Zehn

»Die sind immer noch in der Bibliothek«, sagte Bartlett, als Jane eine Stunde später die Treppe herunter kam. »Trevor hat mich angewiesen, Sie nicht reinzulassen. Ich habe ihn allerdings nicht gefragt, wie ich das bewerkstelligen soll angesichts der Tatsache, dass Sie auf dem Gebiet der Selbstverteidigung garantiert besser ausgebildet sind als ich.« Er legte die Stirn in Falten. »Aber das Wörtchen Bitte hat mich bisher meistens zum Ziel gebracht. Würden Sie mir bitte unnötigen Kummer ersparen und nicht da hineinstürmen?«

»Kein Problem. Ich brauche dieses Video nicht zu sehen, um zu wissen, mit wem wir es zu tun haben. Diese Leute haben auch meinen Freund Mike umgebracht.« Ein Schauer lief ihr über den Rücken. »Aber die Kaltblütigkeit, mit der Marios Vater hingerichtet wurde, ist wirklich unfassbar. Es ist … barbarisch.«

Bartlett nickte. »Attila der Hunne fällt mir da ein. Trevor hat mir gesagt, dass Grozak bösartig ist, aber so etwas kann man sich erst vorstellen, wenn –«

»Ich brauche ein Flugzeug, Bartlett«, sagte Brenner, der gerade aus der Bibliothek kam. »Besorgen Sie mir einen Hubschrauber, der mich nach Aberdeen bringt, und sehen Sie zu, dass dort ein startbereiter Jet auf mich wartet.«

»Wird gemacht.« Bartlett ging zum Telefon auf dem Tischchen in der Eingangshalle. »Wo fliegst du denn hin?«

»Nach Luzern. Trevor und ich können uns nicht einigen, wer der Henker war. Ich will mich ein bisschen umsehen, vielleicht kann ich was Genaueres in Erfahrung bringen.« Er schaute Jane an. »Wie geht’s Mario?«

»Nicht gut. Er ist am Boden zerstört. Was hatten Sie denn erwartet?«

»Ich hätte erwartet, dass er furchtbar wütend wäre, aber nicht, dass er zusammenbricht. Ich hätte erwartet, dass er sich mit mir um einen Platz in dem Flugzeug nach Luzern prügeln würde.«

»Er ist nicht Sie, Brenner.« Sie ging in Richtung Bibliothek. »Geben Sie ihm eine Chance.«

»Ich gebe ihm eine Chance, wenn er mir nicht damit kommt, Trevor wäre schuld am Tod seines Vaters«, erwiderte er kalt. »Falls er es doch tut, dann gnade ihm Gott.« Er wandte sich zum Gehen. »Trevor hat mich gebeten, die Wachen in Alarmbereitschaft zu versetzen, bevor ich abreise. Ruf mich, sobald du eine Bestätigung für den Hubschrauber hast, Bartlett.«

Bartlett telefonierte gerade und nickte nur.

Alles geriet in Bewegung. Bartlett legte seine übliche Effizienz an den Tag und Brenner war nicht länger der lässige Aussi, den sie im Flugzeug kennen gelernt hatte, dachte Jane. Er war ungeduldig, aggressiv und entschlossen, seinen Freund in Schutz zu nehmen. Sie konnte seine Reaktion verstehen, ihr ging es ähnlich wie ihm.

Die Tür zur Bibliothek stand offen und sie sah, wie Trevor gerade das Video in einen Umschlag schob. Er wirkte völlig ausgelaugt. Diesen Ausdruck grenzenloser Erschöpfung und Enttäuschung hatte sie noch nie bei ihm gesehen. Sie zögerte. »Alles in Ordnung?«

»Nein.« Er warf den Umschlag auf den Schreibtisch. »Mir ist zum Kotzen zumute. Und ich frage mich, warum die menschliche Spezies sich nicht weit genug entwickelt hat, damit wir von Typen wie Grozak verschont bleiben.« Er schaute sie an. »Hat Mario dich davon überzeugt, dass ich ein kaltblütiger Schweinehund bin?«

»Sei nicht albern. Ich mag vielleicht manchmal ein weiches Herz haben, aber ich habe keine weiche Birne. Wie solltest du am Tod seines Vaters schuld sein? Grozak hat Mario eine fette Lüge aufgetischt.« Sie schluckte. »Und du wärst niemals fähig, die Kaltblütigkeit aufzubringen, Mario Briefe seines Vaters vorzuenthalten, nur damit er weiter an den Übersetzungen arbeitet.«

»Wirklich nicht?« Er hob die Brauen. »Bist du dir da ganz sicher?«

»Ja, ich bin mir sicher.« Sie runzelte die Stirn. »Und ich bin nicht hergekommen, um dich vor dir selbst in Schutz zu nehmen. Es hat mich schon genug Nerven gekostet, auf Mario einzureden, um ihn zur Vernunft zu bringen.«

»Und? Hattest du Erfolg?«

»Nein, er ist zu sehr damit beschäftigt, jedem außer sich selbst die Schuld am Tod seines Vaters zu geben, was wahrscheinlich verständlich ist.« Ihre Lippen spannten sich. »Aber irgendwann war es vorbei mit meiner Geduld und Diplomatie. Irgendwann ist mir der Kragen geplatzt und ich habe ihm gesagt, er solle gefälligst auf den Teppich kommen und der Wahrheit ins Auge blicken.«

Trevor zeigte ein schräges Lächeln. »Das klingt wirklich nicht nach Diplomatie.«

»Er hat kein Recht, dir die Schuld in die Schuhe zu schieben, auch wenn er noch so sehr unter Schock steht. Wenn du willst, dass er weiter an der Übersetzung arbeitet, wirst du ihn erst mal beruhigen müssen.«

