Sieben

»Ich habe Ihnen eine großartige Garderobe besorgt«, verkündete Bartlett, als Jane am nächsten Morgen die Treppe herunterkam. »Na ja, großartig ist vielleicht übertrieben, schließlich gibt es in dem Kaff nur ein paar Läden. Ich habe Ihnen also keine Ballkleider und samtene Schultertücher gekauft, sondern Hosen und Kaschmirpullover. Allerdings sind sie von ausgesuchter Qualität. Andererseits muss ich gestehen, dass Sie in unseren Sachen wesentlich besser aussehen, als wir das jemals von uns behaupten konnten.«

»Aber sicher doch.« Sie rümpfte die Nase, als sie die zu weiten Jeans und den Troyer betrachtete, die sie gerade trug. »Ich weiß Ihr Kompliment zu schätzen, aber ich kann es kaum erwarten, etwas anzuziehen, über das ich nicht dauernd stolpere. Haben Sie mir auch einen Zeichenblock mitgebracht?«

Bartlett nickte. »Den zu besorgen war schon eine etwas größere Herausforderung. Ich habe schließlich einen Laden entdeckt, wo es zumindest eine kleine Auswahl gab.«

»Ich kann mich nur wundern, dass Sie so früh am Morgen überhaupt etwas bekommen konnten. Es ist doch erst kurz nach neun.«

»Die Dame, der die Damenboutique gehört, hatte Erbarmen mit mir und hat den Laden früher aufgemacht. Wahrscheinlich habe ich einen ziemlich verlorenen Eindruck gemacht, als ich mir die Nase an ihrem Schaufenster plattgedrückt habe. Nette Frau.«

Jane konnte sich gut vorstellen, wie die nette Frau dahingeschmolzen war, als Bartlett vor ihrem Geschäft stand. »Danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben. Sie hätten sich nicht so zu beeilen brauchen.«

»Keine Frau macht gern einen unvorteilhaften Eindruck, und die meisten Frauen verbinden modische Kleidung mit Selbstwertgefühl. Natürlich sind Sie nicht wie die meisten Frauen, aber ich dachte mir, es könnte nicht schaden.« Er ging zur Tür. »Ich hole die Sachen aus dem Wagen.«

»Moment.«

Er drehte sich zu ihr um. »Brauchen Sie noch etwas?«

Sie schüttelte den Kopf. »Gestern Abend habe ich jemanden vor dem Stall stehen sehen. Blond, dünn, jungenhaft. Wissen Sie vielleicht, wer das war?«

»Jock Gavin. Einer von MacDuffs Angestellten. Er wohnt in einem kleinen Zimmer über dem Stall und hängt dauernd an MacDuffs Rockzipfel. Netter Bursche. Sehr still. Scheint ein bisschen unterbelichtet zu sein. Er hat Sie doch hoffentlich nicht belästigt?«

»Nein, ich habe ihn nur vom Fenster aus gesehen. Er schien sich für irgendetwas zu interessieren, was in der Burg vor sich ging.«

»Wie gesagt, Jock ist nicht ganz richtig im Kopf. Weiß der Teufel, was er dort draußen getrieben hat. Falls er Ihnen auf die Nerven geht, sagen Sie mir Bescheid, dann werde ich ihn mir vorknöpfen.«

Sie schaute ihm lächelnd nach, als er in den Burghof hinauseilte. Was für ein liebenswürdiger Mann er war, dachte sie. Es gab nicht viele Menschen, die so fürsorglich waren wie Bartlett.

»Ach Gott, Bartlett hat wieder zugeschlagen.«

Ihr Lächeln verschwand, als sie sich zu Trevor umwandte. »Wie bitte?«

Er tat so, als müsste er sich schütteln. »Nur eine Bemerkung. Ich wollte Bartlett nicht beleidigen. Im Gegenteil, ich bewundere die Macht, die er auf Frauen ausübt.«

»Er ist ein liebenswürdiger, fürsorglicher Mann.«

»Und ich kann ihm nicht das Wasser reichen. Aber nachdem ich so viele Jahre zusammen mit dem Mann verbracht habe, weiß ich mich in mein Schicksal zu fügen.« Er schaute zu Bartlett hinüber. »Warum war er so darauf bedacht, Sie vor Jock Gavin zu schützen? Hat der Junge Sie etwa angesprochen?«

»Nein. Ich habe nur gesehen, wie er gestern Abend die Burg angestarrt hat, und wollte wissen, wer er ist.«

»Ich werde MacDuff bitten, Jock von Ihnen fern zu halten.«

»Ich habe kein Problem damit, wenn der arme Kerl mich anspricht. Ich wollte nur wissen, wer er ist.«

»Jetzt wissen Sie’s ja. Wie wär’s mit Frühstück?«

»Ich habe keinen Hunger.«

Er fasste sie am Ellbogen. »Dann gibt’s eben Saft und Kaffee.« Als er spürte, wie ihre Armmuskeln sich unter seinem Griff anspannten, sagte er barsch: »Himmelherrgott, ich werde Sie schon nicht vergewaltigen. Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten.«

»Ich fürchte mich nicht.« Das stimmte. Angst war nicht der Grund, warum sie sich sträubte. Mist, das war ihr alles zu viel. Sie riss sich von Trevor los. »Aber fassen Sie mich nicht an.«

Er trat einen Schritt zurück und hob die Hände. »So besser?«

Nein, denn sie hätte seine Hände am liebsten wieder gespürt, verflixt. »Ja, perfekt.« Sie drehte sich um und ging in Richtung Küche.

