Achtzehn

Der Geschäftsführer war weder besonders phantasiebegabt noch übermäßig neugierig, und so hatte sich seine Aufregung über den toten Mann am Teich schnell gelegt. Er hoffte nur inständig, dass die unliebsame Geschichte heute noch geklärt wurde, damit diese leidigen Kabarettisten und vor allem die Polizei endlich verschwanden. Für morgen früh hatten sich neue Gäste angesagt, und es war gut möglich, dass die ihre Koffer erst gar nicht auspackten, wenn sie erfuhren, was passiert war.

Liebeskind rieb sich den Nacken – eine vertrackte Situation. Es half nichts, er musste mit der Polizei sprechen. Als er seine Bürotür öffnete, stand der Hauptkommissar direkt vor ihm. Liebeskind stolperte zwei Schritte zurück.

Toppe streckte die Hand aus. «Tut mir Leid, wenn ich Sie erschreckt habe, aber ich brauche Sie kurz einmal im Park. Hätten Sie einen Moment Zeit?»

«Ja, ja, natürlich, ich hole nur eben meinen Mantel.»

«Es ist wirklich eine wunderschöne Anlage», sagte Toppe, als sie über die Wiese gingen. Liebeskind hatte Mühe, mit dem Mann, der fast einen Kopf größer war als er, Schritt zu halten. «Ja, wir bemühen uns, den Park in einem Gleichgewicht zwischen gepflegt und ein wenig verwildert zu halten.»

Toppe nickte. «Ein schöner Rahmen für die afrikanischen Skulpturen. Haben Sie viele Besucher von außerhalb?»

«Nein, so gut wie keine. Wir liegen zu weit weg von der Straße, als dass man sich zufällig hierher verirrt.»

«Aber im Prinzip ist der Park jedem zugänglich?»

«Noch», gab Liebeskind kurzatmig zurück, «aber das soll sich ändern, wenn demnächst die Ausstellung offiziell eröffnet worden ist. Ab dann kassieren wir Eintritt.» Er nahm dankbar zur Kenntnis, dass Toppe stehen geblieben war. «Die Sammlung hat ein Kunstliebhaber aus den Niederlanden zusammengestellt. Der Mann hat sich auf Parkausstellungen spezialisiert.»

«Mir ist aufgefallen, dass die meisten Plastiken nicht befestigt sind, und einige der Stelen sind leer.» Toppe zeigte ins Rund.

«Das liegt daran, dass wir ein paar Exponate an Museen ausgeliehen haben.»

Toppe hielt seinen Blick fest. «Welche genau?»

Liebeskind verstand nicht so recht, wieso das von Bedeutung war. «Nun ja, aus dem Kopf weiß ich das nicht», gab er zu, «aber ich habe ein Verzeichnis und einen Plan bei mir im Büro. Soll ich’s holen?»

«Das wäre sehr freundlich.»

Liebeskind hastete ins Haus zurück. Die Sache schien wichtig zu sein, und je eher er das hinter sich brachte, umso besser. Als er, den Ordner unter den Arm geklemmt, wieder loslaufen wollte, hielt ihn das Zimmermädchen auf. «Die Polizei sagt, wir dürfen die Zimmer nicht machen. Aber wir müssen doch wenigstens die Handtücher wechseln.»

«Sie tun das, was die Polizei sagt, verstanden?» Sie fuhr verblüfft zurück. «Keine frischen Handtücher, keine neue Bettwäsche!» Dann eilte er weiter.

Der Kommissar war am hinteren Ende des Parks und umrundete dort langsam den Pavillon, ging hinein, bückte sich, schaute unter die Holzbänke.

«Suchen Sie was?», fragte Liebeskind vorsichtig.

Toppe richtete sich auf und lächelte schief. «Ach, die Spurensicherung hat längst alles genau untersucht, aber man gibt die Hoffnung nie auf …» Dann wurde er ernst. «Wir wissen inzwischen, dass Herr Seidl in der Mordnacht hier im Pavillon gewesen ist, und zwar nach halb zwei, also nur kurze Zeit vor seinem Tod. Wir haben eine leere Rumflasche mit seinen Fingerabdrücken gefunden und auch seine Schuhspuren.» Er zeigte auf die Markierungen, die van Gemmern angebracht hatte.

Liebeskind lief ein Schauer über den Rücken. «Und sonst keine? Schuhspuren, meine ich.»

Toppe hob die Schultern. «Zu viele leider.»

«Chef! Hallooo, Chef!» Der komische Kauz kam angeflitzt. Wie hatte dieser Mensch es nur zum Kommissar gebracht? Allein die Sprache!

