Fünf
Im Zimmer war es dämmrig, und es roch leicht nach Erbrochenem.
Bettina lag mit geschlossenen Augen auf dem Sofa und atmete flach durch den Mund. Auf dem Boden neben ihr stand ein Plastikeimer.
Kai Janicki wurde die Kehle eng. Sie war so dünn geworden.
«Hallo, Liebes.»
«Hallo», flüsterte sie und lächelte zittrig.
Er kniete sich neben sie und strich ihr das Haar aus der Stirn. «Du hast ja Fieber.»
«Nur ein bisschen.»
«Mein Gott», stieß er hervor, «warum hast du denn nichts gesagt? Ich wäre doch gar nicht gefahren, wenn ich gewusst hätte, dass es dir so schlecht geht.»
Sie strich ihm beschwichtigend über den Arm. «Gestern war es noch nicht so schlimm.»
«Hast du deine Medikamente genommen?»
«Natürlich.»
Er kam wieder auf die Beine. «Und wo steckt Paul?»
«Sitzt am Computer. Ich habe ihm ein Spiel eingelegt.» Sie verzog das Gesicht. «Tut mir Leid.»
«Herrgott, Bettina, du musst dich doch nicht entschuldigen. Ich seh mal nach ihm.»
Sie krümmte sich leicht und nickte.
Janicki ging hinüber in ihr gemeinsames Arbeitszimmer.
Sein Sohn bemerkte ihn gar nicht. Die Zunge zwischen die Lippen geklemmt, klebte er dicht vorm Bildschirm und fuhrwerkte wild mit der Maus. Seine glasigen Augen und die heißen Wangen sprachen Bände.
Mit ihrer Tochter waren sie damals viel konsequenter umgegangen. Der PC war tabu gewesen, und fürs Fernsehen hatte es feste Regeln gegeben. Erst als sie fünf gewesen war, hatte sie einige ausgewählte Kindersendungen schauen dürfen, und das auch nur viermal in der Woche für höchstens eine halbe Stunde. Und immer waren Bettina oder er dabei gewesen, um mitzulachen, zu erklären und, wenn nötig, zu trösten. Paul nannte mit seinen fünfeinhalb Jahren eine stattliche Sammlung Kindervideos und PC-Spiele sein Eigen und konnte schon seit langem sowohl den Videorecorder als auch den Computer bedienen.
Die Jahre mit ihrer Tochter waren nur so verflogen, ausgefüllt mit Nestbau und interessanten Urlaubsreisen zweimal im Jahr. Erst als Eva sich angeschickt hatte, zum Studium nach Süddeutschland zu gehen, hatte Bettina von einem zweiten Kind gesprochen. Sie war ganz begeistert gewesen von dem Gedanken, ihren Beruf aufzugeben, um nur noch für das Kind da zu sein und in ihrer Freizeit endlich wieder ernsthaft Musik zu machen, vielleicht sogar wieder in einem Orchester zu spielen. Und er hatte sie bei diesen Plänen voll und ganz unterstützt, denn er wusste, wie unglücklich sie in ihrem Beruf war.
Als er sie kennen gelernt hatte, war sie am Konservatorium gewesen, hatte Konzertgeigerin werden wollen, aber irgendwann hatte sie den Konkurrenzdruck nicht mehr ertragen und das Handtuch geworfen. Stattdessen war sie Lehrerin geworden – und hatte es beinahe vom ersten Arbeitstag an bereut.
Trotz ihrer vierundvierzig Jahre war Bettina sofort schwanger geworden, in dem Alter natürlich eine Risikoschwangerschaft, aber das war ihr ein willkommener Grund gewesen, sofort aus dem Schuldienst auszuscheiden. Befreit von Stundenplänen, kleinkarierten Kollegen und gelangweilten Schülern, war nach und nach wieder die lebensfrohe, neugierige Frau zum Vorschein gekommen, in die er sich verliebt hatte. Sie hatten die Zeit der Schwangerschaft beide genossen und noch nicht einmal besonders darunter gelitten, dass ihre große Tochter aus dem Haus war, schließlich hatte ein neuer Lebensabschnitt vor ihnen gelegen.