»Nicht zu fassen. Du verteidigst mich tatsächlich.«

»Ich kann es einfach nicht ausstehen, wenn jemand zu Unrecht zum Sündenbock gemacht wird. Darauf brauchst du dir nichts einzubilden.«

»Nichts würde mir ferner liegen.«

»Ich hoffe, dass ich es mir mit Mario nicht komplett verdorben habe. Er ist ein netter Kerl, und wenn wir ihm genug Zeit lassen, wird er sich seine Mitschuld vielleicht eingestehen und aufhören, dich für den Tod seines Vaters verantwortlich zu machen.«

»Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir noch haben.«

»Wieso diese Eile?« Sie setzte sich in den Besuchersessel vor dem Schreibtisch. »Warum tötet Grozak den armen Mann, bloß um Zeit zu schinden?«

»Grozak und ich befinden uns in einer Art Wettlauf. Der Erste, der die Ziellinie erreicht, kriegt den Preis.«

Sie schüttelte den Kopf. »Schon wieder eins von deinen Spielchen? Und was ist der verdammte Preis?«

»Ursprünglich war es eine Truhe voller Gold.«

»Ursprünglich? Was soll das denn heißen?«

»Das soll heißen, dass der Preis am Ende womöglich wesentlich größer ist.«

»Red nicht so kryptisch daher. Gib mir eine klare Antwort.«

»Ich rede nicht kryptisch daher.« Er lehnte sich erschöpft in seinem Sessel zurück. »Ich habe dir gestern Abend gesagt, dass ich dir nichts mehr vorenthalte. Ich glaube, ich bin einfach müde.« Er zog eine Schublade auf, nahm eine Papierrolle heraus und breitete sie auf dem Schreibtisch aus. Es war eine Karte der Vereinigten Staaten von Amerika. »Du willst wissen, was der Preis ist?« Er zeigte auf Los Angeles. »Das ist ein Preis.« Er zeigte auf Chicago. »Das ist ein Preis.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf Washington, D.C. »Und das könnte der allergrößte Preis sein.«

»Wovon redest du eigentlich?«

»Am dreiundzwanzigsten Dezember werden in zwei Großstädten nukleare Sprengsätze gezündet. Ich habe noch nicht rausfinden können, in welchen. Aber die Explosionen werden gewaltig sein und durch den atomaren Fallout werden Tausende zu Tode kommen.«

Sie starrte ihn entsetzt an. »Elfter September«, flüsterte sie.

»Vielleicht noch schlimmer. Kommt drauf an, wie viele Kamikazepiloten daran beteiligt sind.«

»Kamikaze?«

»Die moderne Version von Kamikazepiloten: Selbstmordattentäter. Es funktioniert am besten, wenn der Mann, der die Bombe zündet, bereit ist, sein Leben zu opfern.«

»Moment mal. Redest du von Terroristen? Ist Grozak ein Terrorist?«

Trevor nickte. »Seit 1994. Nachdem Grozak sich eine Zeit lang als Söldner verdungen hatte, fand er schließlich seine Berufung. Im Lauf der Jahre hat er für mehrere Terroristengruppen gearbeitet, aus Vergnügen und fürs Geld. Er hatte von Kind an einen Hass auf jede irgendwie geartete Minorität, die Gott geschaffen hat, und bei den Terroristen konnte er seinen Hass voll in Gewalttätigkeit ausleben und auch noch Geld damit verdienen. Ich weiß, dass er im Sudan, im Libanon, in Indonesien und in Russland bei Anschlägen beteiligt war. Er ist gewieft. Er hat Kontakte. Und er hat keine Skrupel, den letzten Schritt zu tun.«

»Welchen letzten Schritt?«

»Viele Terroristen gehen bis an eine bestimmte Grenze, wenn das Risiko zu groß wird, ziehen sie sich zurück. Aber Grozak schafft sich ein Schlupfloch und macht einfach weiter.«

»Wenn er so gefährlich ist, warum hat die CIA ihn nicht längst ausgeschaltet?«

»Sie haben es mehrmals versucht, aber die haben zu wenig Leute, und Grozak steht auf ihrer Prioritätenliste nicht an erster Stelle. Die kriegen jede Woche hunderte von Hinweisen auf mögliche terroristische Gefahren. Wie gesagt, er ist gewieft. Bisher hat er sich bei seinen Anschlägen auf Ziele in Europa und Südamerika beschränkt. Er hat noch kein amerikanisches Ziel angegriffen, weder in den USA noch sonst wo – noch nicht.«

Noch nicht. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. »Und warum ausgerechnet jetzt?«

»Ich glaube, er hat die ganze Zeit auf den richtigen Augenblick gewartet und inzwischen wichtige Kontakte geknüpft. Er hat schon lange einen Groll auf die USA und es stand außer Frage, dass er Amerika irgendwann aufs Korn nehmen würde. Die Frage war nur, wann.«

»Aber warum jetzt?«, fragte sie noch einmal.

