Zwei

Martin Haferkamp schaute sich um und lächelte. Er hatte eine Menge geschafft an den letzten Abenden. Es konnte durchaus passieren, dass er sich in dieser Wohnung irgendwann einmal zu Hause fühlte.

Heute hatte er Frau Moor die Verantwortung für die Buchhandlung überlassen und war schon um halb zwölf aus dem Laden verschwunden. Er hatte sich bewusst nicht abhetzen wollen, wollte es auch in Zukunft nicht mehr – es war an der Zeit, einiges zu überdenken und neu zu organisieren.

Gegen fünf würden Dagmar und Kai hier sein, und er freute sich auf das gemeinsame Essen. Alles war vorbereitet: Die Vorspeisenplatte stand abgedeckt im Kühlschrank, die Lammkeule lag, gut angebraten und fertig gewürzt, in der Kasserolle, er musste sie nur noch in den Ofen schieben. Und nach dem Essen bei einem Wein und später dann bei Kaffee würden sie sich an die Arbeit setzen, auch darauf freute er sich.

Im Hotel unten an der Straße, keine fünf Gehminuten von seiner Wohnung entfernt, hatte er zwei Zimmer reservieren lassen. Die Zeit der Schlafsäcke und Isomatten war unwiederbringlich vorbei, nicht nur, weil sie es heute gern bequemer hatten, man wollte sich auch so nah nicht mehr sein.

Er strich leicht über die neue Schreibtischplatte aus honigfarbenem Holz, froh, dass er sich gegen Glas und Stahl entschieden hatte, die sanfte Farbe und das lebendige Material gefielen ihm. Vorsichtig stellte er die blaue Schachtel darauf ab und lüpfte den Deckel. Die Leute vom Fernsehen wollten in der Sendung zusätzlich zum alten Programm einen Rückblick auf die vergangenen dreißig Jahre bringen und hatten um alte Fotos gebeten. In dieser Schachtel lagen unsortiert die Aufnahmen aus den Jahren 1973 bis 1984, Gott sei Dank hatte er meistens die entsprechende Jahreszahl auf der Rückseite notiert.

Entschlossen machte er sich an die Arbeit und hatte schließlich zwölf unterschiedlich hohe Stapel vor sich liegen. Jetzt musste er nur noch eine Auswahl treffen, aber zunächst einmal brauchte er einen Kaffee. Vorgestern hatte er sich eine große Espressomaschine gekauft, ein Luxus, mit dem er lange geliebäugelt, sich aber nie zu gönnen gewagt hatte. Aber was hielt ihn jetzt eigentlich noch ab? Er musste kaum Unterhalt zahlen, konnte sich zehn Kaffeemaschinen kaufen und seinen letzten Cent für Bibliophiles ausgeben, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Er holte eine der neuen Capuccinotassen aus dem Schrank und nahm die Bedienungsanleitung für die Wundermaschine zur Hand. Wenn er Milch aufschäumen wollte, musste er die einzelnen Schritte immer noch nachlesen.

Mit dem Kaffee in der Hand stellte er sich ans Küchenfenster. Die spektakuläre Aussicht auf die Burg hatte letztendlich den Ausschlag für diese Wohnung gegeben, der Ausblick und die kleine Dachterrasse.

Seit siebzehn Jahren lebte er nun in dieser Stadt. Er hatte sie vorher gekannt durch die Treffen der ‹13› auf Schloss Gnadenthal und niemals den Wunsch verspürt, hier zu wohnen. Zu provinziell, zu konservativ, zu bescheiden war ihm alles erschienen. Aber dann hatte er die Gelegenheit gehabt, hier eine alteingesessene Buchhandlung zu übernehmen, und da hatte er nicht lange gezögert – solche Chancen waren dünn gesät. Mittlerweile lebte er gern hier, schätzte das Internationale durch die Nähe zu Holland, mochte die schwermütige Landschaft drumherum. Mit den Jahren hatte die Stadt sich gemausert, es gab jede Menge Kultur, aber womöglich war er selbst bescheidener geworden, ruhiger auf jeden Fall. Es ging ihm gut, durch seinen Beruf lernte er immer wieder Gleichgesinnte kennen, und er hatte sich über die Jahre einen überschaubaren Freundeskreis aufgebaut, Freunde, die ihm auch nach der Scheidung geblieben waren.

