Fünfzehn

Museo di Storia Naturale di Napoli.

»Ein Naturkundemuseum?« Jane betrachtete das unscheinbare Gebäude, das in einer ebenso unscheinbaren Straße stand. »Eve, was zum Teufel machen wir –«

»Denk nach.« Eve schaltete den Motor ab. »Du bist noch nie hier gewesen, aber vor vier Jahren hat Trevor dieses Museum ausgesucht und den Kurator, Signor Toriza, um einen Gefallen gebeten.«

Jane starrte sie erschrocken an. »Der Schädel.«

»Der Schädel. Wir brauchten einen Schädel, um diesen wahnsinnigen Mörder in eine Falle zu locken, und Trevor hat sich aus diesem Museum hier einen ausgeliehen. Ich sollte eine Rekonstruktion anfertigen und dafür sorgen, dass sie der Statue von Cira ähnelte. Mich auf einen solchen Schwindel einzulassen ging mir vollkommen gegen den Strich, trotzdem habe ich es getan. Wir mussten Aldo schnappen, bevor er dich ermorden konnte.«

»Und es ist dir gelungen, ihn zu täuschen.« Eve wandte sich ab. »Ja, es ist mir gelungen. Wir haben der Rekonstruktion den Namen Giulia gegeben und ich habe dafür gesorgt, dass sie Cira aufs Haar gleicht. Nachdem wir sie nicht mehr brauchten, habe ich wie versprochen eine echte Rekonstruktion angefertigt.« Sie stieg aus dem Wagen. »Komm, sehen wir sie uns an.«

»Aber ich habe sie doch schon gesehen«, sagte Jane, als sie Eve die Stufen hinauf zum Eingang folgte. »Die Zeitungen haben Fotos von der falschen und der echten Rekonstruktion gedruckt. Das hast du fantastisch hingekriegt.«

»Ja, das habe ich allerdings. Aber du hast die Rekonstruktion noch nie mit eigenen Augen gesehen.« Sie öffnete die Tür. »Deswegen sind wir hier.« Sie nickte einem kleinen, gut gekleideten Mann mit Halbglatze zu, der ihnen entgegenkam. »Guten Abend, Signor Toriza. Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie das Museum mir zuliebe noch geöffnet haben.«

»Es ist mir ein Vergnügen. Sie wissen, dass Sie nur anzurufen brauchen, und ich tue, was ich kann, um Ihnen zu helfen. Wir sind Ihnen sehr dankbar.«

»Nein, ich bin diejenige, die Ihnen zu Dank verpflichtet ist. Haben Sie alles vorbereitet?«

Er nickte. »Soll ich Sie begleiten?«

»Nein. Es wäre mir lieber, wenn Sie hier warten würden. Wir werden nicht lange brauchen.« Sie ging durch einen Korridor und bog nach rechts in einen großen Ausstellungsraum. Überall Vitrinen. Antike Kunstgegenstände, Schwerter, Steinfragmente und eine Vitrine, in der eine Reihe von Rekonstruktionen ausgestellt waren.

Jane schüttelte den Kopf. »Meine Güte, ich hätte nie gedacht, dass ein so kleines Museum eine solche Sammlung von Rekonstruktionen beherbergen könnte. Das sind ja mindestens acht oder –«

»Elf«, sagte Eve. »Sie ziehen die Touristen an, und das Museum braucht das Geld sehr dringend für die Spezialbehälter, in denen die Skelette aufbewahrt werden. Diese luftdichten Behälter sind sehr wichtig. Weil sie so teuer sind, gehen in Ägypten immer mehr Kunstgegenstände und Skelette verloren. In diesem Museum befinden sich mehrere Skelette, die aus dem Hafen von Herkulaneum geborgen wurden, doch Gesichtsrekonstruktionen machen das Ganze für Besucher anschaulicher.« Sie trat ans Ende der Vitrine. »Das ist Giulia.«

»Sie sieht genauso aus wie auf den Fotos.« Verwirrt betrachtete Jane die Rekonstruktion. Die junge Frau musste etwa Mitte zwanzig gewesen sein und hatte bis auf eine etwas zu breite Nase regelmäßige Gesichtszüge. Keine hässliche Frau, allerdings auch keine ausgesprochene Schönheit. »Was möchtest du mir zeigen?«

»Schuld.« Eve wandte sich von der Vitrine ab und ging auf eine Tür am Ende des Ausstellungsraums zu. »Komm. Ich möchte das hinter mich bringen.«

Langsam folgte Jane ihr durch den Raum. Schuld?

Eve öffnete die Tür und trat zur Seite, damit Jane vorausgehen konnte. »Gut. Toriza hat die Beleuchtung eingeschaltet. Das ist die Museumswerkstatt, die mir im Lauf der vergangenen Jahre sehr vertraut geworden ist.« Sie zeigte auf die Rekonstruktion, die mitten auf dem Arbeitstisch in einem Glaskasten stand. »Giulia.«

»Aber die Rekonstruktion von Giulia steht doch im Ausstellungsraum. Wie kann – Großer Gott.« Sie fuhr herum. »Cira?«

»Ich weiß es nicht.« Eve schloss die Tür und lehnte sich dagegen, den Blick auf die Rekonstruktion geheftet. »Auf jeden Fall sieht sie ihr sehr ähnlich. Aber wenn das Cira ist, dann war sie keine so außergewöhnliche Schönheit, wie allgemein angenommen wird. Die Züge sind weniger fein, nicht so regelmäßig wie die der Statue. Und Toriza sagt, ihr Skelett weist Spuren jahrelanger harter Arbeit auf. Möglicherweise vom Tragen schwerer Lasten.«

»Cira wurde als Sklavin geboren.« Jane konnte ihren Blick nicht von der Rekonstruktion abwenden. »Es könnte immerhin sein, dass sie –« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht Cira.«

»Glaubst du, es ist nur ein Zufall, dass sie Cira auf den ersten Blick so ähnlich sieht?«

Jane schaute Eve verwirrt an. »Ich weiß nicht. Vielleicht ist es –« Sie ließ sich auf den Stuhl neben dem Arbeitstisch sinken. »Aber das ist nicht die Cira, mit der ich seit vier Jahren lebe. Du hast … mir den Boden unter den Füßen weggezogen.«

