Neun
Obwohl die Heizung auf vollen Touren lief, war es im Blauen Saal immer noch ein wenig muffig und klamm, aber das schien keinen sonderlich zu stören.
Mittlerweile war es halb zwölf geworden, und Haferkamp lehnte sich entspannt in seinem Sessel zurück. Nach dem reichhaltigen Abendessen – er hatte Sauerbraten mit Rotkohl gewählt – und ein paar Gläsern Champagner waren alle milde gestimmt. Mit den zwölf Flaschen hatte Frieder ihre Trinkfreudigkeit allerdings eindeutig überschätzt.
Als er jetzt aufstand, um Rüdiger nachzuschenken, legte der die Hand auf sein Glas. «Danke, aber mir reicht’s für heute. Wenn ich noch mehr trinke, bin ich morgen zu nichts zu gebrauchen.»
«Also, ehrlich», moserte Frieder, «du hörst dich an wie ein Tattergreis.» Seine Sprache war deutlich verwaschen, er hatte noch nie viel Alkohol vertragen.
«Ich bin kaputt, schließlich habe ich noch bis fünf gearbeitet.»
«Wie die meisten anderen auch», meinte Dagmar aufgekratzt und hielt Frieder ihr Glas hin. «Mir kannst du noch was geben. Wann kriegt unsereins schon mal so ein edles Gesöff?»
«Mir auch noch was!», rief Bylle. «Ist bloß schade, dass Hartmut nicht da ist. Der hätte jetzt seine Gitarre ausgepackt, und wir hätten ein bisschen was singen können.»
Haferkamp rümpfte die Nase. Er hatte nie viel Spaß an den munteren Sangesrunden gehabt. Hartmut spielte eigentlich ganz gute Sachen, aber stets wurde schnell der Ruf nach ‹American Pie› und ‹Where do you go to, my lovely› laut, und jedes Mal endete es schließlich bei den Beatles und Bob Dylan.
Er leerte sein Glas und stand auf. Kai, Dagmar und er hatten nach dem Essen die Fotokopien ihrer Texte geholt, es wurde Zeit, sie zu verteilen.
«Jetzt sei doch nicht so ungemütlich!», maulte Sibylle, aber er ließ sich nicht beirren.
«Wir haben ein Mordspensum vor uns. Wenn wir uns morgen Mittag zusammensetzen, muss nicht nur jeder alle Texte gelesen haben, wir müssen uns auch über das ‹Best-of-Programm› im Klaren sein.»
Auch Dagmar und Kai reichten ihre Stapel herum.
Frieder klopfte anerkennend auf das Päckchen Papier in seinem Schoß. «Mann, wart ihr fleißig!»
«Und wo ist dein Material?», fragte Kai.
«Erwischt!» Frieder schaute zerknirscht. «Ich habe so gut wie gar nichts zustande gebracht, tut mir Leid. Wenn ich mich ans Schreiben gemacht habe, ist nur Mist dabei herausgekommen. Ich hatte wohl einfach zu viel anderes um die Ohren.»
Verblüfftes Schweigen, Frieder war der Kreativste von ihnen allen gewesen, hatte immer eher zu viel Material beigesteuert.
«Aber», fuhr er nuschelnd fort, «ich habe drei wunderbare Sketche überarbeitet, die unser Hansjörg geschrieben hat.»
«Du?», japste Maria.
«Hört, hört», rief Rüdiger.
Möller schlug die Augen nieder. «Na ja», brummelte er.
Haferkamp war früh aufgewacht und hatte in aller Ruhe duschen können, bevor der große Ansturm einsetzte. Auch im Frühstücksraum war er der Erste. Er holte sich einen Becher Kaffee, zwei Butterhörnchen und Konfitüre vom Buffet, umschiffte die gedeckte lange Tafel und setzte sich an einen kleinen Fenstertisch.
Die Sonne spitzte gerade eben so über die Baumwipfel, ein zarter Nebelschleier lag über dem feuchten Gras.
Er fühlte sich ausgeruht und frisch. In den letzten Jahren war er hier jeden Morgen mit einem völlig verspannten Rücken aufgewacht, aber anscheinend hatte man die Betten mit neuen Matratzen ausgestattet. Als er den Frühstückstisch verließ, war es nicht einmal neun. Er hatte alle Zeit der Welt, denn sie würden sich erst zum Mittagessen wieder treffen. Bis dahin sollte jeder alle Texte gelesen haben, und da er Kais und Dagmars Material schon kannte, musste er sich nur mit den drei Sketchen beschäftigen, die Hansjörg wundersamerweise zu Papier gebracht hatte.
In seinem Zimmer öffnete er beide Fensterflügel, machte sein Bett und setzte sich dann zum Lesen an den Tisch.
Gott, was für ein Klamauk! Genau die Art von Sketchen, die ihn auf die Palme brachte.
Bei den Dialogen erkannte man deutlich Frieders Handschrift, die waren okay, aber Aussage und Umsetzung … ‹Griechischer Wein› war wirklich unterste Comedy-Schublade.
Er nahm sich einen Zettel und formulierte ein paar diplomatische Sätze, die er später in die Diskussion einbringen konnte. Sie würden sicher heute den ganzen Tag damit verbringen, sich über die Zusammensetzung des Programms zu einigen. Als Erstes würden sie über den ‹Best of›-Teil abstimmen müssen, und bei dem Gedanken daran wurde ihm mulmig. Nicht von allen Sketchen, die er ausgesucht hatte, gab es Videomitschnitte. Möglicherweise würden sie einiges neu aufzeichnen müssen. Hatten sie noch die gleiche Frische, würden sie die Dinge nach all den Jahren noch einmal überzeugend rüberbringen?