»Es hat sich alles für ihn zusammengefügt. Er hat die nötigen Waffen, das nötige Geld, die nötigen Leute.« Seine Mundwinkel zuckten. »Oder sollte ich lieber sagen, das nötige Kanonenfutter? Das wäre wahrscheinlich treffender. Die wertvollsten Werkzeuge eines Terroristen sind Leute, die bereit sind, ihr Leben für die Sache zu opfern. Das hat sich am elften September gezeigt. Selbstmordattentäter gehen jedes Risiko ein, und wenn sie ihre Mission erfüllt haben, besteht keine Gefahr, dass sie jemals reden oder Spuren hinterlassen könnten, die zu ihren Auftraggebern führen. Andererseits wird es immer schwieriger, Fanatiker zu rekrutieren, die nicht im letzten Moment kneifen. Natürlich gibt es im Nahen Osten genug religiöse Eiferer, aber die werden von der CIA mit Argusaugen überwacht.«

»Und von Homeland Security.«

Trevor nickte. »Ich bin überzeugt, dass Grozak in Kauf nehmen würde, die halbe Welt auf den Fersen zu haben, wenn er dafür die Genugtuung bekommt, die USA in die Knie zu zwingen, aber ich glaube nicht, dass er bereit ist, zusätzliche Risiken einzugehen.«

»Das ist doch Wahnsinn. Er würde sich in einem Erdloch verkriechen müssen wie Saddam Hussein.«

»Er würde sich in einem vergoldeten Loch verkriechen, und er bildet sich tatsächlich ein, er könnte das alles aussitzen, bis der Staub sich gelegt hat. In der Welt des Terrorismus wäre er ein großer Held, er würde jede Menge Unterstützung bekommen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du sagst, er ist gewieft. Ich würde eher sagen, er ist wahnsinnig.«

»Er ist wirklich gewieft. Und voller Hass, Verbitterung und Selbstüberschätzung. Er wird sich nicht aufhalten lassen. Schließlich arbeitet er schon seit Jahren auf dieses Ziel hin.«

»Woher weißt du das?«

»Wir waren zusammen in Kolumbien. Ich wusste damals schon, dass er ein verdammter Hurensohn ist und keine Sympathie für die USA hegt. Er hat dauernd über die Schweine geflucht, die ihn ins Gefängnis gebracht haben. Es hat schon was Ironisches, dass die USA diesen abgrundtiefen Hass auf die amerikanische Regierung in ihm geweckt haben, indem sie ihn wegen seiner Verbrechen aus Hass eingesperrt haben. Aber damals war ich mehr daran interessiert, mir den Dreckskerl vom Hals zu halten, als mir über seine politischen Ansichten den Kopf zu zerbrechen. Bevor ich aus Kolumbien abgehauen bin, habe ich ihm den Arm gebrochen.« Er setzte eine gespielt nachdenkliche Miene auf. »Vielleicht ist das der Grund, warum er mich so verabscheut. Was meinst du?«

»Ja, das könnte ich mir gut vorstellen«, sagte Jane abwesend. »Woher weißt du, dass Grozak diesen Anschlag plant?«

»Ich kannte keine Details. Ich habe ihn über die Jahre im Auge behalten, weil der Typ ein rachsüchtiger Drecksack ist, und ich wusste, dass er mich irgendwann aufs Korn nehmen würde. Vor acht Monaten kamen die ersten Berichte über merkwürdige Aktivitäten von Grozak. Und vor einem halben Jahr habe ich einen Informanten aus Grozaks Kreisen erwischt, den ich überreden konnte, mir Einzelheiten zu verraten.«

»Überreden?«

»Na ja, ich habe ihn gewaltsam überredet, aber anschließend habe ich ihm genug Geld gegeben, um untertauchen zu können.«

Jane schwirrte der Kopf von allem, was Trevor ihr erzählt hatte. Und doch fürchtete sie, dass alles der Wahrheit entsprach. »Wie können wir ihn aufhalten?«

»Indem wir Ciras Gold finden.«

»Wie bitte?«

»Grozak braucht Selbstmordpiloten. Er steht in Verhandlungen mit Thomas Reilly, der sie ihm liefern soll. Verdammt, womöglich ist Reilly auch an Grozak herangetreten, was weiß ich? Reilly brauchte Macht, um zu bekommen, was er wollte, und es ist gut möglich, dass er Grozak manipuliert, um über ihn an das Gold zu gelangen.«

»Manipuliert?«

»Möglich, sogar wahrscheinlich. Reilly zieht es vor, im Hintergrund zu bleiben und die Fäden zu ziehen. Er ist auf einem totalen Egotrip und demonstriert gern, wie raffiniert er ist. Er hat jahrelang bei der IRA mitgemischt, später hat er für andere Terrororganisationen gearbeitet und ist nach Griechenland ausgewandert. Dann, vor fünf Jahren, hat er seine diversen Geschäfte aufgegeben und ist untergetaucht. Gerüchten zufolge ist er in den USA in den Untergrund gegangen.«

»Und wie könnte Reilly Grozak unterstützen?«

»Reilly hat ein spezielles Interesse, das ihn wertvoll macht. Er war ein hervorragender Psychologe, und er hatte ein Händchen dafür, irgendwelchen labilen Typen eine Gehirnwäsche zu verpassen, bis sie alles taten, was er von ihnen verlangte. Die sind vor keiner Gefahr zurückgeschreckt, und ein paar von ihnen sind ums Leben gekommen, als sie in seinem Auftrag irgendwelche Bomben gelegt haben. Einem Gerücht zufolge hat er später in einem Terroristencamp in Deutschland Selbstmordpiloten ausgebildet. Ich weiß, dass er einmal mit den Al-Qaida-Leuten verhandelt hat.«

Sie erstarrte. »Al-Qaida?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, die haben mit dieser Sache nichts zu tun. Die machen keine gemeinsame Sache mit Nicht-Muslimen. Als Reilly denen vor Jahren seine Dienste angeboten hat, haben die ihn keineswegs mit offenen Armen empfangen. Und Grozak ist im Moment auch nicht daran interessiert, mit al-Qaida zusammenzuarbeiten. Damit würde er viel zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sein Augenmerk richtet sich eher auf eine andere von Reillys Nebenbeschäftigungen. Angeblich hat Reilly eine Mannschaft aus ehemaligen amerikanischen GIs zusammengestellt, die einen Groll auf die Vereinigten Staaten hegen und die er derzeit ausbildet.«