Es war Zeit, den Ofen vorzuheizen. Während er darauf wartete, dass die richtige Temperatur erreicht war, deckte er den Tisch. Schließlich goss er noch etwas Olivenöl ans Fleisch, schob den Bräter in den Ofen und stellte die Zeitschaltuhr ein. Dann ging er zum Schreibtisch zurück und nahm sich die Fotos der ersten beiden Jahre vor: 1973 und 1974 in der Mensa, zuerst in kleinen Gruppen, diskutierend, sehr ernsthaft, wichtig, dann größere Runden, zusammengeschobene Tische. Die Mädchen alle mit Mittelscheitel und glatten, langen Haaren oder viel zu krausen Dauerwellen. Nur Johanna sah anders aus, sie trug auch keine Plateauschuhe, keine weiten Kittel über ausgestellten Jeans. Sie hatte alles selbst genäht, handbemalte, bestickte, mit Perlen und anderem Schnickschnack besetzte merkwürdige Gewänder.

Und die Jungs fast alle ohne Haarschnitt, zottelig. Er selbst hatte einen flusigen Vollbart gehabt, schauderhaft, Vollbart und Kassenbrille. Und einen Bundeswehrparka, den er augenscheinlich nur selten abgelegt hatte, auf den frühen Fotografien war er jedenfalls überall dabei. Schwarzweißfotos selbstverständlich, Farbe war etwas für Mutti und Vati gewesen, für die Urlaube an der Nordsee oder an der Costa Brava.

Aufnahmen von den Proben für ihren ersten Auftritt auf der Bühne im Audimax. Wer war eigentlich auf die Idee gekommen, für die Weihnachtsfete der Germanisten ein Kabarettprogramm auf die Beine zu stellen? Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Sie hatten herumgeblödelt, der harte Kern, und auf einmal waren die ersten Sketche fertig gewesen. Dann hatte jeder von ihnen Freunde und Bekannte mitgebracht, bis sie schließlich mit Musiker, Techniker und den anderen guten Geistern dreizehn gewesen waren. «Die Wilde Dreizehn, das wär’s doch!» Er hatte Dagmars Stimme noch gut im Ohr. «Ihr wisst schon, die Piraten aus ‹Jim Knopf›.» Die ersten Proben. Wie fremd sie einander gewesen waren, wie linkisch sie auf der Bühne herumhampelten, alle eigentlich bis auf Frieder, Frieder und Kai, die waren vom ersten Moment an in ihrem Element gewesen.

Die ersten Sketche: Willy Brandts Rücktritt, die Ölkrise, der Militärputsch in Chile, die Straßenschlachten der ersten Hausbesetzer mit der Polizei in Frankfurt – wie hatten sie sich einen abgebrochen mit dem hessischen Dialekt! Baader-Meinhof natürlich, der Hungerstreik. Meine Güte, was für Rundumschläge sie damals verteilt hatten! Dennoch, es waren gute Sachen dabei gewesen. Einen von seinen eigenen Sketchen vom 74er-Programm hatte er für den Bestof-Teil des Jubiläumsprogramms rausgesucht. Mal schauen, ob er den durchsetzen konnte.

Als politisches Kabarett waren sie angetreten, und es wurde Zeit, dass sie sich darauf zurückbesannen. In den letzten Programmen hatte sich mehr und mehr Comedy breit gemacht, was an Frieder und seinem Gefolge lag. Bei den Diskussionen um die Auswahl der Texte hatte immer einer von denen das basisdemokratische Schwert geschwungen, und so hatte billiger Klamauk jedes Jahr mehr Raum bekommen. Abgesehen davon, dass er diesen geistigen Dünnpfiff verabscheute, fand er es unanständig, dem Publikum, das ihnen über viele Jahre die Treue gehalten hatte, so etwas vorzusetzen. Es mochte, wie er selbst auch, älter und leiser geworden sein, aber es stand immer noch links, war immer noch kritisch und geistig beweglich und erwartete – zu Recht – etwas zum Nachdenken und Nachfühlen.

