Sieben
Inzwischen war es Oktober geworden, letzte goldklare Sonnentage.
Martin Haferkamp hoffte, dass sich das Wetter bis zur nächsten Woche hielt. Gnadenthal lag inmitten einer schönen Parklandschaft, und er würde zwischen Diskussionen und Proben sicher Zeit zum Spazierengehen haben. Sonst kam er so gut wie nie an die frische Luft.
In den letzten vierzehn Tagen hatte sein Telefon kaum stillgestanden. Zuerst hatte jeder von der ‹13› sich bemüßigt gefühlt, Frieders Heirat zu kommentieren, nur Dagmar hatte sich nicht gemeldet. Dann war Walterfang auf die Idee gekommen, für ein angemessenes Hochzeitsgeschenk zu sammeln, historische Kabarettaufnahmen wären doch eine nette Geste, so etwas bekam man im Internet, und er, Haferkamp, könnte sich doch wohl darum kümmern und das Geld vorstrecken. Er hatte dankend abgelehnt, schließlich hatte sich Sibylle erbarmt. Dann war es ums Geld gegangen. Walterfang hatte fünfzig Euro pro Person vorgeschlagen, Sozialhilfeempfänger selbstverständlich ausgenommen, und sofort hatten Möllers heftig protestiert und darauf bestanden, dass Paare nur die Hälfte zahlten. An dem Punkt hatte sich Haferkamp aus der Debatte ausgeklinkt. Was für ein lächerliches Theater um eine alberne Eheschließung! Er konnte sich nicht erinnern, dass man um seine Heirat ein solches Brimborium veranstaltet hatte, er erinnerte sich nicht einmal mehr, was die Truppe ihm damals geschenkt hatte.
Kopfschüttelnd zündete er sich eine Zigarette an und öffnete den blauen Karton, der vor ihm auf dem Schreibtisch stand. Die Fernsehleute hatten ihn mehrfach angemailt, sie bräuchten endlich sein Fotomaterial mit den entsprechenden Erläuterungen, und er sollte es spätestens Freitag per Kurier nach Köln schicken. Also hatte er die restlichen Fotos mit ins Büro genommen, um sie zu sichten, wenn es im Laden einigermaßen ruhig zuging.
Schon wieder klingelte das Telefon, und Frau Moor war anscheinend zu beschäftigt, um sich darum zu kümmern.
«Buchhandlung Haferkamp, guten Tag», meldete er sich kühl.
Es war Kai Janicki. «Sag mal, hast du auch so einen kryptischen Anruf von Frieder gekriegt?»
«Frieder? Der hat sich bei mir überhaupt noch nicht gemeldet. Was meinst du mit kryptisch?»
«Na ja, er hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, meinen Beruf zu wechseln. Es gäbe etwas, wo ich mein wahres Talent zum Einsatz bringen könnte, eine blendende Zukunft und äußerst lukrativ.»
«Und was, bitte schön, soll das sein?»
«Ich habe keinen blassen Schimmer. Er meinte, er könne im Augenblick nicht konkreter werden, wolle mir aber schon mal die Gelegenheit geben, grundsätzlich darüber nachzudenken.»
Haferkamp schnaubte. «Was ist das denn für ein Bockmist?»
«Eben, ich frage mich auch, was das soll. Frieder redet doch sonst nicht so um den heißen Brei herum.»
«Vielleicht will er dich in seiner Agentur haben.»
«Weil ich das große Talent habe, schwachsinnige Werbeslogans zu erfinden?» Janicki lachte. «Wohl kaum, Martin.»
«Mich hat er jedenfalls nicht angerufen», sagte Haferkamp. «Was allerdings auch nicht weiter verwunderlich ist.»
«Hör mal, ich bin auch nicht gerade sein Busenfreund», entgegnete Janicki ein bisschen eingeschnappt.
«Weiß ich doch», antwortete Haferkamp. «Wie geht es denn Bettina?»
«Nicht allzu schlecht. Hör zu, Martin, ich muss Schluss machen, es klingelt gerade an der Haustür. Wir sehen uns dann ja nächste Woche.»
Haferkamp schob den Aschenbecher zur Seite und breitete die Fotos aus.
Die Bilder von der letzten gemeinsamen Urlaubsreise wollte er sofort beiseite legen, aber er blätterte sie dann doch durch.
Ein paar Tage an der holländischen Küste in der Nähe von Vlissingen. Zu mehr hatte ihr Geld in jener Zeit nicht gereicht. Kai und Bettina waren die Einzigen gewesen, die eine feste Anstellung gehabt hatten, alle anderen hatten sich mit befristeten Jobs mehr schlecht als recht über Wasser gehalten. Bis auf Frieder natürlich, der in Düsseldorf Karriere machte, aber der verbrachte seine Urlaube lieber auf Gomera oder La Palma.