»Du meinst, denen er eine Gehirnwäsche verpasst.«

»Ganz genau. Dieses Potenzial ist für Grozak äußerst interessant. Amerikaner mit amerikanischen Papieren und einer amerikanischen Biografie, die bereit sind, ihr Leben zu opfern, um sich an der amerikanischen Regierung zu rächen.«

»Ich kann einfach nicht glauben, dass es solche Leute gibt.«

»Ja, ich hatte anfangs auch meine Zweifel. Bis Reilly mir einen Film geschickt hat, auf dem zu sehen ist, wie einer von diesen GIs sich vor der amerikanischen Botschaft in Nairobi selbst in die Luft jagt.« Er presste die Lippen zusammen. »Dabei hat Reilly darauf geachtet, dass der Typ weit genug von der Botschaft entfernt war und nicht genug Feuerkraft hatte, um ernsten Schaden anzurichten. Schließlich war es ja nur ein Werbefilm.«

»Und den hat er dir geschickt?«

»Er wollte mir einfach seine Macht demonstrieren, weil er Grozak nicht zutraut, dass er das Gold findet. Er meinte, wenn ich ihm Ciras Gold liefere, bläst er seinen Deal mit Grozak ab. Er würde mir sogar helfen, Grozak in eine Falle zu locken.«

Sie starrte ihn verwirrt an. »Aber du hast Ciras Gold nicht. Und wieso würde so ein Wichtigtuer wie Reilly sich überhaupt dafür interessieren?«

»Selbst Wichtigtuer haben ihre Schwächen. Reilly ist ein Antiquitätensammler und er hat eine besondere Schwäche für alles, was mit Herkulaneum zu tun hat. Ich bin ihm im Lauf der Jahre ein paarmal begegnet, als er versuchte, gestohlene Kunstgegenstände zu kaufen. Ich habe die Statue von Cira ergattert, bevor er sie in die Finger bekommen konnte, und darüber hat er sich fürchterlich aufgeregt. Der Mann weiß wahrscheinlich mehr über Herkulaneum als jeder Geschichtsprofessor. Er besitzt Briefe aus der Zeit, Logbücher, Dokumente, Versorgungslisten. Alles, was in irgendeiner Verbindung zu Herkulaneum steht. Seine Sammlung muss einfach umwerfend sein. Und er hat eine besondere Vorliebe für antike Münzen. Für das Gold aus Precebios Tunnel würde er sein letztes Hemd hergeben.«

»Woher weißt du das alles?«

»Dupoi hat mir eine Liste aller Leute zukommen lassen, an die er herangetreten ist, als er die Schriftrollen verkaufen wollte. Er meinte, Reilly habe auf der Liste der potenziellen Kaufinteressenten bei ihm an erster Stelle gestanden. Grozak hat er nicht kontaktiert, der stand erst an zweiter Stelle.« Er holte tief Luft. »Zu Dupois Überraschung hat Reilly ihm kein Angebot gemacht. Aber kurz nachdem Dupoi Reilly angesprochen hatte, ist Grozak aufgekreuzt, um mit ihm zu verhandeln.«

»Also hat Reilly Grozak geschickt.«

»Das nehme ich jedenfalls an. Aber ich hatte nicht damit gerechnet. Die Vorstellung, dass Reilly mit Grozak gemeinsame Sache machen könnte, hat mich verdammt nervös gemacht. Solange Grozak weder die Akteure noch das erforderliche Material beisammen hatte, war er ungefährlich. Aber ich wusste, dass Reilly ihm liefern kann, was ihm fehlt.«

»Mein Gott.«

»Nach dem, was Reilly mir später erzählt hat, wollte er Grozak im Austausch für Ciras Gold Selbstmordattentäter zur Verfügung stellen. Ich habe Reilly erklärt, Grozak hätte nicht die geringste Chance, ihm das Gold zu liefern, und ihm angeboten, es ihm zu beschaffen, wenn er sich dafür verpflichtete, den Deal mit Grozak abzublasen.«

Jane schüttelte ungläubig den Kopf. »Ihr seid doch beide verrückt. Keiner von euch hat das Gold.«

»Aber ich habe Reilly gesagt, ich wüsste, wo es ist. Dass ich es mit Hilfe der Schriftrollen finden würde, die ich Grozak vor der Nase weggeschnappt habe.«

»Und das hat er dir geglaubt?«

»Ich bin ein ziemlich guter Pokerspieler. Er hat mir bis zum zweiundzwanzigsten Dezember Zeit gegeben, ihm zu liefern, was er haben will. Wenn ich es nicht schaffe, zieht er den Deal mit Grozak durch. Und wer weiß? Vielleicht war es ja kein Bluff. Deswegen wollte ich, dass Mario den Text von Cira restlos übersetzt.«

»Und was ist, wenn er jetzt nicht mehr bereit ist, die Übersetzung fertig zu stellen?«

»Dann besorge ich mir einen anderen Übersetzer.«

»Aber es könnte immer noch sein, dass der Text keinen Hinweis darauf enthält, wo das Gold versteckt ist.«

»Das stimmt. Aber zumindest würde es mir Zeit geben, um mir etwas anderes einfallen zu lassen.«

»Mit einer potenziellen Katastrophe diesen Ausmaßes kannst du kein Risiko eingehen. Wir müssen die Behörden informieren.«