Ackermann bremste knapp vor ihnen und hechelte. «Puuh, die Jährkes bleiben einem auch nich’ einfach so inne Kleider hängen. Wat ich sagen wollt’: Da is’ grad ’n Kurier gekommen un’ hat dat Material gebracht, dat der WDR am Montag gedreht hat. Ich hab gefragt, hier gibt et Videorekorder. Sollen wir uns dat mal ebkes angucken?»

Toppe schüttelte den Kopf. «Es reicht, wenn wir uns das heute Abend im Team ansehen.»

Ackermann war offenbar einverstanden. «Einen Trumpf haben wir ja noch auf Lager. Ma’ gucken, wat passiert, wenn wer den ausspielen.»

«Interessanter Beruf», meinte Liebeskind versonnen, als Ackermann wieder verschwunden war.

«Er hat seine Höhen und Tiefen», antwortete Toppe trocken und zeigte auf den Ordner, den Liebeskind unter dem Arm hielt. «Dann lassen Sie uns mal überprüfen, welche Objekte ausgeliehen sind.»

Langsam arbeiteten sie sich durch die Ausstellung, zuerst den äußeren Weg entlang, dann immer näher auf den Teich zu.

«Warten Sie», rief Liebeskind plötzlich und blätterte in seinen Unterlagen. «Hier müsste eigentlich eine Plastik stehen … komisch …»

«Was für eine?», fragte Toppe gespannt.

«‹Löwenjunges›, eine von den kleineren Skulpturen. Moment, ich suche Ihnen das Foto raus …» Dann riss er die Augen auf. «Hier hat doch der Tote gelegen!»

Toppe seufzte. «Wenn wir bei unseren Gesprächen heute Nachmittag nicht weiterkommen, muss ich Ihnen noch ein paar Unannehmlichkeiten bereiten, fürchte ich.»

Liebeskind hatte keine Ahnung, worauf der Kommissar hinauswollte, aber es war ihm auch gleich. «Hauptsache, der ganze Spuk ist bald vorbei. Schließlich muss unser Betrieb weiterlaufen.»

«Wann erwarten Sie neue Gäste?»

«Morgen Vormittag.»

Toppe rieb sich die Nasenwurzel. «Gut, wenn wir den Fall heute nicht klären, schicke ich die Kabarettleute sowieso nach Hause, dann muss es eben auf die klassische Weise weitergehen. Drücken Sie die Daumen, dass wir endlich die Tatwaffe finden, dann sind wir von hier verschwunden.»

 

Sibylle hatte sich schon dreimal übergeben. Jetzt hielt sie sich an einer Sessellehne fest und trank zittrig ein paar Schlucke Wasser. Was mochte bei der Vernehmung vorgefallen sein?

Auf alle Fälle hat es sie aus der Bahn geworfen, dachte Haferkamp, mehr als alles andere bisher.

Er sah sie zum ersten Mal ohne Schminke – selbst in ihren gemeinsamen Urlauben hatte sie es immer geschafft, den anderen nur in voller Bemalung unter die Augen zu treten. Sie sah ganz anders aus, verletzbar wie ein Kind. Jemand sollte sie in den Arm nehmen.

Dagmar kauerte in einer Sofaecke und biss ohne Unterlass an ihren Fingernägeln herum, akribisch, als hätte sie eine Aufgabe zu erledigen. Es tat ihm weh. Solange er sie kannte, hatte sie ihre Hände immer ganz besonders gepflegt. In den Siebzigern hatte sie Vampkrallen gehabt, in den schrillsten Farben lackiert … Und ihre Hände konnten aufregende Dinge tun.

Auch die anderen sprachen nicht, jeder schien mit sich allein zu sein. Wann war dieses furchtbare Theater endlich vorbei?

Aus der Küche hörte man lautes Töpfeklappern, und es roch nach gedünstetem Kohl und Muskat. Die drei Kripoleute standen im Flur und unterhielten sich leise. Toppe und Steendijk – wenn sie bei ihm im Laden waren, berührten sie einander ständig, tauschten Blicke voller Wärme und oft auch voller Versprechen. Jetzt und hier wäre man nicht darauf gekommen, dass die beiden ein Paar waren. Sie waren in ihre andere Haut geschlüpft. Dabei waren sie nicht unfreundlich, aber so sachlich, so nüchtern, dass einem unwohl war.

Jetzt kamen sie herein.

«Okay», sagte Steendijk, «mit einigen von Ihnen müssen wir uns noch einmal unterhalten. Frau Henkel, Frau Langenberg, Herr Janicki und Herr Haferkamp halten sich bitte zu unserer Verfügung.» Sie nahm jeden von ihnen ins Visier, wenn auch nur ganz kurz. «Die anderen können in den nächsten …», sie schaute auf ihre Armbanduhr, «… sagen wir, zwei Stunden, tun, was ihnen beliebt. Danach brauchen wir Sie allerdings wieder hier.»

