hatten den Tunnel gesprengt, um alle zu töten, die von der Entdeckung wussten, unter ihnen auch Trevor. Aber Trevor war dem Anschlag entkommen. »Trevor war derjenige, der den Fundort nach der Sprengung getarnt hat. Er will um jeden Preis verhindern, dass jemand den Tunnel findet, bevor er die Kiste mit dem Gold da rausgeholt hat, die Julius in den Schriftrollen erwähnt.«
»Vielleicht hat er sie ja schon gefunden.«
»Vielleicht.« Diese Frage hatte Jane sich schon oft gestellt, trotzdem hatte sie weitergesucht. »Aber ich habe so ein Gefühl … Ich weiß auch nicht. Ich muss weitersuchen, verdammt. Ich müsste diejenige sein, die die Rollen findet. Ich hätte es verdient. Schließlich war ich diejenige, der dieser Schweinehund das Gesicht zerfetzen wollte, weil ich aussehe wie Cira.«
»Warum hast du Trevor dann nicht dazu gebracht, dir zu sagen, wo die Rollen sind?«
»Der Versuch, Trevor zu irgendwas zu überreden, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Er will das Gold, und er ist der Meinung, dass er ein Recht darauf hat, weil sein Freund Pietro in diesem Tunnel ums Leben gekommen ist. Außerdem – wie hätte ich ihn denn finden sollen, wenn nicht mal Interpol ihn aufstöbern kann?«
»Ich dachte eher, dass er Kontakt zu dir aufgenommen hatte, als du in Italien warst.«
»Nein, hat er nicht.« Während der ersten Exkursion, an der Jane teilgenommen hatte, hatte dieser irrationale Gedanke sie unablässig verfolgt. Immer wieder hatte sie nach ihm Ausschau gehalten, immer wieder hatte sie geglaubt, seine Stimme zu hören, damit gerechnet, ihm hinter der nächsten Ecke irgendwo über den Weg zu laufen. »Warum sollte er versuchen, mit mir in Kontakt zu bleiben? Ich war damals erst siebzehn, viel zu jung, um für ihn interessant zu sein.«
»Du warst eine Siebzehnjährige mit der Lebenserfahrung einer Dreißigjährigen«, erwiderte Eve. »Trevor ist nicht blind.«
»Du würdest dich wundern.«
»Bei Trevor würde ich mich über gar nichts wundern. Der Mann ist einzigartig.«
Jane fiel auf, dass Eve das beinahe liebevoll gesagt hatte. »Du mochtest ihn.«
»Er hat nicht nur mir das Leben gerettet, sondern auch Joe und dir. Es ist schwer, jemanden nicht zu mögen, dem man so viel verdankt. Aber das bedeutet nicht, dass ich gutheiße, was er tut. Er ist vielleicht überdurchschnittlich intelligent und hat zweifellos ein einnehmendes Wesen, aber er ist ein Schmuggler, ein Hochstapler und weiß der Himmel, was noch alles.«
»Ja, da hast du allerdings Recht. Außerdem hat er vier Jahre Zeit gehabt, um Gott weiß was für Schandtaten zu verüben.«
»Zumindest nimmst du ihn nicht in Schutz.«
»Das fehlte gerade noch. Er ist wahrscheinlich der klügste Mann, dem ich je begegnet bin, und er könnte Steine zum Weinen bringen. Aber abgesehen davon ist er mir ein Rätsel. Er kennt sich mit jeder Art von Gewalt aus und neigt dazu, die größten Risiken einzugehen. Diese Qualitäten sind nicht gerade dazu geeignet, ihn einer starrköpfigen, praktisch veranlagten Frau wie mir sympathisch zu machen.«
»Frau …« Eve schüttelte traurig den Kopf. »Für mich bist du immer noch ein Mädchen.«
»Dann soll es auch so bleiben.« Jane legte ihren Kopf an Eves Schulter. »Ich werde für dich sein, was immer du willst.«
»Ich möchte nur, dass du glücklich bist.« Sie hauchte Jane einen Kuss auf die Stirn. »Und dass du dein Leben nicht damit vergeudest, einer Frau hinterherzujagen, die seit zweitausend Jahren tot ist.«