Er reichte ihr das Telefon. »Die Nummer ist einprogrammiert. Carl Venable, Spezialagent der CIA. Wenn du ihn anrufst, kannst du ihm auch gleich von Eduardo Donato erzählen. Ich bin noch nicht dazu gekommen.«

Sie starrte auf das Telefon. »Venable. Du arbeitest mit der CIA zusammen?«

»So viel wie möglich. Aber die sind sich uneinig. Sabot ist Venables Vorgesetzter, und er glaubt nicht, dass Grozak eine Gefahr darstellt. Er hält ihn für eine Nebenfigur und traut ihm weder zu, dass er die USA angreifen will, noch dass er in der Lage ist, eine Operation solchen Ausmaßes zu organisieren.« Er seufzte. »Und entweder Grozak oder Reilly hat sich ein Spiel ausgedacht, das Sabot in seiner Überzeugung bestätigt.«

»Ein Spiel?«

»Im Lauf des vergangenen Jahrs hat Grozak der CIA, dem FBI und Homeland Security mehrmals präzise Informationen über bevorstehende Attentate zugespielt. Die Verteidigungskräfte wurden alarmiert, es wurden Rettungsmannschaften losgeschickt, und dann passierte nichts. Natürlich waren alle stinkwütend über die Blamage. Und Sabot will sich auf keinen Fall schon wieder mit einem blinden Alarm zum Narren halten lassen. Daher nimmt er die Bedrohung nicht ernst.«

»Er hat sich also selbst außer Gefecht gesetzt.«

»Genau. Und von Reilly haben die schon seit Jahren keine Spur – es gibt nicht mal einen Beweis dafür, dass er überhaupt noch lebt.« Er schnaubte verächtlich. »Bis auf meinen Bericht über mein Gespräch mit Reilly, und ich stehe bei denen auch nicht gerade in dem besten Ruf.«

»Und Venable?«

»Ein nervöser Typ, der keine Lust hat, nach einem Attentat vor den Kongress zitiert zu werden und Fragen beantworten zu müssen. Der will sich lieber absichern. Sabot gewährt ihm eingeschränkte Vollmachten, um seinen eigenen Arsch zu retten, falls irgendwas schief geht. Gott, ich hasse Bürokratie.«

»Und Reilly ist nirgendwo aufzuspüren?«

»Bisher nicht. Ich habe Brenner schon mehrmals in die USA geschickt, um etwas über ihn in Erfahrung zu bringen. Ich vermute, dass er sich irgendwo im Nordwesten aufhält. Brenner ist zwei falschen Spuren nachgegangen, aber er meint, dass er jetzt etwas Brauchbares entdeckt hat.«

»Reilly muss unbedingt gefunden werden.«

»Ich tue, was ich kann, Jane. Wir werden ihn finden. Aller guten Dinge sind drei. Beim dritten Versuch werden wir Glück haben.«

»Glück?«

»Tut mir Leid. Ich bin nun mal, wie ich bin. Ich versichere dir, dass ich mich diesmal nicht auf mein Glück verlasse.« Sein Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. »Und auch wenn es mir fürchterlich gegen den Strich geht, das Gold rauszurücken – ich werde es tun, wenn es mir gelingt, die Truhe zu finden.«

»Das ist aber reichlich weit hergeholt.« Sie runzelte die Stirn. »Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Grozak auf die Hoffnung hin, Reillys Unterstützung zu bekommen, den Termin für den Anschlag hinauszögert.«

»Er braucht Reilly. Wenn er dessen Unterstützung nicht bekommt, muss er den Anschlag auf unbestimmte Zeit aufschieben, und nachdem er das Ganze jahrelang geplant hat, brennt er darauf, seine Pläne endlich in die Tat umzusetzen. Er will als Superhirn angesehen werden, als jemand, der die Macht hat, die Welt aus den Angeln zu heben.«

»Aber die Chance, dass wir das Gold finden, ist doch äußerst gering.«

»Das weiß Grozak aber nicht.« Trevor nahm einen samtenen Beutel aus der Schreibtischschublade. »Er ist davon überzeugt, auf der richtigen Fährte zu sein.« Er warf Jane den Beutel zu. »Das habe ich damals zusammen mit den Schriftrollen an Dupoi geschickt und ihn gebeten, das Alter und den Wert schätzen zu lassen.«

Langsam öffnete sie den kleinen Beutel und schüttete den Inhalt in ihre Hand. Vier Goldmünzen. Ihre Augen weiteten sich. »Du hast die Truhe gefunden?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich habe diese antiken Münzen aufgetrieben und konnte sie erwerben. Ich dachte mir, sie wären ein guter Köder.«

Staunend betrachtete sie das Gesicht, das in die Münzen geprägt war. »Bist du sicher, dass die aus Ciras Zeit stammen?«

»Das Gesicht auf den Münzen stellt Vespasianus Augustus dar, der zum Zeitpunkt des Vulkanausbruchs römischer Kaiser war. Dupoi hat sie untersuchen lassen und laut Gutachten stammen sie aus dem Jahr 78 nach Christus. Der Vulkanausbruch ereignete sich 79 nach Christus.« Dann fügte er hinzu: »Dupoi hat die Münzen als echte Artefakte aus Herkulaneum beglaubigt. Natürlich wollte er wissen, wo ich sie gefunden hatte und ob es noch mehr davon gebe. Ich habe ihm von der Truhe erzählt.«

»Wie bitte?«, sagte sie verblüfft. »Das war eine Falle. Du hast ihm die Information mit Absicht gegeben, weil du wusstest, dass er dich an Grozak verraten würde.«