Eva war ein pflegeleichter Säugling gewesen, ein fröhliches, ausgeglichenes Kleinkind, das man gern um sich hatte. Paul hingegen hatte vom ersten Lebenstag an seinen eigenen Kopf gehabt. Er schlief wenig, war immer in Bewegung, immer auf Entdeckungsreise und nie um einen Machtkampf verlegen. Die ersten Monate mit dem Kleinen waren ein Albtraum gewesen, Bettina war eingesponnen in Depressionen, mal weinend vor Erschöpfung, mal voller Hass auf ihren Mann, weil er täglich das Haus ‹verlassen durfte›, um zur Arbeit zu gehen. Paul war nicht einmal ein Jahr alt gewesen, da hatte sie einen Krippenplatz für ihn gefunden und sich selbst eine Stelle an einer Schule besorgt.
Und dann war der Crohn ausgebrochen.
Natürlich liebten sie Paul, doch auch wenn sie sich nicht trauten, es auszusprechen, so wussten sie doch beide, dass sie eine falsche Entscheidung getroffen hatten.
Er selbst hatte mittlerweile, bis auf die Arbeit mit der ‹13›, alles aufgegeben, was ihn aus dem Haus führte, seine Theater-AG, den Literaturkreis, das Tennisspielen. Es machte ihm nicht allzu viel aus, er fand genug Freude und Bestätigung in seinem Beruf. Im Gegensatz zu Bettina war er mit Leib und Seele Lehrer und Pädagoge, er kam mit den Kollegen aus, er mochte Kinder, und die Schüler mochten ihn.
Sein Talent und seine Liebe zur Schauspielerei hatte er erst entdeckt, als er schon im Studium gewesen war, und es war sinnlos, darüber nachzugrübeln, welche Wendung sein Leben hätte nehmen können, wenn er sich damals getraut hätte, ins kalte Wasser zu springen.
«Hallo, mein Großer!»
Paul zuckte erschrocken zusammen. Sein Gesicht zeigte deutliche Spuren von getrockneten Tränen. Hatte ihn das Spiel so aufgeregt, oder waren Bettina und er wieder einmal aneinander geraten?
«Hallo, Papa …» Paul drehte sich wieder zum Bildschirm um. «Ich muss nur noch zwei Level.»
«Prima! Dann speichere mal ab. Ich habe nämlich Hunger, und du kannst mir beim Kochen helfen.»
«Mann!» Paul zog einen Flunsch, aber Janicki legte seine Hand auf die Maus. «Soll ich’s für dich speichern?»
«Das kann ich alleine!»
«Fein.»
Der Bildschirm wurde dunkel, und Paul rutschte vom Stuhl. «Mama hat wieder Crohn, aber sie hat gesagt, sie hat noch Pizza in der Kühltruhe, und die macht sie mir, wenn sie nicht mehr brechen muss.»
Janicki fuhr seinem Sohn durch das widerspenstige Haar. «Hast du geweint?»
«Nö …»
«Du hast aber ein ganz verschmiertes Gesicht. Am besten, du wäschst dir das ab, und ich guck in der Zeit, ob ich was Besseres finde als Pizza.»
«Ich will aber … Ich möchte aber bitte Pizza.»
Janicki lächelte. «Mal sehen. Jetzt lauf und wasch dich!»
Dann ging er ins Wohnzimmer zurück. Bettina hatte sich noch nicht bewegt.
Er wusste nicht, wie viele Bücher er inzwischen über Morbus Crohn gelesen, wie oft er im Internet recherchiert hatte in den Zeiten, in denen es ihr schlecht ging. In den Monaten dazwischen taten sie beide so, als gäbe es die Krankheit nicht, oder redeten sich ein, es wäre ein für alle Mal ausgestanden. Manche Experten gingen davon aus, dass eine psychische Stresssituation einen neuen Schub auslösen konnte, und er neigte dazu, ihnen Glauben zu schenken. Was mochte es diesmal gewesen sein? Bettinas Herz hing nicht an der ‹13›, sie war nicht erpicht darauf, auf der Bühne zu stehen, erlebte dabei nicht den Kick, den er selbst empfand. Aber vielleicht täuschte er sich auch.
Er zog die Rollläden hoch und öffnete die Terrassentür. «Ich lass mal ein bisschen Luft rein, ja? Hast du was gegessen?»