Haferkamp war verwirrt. Was wollten die von ihm?

Maria, Möller, Rüdiger und Walterfang standen langsam auf und schauten sich unschlüssig an.

«Na, dann wollen wir mal, Herr Haferkamp!», scheuchte Jupp Ackermann ihn auf und nahm ihn mit nach nebenan.

«So, da sind wir also. Dat Gerät is’ angeschaltet, un’ ich geb jetzt die Uhrzeit un’ alles ein.»

Sein liebes Schratgesicht war ihm abhanden gekommen. «Wir haben gestern Morgen in Ihrem Zimmer feuchte Klamotten gefunden, ’ne Cordhose, ’n Sweatshirt un’ Socken. Un’ dat heißt, dat Sie Montagnacht noch nach halb drei draußen gewesen sind. Uns haben Sie aber erzählt, dat Sie um zwei Uhr schlafen gegangen sind. Un’ jetzt würd ich gern hören, wat Sie dazu zu sagen haben.»

«Ach, verflucht nochmal!» Haferkamp kam die Galle hoch. «Was weiß denn ich? Es war eine chaotische Nacht. Keiner von uns ist zur Ruhe gekommen. Ich bin einfach zwischendurch mal Luft schnappen gegangen.»

Aber Ackermann zeigte kein Verständnis. «Im strömenden Regen? Et hat geschüttet wie aus Eimern.»

Haferkamp konnte sich nicht länger beherrschen. «Was soll der Mist?», brüllte er. «Glaubt ihr allen Ernstes, ich hätte Frieder umgebracht? Ihr seid ja verrückt! Ich hatte doch überhaupt keinen Grund!»

Ackermann lehnte sich zurück und faltete die Hände vor dem Bauch. «Dat seh ich anders. Der Frieder wollte Dagmar un’ Kai mit zum Fernsehen nehmen, aber Sie hat er einfach am kalten Arm verhungern lassen. Un’ wat ich von euch so alles über Neid un’ Eifersucht gehört hab – also, wenn dat kein Motiv is’!»

Haferkamp ließ sich gegen die Stuhllehne fallen und legte erschöpft den Kopf in den Nacken. «Das ist doch Schwachsinn. Mein Seelenheil hängt nicht von der ‹13› ab.»

«Gut, lassen wir dat mal für den Moment so stehen. Fakt bleibt aber, dat Sie gelogen haben. Sie waren nämlich nich’ um zwei Uhr im Bett, Sie waren draußen, un’ wir wissen, dat der Frieder auch draußen war.»

«Ach, Himmel Herrgott, jetzt hören Sie schon auf …»

«Nein, Sie hören auf!» Ackermann donnerte beide Fäuste auf den Tisch, dass das Bandgerät hüpfte. «Ihnen scheint der Ernst Ihrer Lage nicht klar zu sein», sagte er in lupenreinem Hochdeutsch. «Wer hat um Viertel vor drei an Ihre Zimmertür geklopft?»

Haferkamp spürte, wie alle Energie von ihm wich. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und die Stirn in die Hand. «Das war Dagmar», antwortete er leise, «ich meine, Frau Henkel.»

«Ich weiß, wer Dagmar is’», meinte Ackermann ungeduldig. «Un’ wat?»

Haferkamp schaute auf. «Wir haben miteinander geschlafen.» Er schluckte. «Danach war ich so aufgewühlt, dass ich Luft brauchte, und da bin ich raus in den Park. Ich habe gar nicht gemerkt, dass es geregnet hat …»

Ackermann betrachtete ihn. «Et war nich’ bloß Vögeln im Suff, oder?»

«Nein», antwortete Haferkamp langsam, «es war nicht nur Vögeln im Suff.»

 

Die Kommissarin war ihm offensichtlich böse. «Aber wir wissen, dass Sie nach halb drei noch einmal draußen waren!»

Janicki grinste. «Und woher, bitte schön?»

Sie blieb gelassen. «Weil wir gestern Morgen in Ihrem Zimmer feuchte Kleider gefunden haben.»

«Haben Sie?» So langsam reichte es ihm. «Kann sein. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich sehr betrunken war. Ich habe keine Ahnung, was ich wann getan habe. Es kann gut sein, dass ich noch einmal rausgegangen bin. Aber nageln Sie mich nicht auf eine Uhrzeit fest.»

«Sie hinken.»

Er lachte hart. «In Ordnung, ich ergebe mich! Ich bin die Treppe heruntergefallen, Herrgott nochmal. Eigentlich musste ich nur mal pinkeln, aber anscheinend habe ich mich in der Richtung geirrt. Jedenfalls fand ich mich unten im Flur wieder. Ich kann nicht ausschließen, dass ich nochmal nach draußen bin. Waren Sie noch nie sternhagelvoll?»