Trevor zuckte die Achseln. »Die Chancen standen jedenfalls nicht schlecht. Ich hatte gehört, dass Grozak auf der Suche nach allem war, was irgendwie mit Herkulaneum zu tun hat, und er war besonders scharf auf Artefakte, die mit Cira in Verbindung gebracht werden können. Diese Geschichte vor vier Jahren hat zwar eine Menge Wirbel verursacht, aber ich konnte mir nicht erklären, warum Grozak sich plötzlich für diese Dinge interessierte, wo er doch selbst gar kein Sammler ist. Damals wusste ich noch nicht, dass er sich mit einem Partner zusammengetan hatte.«

»Reilly.«

Er nickte. »Nur eine Vermutung, aber sie hat mich nachdenklich gemacht.«

»Und nachdem du von Dupoi die Rollen und die Münzen zurückbekommen hattest, musste Grozak sich an dich halten, um zu kriegen, was er wollte. Du brauchtest Dupoi als Köder und um die Münzen als echt zu beglaubigen. Genauso hast du es von Anfang an geplant.« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist ja noch raffinierter, als ich dachte.«

»Aber diesmal kämpfe ich auf der Seite der Guten. Das dürfte dich doch freuen.«

»Ich habe viel zu viel Angst, um mich über irgendwas zu freuen.« Sie schüttelte sich. »Und dann hast du dich an die CIA gewandt?«

»Nicht sofort.« Er ließ einen Augenblick verstreichen. »Ich habe ein Problem mit dem ganzen altruistischen Gefasel. Deswegen habe ich erst ein bisschen recherchiert. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass Grozak auch diesmal nicht in der Lage sein würde, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Aber dann ist Reilly im Hintergrund aufgetaucht, und da wusste ich, was die Stunde geschlagen hatte.« Er zuckte mit den Schultern. »Die Gelegenheit war einfach zu verlockend, um sie nicht beim Schopf zu ergreifen. Ich könnte mir Grozak vom Hals schaffen, bevor er eine Gelegenheit findet, mich umzulegen. Ich könnte die Welt retten.« Er lächelte. »Und wenn ich alles richtig mache, könnte ich sogar am Ende immer noch das Gold bekommen. Wie hätte ich da widerstehen können?«

»Gute Frage«, murmelte sie. Sie betrachtete den Umschlag, der das Videoband enthielt. »Das ultimative Hochseil.«

Sein Lächeln verschwand. »Aber ich wollte nicht, dass du in die Sache hineingezogen wirst. Glaube mir, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, dich in einem Kloster einzusperren, bis das alles ausgestanden ist, ich hätte es getan.«

»In einem Kloster?«

»Na ja, das wäre vielleicht ein bisschen extrem. Aber falls es dir entgangen sein sollte, ich bin verdammt eifersüchtig, was dich betrifft.«

»Ich lasse mich nirgendwo einsperren.« Sie schaute ihn an. »Und ich werde nicht zulassen, dass Eve oder Joe dasselbe passiert wie Marios Vater.«

»Nachdem mir klar war, dass du in Gefahr geraten könntest, habe ich Venable sofort aufgefordert, die beiden rund um die Uhr zu bewachen.«

»Aber du bist nicht gerade beeindruckt von der Effizienz der CIA.«

»Ich habe ihm angedroht, die ganze CIA dafür büßen zu lassen, falls einem von den beiden auch nur ein Haar gekrümmt wird. Wie gesagt, Grozak ist ein verdammt nervöser Typ.«

»Ich werde sie trotzdem warnen.«

»Wie du willst.«

Dann kam ihr noch ein Gedanke. »Auf welche Weise werden die wohl vorgehen? Auf welche speziellen Ziele haben sie es abgesehen?«

»Das weiß ich nicht. Ich kann von Glück reden, dass ich überhaupt so viele Informationen bekommen habe. Ich bezweifle, dass irgendjemand außer Grozak über Einzelheiten Bescheid weiß.« Er nahm ihr das Telefon wieder ab. »Wenn du Venable nicht anrufst, dann tue ich es. Ich möchte nicht, dass seine Leute Brenner in die Quere geraten, wenn er in Luzern ankommt.«

»Brenner meinte, du glaubst zu wissen, wer der Mörder ist.«

»Ralph Wickman. Brenner tippt auf Tom Rendle. Ich könnte mich irren, das glaube ich aber nicht. Brenner will sich ein bisschen umhören, vielleicht findet er jemanden, der eine Ahnung hat, was als Nächstes geplant ist.«

»Besteht denn Hoffnung, dass ihm das gelingt?«

»Kaum. Aber es kann nicht schaden, alle Möglichkeiten auszuloten. Falls Wickman für Grozak arbeitet, müssen wir ihn im Auge behalten.«

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. »Der Mann muss ein Monster sein.«

»Ja. Aber kein größeres als der Mann, der ihn angeheuert hat.« Trevor nahm zwei Fotos aus seiner Schreibtischschublade und legte eins davon vor Jane auf den Tisch. »Grozak.« Das Foto zeigte das Gesicht eines Mannes von etwa Mitte vierzig. Er sah nicht schlecht aus, auch konnte sie nichts Ungewöhnliches an ihm entdecken. »Wenn er keinen Handlanger damit hätte beauftragen können, hätte Grozak das Schwert ohne mit der Wimper zu zucken eigenhändig geführt. Und er hätte es genossen.« Trevor warf das zweite Foto auf den Tisch. »Thomas Reilly.« Reilly war älter, vielleicht Mitte fünfzig, und hatte beinahe aristokratische Züge, eine lange Nase und dünne, wohl geformte Lippen. »Und in gewisser Weise wirkt Grozak neben Reilly wie ein Waisenknabe.« Er nahm das Telefon in die Hand. »Willst du mit Venable sprechen?«