Er holte sie ein, als sie gerade den Kühlschrank öffnete. »Es ist nicht perfekt«, sagte er leise. »Sie sind kratzbürstig wie ein Stachelschwein, und ich – na ja, reden wir lieber nicht über meinen Zustand. Aber es würde uns beiden besser gehen, wenn wir uns halbwegs vertragen würden.«

»Ich habe mich in Ihrer Gegenwart noch nie wohl gefühlt.« Sie nahm einen Karton Orangensaft aus dem Kühlschrank. »Und etwas anderes haben Sie auch nie beabsichtigt. Um sich in der Gegenwart eines anderen entspannt und wohl zu fühlen, muss man ihn gut kennen, und Sie sind nicht bereit, sich irgendjemandem gegenüber preiszugeben. Sie wollen nur an der Oberfläche dahingleiten und sich ab und zu mal ein bisschen abkühlen.«

»Mich abkühlen?« Seine Mundwinkel zuckten. »Ist das ein Euphemismus für das, was ich vermute?«

»Interpretieren Sie es, wie Sie wollen.« Sie füllte ein Glas mit Orangensaft. »Es läuft auf dasselbe heraus. Sie hätten es gern ordinär? Kein Problem, das können Sie haben. Straßenkinder kennen jede schmutzige Bezeichnung, die es dafür gibt. Wie Sie Mario gegenüber bereits treffend sagten: Ich bin kein zartes Pflänzchen.«

»Nein, das sind Sie weiß Gott nicht. Sie ähneln eher dieser Schlingpflanze, die in Georgia wächst. Prachtvoll, stark, robust, und wenn man sie ließe, würde sie die ganze Welt erobern.«

Sie trank einen Schluck von ihrem Saft. »Kudzu? Das ist ein scheußliches Unkraut.«

»Das auch. Äußerst lästig.« Er lächelte. »Weil man bei Ihnen nie weiß, womit man rechnen muss. Ich hatte erwartet, dass Sie heute Morgen als Erstes auf mich losgehen würden. Sie können es nicht ausstehen, wenn irgendetwas nicht offen auf den Tisch kommt. Aber Sie greifen nicht an. Sie ziehen sich zurück. Ich muss Sie regelrecht aus der Reserve locken.« Er musterte sie. »Ich schätze, ich habe Sie wirklich tief getroffen. Sie sind noch nicht so weit. Sie schinden Zeit.«

Gott, er kannte sie wirklich zu gut. »Sie haben mich nicht tief –« Sie schaute ihm in die Augen. »Doch, Sie haben mich getroffen. Das wollten Sie ja auch. Sie können es nicht ausstehen, wenn Sie nicht alles unter Kontrolle haben, und Sie wollten mich aufs Glatteis führen. Sie wollten mich manipulieren.«

»Warum sollte ich?«

»Um zu verhindern, dass ich Ihnen Fragen stelle, und um es sich einfach zu machen, haben Sie versucht, mich abzulenken mit –«

»Mit Sex?« Er schüttelte den Kopf. »Daran ist nichts einfach. Sie wollen Fragen stellen? Schießen Sie los.«

Sie holte tief Luft. »Joe meint, Sie sind in eine ganz üble Sache verwickelt. Stimmt das?«

»Ja.«

»Aber Sie werden mir nicht verraten, worum es sich handelt?«

»Irgendwann werde ich es Ihnen verraten. Sonst noch Fragen?«

Sie antwortete nicht gleich. »Wo sind Sie gestern Abend hingegangen, als Sie die Burg verlassen haben?«

Er hob die Brauen. »Sie haben mich gesehen?«

»Ja. Wo sind Sie hingegangen?«

»Zum Turnierplatz.«

»Wie bitte?«

»Am besten, Sie sehen sich das selbst an. Ich nehme Sie mal mit, wenn Sie wollen.«

»Wann?«

»Heute Abend nach dem Essen. Ich muss den ganzen Tag arbeiten.«

»Woran arbeiten Sie denn?«

»Ich recherchiere.«

»Das sagten Sie bereits. Ich nehme an, Sie studieren die Schriftrollen.«

Er nickte. »Unter anderem. Ich versuche, die Puzzlestücke zusammenzufügen.«

»Was für Puzzlestücke?«

»Wenn ich das Bild zusammengesetzt habe, werde ich es Ihnen erklären.«

Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. »Und womit soll ich mich bis dahin beschäftigen?«

»Erkunden Sie die Burganlage, gehen Sie spazieren, zeichnen Sie, telefonieren Sie mit Eve und erzählen Sie ihr, was für ein Schurke ich bin.«

»Ach, Sie wissen also, dass ich mit Eve telefoniert habe?«

»Sie haben mir eben erzählt, Joe hätte herausgefunden, was für ein schlimmer Übeltäter ich bin.«