 

«Puh, ich platze gleich!» Dagmar schob den Teller weg. «Es war absolut köstlich, Martin.»

Haferkamp lächelte und drückte ihre Hand. Mit dem hellroten Haar, der sommersprossigen Haut und den blassen Wimpern war sie alles andere als eine Schönheit, aber er hatte sich gleich bei ihrer ersten Begegnung in ihre warmen Augen und ihr Lachen verliebt. In der Mensa war das gewesen, ihm war der Pudding vom Tablett gerutscht und auf ihrem Fuß gelandet. Sie hatten sich auf Anhieb verstanden und waren unzertrennlich geworden. Dass sie damals schon mit Rüdiger zusammen gewesen war, hatte keine Rolle gespielt. ‹Mein kleiner dicker Ritter›, hatte sie ihn genannt, sie war sein ‹Faun› gewesen. Heute kamen sie ohne die kindischen Neckereien aus, aber sie waren sich immer noch nahe, auf eine angenehm unkomplizierte Weise.

«Dann mach ich uns mal einen Espresso, okay?»

«Für mich lieber einen Milchkaffee, wenn’s geht.» Kai stand auf und fing an, den Tisch abzuräumen. «Mir ist immer noch ein bisschen flau von der Fahrt. Setz dich nie zu diesem Flintenweib ins Auto, Martin, glaub mir, das ist lebensgefährlich.»

«Ha!» Dagmar lachte. «Immerhin fahre ich seit dreißig Jahren unfallfrei.»

«Und wie viele deiner Beifahrer sind in der Zeit am Herzinfarkt gestorben?»

«Gemeiner Kerl! Ist das der Dank dafür, dass ich extra den Umweg über Duisburg gemacht habe, um dich einzusammeln?»

Kai grinste nur. «Ich brauch jedenfalls einen Schnaps.»

«Im Kühlschrank steht Tequila.» Haferkamp öffnete die Spülmaschine und räumte das Geschirr ein.

«Willst du mich umbringen? Mittlerweile müsstest du wissen, dass ich keine klaren Schnäpse trinke.»

«Cognac und Gläser stehen da oben.»

Kai goss sich reichlich ein. «Wollte Frieder nicht an diesem Wochenende wieder da sein?»

«Hat Rüdiger jedenfalls gesagt», antwortete Dagmar.

«Aber warum und wohin er so plötzlich verschwunden ist, weiß Rüdiger auch nicht, oder?»

Dagmar zuckte die Achseln. «Ich glaube nicht.»

«Was soll das heißen?» Haferkamp reichte ihr einen Espresso. «Hat dein Göttergatte etwa Geheimnisse vor dir?»

«Kann schon sein. Er ist nicht besonders gut drauf in letzter Zeit.» Sie wischte Martins prüfenden Blick mit einer flüchtigen Handbewegung beiseite. «Du weißt schon, die ganzen Einsparungen im Sozialbereich. Jetzt ist er der Boss, der die Leute entlassen muss. Das geht ihm ganz schön an die Nieren.»

«Ja, ja, wie heißt es so schön? It’s lonely at the top.» Kai stellte ein Holzkistchen auf den Tisch. «Zigarillo gefällig?»

Dagmar schüttelte den Kopf und betrachtete ihn verstohlen. Er war immer ein auffälliger Mann gewesen, überschlank, mit einer drahtigen schwarzen Mähne, einer großen Hakennase und buschigen Brauen über kritisch blickenden Augen, die, wenn er auf der Bühne stand, vor Humor und Lebenslust nur so blitzten. Mit den Jahren war er immer grauer geworden, das waren sie ja alle, aber ihr fiel erst jetzt auf, wie gebeugt er sich hielt und dass er an Gewicht verloren hatte. Es ging ihm nicht gut, aber er würde nicht darüber sprechen.

Martin zündete sich ein Zigarillo an, strich sich über den Magen und lehnte sich genüsslich paffend zurück. «So lässt sich’s leben.»

«Jetzt krieg dich wieder ein.» Sie piekste ihm den Zeigefinger in den Bauch. «Wir haben noch einiges zu tun heute Abend.»