»Und wie sieht deine spontane Reaktion darauf aus?«

»Na ja, dass ich die Antworten finden muss …«

»Genau damit habe ich gerechnet«, sagte Eve müde. »Anfangs dachte ich, wenn ich die Rekonstruktion so gelassen hätte, wie sie an dem Abend war, als wir aus Herkulaneum abgereist sind, würde deine Besessenheit in Bezug auf Cira endlich aufhören. Wenn du glaubtest, dass die Suche beendet wäre und feststünde, dass sie in dem Hafen gestorben ist, würdest du vielleicht aufhören, mehr über sie und das Gold, das Julius ihr gegeben hat, in Erfahrung bringen zu wollen.« Sie betrachtete das rekonstruierte Gesicht. »Die Ähnlichkeit war da, aber die Übereinstimmung war nicht vollkommen. Und ich wusste, dass diese Rekonstruktion dich noch mehr dazu antreiben würde, nach Antworten auf deine Fragen zu suchen. Sie würde dir noch mehr Gründe liefern, Ciras verdammten Tunnel zu erforschen.«

»Du … hast mich belogen?« Jane konnte es nicht fassen. »Du bist die aufrichtigste Frau, die ich kenne. Du lügst niemals.«

»An dem Abend damals in Herkulaneum habe ich gelogen. Ich habe jede Ähnlichkeit mit Cira in der Rekonstruktion zerstört und sie noch einmal überarbeitet. Und diese Lüge habe ich ins Museum geschickt.«

»Warum?«, flüsterte Jane. »Mein Gott, damit hast du gegen dein eigenes Berufsethos verstoßen.«

»Es war ein zweitausend Jahre alter Schädel, verdammt.« Eve hatte Mühe, mit fester Stimme zu sprechen. »Du warst erst siebzehn und wolltest im darauf folgenden Jahr mit deinem Studium anfangen. Du hattest gerade eine grauenhafte Begegnung mit einem Wahnsinnigen hinter dir, der dir das Gesicht vom Schädel reißen wollte. Du hattest Albträume von Cira. Du warst erschöpft und verwirrt, und du musstest unbedingt fort von Herkulaneum und Zeit haben, zu genesen.«

»Du hättest mich nicht belügen dürfen.«

»Vielleicht nicht. Wahrscheinlich nicht. Aber ich habe mich dazu entschieden. Ich wollte dir die Chance geben, Cira und alles, was uns in Herkulaneum widerfahren war, zu vergessen.«

»Ohne mir die Wahl zu lassen. Ich war erst siebzehn, aber ich war kein Kind mehr, Eve.«

Eve zuckte zusammen. »Ich hatte immer vor, es dir später zu erzählen. Irgendwann einmal, wenn du Cira vergessen hättest. Aber du hast sie nicht vergessen. Selbst nachdem du mit deinem Studium angefangen hattest, hast du an diesen Ausgrabungsexkursionen nach Herkulaneum teilgenommen.«

»Und warum hast du mir das damals nicht gesagt?«

Eve schüttelte den Kopf. »Eine Lüge wird immer größer und irgendwann fängt sie an zu eitern. Wir sind immer vollkommen ehrlich miteinander umgegangen. Du hast mir immer vertraut. Und ich wollte dieses Vertrauen nicht zerstören.« Ihre Mundwinkel zuckten. »Und dann ist Reilly aufgetaucht und hat mir gesagt, Ciras Gold könnte verhindern, dass Grozak bekommt, was er haben will.«

»Was hat das denn hiermit zu tun?«

»Du hast dir die Vitrine im Ausstellungsraum nicht angesehen.«

»Ich habe die Rekonstruktionen gesehen.«

»Die so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, dass die meisten Leute sich die anderen Ausstellungsstücke gar nicht erst ansehen. Im Hafen wurde ein kleiner Beutel mit Goldmünzen gefunden. Sie lagen in der Nähe von Giulias Skelett, doch nachdem sich gezeigt hatte, dass sie wahrscheinlich eine Arbeiterin war, ist man zu dem Schluss gelangt, dass die Münzen wahrscheinlich einem der vielen anderen gehört haben müssen, die damals ins Meer geflüchtet sind.«

»Mein Gott.« Sie drehte sich wieder zu der Rekonstruktion um. »Dann könnte das tatsächlich Cira gewesen sein.« Aber es passte alles nicht zusammen. Das war nicht Cira, das spürte sie einfach.

»Oder Toriza hatte Recht und das Gold gehörte ihr nicht.« Dann fügte sie hinzu: »Aber ich musste dir davon erzählen, weil ich nicht wollte, dass du in Julius’ Tunnel oder in Ciras Theater nach dem Gold suchst, wenn es womöglich im Hafenbecken begraben liegt.«

»Wie hast du von dem Beutel mit den Münzen erfahren?«

»Oh, Signor Toriza und ich sind im Lauf der letzten vier Jahre dicke Freunde geworden. Man könnte sagen, wir tun einander häufig einen Gefallen.« Sie lächelte freudlos. »Ich konnte die Lüge nicht ertragen. Ich fühlte mich dem Museum gegenüber zur Wahrheit verpflichtet.« Sie deutete mit einer Kinnbewegung auf die Rekonstruktion. »Und ihr gegenüber. Ich hatte sie zu jemandem gemacht, der sie nicht war, und das war nicht fair. Ich musste sie nach Hause holen. Also bin ich im Sommer nach unserem Aufenthalt in Herkulaneum noch einmal hergeflogen und habe mit Toriza gesprochen. Wir haben eine Abmachung getroffen. Er hat mir erlaubt, eine neue Rekonstruktion von Giulia anzufertigen, und mir versprochen, sie erst öffentlich auszustellen, wenn ich ihm grünes Licht gebe.«

»Und die Rekonstruktion in der Vitrine?«

»Die enthält keinen echten Schädel. Es ist nur eine Büste, die genauso aussieht wie die Rekonstruktion, die ich zerstören musste. Nach all der Publicity konnten wir sie nicht einfach sang- und klanglos verschwinden lassen. Sie musste ausgestellt werden.«