Richtig, das hatte sie gesagt. »Aber ich habe nicht behauptet, Eve hätte Sie einen Schurken genannt.«

»Das wird sie wohl auch nicht getan haben. Sie mag mich nämlich, wenn auch widerstrebend. Aber ich schätze, sie fühlte sich verpflichtet, ihr Misstrauen zum Ausdruck zu bringen.« Er musterte sie. »Ich versichere Ihnen, dass ich Ihr Gespräch nicht belauscht habe. Es ist mir egal, was Sie Eve und Joe erzählen.«

Sie glaubte ihm. »Ich bin hergekommen, weil ich Antworten will. Wenn ich die nicht bekomme, werde ich nicht länger hier bleiben. Zwei Tage, Trevor.«

»Ist das ein Ultimatum?«

»Darauf können Sie Gift nehmen.« Ihre Lippen bebten. »Finden Sie diese Redensart nicht anregend? Sie stehen doch auf Risiko. Sie lieben es, auf dem Hochseil zu balancieren. Vier Jahre lang haben Sie sich als Kartengeber in einem Casino durchgeschlagen, stimmt’s?«

»Ich finde Sie immer anregend. Kommen Sie heute Abend mit mir zum Turnierplatz?«

»Ja. Ich will Antworten und es ist mir egal, wie ich sie kriege.« Sie stellte ihr Glas in die Spüle. »Und deswegen werde ich weder spazieren gehen noch die Burganlage erkunden.« Sie ging zur Tür. »Ich gehe jetzt zu Mario, vielleicht ist der ja ein bisschen kommunikativer.« Über die Schulter hinweg schaute sie ihn voller Genugtuung an. »Wollen wir darauf wetten, Trevor?«

»Ich wette nicht.« Ihre Blicke begegneten sich. »Aber ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass ich entsprechend handeln werde, sollte er sich auch nur des geringste Fehlverhalten leisten.«

Ihr Lächeln verschwand. Scheißkerl. Er wusste genau, womit er sie abschrecken konnte. »Und was, wenn ich Ihnen sage, dass mir das egal ist?«

»Das wäre gelogen.« Dann fügte er barsch hinzu: »Na, gehen Sie schon. Sie haben von mir bekommen, was Sie wollten. Mario wird sich freuen, Sie zu sehen.«

Ja, sie hatte ihn zu der gewünschten Reaktion provoziert, empfand aber keinerlei Triumph. Sie hatte vorgehabt, es ihm heimzuzahlen, ihn zu ärgern, seine kühle, glatte Fassade aufzubrechen. Das war ihr gelungen, doch er hatte ihren Sieg in ein Patt verwandelt.

»Was hatten Sie denn erwartet?«, fragte Trevor, der sie unverwandt ansah. »Ich bin keiner von den Milchbubis, mit denen Sie sich in Harvard amüsieren. Wenn Sie um einen hohen Einsatz spielen, müssen Sie damit rechnen, dass man Ihren Bluff durchschaut.«

Sie wandte sich ab und ging hinaus in die Eingangshalle. »Das war kein Bluff.«

»Ich möchte Ihnen nur geraten haben, dass es einer war«, murmelte er leise hinter ihr her, als sie die Treppe hochging. Nicht umdrehen. Er durfte nicht sehen, wie sehr seine Drohung sie irritierte. Sie empfand eine Erregung, ein prickelndes Bewusstsein von Ungewissheit und Gefahr, wie sie es noch nie erlebt hatte. War das Trevors Hochseil? War es das, was er empfand, wenn er – Nicht darüber nachdenken. Sie würde von Mario erfahren, was sie wissen wollte, ohne den Jungen in Schwierigkeiten zu bringen, und später am Abend würde sie mehr über Trevor erfahren.

Der Turnierplatz …

Nein, nicht an Trevor denken. Die Erregung unterdrücken. Sie musste sich auf Mario und Cira konzentrieren.

 

»Halten Sie Jock Gavin von Jane fern«, sagte Trevor, als MacDuff ans Telefon ging. »Ich will ihn nicht in ihrer Nähe sehen.«

»Er wird ihr nichts tun.«

»Nicht, wenn Sie dafür sorgen, dass er nicht näher als hundert Meter an sie herankommt. Sie hat ihn gestern Abend gesehen und sich nach ihm erkundigt.«

»Ich werde ihn nicht einsperren wie ein Tier. Er ist ein zwanzigjähriger Junge.«

»Der beinahe einen meiner Wachleute getötet hätte, weil er dachte, er wäre eine Gefahr für Sie.«

»Der Mann hat Jock erschreckt. Er hätte nicht in den Stall gehen sollen. Ich habe Ihnen klipp und klar gesagt, dass das der einzige Ort in der ganzen Burg ist, zu dem Sie keinen Zutritt haben.«

»Aber Sie haben mir nicht erzählt, dass Sie dort einen Tiger als Haustier halten. Er hat James innerhalb von zwei Sekunden eine Schlinge um den Hals gelegt, und wenn Sie nicht eingegriffen hätten, wäre James drei Sekunden später tot gewesen.«

»Es ist ja nicht so weit gekommen.«

»Und Jock wird Jane MacGuire kein Haar krümmen. Sie hat einen verdammt guten Instinkt. Wenn sie sich nach ihm erkundigt hat, muss sie gespürt haben, dass da irgendwas nicht stimmte.«

»Ich werde mich darum kümmern.«

»Tun Sie das. Sonst werde ich es tun.« Er legte auf.