Von dem, was sie mit dem Kabarett verdienten, war nie viel übrig geblieben. Wenn man die Gage durch dreizehn teilte, blieb sowieso nur ein kleiner Gewinn für jeden, den man für ein schönes Abendessen oder eine Kiste Wein ausgab. In den ersten Jahren hatte jeder den gleichen Betrag erhalten, aber dann hatte Frieder einen komplizierten Verteilungsschlüssel ausgearbeitet. Dabei kamen die Autoren und Hartmut als Komponist am besten weg, der zweithöchste Betrag stand den Schauspielern zu, und der kleinste Batzen ging an den Beleuchter, die Maske, das Bühnenbild und an Walterfang natürlich für sein unermüdliches Wirken. Aber nun denn, um Geld war es bei der Geschichte ohnehin niemandem gegangen.
Beinahe den ganzen Hollandurlaub hindurch hatte es geregnet, aber sie waren dennoch jeden Tag in ihren Friesennerzen tapfer zu langen Strandwanderungen aufgebrochen.
Hier duckten sie sich unter dem Vordach einer Fischbude, verschlangen Matjes mit uitjes.
Eine rundliche Dagmar und ein strahlender Rüdiger. Das Unternehmen Großfamilie war endlich auf den Weg gebracht. Der große Traum: vier Kinder mindestens, das schöne alte Haus mit dem großen Garten, Katzen und Schafe und ein Hund.
Ihn hatte es ein wenig geschüttelt bei so viel Sirup, aber Dagmar war so glücklich gewesen.
Keine vier Wochen später hatten sie um ihr Leben gebangt. Eileiterschwangerschaft, Notoperation. Es hatte Monate gedauert, bis sie sich davon erholt hatte.
Und dann all die Jahre der vergeblichen Versuche, Monat für Monat die Enttäuschung.
Anfangs hatte ihn ihre Zähigkeit beeindruckt, aber als die Zeit ins Land ging und Dagmar immer in sich gekehrter wurde, hatte ihn die Wut gepackt, und er hatte ihr vorgeworfen, dass sie sich selbst nicht mehr wertschätze. Sie hatte dazu genickt: «Wie denn auch?», und sich danach völlig von ihm zurückgezogen. Das war ihm ganz recht gewesen, er wollte nicht zuschauen, wie sie unter Rüdigers wachsender Bitterkeit immer unsichtbarer wurde.
Wann waren sie einander wieder näher gekommen?
Trotz des rosaroten Familienglücks waren es keine unbeschwerten Ferientage gewesen. Es hatte sie alle bedrückt, wie sehr sich Sibylle nach Klaus’ Tod verändert hatte. Wie unter einem Zwang erfand sie sich alle paar Monate neu, wurde überkandidelt und manchmal seltsam zotig, dann wieder konnte sie in Selbstmitleid ertrinken. Es war sehr schwer gewesen, mit ihr auszukommen, und ihn hatte es in jenem Sommer am härtesten getroffen. Ständig hatte sie sich an seine Fersen geheftet, ihm Psychogespräche aufgezwungen und sich ihm angeboten wie eine reife Frucht. Alles gipfelte in einer Szene, bei der ihm auch heute noch, wenn er sich daran erinnerte, ganz flau wurde.
Er hatte, angenehm berauscht vom Genever, tief und fest geschlafen, als ihn ein schreckliches Kreischen geweckt hatte. Und da saß Sibylle splitternackt in seinem Bett und hielt sich die blutende Nase. «Du brutales Schwein!»
Am nächsten Morgen war sie abgereist, ohne auch nur ein Wort mit irgendwem zu wechseln.
Haferkamps Miene hellte sich auf, als er das nächste Foto betrachtete: Drei Kinder wuselten zwischen den Dünen herum – die ersten ‹13›-Sprösslinge. Kais und Bettinas Eva musste ungefähr vier gewesen sein, ein aufgewecktes kleines Ding, aber für seine Vorstellungen ein wenig zu angepasst, zu brav. Er hatte mehr Spaß an Johannas beiden Jungen gehabt, pfiffigen Kerlchen, der jüngere, gerade mal drei, hatte es faustdick hinter den Ohren gehabt und nicht nur seine Mutter den ganzen Tag auf Trab gehalten.
Haferkamp stützte das Kinn auf die Hand. Johanna war immer ein wenig anders, besonders gewesen. Ursprünglich hatte sie Englisch und Kunst studiert, war dann aber zum Theater gegangen und hatte eine Ausbildung zur Bühnenbildnerin gemacht. Ihr Talent war früh entdeckt worden, und sie hatte schon bald für große Bühnen gearbeitet. In Hamburg hatte sie dann Joseph kennen gelernt, Dramaturg am ‹Thalia›, rasch hintereinander vier Kinder bekommen und auf die große Karriere gepfiffen. Die anderen Mädels hatten die Nase gerümpft und ihr ins Gewissen geredet, sich doch «nicht einfach so wegzuwerfen», aber Johanna hatte das nicht geschert. Sie war mit ihrer Bande kreuz und quer durch die Republik gezogen, immer Josephs Engagements hinterher, hatte in irgendwelchen alten Häuschen gewohnt, Hauptsache die Miete war günstig, und ein großer Garten gehörte dazu. Den größten Teil ihrer Zeit verbrachte sie damit, das jeweilige Heim malerisch einzurichten und die Gärten in Rosenparadiese zu verwandeln. Viele Jahre lang war ihre Arbeit bei der ‹13› die einzige Verbindung zu ihrem eigentlichen Beruf gewesen. Erst seit ihre Kinder aus dem Haus waren und Joseph eine feste Stelle als Intendant hatte, nahm sie hin und wieder Aufträge von kleineren Bühnen an, aber sie schien sich nicht darum zu reißen.