Sie stand auf. »Warum sollte ich?«

»Um dich zu vergewissern, dass ich dir die Wahrheit gesagt habe.«

»Du hast mir die Wahrheit gesagt.«

»Woher willst du das wissen?«

Sie lächelte. »Weil du mir versprochen hast, mich niemals zu belügen.«

»Himmel, ein Durchbruch.«

»Außerdem, wenn du vorhättest, Venable zu täuschen, würde dir das nicht schwer fallen. Ich habe dich schon oft genug in Aktion gesehen.«

»Schade, jetzt hast du’s verdorben.«

»Tja, damit wirst du wohl leben müssen.« Sie überlegte. »Wer weiß von Venable?«

»Nur Bartlett, Brenner und MacDuff. Glaubst du etwa, ich würde es an die große Glocke hängen, dass ich mit der CIA zusammenarbeite? Je mehr Leute von etwas wissen, umso größer ist die Gefahr, dass irgendwo ein Leck entsteht.«

»Eve und Joe werden jedenfalls davon erfahren.«

»Dann kann ich ihnen nur raten, darüber Stillschweigen zu bewahren.«

»Du weißt, dass du dich auf die beiden verlassen kannst.« Sie ging zur Tür. »Erledige deinen Anruf. Ich muss zurück zu Mario.«

»Warum?«

»Weil ich nicht zulassen werde, dass er dir die Schuld am Tod seines Vaters gibt und sich vor der Welt verkriecht, um seine Wunden zu lecken. Dafür ist es viel zu wichtig, dass er diese Schriftrollen übersetzt. Und ich werde dafür sorgen, dass er es tut.«

Trevor hob die Brauen. »Welche Entschlusskraft.«

»Da hast du verdammt Recht.« Sie schaute ihm in die Augen und öffnete die Tür. »Ich bin Amerikanerin, Trevor. Und niemand wird eine Stadt, ein Dorf oder irgendein Kaff in meinem Land in die Luft sprengen. Nicht, wenn ich es verhindern kann. Spiel deine Spielchen, solange du mir nicht damit in die Quere kommst. Aber für mich ist das kein Spiel. Wir werden Grozak zur Strecke bringen.«

 

»Ich hab Ihnen doch gesagt, ich will Sie nicht hier haben«, sagte Mario, als Jane sein Zimmer betrat. »Sie haben kein Herz.«

»Aber ich habe einen Verstand und den benutze ich. Was hundertmal besser ist als das, was Sie hier veranstalten.« Sie setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl. »Ich würde viel lieber rücksichtsvoll und geduldig mit Ihnen umgehen, aber dazu haben wir keine Zeit. Ich kann nicht mit ansehen, wie Sie in Selbstmitleid versinken. Es wartet zu viel Arbeit auf Sie.«

»Ich arbeite nicht mehr für Trevor.«

»Also gut, dann arbeiten Sie für sich selbst. Lassen Sie nicht zu, dass dieser Dreckskerl, der Ihrem Vater das angetan hat, ungeschoren davonkommt.«

»Trevor ist schuld, dass das passiert ist.«

Sie musterte ihn. »Das glauben Sie doch selbst nicht.« Dann fügte sie energisch hinzu: »Und Sie glauben auch nicht, dass der Mann, der Ihren Vater enthauptet hat, dafür verantwortlich ist, dass das passieren konnte.«

»Natürlich glaube ich das.«

»Nein.« Sie musste es aussprechen. Grausam oder nicht. Es musste heraus, sonst würde Mario nie aufhören, vor der Wahrheit davonzulaufen. »Sie glauben, dass es Ihre Schuld ist. Sie sagen sich, Sie hätten diesen Job nie annehmen dürfen. Oder wenn doch, dann hätten Sie Trevor zumindest von Ihrem Vater erzählen sollen.«

»Nein!«

»Vielleicht stimmt das alles, aber das müssen Sie selbst rausfinden. Sie dachten, Ihr Vater würde nicht in Gefahr geraten. Haben Sie sich da gezielt etwas vorgemacht? Das kann ich nicht beurteilen. Ich weiß nur, dass Ihr Vater tot ist, und Sie sollten seinen Tod lieber rächen, anstatt hier in Ihrem Zimmer zu hocken und jedem in Reichweite die Schuld zu geben, einschließlich sich selbst.«

»Machen Sie, dass Sie rauskommen«, blaffte er mit bebender Stimme. »Das sind lauter Lügen.«

»Es ist die Wahrheit.« Sie stand auf. »Und ich halte Sie für Manns genug, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Ich gehe nach nebenan, setze mich in den Sessel in der Ecke, wo ich einen guten Blick auf die Statue von Cira habe, und warte, bis Sie rauskommen und Ihre Arbeit wieder aufnehmen.«

»Ich werde nicht kommen.«

»Sie werden kommen. Weil es das einzig Sinnvolle ist. In diesem ganzen Chaos gibt es nicht vieles, was richtig ist, aber Sie haben die Chance, das Richtige zu tun.« Sie ging zur Tür. »Wenn Sie finden, was Trevor sucht, werden die Mörder, die Ihren Vater auf dem Gewissen haben, nicht davonkommen.«

»Lügen …«

Sie öffnete die Tür. »Ich warte.«

 

Als Marios Tür sich vier Stunden später öffnete, saß Jane immer noch in dem Sessel.