»Es wundert mich, dass Signor Toriza bereit war, von seinen Prinzipien abzuweichen, indem er die Rekonstruktion geheim hielt.«

»Geld. Ich habe ihn gut bezahlt.« Eve zuckte die Achseln. »Nicht in bar. Mit dem Schweiß meines Angesichts. Wie gesagt, wir haben eine Abmachung getroffen.«

»Was für eine Abmachung?«

»Er hat mir alle paar Monate einen von seinen Schädeln geschickt, den ich dann rekonstruiert habe. Auf diese Weise ist er in den Besitz einer der weltbesten Sammlungen von Rekonstruktionen gekommen.«

»Wie hast du das bloß gemacht? Du bist doch so schon ständig überarbeitet.«

»Ich hatte gelogen. Also musste ich dafür zahlen.« Ihre Blicke begegneten sich. »Und ich würde es wieder tun. Denn solange ich kein Öl ins Feuer goss, bestand immer die Chance, dass du Cira vergessen und dich um dein Leben kümmern würdest. Das war ein paar Nachtschichten wert, um die Rekonstruktionen für Toriza anzufertigen.«

»Das waren mehr als ein paar Nachtschichten, Elf Rekonstruktionen. Wusste Joe Bescheid?«

Eve schüttelte den Kopf. »Meine Lüge. Mein Preis.« Sie holte tief Luft. »Was ist? Bist du sauer auf mich?«

Jane wusste nicht, was sie empfand. Sie war viel zu schockiert, um ihre Gefühle zu sortieren. »Nein, nicht … sauer. Das hättest du nicht tun sollen, Eve.«

»Wenn ich nicht so erschöpft und voller Sorge um dich gewesen wäre, hätte ich vielleicht eine andere Entscheidung getroffen. Nein, ich will mich nicht rausreden. Ich habe dir vier Jahre Zeit gegeben, um dich von einer Obsession zu befreien und ein normales Leben zu führen. Weißt du, wie wertvoll das ist? Ich weiß es. Ich habe nie ein normales Leben geführt. Aber dir wollte ich dieses Geschenk geben.« Sie seufzte. »Ich weiß, dass du immer geglaubt hast, ich würde dich weniger lieben als Bonnie.«

»Ich hab dir gesagt, dass mir das nicht wichtig ist.«

»Doch, es ist dir wichtig. Ich habe dich nie weniger geliebt als Bonnie, nur auf andere Weise. Ich habe für dich gelogen, gegen mein Berufsethos verstoßen und bis zur Erschöpfung gearbeitet. Vielleicht weißt du jetzt, wie viel du mir bedeutest.« Sie hob resigniert die Schultern. »Vielleicht auch nicht.« Sie drehte sich um und öffnete die Tür. »Komm. Toriza will das Museum schließen.«

»Eve.«

Eve wandte sich zu ihr um.

»Du hättest es nicht tun sollen.« Sie befeuchtete ihre Lippen. »Aber es ändert nichts an meinen Gefühlen für dich. Nichts könnte daran etwas ändern.« Sie stand auf und trat auf Eve zu. »Woher soll ich wissen, was ich an deiner Stelle getan hätte?« Sie versuchte zu lächeln. »Wir sind uns so ähnlich.«

»Nicht wirklich.« Sie streichelte zärtlich Janes Wange. »Aber wir sind uns ähnlich genug, dass ich stolz und zufrieden bin. Seit du bei uns bist, erhellst du unser Leben mit einem warmen Licht. Ich konnte einfach den Gedanken nicht ertragen, dass dieses Licht verblassen könnte.«

Jane spürte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten, und sie nahm Eve in die Arme. »Was zum Teufel soll ich dazu sagen?« Sie drückte sie kurz an sich, dann trat sie einen Schritt zurück. »Okay, gehen wir. Darf ich Trevor davon erzählen?«

»Warum nicht? Wahrscheinlich geht seine Fantasie ohnehin schon spazieren. Da soll er doch lieber gleich die Wahrheit erfahren.« Sie wollte die Tür schließen.

»Warte.« Jane warf noch einen letzten Blick auf die Rekonstruktion auf dem Arbeitstisch. »Sie sieht ihr ähnlich, nicht wahr? Aber nicht ähnlich genug. Es gab so viele Statuen von Cira, doch keine davon hatte so … grobe Züge. Sie könnte –« Sie drehte sich zu Eve um. »Du musst doch unglaublich genaue Messungen vornehmen, nicht wahr? Könnte es sein, dass du einen Fehler gemacht hast?«

»Glaubst du vielleicht, ich hätte mir nicht gewünscht, dass das nicht Cira ist? Eine genaue Übereinstimmung mit den Statuen hätte das Problem endgültig gelöst. Dann wärst du davon überzeugt gewesen, sie endlich gefunden zu haben, und es wäre endlich vorbei gewesen. Ich habe mit größter Sorgfalt gearbeitet. Ich habe die Rekonstruktion dreimal erneuert und jedes Mal sah sie so aus.« Sie schluckte. »Hast du schon mal die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass die Künstler, die diese Statuen hergestellt haben, Cira glorifizieren wollten? Dass die echte Cira womöglich gar nicht so schön war wie die Bildnisse, die man von ihr gemacht hat?«

»Das könnte natürlich –« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht –« Sie betrat den Ausstellungsraum und wartete, bis Eve die Tür geschlossen hatte. »Irgendetwas in mir sträubt sich dagegen.«

»Du lebst jetzt schon so lange mit dem mentalen Bild von Cira, dass du dich gegen jede Änderung sträuben würdest. Hab ich Recht?«

Jane nickte langsam. »Aber im Moment bin ich zu verwirrt, um zu entscheiden, was Wahrheit ist und was Einbildung.« Sie durchquerte den Ausstellungsraum. »Vielleicht ist es ja alles bloß Einbildung. Bis auf das Gold. Das Gold ist real. Und darauf muss ich mich konzentrieren.«

»Deswegen habe ich dich gebeten, hierher zu kommen«, sagte Eve leise.