Sie ging auf nichts ein. «Mir ist nicht ganz klar, warum Sie die Sache so auf die leichte Schulter nehmen, oder zumindest den Eindruck erwecken wollen. Und erzählen Sie mir bitte nicht schon wieder, Sie hätten kein Motiv gehabt, Frieder zu töten, denn das stimmt nicht. Herr Toppe hat sich gestern Abend lange mit Johanna Meinert unterhalten. Frieder Seidl hat Ihre Frau aus der ‹13› rausgeschmissen, um seine Freundin unterzubringen.» Sie fixierte ihn. «Ihre Frau leidet an einer psychosomatischen Krankheit, nicht wahr?»

Bei Janicki brannte eine Sicherung durch. «Das ist doch völliger Blödsinn!»

 

«Mir ist übel», jammerte Sibylle.

«Darauf kann ich jetzt leider keine Rücksicht nehmen», sagte Toppe ungeduldig. «Sie waren Montagnacht noch draußen, nachdem der Regen eingesetzt hatte. Ihr Rock und Ihre Jeansjacke waren nämlich gestern Morgen noch klamm. Also bitte, warum haben Sie uns das verschwiegen?»

«Aber ich …» Ihre Gedanken purzelten durcheinander. «Ich habe mir nur Aspirin geholt.»

Toppe runzelte die Stirn und wartete.

«Ich hatte schreckliche Kopfschmerzen. Als Rüdiger gegangen war, bin ich runter zu meinem Auto. Ich habe immer ein paar Tabletten im Handschuhfach. Das waren höchstens drei Minuten.» Sie merkte, dass ihre Unterlippe anfing zu zittern, aber sie konnte nichts dagegen tun. «Ich wusste doch nicht, dass das wichtig war.»

«Natürlich ist das wichtig! Rüdiger Henkel hat ausgesagt, dass er Sie um Viertel vor vier verlassen hat. Wenn Sie danach zu Ihrem Auto gegangen sind, waren Sie ziemlich genau zur Tatzeit draußen. Ich will jetzt keine Ausflüchte mehr hören, ist das klar? Also, wen haben Sie gesehen?»

«Niemand», wimmerte sie. «Ich bin zur Vordertür raus, zu meinem Auto gerannt und wieder zurück. Das müssen Sie mir glauben.»

«Das muss ich keineswegs.» Toppe stand auf und fing an, im Zimmer auf und ab zu wandern. «Schauen Sie sich doch an, Sie sind immer noch ganz durcheinander und aufgewühlt. Wie mag es Ihnen da erst Montagnacht gegangen sein, als Ihnen wieder zu Bewusstsein kam, dass Seidl Ihren Verlobten in den Tod getrieben hat! Frau Langenberg, Rache ist eine starke Triebfeder.»

Nun würde sie nicht länger den Mund halten. «Und was ist mit Dagmar?»

Toppe setzte sich wieder. «Reden Sie.»

«Ich bin nicht die Einzige, die durchgedreht ist. Dagmar ist wie eine Verrückte auf Frieder los und hat ihn geschlagen.» Jetzt sprudelte alles hervor. «Dagmar war schwanger, damals, kurz bevor sie Rüdiger geheiratet hat. Sie war schwanger von Frieder, und er hat sie zu einer Abtreibung gezwungen. Dabei ist wohl was schief gegangen, jedenfalls konnte sie danach keine Kinder mehr kriegen und …»

«Langsam, langsam», unterbrach Toppe sie. «Das hat Frau Henkel Ihnen alles am Montagabend erzählt?»

«Erzählt! Sie hat geschrien wie eine Irre. Dass Frieder ihr ganzes Leben verpfuscht hat. Irgendwie stimmt das ja auch, sie und Rüdiger wollten immer eine große Familie haben. Wir konnten sie gar nicht beruhigen, immer wieder hat sie gebrüllt, dass Frieder über Leichen geht, dass ihr Kind wohl nicht gut genug war, das von Patricia aber schon.»

«Sie wussten vorher nichts von der Abtreibung?»

«Niemand, das hat sie all die Jahre für sich behalten. Wir haben nicht einmal mitbekommen, dass die beiden was miteinander hatten.»

Sie spürte, wie sie auf einmal ganz ruhig wurde. «Dagmar ist dann heulend auf ihr Zimmer gerannt, und nach einer Weile bin ich hinterher. Sie hat mir so Leid getan.»

Toppe schaute sie ungläubig an. «Sie sind zu Frau Henkel gegangen, um sie zu trösten? In Ihrem Zustand? Sie waren doch selbst außer sich.»

«Aber ich schwöre …»

«Lassen Sie das lieber.»