«Ich konnte nicht.» Sie fuhr sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen. «War’s schön?»
«Wie bitte?»
«Ich meine Martin und Dagmar, seid ihr vorangekommen?»
«Ach so, ja, wir haben eine Menge geschafft. Ich glaube, das könnte ein verdammt gutes Programm werden.»
«Und Frieder? Ist er noch aufgetaucht?»
«Nein, der ist immer noch verschollen. Aber was soll’s? Zur Not kriegen wir das auch ohne ihn hin.»
Bettina setzte sich vorsichtig auf und stellte die Füße auf den Boden. «Wie spät ist es eigentlich?» Sie fand ihre Armbanduhr auf dem Tisch. «Meine Güte, schon halb eins! Dann sitzt Paul schon fast drei Stunden vor dem Computer. Ist er okay?»
«Ihm geht’s gut. Du weißt doch, dass du was essen musst.»
«Hab ich ja, ich hab Müsli gegessen.»
«Wann?»
«Gestern.»
Die Wut, die ihn plötzlich überfiel, war nur allzu vertraut.
Sie rappelte sich langsam auf. «Geht ja schon wieder», murmelte sie und streckte die Hand nach ihm aus. «Komm her und halt mich ein bisschen, und dann kümmere ich mich ums Mittagessen.»
Er nahm sie in die Arme. «Du kümmerst dich um gar nichts. Sind die Schnitzel noch im Kühlschrank, oder hast du sie eingefroren?»
«Im Kühlschrank, und im Gemüsefach ist noch ein halber Blumenkohl.»
«Hallo!» Paul kam hereingeflitzt, sein Pullover war vom Halsausschnitt bis zum Bund durchnässt. «Musst du nicht mehr brechen, Mama?»
«Nein, ich glaube, mir geht es schon besser.»
«Dann will ich Pizza!»
Janicki fasste ihn bei den Händen und zog ihn hoch. «Na los, hopp!»
Paul lachte, kletterte Kais Beine hoch und machte einen Überschlag.
Auch Janicki lachte. «Nix Pizza! Es gibt Schnitzel und Blumenkohl mit Käsesauce.»
«Okay.» Paul machte sich los und legte den Kopf schief. «Dann spiel ich weiter, bis das fertig ist.»
«Auf gar keinen Fall!» Bettina hatte ihre Uhr wieder angelegt und nahm den Eimer, um ihn ins Bad zu bringen. «Weißt du was?», meinte sie sanfter. «Papa kocht, und wir beide setzen uns an den Küchentisch und malen was.»
Paul schüttelte den Kopf und funkelte sie finster an. «Keine Lust. Malen ist blöd.»
«Wie wärs denn», schaltete Kai sich ein, «wenn wir zwei nach dem Essen in den Zoo gehen?»
In Pauls Gesicht arbeitete es eine Weile, dann lächelte er. «Aber wir bleiben ganz lange bei den Orangs, ja?»
«Aber sicher, mein Sohn, immer zu Diensten.»
Janicki ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Am liebsten hätte er sich ins Bett gelegt.
«Ich bin wieder da!», rief Dagmar, aber sie bekam keine Antwort. «Rüdiger?»
Sie schaute auf dem Telefontischchen nach, wo sie sich Nachrichten hinterließen, wenn sie unverhofft aus dem Haus mussten, aber da lag kein Zettel. Dann öffnete sie die Schlafzimmertür. In letzter Zeit blieb Rüdiger, wenn er eine harte Woche gehabt hatte, sonntags oft den halben Tag im Bett liegen und grübelte und döste vor sich hin.
Der Kleiderschrank war geöffnet, das Bett zerwühlt, auf dem Fußboden lag ein nasses Handtuch. Sie merkte, dass sie wütend wurde. Das hastige Frühstück bei Martin und der wortkarge Kai auf der Rückfahrt hatten ihr sowieso schon die Laune verdorben, da musste sie nicht hier auch noch Rätselraten spielen. Entschlossen ging sie zum Telefon zurück und wählte Rüdigers Handynummer – es klingelte in seinem Arbeitszimmer. Sie fand den Apparat auf seinem Schreibtisch, verborgen unter einer Zeitung. Irgendetwas stimmte nicht, Rüdiger ging nie ohne sein Handy weg.