Er blieb in der Tür stehen. »Sie geben wohl niemals auf, was?«

»Nicht, wenn mir etwas wichtig ist. Und im Moment könnte mir nichts wichtiger sein.«

»Warum? Damit Trevor bekommt, was er haben will?«

»In diesem Fall sollten wir das alle wollen.« Sie ließ einen Augenblick verstreichen. »Und zu Ihrem eigenen Besten ist es wichtig, dass Sie sich Klarheit verschaffen. Auch wenn es wehtut.«

»Das tut es allerdings.« Er kam auf sie zu. »Scheren Sie sich zum Teufel, Jane.« Seine dunklen Augen füllten sich mit Tränen. »Zum Teufel mit Ihnen.« Er sank vor ihr auf die Knie und vergrub das Gesicht in ihrem Schoß. »Ich werde Ihnen niemals verzeihen.«

»Das macht nichts.« Sie streichelte ihm zärtlich über die Haare. »Es wird alles gut werden, Mario.«

»Nein, das wird es nicht.« Er hob den Kopf, und die Verzweiflung in seinem Gesicht versetzte ihr einen Stich. »Weil ich lüge. Nicht Ihnen werde ich niemals verzeihen. Ich … habe ihn umgebracht.«

»Nein, das haben Sie nicht. Grozak hat ihn umgebracht.«

»Ich hätte – Trevor hat mir von vornherein gesagt, dass der Job gefährlich sein würde, aber ich wollte nicht glauben, dass irgendjemand außer mir in Gefahr geraten könnte. Ich war egoistisch. Ich wollte es nicht glauben. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass jemand zu so etwas fähig wäre.« Tränen liefen ihm übers Gesicht. »Und jetzt hat mein Vater den Preis dafür bezahlt. Ich bin ein Idiot gewesen. Ich hätte –«

»Schsch.« Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Sie haben einen Fehler gemacht und damit werden Sie leben müssen. Aber Grozak trägt die Schuld am Tod Ihres Vaters, und auch das müssen Sie akzeptieren.«

»Das fällt mir schwer.« Er setzte sich auf den Boden und drückte die Augen fest zu. »Ich habe das Gefühl, dass ich bestraft werden müsste.«

Die Strafe hatte ihn bereits ereilt, dachte Jane. Mit derselben Leidenschaft, mit der er zuvor Trevor verflucht hatte, verfluchte er jetzt sich selbst. »Dann machen Sie sich an die Arbeit. Blenden Sie ihre Schuldgefühle aus. Ich habe mich auch schuldig gefühlt, als mein Freund Mike umgebracht wurde. Tagelang habe ich mich damit gequält, was ich alles anders hätte machen können, um zu verhindern, was passiert ist. Aber am Ende muss man diese Gedanken wegschieben und weiterleben. Manchmal überfällt es einen mitten in der Nacht, trotzdem kann man nichts anderes tun, als es durchzustehen und daraus zu lernen.«

Er öffnete die Augen. »Ich benehme mich wie ein Kind.

Das haben Sie nicht verdient.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Aber ich bin froh, dass Sie da sind.«

»Ich auch.«

Er schüttelte den Kopf, als wollte er wieder klare Gedanken fassen, und stand auf. »Und jetzt machen Sie, dass Sie rauskommen. Ich brauche erst mal eine Dusche.« Seine Mundwinkel zuckten. »Ist es nicht seltsam, wie man instinktiv ahnt, dass eine Körperreinigung auch die Seele reinigt?«

»Soll ich wieder herkommen?«

»Vorerst nicht. Ich komme später nach unten und rede mit Trevor.« Sein Blick wanderte hinüber zum Schreibtisch. »Aber ich muss mich wieder an die Arbeit machen. Es wird mir nicht leicht fallen. Ich werde immer daran denken müssen, warum – Vielleicht schaffe ich nur ein paar Zeilen, das wäre zumindest ein Anfang. Haben Sie das mal gesagt? Man muss wieder auf das Pferd steigen, das einen abgeworfen hat?«

Sie nickte.

»Ein guter Spruch.« Er wandte sich ab. »Ich fühle mich, als hätte das Pferd mir alle Knochen gebrochen. Aber Grozak hat mich nicht gebrochen und er wird mich nicht brechen. Mein Herz vielleicht … Doch Herzen heilen wieder, nicht wahr?«

»Ich denke schon.«

Er drehte sich zu ihr um. »Erst überhäufen Sie mich mit all den Weisheiten und dann sind Sie sich beim wichtigsten Punkt nicht sicher? Man merkt, dass Sie keine Italienerin sind.«

Gott sei Dank, er fing wieder an zu scherzen. Der Schmerz war noch nicht überwunden, doch er war nicht mehr so schrecklich am Boden zerstört. Sie lächelte. »Ja, das ist ein großer Nachteil.«

»Ja, das stimmt, aber den werden Sie auch noch aus dem Weg räumen.« Dann fügte er hinzu: »Danke, Jane.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er in seinem Zimmer.

Langsam erhob sie sich. Sie hatte Mario dahin gebracht, wo sie ihn haben wollte, doch die Erfahrung war für sie beide schmerzhaft gewesen. Und sie hatte in den letzten Minuten etwas in Mario entdeckt, das sie überraschte. Es war, als wäre sie Zeuge einer Wiedergeburt geworden, eines plötzlichen Erwachsenwerdens …

Sie wusste es nicht genau. Vielleicht hatte sie es sich auch eingebildet. In dem emotionalen Zustand, in dem sie sich befand, würde sie gar nichts mehr wundern. Es kam nur selten vor, dass der Charakter eines Menschen sich so schnell änderte.

Aber Veränderungen wurden auch selten durch Schrecken und Entsetzen ausgelöst.

Andererseits, hatte dasselbe Entsetzen nicht auch dazu geführt, dass sie sich über ihre Haltung gegenüber Trevor klar geworden war? Das Leben um sie herum verschob sich und Grozak und Reilly zogen die Fäden.

Das musste aufhören.