Verfluchter Mist.

MacDuff steckte sein Handy in die Tasche und ging quer durch den Stall zu der Töpfereiwerkstatt, die Jock sich in einem Nebenraum eingerichtet hatte. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich von ihr fern halten, Jock.«

Jock blickte verblüfft von der Gardenie auf, die er gerade in einen Tontopf pflanzte. »Cira?«

»Sie ist nicht Cira. Sie ist Jane MacGuire. Ich habe dir gesagt, dass sie mich nicht stört. Hast du gestern Abend versucht, zu ihr zu gehen?«

Jock schüttelte den Kopf.

»Wieso hat sie dich dann gesehen?«

»Die haben ihr das Zimmer gegeben, das normalerweise Sie benutzen. Ich hab sie am Fenster stehen sehen.« Er runzelte die Stirn. »Das hätten sie nicht tun sollen. Das ist Ihr Zimmer.«

»Ich habe kein Problem damit. Mir ist es egal, wo ich schlafe.«

»Aber Sie sind der Burgherr.«

»Hör zu, Jock: Es ist mir egal.«

»Mir aber nicht.« Er betrachtete die Gardenie. »Das ist eine ganz besondere Gardenie aus Australien. Im Katalog stand, sie kann große Kälte und starken Wind überstehen. Glauben Sie, das stimmt?«

MacDuff hatte einen Kloß im Hals, als er den Jungen ansah. »Es könnte stimmen. Ich habe schon manche Kreaturen unglaubliche Not und Grausamkeit überstehen sehen.«

Vorsichtig berührte Jock eins der weißen Blütenblätter. »Aber das ist eine Blume.«

»Dann werden wir uns einfach überraschen lassen müssen, nicht wahr?« Er holte tief Luft. »Deine Mutter hat wieder angerufen. Sie möchte dich sehen.«

»Nein.«

»Du tust ihr weh, Jock.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht mehr ihr Sohn. Ich will sie nicht weinen sehen.« Er schaute MacDuff an. »Ich gehe nur zu ihr, wenn Sie mir sagen, dass ich hingehen muss.«

MacDuff schüttelte resigniert den Kopf. »Nein, befehlen werde ich es dir nicht.« Dann fügte er hinzu: »Aber ich befehle dir, dich von Jane MacGuire fern zu halten. Versprich es mir, Jock.«

Der Junge antwortete nicht gleich. »Als sie da am Fenster stand, konnte ich nur eine Art … Schatten sehen. Sie stand ganz gerade, den Kopf hoch erhoben. Sie hat mich an eine Schwertlilie oder eine Narzisse erinnert … Es hat mich traurig gemacht, mir vorzustellen, sie zu zerbrechen.«

»Du brauchst nichts und niemanden zu zerbrechen, Jock. Halt dich von ihr fern. Versprich es mir.«

»Wenn Sie es befehlen, halte ich mich von ihr fern.« Er nickte. »Ich verspreche es.« Er betrachtete seine Gardenie. »Ich hoffe, sie überlebt den Winter. Wenn ja, könnten Sie sie nächstes Frühjahr meiner Mutter schenken?«

Gott, manchmal konnte das Leben richtig beschissen sein. »Ja, vielleicht.« MacDuff wandte sich ab. »Ich glaube, darüber würde sie sich freuen.«

 

Jane erblickte die Statue in dem Moment, als sie Marios Arbeitszimmer betrat.

Die Statue stand auf einem Sockel vor dem Fenster, wo sie vom hellen Sonnenlicht bestrahlt wurde.

»Ist sie nicht fantastisch?« Mario stand vom Schreibtisch auf und trat auf Jane zu. »Kommen Sie ein bisschen näher.

Sie ist perfekt.« Er nahm sie an der Hand und führte sie zu der Statue. »Aber vielleicht wissen Sie das ja selbst. Haben Sie sie schon mal gesehen?«

»Nein. Bisher kannte ich nur Fotos.«

»Es wundert mich, dass Trevor sie Ihnen nicht gezeigt hat. Sie kennen ihn doch schon lange, nicht wahr?«

»Irgendwie schon. Aber es hat sich nie eine passende Gelegenheit ergeben«, antwortete sie abwesend, den Blick auf Ciras Gesicht geheftet. Selbst für sie war die Ähnlichkeit nicht zu übersehen, doch im Moment war sie zu sehr von der Vorstellung beeindruckt, dass der Künstler Cira leibhaftig begegnet war. Vielleicht hatte sie ihm vor zweitausend Jahren sogar Modell gestanden. Und doch wirkte die Statue nicht alt, Ciras Gesichtsausdruck war so modern wie auf einem Foto aus dem People Magazine. Sie blickte entschlossen in die Welt hinaus, wach, intelligent, mit einer Andeutung von Humor im Schwung ihrer Lippen, was sie unglaublich lebendig wirken ließ. »Ja, Sie haben Recht. Sie ist fantastisch. Es heißt, es wurden zahlreiche Statuen von Cira hergestellt, aber diese hier muss die schönste sein.«