»Ich werde mein Leben schon nicht vergeuden. Ich will nur ein paar Antworten auf ein paar Fragen haben.«
Eve schwieg eine Weile. »Vielleicht hast du Recht. Vielleicht war es dumm von mir, die Vergangenheit begraben zu wollen. Vielleicht wäre es besser gewesen, dich deinen Weg gehen zu lassen.«
»Hör auf, dich mit Selbstvorwürfen zu quälen. Du hast nie ein Wort dazu gesagt, wenn ich nach Herkulaneum gefahren bin.«
Eve blickte auf den See hinaus. »Nein, ich habe nie ein Wort dazu gesagt.«
»Es ist ja schließlich auch nicht so, als würde ich mich mit nichts anderem als mit Cira beschäftigen. Ich habe mehrere Kunstpreise gewonnen, ich habe Sarah mehrmals bei ihren Rettungseinsätzen begleitet und ich lerne ausgiebig für die Uni.« Sie lächelte. »Und ich habe meine Zeit nicht mit nichtsnutzigen Schönlingen wie Mark Trevor vergeudet. Ich bin ein Goldmädchen.«
»Ja, das bist du wirklich.« Eve stand auf. »Und so soll es auch bleiben. Wir unterhalten uns morgen nach der Beerdigung.« Sie ging zur Tür. »Wir sollten jetzt beide schlafen gehen. Ich habe Sandra gesagt, dass wir sie um elf abholen.«
»Ja, ich komme gleich nach. Ich möchte noch ein bisschen mit Toby hier draußen bleiben.« Sie umarmte ihren Hund. »Gott, Toby fehlt mir so, wenn ich in Harvard bin.« Sie seufzte. »Warum ist das alles ausgerechnet jetzt hochgekommen, Eve?«
»Ich weiß es nicht.« Sie öffnete die Fliegengittertür. »Mike. Dieser grauenhafte Mord. Wahrscheinlich hat mich das alles an Aldo erinnert, an seine fixe Idee mit Cira, an all die grausamen Morde … und daran, wie er dir nachgestellt hat. Und der Mord an Mike könnte auch etwas mit dir zu tun haben.«
»Vielleicht auch nicht. Bisher wissen wir nichts Genaues.«
»Nein, da hast du Recht.« Die Tür schloss sich hinter Eve.
Seltsam, dass Eve den Mord an Mike mit dem Albtraum in Herkulaneum in Verbindung gebracht hatte. Oder vielleicht war es auch gar nicht so seltsam. Sie, Joe, Eve und Trevor hatten gemeinsam dafür gekämpft, dieses Monster Aldo unschädlich zu machen, und anschließend versucht, das alles zu vergessen. Aber wie sollte man die Erinnerung an eine solch schreckliche Erfahrung einfach so hinter sich lassen können? Damals waren sie und Trevor einander so innig verbunden gewesen, als hätten sie sich schon seit Jahren gekannt. Und weder seine undurchsichtige Vergangenheit noch seine Rücksichtslosigkeit und sein Egoismus hatten dabei eine Rolle gespielt. Sie hatte sich einzig und allein von ihrem Selbsterhaltungstrieb leiten lassen, während Trevors Handlungsmotive Gier und Rachegelüste gewesen waren. Dennoch waren sie zusammengekommen und gemeinsam hatten sie Aldo ausgeschaltet.
Nicht mehr an ihn denken. Das Gespräch mit Eve hatte all diese Erinnerungen wieder wachgerufen. Normalerweise verdrängte sie Trevor aus ihrem Bewusstsein und dachte nur an ihn, wenn ihr danach war. Auf diese Weise behielt sie die Kontrolle, was ihr in seiner Gegenwart nie gelungen war.
Aber was hätte man anderes erwarten können? Sie war damals ja erst siebzehn gewesen und er fast dreißig und mit allen Wassern gewaschen. In Anbetracht des emotionalen Chaos, in das sie geraten war, hatte sie sich Trevor gegenüber verdammt gut gehalten.
Sie stand auf und ging zur Tür. Nicht an Trevor und Cira denken. Sie gehörten nicht mehr zu ihrem Leben. Sie musste sich auf ihre Familie konzentrieren und Kraft für den bevorstehenden Tag sammeln.