»Du sagst, im Hafenbecken wurde kein weiteres Gold gefunden?«

»Jedenfalls nicht in der Nähe der Skelette.«

»Nein, ich meine, keine Truhen in irgendwelchen Häusern in der Nähe?«

Eve schüttelte den Kopf. »Aber ein großer Teil von Herkulaneum liegt immer noch unter Lavagestein begraben. Ich hatte nur gehofft, dir einen Ansatzpunkt geben zu können oder einen Hinweis auf eine andere Stelle, wo ihr danach suchen könntet.«

»Danke. Das weiß ich.« Jane seufzte. »Ich hoffe bloß, dass das Gold nicht unter dem Lavagestein liegt.«

»Diese Möglichkeit musst du aber in Betracht ziehen.«

»Nein, verdammt. Wenn das Cira ist, dann hat sie vielleicht versucht, das Gold aus der Stadt zu schaffen. Vielleicht ist es ihr ja sogar gelungen.« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. »Aber sie ist es nicht. Ich weiß es einfach.«

»Nein, du weißt es nicht. Und das Gold ist zu wichtig für uns, wenn wir diese Schweinehunde aufhalten wollen, als dass wir uns auf Instinkte verlassen könnten.« Eve ging in Richtung Ausgang. »Damit würden wir uns ins eigene Fleisch schneiden. Das Gold war nie ein sicherer Faktor, auch wenn ich wünschte, es wäre so. Aber wir sollten allmählich zusehen, dass wir noch eine andere Lösungsmöglichkeit aus dem Hut zaubern.«

 

»Der Hafen«, murmelte Trevor, als sie dem Flugzeug nachschauten, in dem Eve saß. »Selbst wenn es da liegt, wird es verdammt schwierig werden, es zu bergen. Es wäre viel einfacher, wenn es sich in Julius’ Tunnel befände.«

»Aber wir wissen, dass Cira versucht hat, das Gold aus dem Tunnel zu schaffen. Vielleicht ist es ihr ja wirklich gelungen.«

»Und dann soll sie es zum Hafen gebracht haben? Vielleicht war das nur ein Fluchtversuch. Vielleicht hat sie sich einen Beutel mit Münzen aus der Truhe geschnappt und ist damit in Richtung Meer geflohen.«

»Wieso hätte sie zum Hafen fliehen sollen? Julius hat sie beobachten lassen. Es wäre viel zu gefährlich für sie gewesen, zum –«

»Du redest ja schon, als wäre das Cira da in dem Museum.« Trevor schwieg einen Moment lang. »Du musst zugeben, dass die Wahrscheinlichkeit nicht gering ist. Eve hat Recht. Die Künstler, von denen die Statuen stammen, haben bestimmt versucht, sowohl Cira als auch Julius damit zu schmeicheln.«

»Ja, ich geb’s zu.« Ihre Lippen spannten sich. »Es bleibt mir nichts anderes übrig.« Sie drehte sich um und ging auf den Ausgang für Privatflugzeuge zu. »Bis Mario mit der Übersetzung fertig ist und wir erfahren, was Cira zu sagen hat. Und was ist, wenn es keinen Hinweis darauf gibt, wo sie das Gold versteckt hat oder verstecken wollte? Eve hat Recht, wir können uns nicht auf das Gold verlassen. Die Chancen, dass wir es jemals finden, stehen schlechter denn je. Und das macht mir fürchterliche Angst.« Sie schaute Trevor an. »Lass uns zusehen, dass wir zurück auf die Burg kommen.«

»Ich habe mit Bartlett telefoniert. Er sagt, es hat sich nichts verändert. Also, kein Grund zur Eile.«

»Im Moment haben wir jeden Grund zur Eile, jede Minute ist wichtig.« Sie blickte zum Himmel, wo das Flugzeug mit Eve in den Wolken verschwunden war. »Eve sieht das genauso, sonst wäre sie nicht hergekommen, um sich mit mir zu treffen. Das ist ihr weiß Gott nicht leicht gefallen.«

»Es wundert mich, dass du nicht wütend auf sie bist. Sie hat dich belogen.«

»Sie hat es getan, weil sie mich liebt. Wie soll ich wütend auf sie sein, wo sie vor Schuldgefühlen vergeht?« Sie biss sich auf die Lippe. »Und ich liebe sie. Das ist das Wichtigste. Ich würde ihr alles verzeihen.«

»Das ist ein eindrucksvoller Freibrief.« Er öffnete die Tür. »Ich frage mich, was man tun muss, um einen solchen Freibrief zu bekommen.«

»Jahrelanges Vertrauen, Geben und Nehmen, das Wissen, dass sie immer für mich da sein wird, egal was passiert.« Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Hat es in deinem Leben jemals so einen Menschen gegeben?«

Er schwieg eine Weile. »Mein Vater. Wir waren … Freunde. Als Junge habe ich mir nichts anderes gewünscht, als auf unserer Farm zu leben, die Felder zu bestellen und so zu werden wie er.«

»Ein Bauer? Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.«

»Es hat mir Spaß gemacht, etwas zu pflanzen und wachsen zu sehen. Das machen doch alle Kinder gern.«

»Und jetzt macht es dir keinen Spaß mehr?«

Er schüttelte den Kopf. »Man steckt Herz und Seele in den Boden und in einem einzigen Augenblick kann alles zerstört werden.«

Sie schaute ihn nachdenklich an. Er hatte die Worte beinahe beiläufig ausgesprochen, aber sein Gesichtsausdruck war mehr als ernst. »Ist euch das passiert?«, fragte sie und fügte hastig hinzu: »Nein, antworte nicht, das geht mich nichts an.«

»Es macht mir nichts aus, darüber zu sprechen. Das ist alles lange her.« Er ging schneller. »In unserer Gegend gab es ein paar militante Rassisten, die meinen Vater hassten, weil er seine Arbeiter gut behandelte. Eines Nachts haben sie die Farm überfallen und unser Haus und die Felder abgebrannt. Sie haben sechzehn Arbeiter getötet, die versucht haben, sie zu verscheuchen. Dann haben sie meine Mutter vergewaltigt und ermordet und meinen Vater mit einer Mistgabel an einen Baum gespießt. Er ist einen langsamen, qualvollen Tod gestorben.«