»Der Meinung ist Trevor ebenfalls. Er hütet sie wie seinen Augapfel. Zuerst wollte er mich noch nicht mal hier in diesem Zimmer arbeiten lassen, aber ich habe ihm gesagt, dass ich die Inspiration brauche.« Mario lächelte spitzbübisch. »Es war ein echter Sieg für mich. Bei Trevor gelingt mir das nicht oft.«

Es war seltsam, hier zu stehen und das Gesicht zu betrachten, das ihr Leben in vielerlei Hinsicht auf den Kopf gestellt hatte. Die Träume, die Begebenheit vor vier Jahren, die sie um ein Haar das Leben gekostet hätte. Und jetzt schloss sich der Kreis um Cira. Seltsam und faszinierend. Jane riss sich von dem Anblick los. »Und, fühlen Sie sich inspiriert?«

»Nein, aber es hat mir Freude gemacht, sie zu betrachten, wenn ich den ganzen Tag an ihrer Rolle gearbeitet hatte. Es war beinahe, als würde sie mit mir sprechen.« Er runzelte die Stirn. »Aber habe ich nicht im Internet gelesen, dass Ms Duncan eine Rekonstruktion von einem Schädel angefertigt hat, die der Statue von Cira sehr ähnlich sieht?«

»Nein, das war reiner Medienrummel. Sie hat eine Rekonstruktion von einem Schädel aus der Zeit gemacht, aber die sah Cira überhaupt nicht ähnlich.«

»Mein Fehler. Wahrscheinlich war ich so vertieft in die Übersetzung ihres Texts, dass ich nicht richtig aufgepasst habe.«

»Ihr Text«, wiederholte Jane. »Ich wusste gar nicht, dass es Schriftrollen mit Texten von ihr gibt, bis Trevor mir auf dem Weg hierher davon erzählt hat. Vorher hat er nur von Texten über Cira gesprochen.«

»Die beiden befanden sich in einer separaten Truhe, die im hinteren Teil der Bibliothek in der Wand eingeschlossen war. Trevor sagt, er hätte sie vorher noch nicht gesehen, und bei dem Vulkanausbruch im Tunnel könnte die Wand eingestürzt sein. Er meint, sie hätte versucht, sie zu verstecken.«

»Ja, wahrscheinlich. Als sie Julius’ Geliebte war, hat er bestimmt keinen Wert darauf gelegt, dass sie sich mit intellektuellen Dingen beschäftigte. Er war nur an ihrem Körper interessiert.«

Er lächelte. »Das geht eindeutig aus den Texten hervor, die er über sie verfasst hat. Würden Sie gern ein paar davon lesen?«

»Wie viele sind es denn?«

»Zwölf. Aber vieles wiederholt sich. Er war völlig in Cira vernarrt und hatte offenbar eine Vorliebe für Pornografisches.«

»Und was ist mit Ciras Texten?«

»Die sind interessanter, aber weniger anregend.«

»Was für eine Enttäuschung. Kann ich sie lesen?«

Er nickte. »Trevor hat mich gestern Abend angerufen und mir erlaubt, Sie Ihnen zu lesen zu geben. Er meinte, die würden Sie am ehesten interessieren.« Er deutete auf einen Sessel in der Ecke des Zimmers. »Ich bringe Ihnen die Übersetzung der ersten Rolle. Da in der Ecke haben Sie gutes Licht.«

»Ich könnte sie mit in mein Zimmer nehmen.«

Er schüttelte den Kopf. »Als ich angefangen habe, für Trevor zu arbeiten, musste ich ihm versprechen, weder die Rollen noch die Übersetzungen jemals aus den Augen zu lassen.«

»Hat er Ihnen erklärt, warum?«

»Er sagte, die Texte seien unglaublich wichtig und meine Arbeit sei gefährlich, weil ein Mann namens Grozak hinter den Rollen her ist.«

»Mehr nicht?«

»Mehr wollte ich nicht wissen. Warum sollte ich neugierig sein? Worüber Trevor und Grozak sich streiten, interessiert mich nicht. Mir sind nur die Schriftrollen wichtig.«

Das konnte sie gut verstehen. Seine dunklen Augen leuchteten, und in der Art, wie er die Schriftrolle in den Händen hielt, lag eine unglaubliche Zärtlichkeit. »Trevor hat sicherlich das Recht, bestimmte Regeln aufzustellen, was die Handhabung seiner Schriftrollen betrifft, trotzdem wäre ich an Ihrer Stelle ein bisschen neugieriger gewesen.«