«Nichts lieber als das.» Haferkamp blinzelte. «Könnte allerdings hilfreich sein, wenn wir wüssten, wie viel Material Frieder beizusteuern hat.»

«Du kannst es ja noch mal auf seinem Handy probieren.»

«Ich bin doch nicht bekloppt!»

Kai nickte. «Wetten, wir drei kriegen mit unseren Texten und dem Best-of-Teil das Programm ganz alleine zusammen.»

«Schon, sicher», Dagmar zupfte an ihrem Pony, «aber das fänd ich doch schade. Ihr wisst genau, wie wichtig Frieders Sketche für die gesamte Dynamik sind. Sie bringen Farbe ins Spiel.»

Haferkamp starrte sie an. «Spricht da die gute alte ‹Miss Harmony›, oder meinst du das ernst?»

Ihr schoss die Röte ins Gesicht, und sie hob schnell das Haar im Nacken an. «Klimakterische Hitzewallung, sorry!» Sie wusste, dass sie gackerte wie ein sterbendes Huhn. «Ich bin jetzt in dem Alter.» Damit sprang sie auf. «Lasst uns an die Arbeit gehen. Ich hole meine Mappe.»

Auch Kai stand auf. «Ich muss noch mal für kleine Männer, dann können wir loslegen.»

Sie verteilten die Kopien und fingen an zu lesen, schauten aber gleich wieder auf. Alle drei hatten sie als Erstes einen Sketch über den Irakkrieg geschrieben.

»Ich hab mich auch an George W. versucht», meinte Kai, «aber das war wenig originell, also hab ich mir eine Pantomime ausgedacht.»

«Zu Bush?», staunte Dagmar.

«Ja, warte einen Moment, ich zeig’s euch. Sitzt natürlich noch nicht hundertprozentig, aber mal sehen, was ihr davon haltet.»

Die Gesundheitsreform, die Mautkatastrophe, Hartz IV.

«Ich hätte hier noch was zur Fußball-Europameisterschaft», sagte Dagmar mit einem vorsichtigen Blick zu Haferkamp. Der verzog auch sofort gequält das Gesicht. «Ach nein, bitte nicht wieder den Nationalsport! Guckt euch lieber meinen Songtext hier an, geht um die PISA-Studie.»

Sie diskutierten, verwarfen, fügten zusammen, tranken Kaffee und nebelten die Küche mit Zigarilloqualm ein, kritisierten, lachten, probierten aus, mailten Songtexte an Hartmut, den musikalischen Leiter. Hin und wieder war einer von ihnen ein bisschen verschnupft, aber das kannten sie ja und wussten damit umzugehen.

«Das Beste aus dreißig Jahren, habt ihr euch darüber schon Gedanken gemacht?», wollte Kai wissen.

Martin und Dagmar schoben beide eine Liste über den Tisch.

«Au weia, allein damit könnten wir ein komplettes Programm bestreiten. Na, wenigstens bei ein paar Sketchen seid ihr euch einig.» Kai knibbelte an seinem Daumennagel. «Was ist mit den Sachen, die wir über die RAF gemacht haben? Waren ja nicht gerade wenig.»

Es blieb einen Moment still.

«Zu schwiemelig …», sagte Dagmar schließlich.

Kai runzelte fragend die Stirn.

«Sie hat Recht», meinte Haferkamp. «Wir haben nie eindeutig Position bezogen. Wie denn auch damals?»

«Genau», stimmte Kai ihm zu. «Das meine ich. Diese Sketche sind ein echtes Zeitdokument.»

«Aber das versteht doch heute kein Mensch mehr», wehrte Dagmar heftig ab. «Wir würden uns damit in eine ziemlich komische Ecke stellen.»

«Wahrscheinlich hast du Recht.» Kai rieb sich die Augen. «Mir sind nur in letzter Zeit ein paar Sachen durch den Kopf gegangen. Die RAF-Leute haben immer vom ‹Körper als Waffe› gesprochen, nicht viel anders als die Attentäter vom 11. September, oder?» Er winkte ab, als Haferkamp etwas erwidern wollte. «Schon klar, Martin, aber Fakt ist, dass heute noch oder wieder eine Menge Leute rumlaufen, die sich sagen, Baader und seine Vasallen, das waren nicht einfach gewalttätige Desperados, da muss mehr dahinter gesteckt haben.»