»Mein Gott. Aber du hast überlebt.«

»O ja. Ich habe den Anführer der Bande gereizt, indem ich mit einem Messer auf ihn losgegangen bin, daraufhin haben sie mich gefesselt und gezwungen zuzusehen, wie sie ihr Blutbad anrichteten. Ich bin sicher, dass er vorhatte, mich später ebenfalls zu töten, aber bevor es dazu kam, sind Soldaten gekommen. Unsere Nachbarn hatten das Feuer und den Rauch gesehen und die Soldaten alarmiert.« Er trat zur Seite und ließ sie zuerst ins Flugzeug steigen. »Sie meinten, ich hätte Glück gehabt. Aber so habe ich mich in dem Augenblick überhaupt nicht gefühlt.«

»Lieber Himmel.« Jane konnte den Schmerz beinahe spüren und das Grauen der Szene sehen, des Entsetzen des Jungen, der gezwungen war mit anzusehen, wie seine Eltern abgeschlachtet wurden. »Sind die Täter jemals gefasst worden?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie sind im Busch verschwunden und die Regierung hat nichts unternommen. Die wollten sich die schlechte Presse ersparen, die ein Gerichtsprozess verursacht hätte. Verständlich.«

»Das finde ich ganz und gar nicht.«

»Damals fand ich das auch nicht. Aus diesem Grund wurde ich auch als unerziehbar eingeschätzt, als ich ins Waisenhaus kam. Doch mit der Zeit habe ich mich an das Leben im Heim gewöhnt und gelernt, Geduld zu üben. Mein Vater hat immer zu mir gesagt, mit Geduld kommt man weit.«

»Nicht, wenn diese Mörder ungestraft davonkommen konnten.«

»Ich habe nicht gesagt, dass sie ungestraft davongekommen sind. Kurz bevor ich nach Kolumbien gegangen bin, ist der Anführer der Bande auf grausame Weise zu Tode gekommen. Jemand hat ihn gefesselt, kastriert und verbluten lassen.« Er lächelte. »Ist es nicht wunderbar, wie das Schicksal manchmal Dinge für uns regelt?«

»Wunderbar«, wiederholte sie leise und starrte ihn an. Niemals war ihr bewusster gewesen, wie lebensgefährlich Trevor sein konnte. Er wirkte so weltgewandt und gebildet, dass sie seine gewalttätige Vergangenheit ganz vergaß. »Und man hat nie rausgefunden, wer das getan hat?«

»Wahrscheinlich jemand, der eine alte Rechnung mit ihm zu begleichen hatte, hieß es. Aber man hat nicht besonders gründlich nach dem Täter gesucht. Angesichts der schwierigen politischen Situation damals wollte man nicht zu viel Staub aufwirbeln.« Er schlug die Tür zu. »Am besten, du schnallst dich schon mal an. Wir heben bald ab.«

Sie schaute ihm nach, als er ins Cockpit ging. In den letzten Minuten hatte sie so viel über Trevor erfahren wie nie zuvor. Sie war sich nicht sicher, ob das gut oder schlecht war. Jetzt, wo sie sich vorstellen konnte, was er als Junge durchgemacht hatte, würde sie ihn vielleicht nie wieder ansehen können, ohne sich daran zu erinnern. Ihr quoll das Herz über vor Mitleid.

»Nein.« Trevor schaute sie über die Schulter hinweg an und las ihre Gedanken. »Das ist es nicht, was ich von dir will. Ich will Sex, vielleicht sogar Freundschaft. Aber kein Mitleid. Ich bin kein Mike, den du trösten und beschützen musst. Du hast mir eine Frage gestellt und ich habe sie beantwortet, weil es nicht fair ist, dass ich mehr über dich weiß als du über mich. Jetzt sind wir quitt.« Damit verschwand er im Cockpit.

Nicht ganz quitt, dachte sie. Er wusste eine Menge über sie, aber sie hatte ihm noch nie etwas so Intimes und Schmerzvolles anvertraut wie die Geschichte, die er ihr eben erzählt hatte.

Nicht darüber nachdenken. Er wollte kein Mitleid und sie selbst würde sich es ebenfalls verbitten. Wie Trevor gesagt hatte, das war alles lange her, und der kleine Junge von damals war erwachsen geworden und hatte Zähne und Klauen bekommen.

 

MacDuff empfing sie, als sie im Burghof aus dem Hubschrauber stiegen. »War die Reise erfolgreich?«

»Ja und nein«, erwiderte Jane. »Kann sein, dass wir Cira gefunden haben.«

Er erstarrte. »Wie bitte?«

»In einem Museum in Neapel gibt es eine Gesichtsrekonstruktion, die ihr ähnelt. Ihr Skelett wurde im Hafenbecken gefunden. Und zwar zusammen mit einem Beutelchen voller Goldmünzen.«

»Interessant.«

Aber in seinem Gesichtsausdruck lag mehr als Interesse, dachte Jane. MacDuff wirkte wachsam und konzentriert und sie konnte beinahe hören, wie seine grauen Zellen arbeiteten.

»Wie groß ist die Ähnlichkeit denn?«, fragte er.

»Groß genug, um sie auf den ersten Blick für Cira zu halten«, sagte Trevor. »Das meinte Jane jedenfalls. Ich war zu der Privatbesichtigung nicht zugelassen. Die Rekonstruktion, die im öffentlichen Ausstellungsraum steht, ist die Fälschung, die Eve Duncan vor vier Jahren angefertigt hat.«

»Aber laut Aussage der Zeitungsberichte und auf den Fotos, die von dieser Rekonstruktion gemacht wurden, sah sie kein bisschen aus wie –« Er unterbrach sich. »Sie hat denen eine Fälschung untergeschoben?«

»Sie hat es getan, um mich zu schützen«, sagte Jane. »Sie hätte nie – Warum erkläre ich Ihnen das eigentlich?«

»Keine Ahnung«, erwiderte MacDuff. »Ich bin sicher, dass sie einen guten Grund hatte, so zu handeln.« Er überlegte. »Wie groß ist die Ähnlichkeit?«

»Wie Trevor schon sagte, auf den ersten Blick sieht sie …« Jane zuckte mit den Schultern. »Aber die Gesichtszüge sind weniger fein, es gibt kleine Unterschiede. Ich kann nicht glauben, dass es wirklich Cira ist. Jedenfalls noch nicht.«

»Es ist immer ratsam, jede neue Information erst einmal mit Skepsis zu betrachten und nicht hinzunehmen, bevor man alle Möglichkeiten ausgelotet hat«, sagte MacDuff.