»Aber Sie sind nicht ich. Ihr Leben unterscheidet sich wahrscheinlich sehr von meinem. Ich bin in Norditalien in einem Dorf in der Nähe eines Klosters aufgewachsen. Als kleiner Junge habe ich im Klostergarten gearbeitet und später in der Bibliothek. Ich habe auf Händen und Knien die Böden geschrubbt, bis meine Knie blutig waren, und am Ende der Woche haben die Padres mir erlaubt, eine Stunde in den Büchern zu schmökern.« Seine Augen leuchteten bei der Erinnerung. »Sie waren so alt. Das Leder der Einbände war ganz weich. Den Geruch, der aus den alten Folianten kam, werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Und die handgeschriebenen Bücher …« Er schüttelte den Kopf. »Das waren Kunstwerke von außergewöhnlicher Schönheit. Es hat mich zutiefst beeindruckt, wie klug und gebildet die Priester waren, die sie geschrieben haben. Daran sieht man doch, dass die Zeit eigentlich keine Rolle spielt, nicht wahr? Ob gestern oder vor tausend Jahren, wir gehen durchs Leben, und manche Dinge ändern sich, während andere immer gleich bleiben.«

»Wie lange haben Sie für das Kloster gearbeitet?«

»Bis ich fünfzehn war. Eine Zeit lang wollte ich unbedingt Priester werden, aber dann hab ich die Mädchen entdeckt.« Mario schüttelte wehmütig den Kopf. »Ich habe gesündigt und bin in Ungnade gefallen. Die Padres waren sehr enttäuscht von mir.«

»Ich bin sicher, Sie haben nur lässliche Sünden begangen.« Sie musste an die holprigen Straßen denken, in denen sie aufgewachsen war, wo die Sünde zum täglichen Leben gehört hatte. »Aber Sie haben Recht, meine Kindheit war ganz anders als Ihre.«

»Das bedeutet jedoch nicht, dass wir keine angenehmen Stunden miteinander verbringen können. Bleiben Sie doch noch ein bisschen.« Er lächelte sie an. »Es wird ganz aufregend für mich sein, Sie da sitzen zu sehen, während Sie lesen, was Cira geschrieben hat. Und auch seltsam. Ich werde mich fühlen, als wäre sie selbst –« Er unterbrach sich errötend. »Aber jetzt, da Sie neben der Statue stehen, fallen mir natürlich die Unterschiede auf. Eigentlich sehen Sie ihr gar nicht so –«

»Lügner.« Sie musste lächeln. »Ist schon in Ordnung, Mario.«

»Gut.« Er atmete erleichtert auf. »Kommen Sie, setzen Sie sich.« Vorsichtig ging er den Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch durch. »Ich habe die Texte zuerst aus dem Lateinischen ins Italienische und dann ins Englische übersetzt. Dann habe ich noch einen zweiten Durchgang gemacht, um mich zu vergewissern, dass mir keine Fehler unterlaufen sind.«

»Meine Güte.«

»Trevor wollte es so, aber ich hätte es ohnehin nicht anders gehandhabt.« Er brachte ihr eine dünne Mappe, die mehrere Blätter enthielt. »Ich wollte sie mit mir sprechen hören.«

Behutsam nahm sie die Blätter entgegen. »Und? Hat sie mit Ihnen gesprochen?«

»O ja«, sagte er leise, als er zurück an seinen Schreibtisch ging. »Ich brauchte nur zuzuhören.«

Auf der Titelseite stand nur Cira.

Cira.

Verflixt, es machte sie tatsächlich nervös, Ciras Worte zu lesen. Sie lebte schon seit Jahren mit Ciras Bild und ihrer Lebensgeschichte, aber ihre echten Gedanken zu lesen, war etwas ganz anderes. Es ließ Cira … wirklich erscheinen.

»Stimmt was nicht?«, fragte Mario.

»Nein, alles in Ordnung.« Sie richtete sich auf und blätterte um.

Also gut, sprich mit mir, Cira. Ich höre.

Luzern, Schweiz

»Darf ich an Ihrem Tisch Platz nehmen? Alle anderen Tische scheinen besetzt zu sein.«

Eduardo blickte von seiner Zeitung auf und sah den Mann an, der eine Tasse Espresso in der Hand hielt. Er nickte. »Man muss früh herkommen, um einen Tisch zu ergattern. Von hier aus hat man eine fantastische Aussicht auf den See.« Er schaute auf den Vierwaldstätter See hinaus, der im Sonnenlicht glitzerte. »Andererseits ist der Anblick immer großartig, egal von wo aus.« Er faltete seine Zeitung zusammen, um Platz zu machen. »Regelrecht herzerwärmend.«

»Ich bin zwar zum ersten Mal hier, stimme Ihnen jedoch zu.«

»Sie sind Tourist?«

»Ja.« Er lächelte. »Sie scheinen ein Einheimischer zu sein. Wohnen Sie hier in Luzern?«

»Seit ich im Ruhestand bin. Ich teile mir in der Stadt eine Wohnung mit meiner Schwester.«

»Und Sie können jeden Morgen herkommen und diese Pracht genießen. Was für ein Glückspilz Sie sind.«

Eduardo verzog das Gesicht. »Einen schönen Anblick kann man nicht essen. Bei meiner kleinen Rente kann ich mir nicht mehr als eine Tasse Kaffee und ein Croissant leisten, um den Tag zu beginnen.« Er schaute wieder auf den See hinaus. »Aber vielleicht bin ich ein Glückspilz. Sie haben Recht, Schönheit nährt die Seele.«