«Gott ja», entgegnete Haferkamp, «genau wie wir damals. Dabei hatte die RAF für uns einfach nur den Finger in eine große Wunde gelegt: die Selbstunsicherheit der bundesdeutschen Nachkriegspolitik. Das haben wir damals gespürt, benennen konnten wir es nicht. Und genau aus dem Grund sollten wir uns von diesen Texten verabschieden.»

«Es sei denn, wir geben zu den Tickets gleich noch ein Heft mit Erläuterungen raus.» Dagmar gähnte. «Ich fürchte, ich bin bettreif. Ich seh schon alles doppelt.»

 

Kai Janicki schlug die Decke zurück und atmete ein paar Mal tief durch. Er schlief immer schlecht in Hotelzimmern, die trockene Heizungsluft, obwohl er das Fenster geöffnet hatte, war ihm zu warm.

Bis Viertel vor zwei hatten sie gearbeitet, er hatte sich sauwohl gefühlt. Er wusste, dass es eigentlich sein Gewissen war, das ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. Er hatte sich amüsiert, die intellektuelle Herausforderung genossen, die Gesellschaft von Martin und Dagmar, sogar einzelne Rollen hatte er schon angespielt, und der Applaus war ihm runtergegangen wie Butter.

Und zu Hause war Bettina allein mit ihrem ganzen Elend. Morbus Crohn – seit jetzt mehr als vier Jahren. Urteil: lebenslänglich. Ein paar Monate war gläserne Ruhe gewesen, jetzt der neue Schub. Sie war wieder krankgeschrieben. Das Unverständnis des Chefs und der Unmut der Kollegen, die ihren Unterricht schon wieder mit übernehmen mussten, äußerten sich deutlich in ihrem Schweigen. Und Bettina igelte sich ein, traute sich nicht mehr aus dem Haus, aus Angst, nicht schnell genug zur Toilette zu finden.

Er war bei ihr, wann immer es ging, half, tröstete. An diesem Wochenende nicht.

Was hatte den neuen Schub ausgelöst? War es ihr Aus bei der ‹13› gewesen? Sie war nur eingesprungen damals, all die Jahre ‹Ersatzfrau› gewesen, und im Grunde hatte sie sich auf der Bühne nie so recht wohl gefühlt. Aber sie hatte trotzdem alles mitgemacht von Anfang bis Ende, die Diskussionen, die Proben, die Fetzereien, die Auftritte, die Eitelkeiten.

Doch im letzten Jahr, kurz bevor die Proben begannen, hatte sie ins Krankenhaus gemusst, und Frieder hatte von nichts auf gleich einen Ersatz aus dem Ärmel gezaubert: seine neue Gespielin, Patricia, halb so alt wie er, bildhübsch, ein Knaller, die geborene Schauspielerin, ein Naturtalent. Sie hatte eingeschlagen wie eine Bombe, das Publikum hatte ihr aus der Hand gefressen. Es hatte gar keine Debatte mehr darüber gegeben, dass sie auch in diesem Jahr dabei sein würde. Für Frieder war das selbstverständlich gewesen, und Bettina hatte es hingenommen, nicht ein Wort darüber verloren, er selbst auch nicht. Verdammter Frieder, verdammter Crohn, verdammtes Scheißleben.

Im Dunkeln tappte er zum Waschbecken und trank einen Schluck Wasser, lauwarm. Dann stellte er den Wecker neu. Um sechs würde der Kleine Bettina wecken. Er konnte sie um halb sieben anrufen und hören, wie es ihr ging.

Für zehn Uhr hatte Martin ein üppiges Frühstück angesetzt. In Gottes Namen. Aber spätestens um zwölf wollte er los, in der Dreierrunde gab’s sowieso nichts mehr zu besprechen. Notfalls konnte er den Zug nehmen, wenn Dagmar noch nicht fahren wollte.