»Und wenn die Truhe mit dem Gold in der Hafengegend versteckt wurde, wird es verdammt schwierig sein, sie zu bergen«, fügte Trevor hinzu.

MacDuff nickte. »Nahezu unmöglich, wenn man den Zeitfaktor mit einrechnet.« Er schaute Jane an. »Sie glauben also, das Gold könnte sich dort befinden?«

»Ich weiß es nicht. Die Goldmünzen … Ich will es nicht glauben, wage es aber auch nicht auszuschließen. Sie haben ja bereits den Zeitfaktor erwähnt. – Übrigens, wie geht es Jock?«

»Unverändert. Nicht besser, nicht schlechter.« Er zögerte. »Oder vielleicht nicht ganz unverändert. Ich habe das Gefühl, dass sich irgendetwas Seltsames in seinem Kopf abspielt.« Er ging in Richtung Stall. »Auf jeden Fall behalte ich ihn im Auge.«

»Er wirkt äußerst skeptisch«, sagte Jane zu Trevor, als sie auf den Eingang zur Burg zugingen. »Was mich ziemlich wundert, wo wir doch gerade den ersten soliden Hinweis auf Cira bekommen haben.«

»Wahrscheinlich ist er ihm nicht solide genug. Er möchte nicht, dass wir auf vage Vermutungen hin Zeit vergeuden. Er will Reilly.«

»Nicht dringender als wir.« Sie öffnete die Tür. »Ich gehe nach oben und schaue mal nach Mario. Wir sehen uns später.«

»Wo?«

Sie schaute ihn an.

»Dein Bett oder meins?«

»Du Nimmersatt.«

»Ich habe gelernt, keinen Fingerbreit von dem Territorium aufzugeben, das ich einmal erobert habe. Und letzte Nacht konnte ich unbestritten einen beträchtlichen Vorstoß verzeichnen.«

Beträchtlich war untertrieben. Allein sein Anblick verursachte ihr eine Gänsehaut. »Vielleicht sollten wir es ein bisschen gemächlicher angehen lassen.«

Er schüttelte den Kopf.

Warum war sie eigentlich so zögerlich? Das passte gar nicht zu ihr. Normalerweise war sie wagemutig und entscheidungsfreudig.

Weil es zu gut gewesen war. Sie hatte streckenweise völlig die Kontrolle verloren, und das machte ihr Angst. Unsinn. Sie hatte mit ihm geschlafen, weil ihr bewusst geworden war, wie schnell das Leben vorbei sein konnte, und sie keine Minute davon verpassen wollte. Sie hatte nach den Sternen gegriffen und war nicht enttäuscht worden. Jetzt in diesem Augenblick begehrte sie ihn genauso wie am Abend zuvor. Sogar noch mehr. Denn jetzt wusste sie, was sie erwartete. Und im Moment konnte sie eine Ablenkung von der besonderen Art, wie Trevor sie zu bieten hatte, weiß Gott gebrauchen.

»Dein Bett.« Sie ging die Treppe hinauf. »Aber ich weiß nicht, wie lange ich bei Mario bleiben werde.«

»Ich werde warten.« Er ging in Richtung Bibliothek. »Und ich habe selbst einige Dinge zu erledigen.«

»Was denn?«

»Ich muss Brenner anrufen, um zu erfahren, ob er etwas Neues zu berichten hat.« Er lächelte sie an. »Und dann muss ich mich mit Demonidas beschäftigen. Bevor Eve heute Morgen angerufen hat, sind wir gar nicht dazu gekommen, ein bisschen zu recherchieren.«

»Wahrscheinlich hat er nie existiert«, erwiderte sie müde. »Das war doch nur ein Traum. Und wahrscheinlich handelt es sich bei dieser Giulia im Museum wirklich um Cira.«

Er schüttelte den Kopf. »Du bist hundemüde, sonst wärst du nicht so pessimistisch. Wir werden dem alten Demonidas eine Chance geben.« Dann verschwand er in der Bibliothek und schloss die Tür hinter sich.

Sie war wirklich hundemüde. Und entmutigt. Sie wollte nicht, dass das arme Mädchen im Museum Cira war. Doch die Übereinstimmung war nicht von der Hand zu weisen. Sie konnte nicht einfach die Augen davor verschließen, dass Giulia doch Cira sein könnte.

Aber Giulia war nicht ihre Cira, verdammt. Nicht die Frau, die seit vier Jahren in ihren Gedanken und in ihrer Fantasie herumgeisterte.

Also musste sie die Wahrheit herausfinden. Die Träume vergessen und Mario ein bisschen mehr Zeit lassen, um ihr die Fakten zu liefern, die sie brauchte.

 

»Irgendwelche Fortschritte?«, fragte Mario, als sie ohne anzuklopfen sein Arbeitszimmer betrat.

»Ein Skelett, das im Hafenbecken gefunden wurde und Cira ähnlich sieht.« Sie trat vor die Statue am Fenster. Die Entschlusskraft, der Humor und die Stärke, die dieses Gesicht ausstrahlte. Das war die Cira, die sie kannte. »Ich denke, sie könnte es sein. Aber was hatte sie in der Hafengegend zu suchen, wenn sie diese Rollen in dem Tunnel auf Julius’ Grundstück geschrieben hat?« Sie drehte sich zu Mario um. »Wie lange werden Sie für die Übersetzung noch brauchen?«

»Nicht mehr lange.« Er lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. »Es ist mir gelungen, die meisten fehlenden Worte einzufügen. Häufig musste ich raten, aber inzwischen habe ich den Bogen raus.«

»Wann genau werden Sie fertig sein?«

»Drängen Sie mich nicht, Jane. Ich habe schon die Trainingsstunden mit Trevor und MacDuff aufgegeben, um ohne Unterbrechungen arbeiten zu können. Sie bekommen das Ergebnis so bald wie möglich.«

»Tut mir Leid.« Sie betrachtete wieder die Statue. »Können Sie denn jetzt schon sagen, ob der Text uns eine Hilfe sein wird?«