Außerdem war es furchtbar kalt hier drin. Anscheinend hatte er die Heizung gedrosselt, bevor er schlafen gegangen war, und vergessen, sie heute Morgen wieder hochzudrehen.
Rüdiger hatte nicht vor dem Abend mit ihr gerechnet, deshalb hatte er ihr auch keine Nachricht hinterlassen, war doch logisch. Ob er einen Spaziergang machte und das Handy absichtlich zu Hause gelassen hatte, um seine Ruhe zu haben? Sie packte ihre Reisetasche aus, räumte ihr Waschzeug ins Bad, nahm den Korb mit der Schmutzwäsche und trug ihn in die Küche. Rüdiger machte nie Spaziergänge, außerdem regnete es.
Im Spülbecken stapelte sich schmutziges Geschirr, und es roch nach angebrannter Milch.
Als sie jetzt seinen Wagen auf den Hof rollen hörte, ließ sie den Wäschekorb fallen, stürzte los und war schon vor ihm an der Haustür.
«Wo hast du gesteckt?» – «Du bist schon zurück?» Sie sprachen gleichzeitig, er grinste, stolzierte herein, aufgekratzt wie schon lange nicht mehr. «Wie war’s?»
«Na ja …» Sie schloss die Tür. «Wo bist du gewesen? Ich hab mir schon Sorgen gemacht.»
Er ließ seinen Schlüsselbund aufs Tischchen fallen und schälte sich aus dem Mantel. «Ich habe mir ein Auto angeschaut.»
Sie blinzelte verwirrt.
«Eine Anzeige im Wochenkurier. Ich habe angerufen, und dann bin ich hingefahren.»
«Aber wir haben doch …» Sie verstand überhaupt nichts. «Was denn für ein Auto?»
«Ein Jaguar», antwortete er, und seine Miene verschloss sich zunehmend. «Ein Liebhaberstück, wie es so schön heißt. Und ein echtes Schnäppchen, knappe 12 000 Euro. War schon immer mein Traum, dieser Wagen, weißt du?»
«Dein Traum?» Ihr blieb die Luft weg, aber er ließ sie stehen und schlenderte in sein Arbeitszimmer. Sie setzte ihm nach. «Dein Traum?» Ihre Stimme überschlug sich. «Uns bricht die Bude überm Kopf zusammen, und du willst 12 000 Euro für so eine blöde Kiste ausgeben?»
Er schaute sie ausdruckslos an und antwortete erst nach einer gemessenen Weile: «Ich will nicht, Dagi, ich habe schon. Der Vertrag ist unterschrieben.» Mit einer heftigen Handbewegung wischte er jeden Einwand beiseite. «Und bevor du jetzt anfängst, am Rad zu drehen: Ich habe gründlich darüber nachgedacht. Es ist höchste Zeit, dass wir unser Leben umgestalten. Es ist höchste Zeit, dass ich mir mal etwas gönne.»
Einen Augenblick lang starrte sie ihn nur an. «Aber … aber es ist unser Geld, Rüdiger, unser gemeinsames Geld. Du kannst doch nicht einfach …»
«Gut, dass du das ansprichst», unterbrach er ihr Stammeln. «Auch darüber habe ich gründlich und lange nachgedacht. Ab heute werden wir getrennte Konten haben. Hier mein Geld, dort dein Geld, damit es zu Szenen wie dieser gar nicht erst kommt.»
«Was?!»
Rüdiger ließ sich in seinen Sessel fallen und schloss die Augen. «Wach doch endlich auf, Dagmar! Du wirst fünfzig, Liebste, fünfzig. Da läuft nichts mehr.»
Sie schluchzte auf und schlug die Hände vors Gesicht.
«O bitte, Dagmar, nicht wieder die Märtyrermasche. Ich weiß ja, dass es nicht deine Schuld ist, verflucht! Aber darum geht es nicht mehr, kapier das doch. Ich will endlich mein Leben genießen, meins, Dagmar, mein eigenes, beschissenes, kleines Leben, das, was davon übrig ist.» Er seufzte. «Verstehst du das?»
Sie presste die Fäuste gegen die Augen und taumelte hinaus.
«Und du solltest das auch tun», rief er ihr hinterher. «Um deinetwillen!»