Haferkamp schob die Urlaubsfotos zusammen und legte sie in den Karton zurück.
Er mochte Johanna sehr, aber es gab auch immer eine gewisse Scheu zwischen ihnen.
Fast ein Jahr lang hatte sie jeden seiner Tagträume erfüllt. Er war so scharf auf sie gewesen, dass es schmerzte, aber als er sich dann in der Bretagne endlich getraut hatte, sich ihr zu nähern, war das große Feuerwerk ausgeblieben. Was wäre wohl gewesen, wenn es damals mit ihnen geklappt hätte?
Die Glocke im Laden schlug an, und kurz darauf hörte er Frau Moor laut kichern, dann eine wohl bekannte Stimme. Leise trat Haferkamp auf die Galerie und spähte zu dem Mann hinunter, der am Tresen stand.
Wie immer im Anzug – heute stahlgraues Leinen über einem kragenlosen, schwarzen Hemd, dazu italienische Slipper –, aber der lange Zopf und die Kontaktlinsen waren verschwunden, stattdessen war sein grau meliertes Haar kurz geschoren, und er trug eine hauchfein gefasste Brille. Er war noch schlanker geworden, sein Gesicht noch kantiger.
Aber es war zweifellos Frieder, der dort unten an der Kasse mit Frau Moor scherzte und ihr ein breites Lächeln schenkte.
«Was ist, Moorchen, hat der gute Martin sich in seinem Kabuff eingeigelt?»
«Nein, hat er nicht!» Haferkamp lief die Treppe hinunter.
Frieder fuhr zu ihm herum. «Martin, grüß dich!» Das Lächeln blieb. «Immer noch gut im Saft, wie ich sehe.»
«Danke, ich kann nicht klagen.» Haferkamp grinste. «Neuer Look?»
«Musste mal sein», antwortete Frieder. «Die Konkurrenz schläft nicht.» Damit holte er einen dünnen Zigarillo aus der Jackentasche, ließ sein Zippo aufflippen und zündete ihn an.
«Gibt’s hier irgendwo einen Aschenbecher, Moorchen?»
Die schaute ihren Chef unsicher an, aber Haferkamp nickte. «Geht schon in Ordnung, eine Untertasse tut’s auch. Wir gehen rüber an die Kaffeebar und halten Sie nicht länger von der Arbeit ab.»
Frieder folgte ihm in die Nische neben der Heimatliteratur. «Für mich bitte schwarz.»
Haferkamp füllte zwei Becher. «Und was führt dich nach Kleve?»
«Ich habe ein paar Kisten Schampus nach Gnadenthal gebracht.» Er zwinkerte. «Es gibt nämlich was zu feiern.»
«Ja, das ist mir schon zugetragen worden.»
«Ach?» In Frieders Augen blitzte Verärgerung auf. «Hat Heinrich seinen Mund nicht halten können?»
Haferkamp schüttelte leicht den Kopf. «Glückwunsch.»
«Phantastisch, nicht wahr?» Frieder lächelte wieder.
«Überraschend. Trotzdem Glückwunsch.»
«Man dankt. Sag mal, wann machst du heute hier Schluss?»
«Nicht vor halb neun. Wieso?»
«Ach, ich dachte, wir könnten zusammen einen Happen essen gehen. Vielleicht kann ja deine Mitarbeiterin …»
«Nein», fiel ihm Haferkamp ins Wort, «die muss in den nächsten Wochen schon genug Überstunden machen.»
Frieder lehnte sich mit gekreuzten Beinen gegen die Wand und nippte an seinem Kaffee.
«Na gut, ich bin ohnehin knapp mit der Zeit. Hansjörg will unbedingt heute noch was mit mir besprechen, unter vier Augen.»
Haferkamp zog fragend die Brauen hoch.
Frieder griente. «Ich fürchte, der Gute hat sich als Texter versucht, aber mal schauen. Du bist mit den Fotos ein wenig im Verzug, habe ich gehört …»
«Eigentlich nicht», gab Haferkamp leichthin zurück. «Sie gehen übermorgen per Kurier raus.»
«Fein, dann klappt ja alles. Und unsere Autorencrew war auch schon richtig fleißig, sagt Dagmar. Find ich prima.»
«Na, das freut mich aber.»
Frieder hob das Kinn. «Schon klar, Martin, du bist sauer.»
«Lass stecken.»
«Wie du meinst. Aber glaub mir, auch wenn ich ein paar Tage nicht im Lande war, habe ich die Sache im Griff.»
«And the fans shout hooray …»
Frieder lachte rau. «Das wollen wir doch hoffen.»