»Ich kann Ihnen sagen, dass der Text in Eile geschrieben wurde und sie vorhatte, den Tunnel noch am selben Tag zu verlassen.«

»Am Tag des Vulkanausbruchs –«

»Das wissen wir nicht. Der Text enthält kein Datum. Sie könnte ihn Tage vor dem Vulkanausbruch geschrieben haben. Es wäre durchaus möglich, dass sie sich am Tag der Katastrophe am Hafen aufgehalten hat.«

»Wahrscheinlich haben Sie Recht.« Bloß weil sie geträumt hatte, dass Cira während des Unglücks in dem Tunnel gewesen war, musste es noch lange nicht so gewesen sein. »Erwähnt sie etwas von dem Gold?«

»Nichts Definitives.«

»Oder von einem Schiff?«

Er sah sie neugierig an. »Nein. Warum?«

Sie würde Mario nichts über die Träume anvertrauen, die ihr selbst immer weniger konkret erschienen. »Wenn sie am Hafen war, muss sie dafür einen Grund gehabt haben.«

»Sie wollte überleben. Sie war im Theater und ist um ihr Leben gerannt.«

Die logische Antwort. Sie sollte sie akzeptieren, anstatt sich dagegen zu wehren und nach einer anderen Lösung zu suchen. Zugeben, dass die Frau aus dem Hafenbecken die Sackgasse war, als die Eve sie bezeichnet hatte. »Werden Sie morgen fertig?«

»Kann gut sein. Wenn ich heute Nacht durcharbeite.« Er lächelte müde. »Kein fürsorglicher Protest gegen meine Opferbereitschaft?«

»Das ist Ihre Entscheidung. Ich bin egoistisch genug, um es sofort wissen zu wollen. Sie können sich immer noch ausschlafen, wenn Sie die Übersetzung fertig haben.« Dann fügte sie ernst hinzu: »Ich glaube, tief im Innern habe ich immer daran geglaubt, dass wir das Gold finden würden, und jetzt treibe ich auf dem Ozean und suche verzweifelt nach einem Rettungsring. Ich weiß nicht, in welche Richtung ich mich wenden soll, und fühle mich vollkommen hilflos. Wir müssen diese Katastrophe verhindern, Mario.«

»Ich arbeite, so schnell ich kann.«

»Das weiß ich.« Sie ging zur Tür. »Ich komme morgen früh wieder.«

»Daran zweifle ich nicht.« Mario beugte sich wieder über seinen Schreibtisch. »Gute Nacht, Jane. Und schlafen Sie gut.«

Der sarkastische Unterton war ihr nicht entgangen. Sie konnte ihm keinen Vorwurf machen, obwohl es eigentlich nicht zu dem Mario passte, den sie bei ihrer Ankunft kennen gelernt hatte. Andererseits hatte der tragische Tod seines Vaters Mario verändert. Alles Jungenhafte und Weiche an ihm war verschwunden, und sie war sich nicht sicher, ob sie Mario noch wiedererkennen würde, wenn das alles ausgestanden war.

Hatte auch sie sich verändert? Wahrscheinlich. Mikes Tod und dieser Horror, der über ihnen hing wie ein Damoklesschwert, hatten sie bis ins Mark erschüttert. Und sie hatte noch nie in ihrem Leben so intensiven Sex gehabt wie mit Trevor.

Trevor.

Mit intensiv ließ sich das, was zwischen ihnen war, nicht beschreiben. Schon der Gedanke an ihn versetzte ihren Körper in Bereitschaft. Gott, wieso zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie sehr sie oder sonst jemand dabei war, sich zu verändern. Niemand wusste, was morgen passieren würde. Sie mussten jeden Augenblick auskosten, solange sie noch die Chance dazu hatten.

Sein Schlafzimmer. Er hatte gesagt, er würde auf sie warten.

Aber sie war keine zehn Minuten bei Mario gewesen, und Trevor hatte die Dinge, die er sich vorgenommen hatte, wahrscheinlich noch nicht erledigt. Sie würde erst einmal duschen und dann zu ihm gehen.

Zu ihm gehen. Zu ihm ins Bett gehen. Mit klopfendem Herzen lief sie den Flur entlang. An den steinernen Wänden leuchteten elektrische Fackeln und warfen dreieckige Schatten an die gewölbte Holzdecke und auf die Gobelins, die an sämtlichen Wänden hingen. Die MacDuffs hatten offenbar eine große Vorliebe für Gobelins …

Zu einer Verabredung in der alten Burg zu gehen war seltsam. Sie kam sich beinahe vor wie die Geliebte des alten MacDuff. Falls er eine Geliebte gehabt hatte. Die meisten Adeligen hatten Geliebte gehabt, doch vielleicht war Angus ja eine Ausnahme gewesen. Sie würde den jetzigen MacDuff morgen danach fragen.

Jane öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Im Dunkeln warf sie ihre Handtasche auf den Sessel neben der Tür und langte nach dem Lichtschalter.

»Nicht einschalten.«

Sie erstarrte.

»Keine Angst. Ich werde dir nichts tun.«

Jock.

Ihr Puls raste. Sie holte tief Luft und wandte sich der Zimmerecke zu, aus der seine Stimme gekommen war. Nur schwaches Mondlicht fiel durch das Fenster, und es dauerte einen Moment, bis sie ihn ausmachen konnte. Er saß auf dem Boden, die Knie mit den Armen umschlungen. »Was tust du hier, Jock?«

»Ich wollte mit dir reden.« Sie konnte erkennen, dass seine Hände sich zu Fäusten ballten. »Ich muss mit dir reden.«

»Kann das nicht bis morgen warten?«

»Nein.« Er schwieg einen Moment. »Ich war sauer auf dich. Was du gesagt hast, hat mir nicht gefallen. Eine Zeit lang wollte ich dir wehtun. Aber das hab ich dem Burgherrn nicht gesagt. Er würde wütend auf mich werden, wenn ich dir wehtäte.«

»Längst nicht so wütend wie ich.«

»Du könntest nicht mehr wütend werden, denn dann wärst du tot.«

Klang da eine Spur von schwarzem Humor in seinen Worten mit? Sie wusste es nicht, weil sie sein Gesicht nicht sehen konnte. »Heißt wehtun für dich automatisch töten, Jock?«

»Es läuft darauf hinaus. Es passiert so schnell …«

»Worüber wolltest du mit mir reden?«

»Rei – Reilly.« Er atmete tief durch und setzte noch einmal an. »Reilly. Es fällt mir schwer, über ihn zu sprechen. Er – will – nicht, dass – ich – es tue.«

»Aber du tust es trotzdem. Das bedeutet, dass du stärker bist als er.«

»Noch nicht. Eines Tages.«

»Wann?«

»Wenn er tot ist. Wenn ich ihn töte.« Er sprach die Worte kühl und sachlich aus.