»Kennen Sie Luzern gut?«

»Es ist eine kleine Stadt. Da gibt es nicht viel zu kennen.«

Der Mann beugte sich vor. »Dann kann ich Sie vielleicht dazu überreden, mir ein paar schöne Ecken zu zeigen? Ich bin nicht reich, aber ich wäre bereit, Sie für Ihre Mühe zu bezahlen.« Er zögerte. »Wenn es Sie nicht beleidigt, mein Geld anzunehmen.«

Eduardo trank einen Schluck von seinem Kaffee und dachte darüber nach. Der Mann war höflich, drückte sich gepflegt aus und trat nicht so großspurig auf wie viele der Touristen, die in Scharen in Luzern einfielen. Vielleicht war er Lehrer oder Beamter, denn seine Kleidung war lässig und nicht teuer. Offenbar wusste er, dass den Armen ihr Stolz wichtig war. Er war respektvoll, und die zurückhaltende Neugier, mit der er ihn betrachtete, schmeichelte ihm.

Warum sollte er sein Angebot nicht annehmen? Ein bisschen zusätzliches Kleingeld konnte er immer gebrauchen, und es würde ihm Spaß machen, eine Aufgabe zu haben. Seine Tage waren lang und zogen sich endlos hin, der Ruhestand war nicht das, was er erwartet hatte. Mittlerweile konnte er verstehen, warum manche alten Leute sich einfach aufgaben und allmählich immer schwächer wurden, wenn sie keinen Grund mehr hatten, morgens aufzustehen. Er nickte langsam. »Ich denke, das ließe sich machen. Was interessiert Sie denn besonders, Herr …«

»Oh, verzeihen Sie, wie unhöflich von mir. Darf ich mich vorstellen?« Er lächelte. »Mein Name ist Ralph Wickman.«

 

Actos, der Schreiber, der mir diese Pergamentrolle gegeben hat, sagt, ich soll nichts schreiben, wovon ich nicht möchte, dass Julius es liest, und er hat mir geraten, sehr vorsichtig zu sein.

Ich bin es leid, vorsichtig zu sein. Und vielleicht ist es mir inzwischen gleichgültig, ob Julius das liest und sich darüber ärgert. In letzter Zeit erscheint mir mein Leben trostlos, und ich ertrage es nicht, dass er meinen Geist ebenso erdrückt wie meinen Körper. Ich kann mich mit niemandem unterhalten, aus Angst, Julius könnte dem Betroffenen Schaden zufügen, doch vielleicht finde ich eine Möglichkeit, dir diese Schriftrolle zu schicken, Pia. Er weiß nichts von dir, es dürfte also ungefährlich sein. Seit er herausgefunden hat, dass Antonio mein Geliebter ist, beobachtet Julius mich unablässig. Manchmal frage ich mich, ob er wahnsinnig ist. Er sagt, er sei wahnsinnig vor Liebe zu mir, doch weiß ich, dass er nur sich selbst liebt. Nachdem er Antonio bestochen hatte, damit er mich verlässt, dachte er, ich würde demütig zu ihm zurückgekrochen kommen und mich wieder unter sein Joch begeben.

Ich werde mich von keinem Mann zur Sklavin machen lassen. Sie interessieren sich einzig und allein für das, was sich zwischen meinen Beinen befindet, und für das Gold, das durch ihre Hände geht. Also habe ich Julius gesagt, dass er meinen Körper wiederhaben kann, wenn der Preis hoch genug ist. Warum auch nicht? Ich habe es mit Liebe probiert, und Antonio hat mich verraten. Aber eine Truhe voller Gold könnte dafür sorgen, dass wir bis ans Ende unserer Tage in Sicherheit leben können.

Zuerst wurde er wütend, doch schließlich hat er mir das Gold gegeben. Er sagte, ich müsse die Truhe in einer gut bewachten Kammer im Tunnel aufbewahren, damit er jederzeit feststellen könne, ob ich unseren Vertrag breche und ihn mitsamt dem Gold verlasse. Ich weiß, dass er hoffte, er würde meiner überdrüssig werden und könnte dann das Gold wieder an sich bringen. Aber er wird meiner nicht überdrüssig werden. Dafür werde ich schon sorgen. Wenn es etwas gibt, das ich gelernt habe, dann ist es, einen Mann zu befriedigen.

Und er wird nicht über das Gold verfügen. Es gehört mir. Ich habe mich schon mit den Männern unterhalten, die die Truhe bewachen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis ich sie auf meiner Seite habe.

Und dann musst du mir helfen, Pia. Mein Diener Dominic wird das Gold zu dir bringen, zusammen mit einem Brief, in dem ich dir erkläre, was du damit tun sollst. Anschließend muss er Herkulaneum verlassen und sich auf dem Land verstecken, bevor Julius herausfindet, dass er mir geholfen hat. Ich habe ihm gesagt, dass er Leo mitnehmen muss, denn wenn ich Julius erst einmal verlassen habe, wird er jeden töten, der mir nahe steht. Für ihn wird es keine Rolle spielen, dass Leo noch ein Kind ist. Wie gesagt, er ist wahnsinnig.

Auch du musst dich verstecken. Ich werde Dominic bitten, von dir in Erfahrung zu bringen, wo ich dich finden kann, und mir die Nachricht zukommen zu lassen.

Ich hoffe, ich finde eine Möglichkeit, dir diesen Brief zu schicken. Ich weiß nicht, ob es ratsam ist, dir die Zeilen zukommen zu lassen, damit du vorbereitet bist, oder ich besser Dominic mit dem Gold zu dir schicke. Ich werde bald eine Entscheidung treffen müssen.

Mit meinen Worten möchte ich dich berühren und dir meine Liebe senden, für den Fall, dass wir uns nicht mehr wiedersehen. Ich fürchte, dass diese Gefahr tatsächlich besteht.

Unsinn. Es wird alles gut werden. Ich werde mich von Julius nicht unterjochen lassen. Tu einfach, was ich dir gesagt habe.

 

Deine Cira.

 

Großer Gott, Janes Hände zitterten. Sie holte tief Luft, um ihre Fassung wiederzugewinnen.

»Eindrucksvoll, was?« Mario schaute sie an. »Sie war eine großartige Frau.«

»Ja, das war sie.« Jane betrachtete die Seiten. »Offenbar ist sie zu dem Schluss gelangt, dass es zu riskant war, den Brief abzuschicken. Sie arbeiten gerade an einem weiteren Text von ihr?«

Er nickte. »Ich habe gerade mit der Übersetzung angefangen.«

»Dann wissen wir also nicht, ob es ihr gelungen ist, vor dem Vulkanausbruch die Truhe mit dem Gold in Sicherheit zu bringen?«

»Nein, noch nicht.«

»Wissen wir denn, wer Pia war?«

Er schüttelte den Kopf. »Offenbar eine Frau, die ihr nahe stand. Vielleicht eine Schauspielerin vom Theater, mit der sie befreundet war?«

»Trevor hat mir gesagt, dass sie nach allem, was man aus Julius’ Texten schließen kann, weder Verwandte noch enge Freunde hatte. Dominic, ein ehemaliger Gladiator, war ihr einziger Diener, und sie hat ein Straßenkind bei sich aufgenommen.«

Mario nickte. »Leo.«

»Einen Namen hat Trevor nicht erwähnt. Wahrscheinlich war es dieser Leo. Aber wer zum Teufel war Pia?«

»Es ist durchaus möglich, dass Julius nicht so viel über Cira wusste, wie er gern glauben wollte.«

Das stimmte. Cira wollte nicht, dass Julius irgendetwas außer ihrem Körper von ihr kannte.

Als Mario ihren frustrierten Gesichtsausdruck bemerkte, hob er die Brauen und sagte achselzuckend: »Tut mir Leid. Wie gesagt, ich habe gerade erst mit der Übersetzung begonnen.«

Aber sie wollte es unbedingt wissen.

»Ich kann Sie verstehen«, sagte Mario. »Ich bin ebenso neugierig wie Sie. Aber eine Übersetzung braucht Zeit. Es geht nicht nur darum, die Worte zu entschlüsseln, ich muss auch die Nuancen einfangen. Ich muss sehr sorgfältig vorgehen, damit sich keine Fehler einschleichen. Trevor legt großen Wert darauf, dass die Übersetzung keine Fehlinterpretation zulässt.«

»Und wir wollen Trevor schließlich nicht enttäuschen.« Sie nickte resigniert. »Also gut, ich kann warten.« Sie zog die Nase kraus. »Wenn auch mit Ungeduld.«

Mario nahm lachend eine Mappe von seinem Schreibtisch und stand auf. »Hätten Sie Lust, ein paar von Julius’ Texten zu lesen?«

»Sicher. Es könnte interessant sein, zu erfahren, wie er über Cira gedacht hat. Aber nach allem, was Sie mir erzählt haben, glaube ich kaum, dass ich irgendwelche Überraschungen in den Texten finden werde.« Sie nahm die Mappe entgegen und machte es sich wieder in ihrem Sessel bequem. »Und vielleicht haben Sie heute Nachmittag wieder ein bisschen von Cira für mich?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe Probleme mit diesem Text. Die Schriftrolle ist nicht so gut erhalten wie die erste, weil die Röhre, in der sie sich befand, leicht beschädigt war.«

Sie durfte sich nicht frustrieren lassen. Ciras Brief an Pia hatte ihr nicht nur bestätigt, dass Cira einen starken Charakter besaß, er hatte ihr auch ganz neue Einsichten ermöglicht und Informationen geliefert. Auch Julius’ Texte konnten sich als interessant erweisen, außerdem hatte sie sowieso nichts Wichtiges zu tun bis nach dem Abendessen, wenn Trevor ihr wie versprochen den Turnierplatz zeigen würde. Sie seufzte. »Na gut, dann werde ich einfach hier bleiben und Ihnen als Inspiration dienen, damit Sie ein bisschen schneller arbeiten.«