»Du brauchst ihn nicht zu töten, Jock. Sag uns einfach, wo er ist, und wir sorgen dafür, dass die Polizei das übernimmt.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich muss es selbst tun. Es muss sein.«

»Warum?«

»Wenn ich es nicht tue, wird der Burgherr versuchen, es für mich zu tun, darum. Er wird nicht warten, bis es jemand anders tut. Er ist … wütend auf ihn.«

»Weil Reilly ein Verbrecher ist.«

»Ein Satan. Wenn es einen Satan gibt, dann ist es – Reilly.«

»Sag uns einfach, wo er ist.«

»Ich – weiß es nicht.«

»Du musst es doch wissen.«

»Jedes Mal, wenn ich daran denke, werde ich so durcheinander, dass ich – das Gefühl habe, dass mir der Kopf explodiert.«

»Versuch’s.«

»Ich habe es gestern Abend versucht.« Er schwieg einen Augenblick. »Ich habe – Bilder gesehen. Bruchstücke. Mehr nicht.« Er überlegte. »Aber vielleicht – wenn ich zurückgehen würde … Vielleicht könnte ich mich dann erinnern.«

»Zurück nach Colorado?«

»Nicht Colorado.«

»Da hat man dich aber gefunden.«

»Nicht Colorado. Weiter nördlich. Vielleicht … Idaho?«

Ein Hoffnungsschimmer. »Soweit erinnerst du dich also? Wo in Idaho?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich muss dahin zurück.«

Sie waren immerhin schon einen Schritt weitergekommen. »Dann fahren wir zusammen hin. Ich rede mit Trevor.«

»Jetzt gleich.«

»Heute Abend.«

Jock stand auf. »Wir müssen Reilly bald finden, sonst macht der Burgherr sich auf die Suche nach ihm. Er wird nicht mehr lange warten.«

»Wir reisen so bald wie möglich ab.« Stirnrunzelnd dachte sie darüber nach. »Aber niemand darf erfahren, dass du uns begleitest, sonst wird Reilly Gefahr wittern und die Flucht ergreifen.«

»Nein, das wird er nicht.«

»Warum nicht?«

»Wahrscheinlich weiß er längst, dass ich hier bin und dem Burgherrn überhaupt nichts erzählen kann. Er glaubt, er ist in Sicherheit.«

»Warum sollte er das glauben?«

»Weil er mir gesagt hat, ich werde sterben, wenn ich irgendjemandem sage, wo er ist.«

»Du meinst, er wird dich töten.«

»Nein, ich werde einfach sterben. Er hat gesagt, mein Herz würde aufhören zu schlagen und ich würde sterben.«

»Das ist doch verrückt.«

»Nein, ich habe selbst gesehen, wie es passiert ist. Reilly hat es mir – vorgeführt.« Er fasste sich an die Brust. »Ich habe gespürt, wie mein Herz zu rasen begann, und da wusste ich, dass es aufhören würde zu schlagen, wenn er es sagte.«

Gott, das klang ja wie Voodoo. »Das kann nur passieren, wenn du es glaubst. Nur, wenn du es zulässt. Wenn du stark bist, kann es nicht passieren.«

»Ich hoffe, dass ich stark genug sein werde. Ich muss Reilly töten, bevor er den Burgherrn tötet.« Er ging zur Tür. »Einmal wollte ich sterben, aber der Burgherr hat mich nicht gelassen. Jetzt bin ich manchmal ganz froh, dass ich noch lebe. Manchmal vergesse ich sogar –« Er öffnete die Tür. »Ich komme morgen früh zu dir.«

»Warte. Warum bist du zu mir gekommen, anstatt zu MacDuff zu gehen?«

»Weil ich tun muss, was der Burgherr sagt. Er will sich Reilly allein schnappen, und wenn ich Reilly finden würde, würde er mich von ihm fern halten, weil er mich beschützen will. Du und Trevor, ihr werdet das nicht tun. Dann bekomme ich meine Chance.«

»Ich würde auch versuchen, dich zu beschützen, Jock.«

Seine Gestalt im Türrahmen hob sich dunkel gegen das schwache Flurlicht ab. »Nicht so wie er.« Dann war er verschwunden.

Erfüllt von einer Mischung aus Aufregung und Hoffnung blieb sie eine Weile da stehen. Es gab keine Garantie dafür, dass Jock sich an Reillys Unterschlupf erinnern würde, aber es war möglich. Er war dabei, zurückzukommen, und er erinnerte sich bereits, dass Reilly eher in Idaho als in Colorado war.

Seine Antwort auf ihre Frage, warum er sich an sie und nicht an MacDuff gewandt hatte, war so klar und eindeutig gewesen, dass sie sich gewundert hatte. Offenbar hatte er sich die Konsequenzen genau überlegt und zu einer Lösung gefunden. Wenn er schon so weit war, dann bestand wirklich Hoffnung.

Und nachdem er ihnen ein solches Geschenk gemacht hatte, würden sie unverzüglich handeln müssen. Erst vor einer halben Stunde hatte sie Mario gesagt, wie hilflos sie sich fühlte, seit in Frage stand, ob sie das Gold jemals finden würden. Nun, jetzt tat sich eine neue Möglichkeit auf, und sie mussten sie beim Schopf packen.

Aber allein der Versuch, Jock ohne Vorbereitung mit in die USA zu nehmen und dorthin zu fahren, wo MacDuff ihn gefunden hatte, barg eine Menge Fallstricke. Sie würden jede Hilfe brauchen, die sie bekommen konnten.

Sie öffnete die Tür und ging hinunter in die Bibliothek, um mit Trevor zu reden.