Er merkte, wie seine Laune weiter in den Keller ging. Die ersten zwei, drei Tage waren für ihn jedes Mal schlimm. Das, was in den Anfangsjahren für alle völlig in Ordnung gewesen war, ging ihm inzwischen furchtbar auf die Nerven: all das basisdemokratische Gesülze, die Scheingefechte, die Abstimmerei. Erst wenn die Proben losgingen, fing es an, Freude zu machen, dann wusste er wieder, warum er der ‹13› so viel Zeit widmete und die ganzen Jahre dabeigeblieben war.
Er schob die Kopien zusammen und legte sie in eine Kladde. Dann schloss er das Fenster.
Eine Runde durch den Park würde ihm gut tun, er wollte sich die Skulpturen anschauen.
Die Morgenwolken hatten sich verzogen, die ersten gefallenen Blätter leuchteten goldgelb im Gras.
Er ertappte sich dabei, dass er einfach nur dastand und tief die würzige Luft einatmete. Eigentlich war er von klein auf eher ein Sommerkind gewesen, die Zeit von November bis März hatte er immer nur irgendwie überstanden. Mittlerweile mochte er den Herbst, selbst der November hatte am Niederrhein seine eigene melancholische Schönheit.
Der Dezember allerdings war für ihn immer noch schwer zu ertragen. Da stand er bis in die Puppen im Laden und machte zähneknirschend den ganzen Weihnachtsrummel mit, denn das waren die Wochen im Jahr, in denen er den meisten Umsatz machte.
Vom Dunklen ins Dunkle, dazwischen nur künstliches Licht.
Und Heiligabend, wenn die anderen anfingen zu feiern, wollte er sich einfach nur ins Bett legen und zehn Stunden schlafen. Nun denn, dieses Jahr würde ihn keiner daran hindern.
Monika hatte alljährlich ein perfektes Festprogramm auf die Beine gestellt: einen deckenhohen, üppig geschmückten Tannenbaum, geheimnisvolle Päckchen, Kerzenschein und Pfefferkuchen. Und natürlich ein Menu: Gänsekeulen mit Pfanniknödeln und Rotkohl aus dem Glas, als Dessert die neueste Kreation aus dem Hause ‹bofrost›. Hauptsache weihnachtlich.
Am ersten Feiertag dann zu ihren Eltern, wo sich auch ihre Geschwister samt Nichten und Neffen einfanden, die alle sehr individuell beschenkt wurden: ‹Playmobil› für die Kleinsten, ‹Lego› für die etwas Älteren, für die «Großen» Computerspiele. Bücher hatten nie zur Diskussion gestanden.
Er war bei der ersten Skulptur angekommen und schüttelte die Erinnerung ab.
Aus schwarzem Stein, nicht besonders groß, ein Mann und eine Frau im innigen Kuss vereint, zwischen ihnen ein Baby, das an ihren prallen Brüsten saugte, sein deutlich sichtbarer Penis. Erotisch? Nein, eher zärtlich, anrührend.
Langsam wanderte er weiter: ein Frauenleib mit drei Köpfen und sechs Brüsten, ein wunderbar ausladender Hintern mit Vulva, der Stein so glatt, dass man ihn berühren wollte.
Die Kunstwerke standen auf den unterschiedlichsten Stelen, fast willkürlich verteilt zwischen Büschen und Sträuchern, manche auf bemoosten Baumstümpfen, und fügten sich so perfekt in die Atmosphäre des alten Parks ein.
«Sie sind rührend und wunderschön, nicht wahr?» Dagmar war zwischen die beiden Blutbuchen getreten und beobachtete ihn.
«Ja», sagte er nur. «Wie geht’s dir?» Sie sah müde aus.
«Nicht besonders. Ich habe miserabel geschlafen, und Rüdiger ist auch noch ziemlich schlecht drauf.»
«Wo steckt er?»
«Er liest noch, und dann wollte er los und ein paar Kästen Bier besorgen.»
Frieder hatte mühelos die Rollen gewechselt, keine Champagnerlaune mehr, kein «Kinder, wie habe ich euch vermisst», kein «Seele baumeln lassen».
Er hatte Rüdiger Stift und Block hingelegt – «Du kannst heute Protokoll führen» – und dann das «Meeting» eröffnet. Seit über zwei Stunden diskutierten sie nun schon darüber, welche Sketche in den ‹Best of›-Teil der Fernsehaufzeichnung aufgenommen werden sollten, und drehten sich im Kreis.
«Martin», meinte Frieder irgendwann nachdrücklich, «wir können doch nicht nur Nummern bringen, bei denen den Leuten das Lachen im Hals stecken bleibt. Man muss auch mal entspannen können, sonst erstickt man doch.»
«Na ja», wandte Rüdiger ein, «auch im politischen Kabarett gibt es krachige Pointen.»
Und weiter ging’s.
Schließlich konnte Kai seinen Zorn nicht länger zügeln. «Wir haben doch überhaupt keine Chance!»
«Wer wir?», fragte Frieder kühl.
«Na, Dagmar, Martin und ich, die seriöse Fraktion. Die, die nach wie vor das machen wollen, was unsere Fans sehen möchten. Politisches Kabarett eben und keine billige Comedykacke.»
«Das ist ja wohl eine absolute Unverschämtheit», motzte Walterfang.
Die Möllers redeten wütend durcheinander.
Frieder musterte Kai gelassen. «Okay», sagte er endlich, «ich sehe, was du meinst. Dann gibt es wohl nur eine Lösung, die uns und alle unsere Fans zufrieden stellen dürfte. Rüdiger, liste doch mal alle Sketche in zwei Spalten auf, danach machen wir eine ausgewogene Mischung: drei aus der – Pause – ‹seriösen› und drei aus der Primitivfraktion. Mehr als sechs Nummern gestatten uns die Fernsehleute nämlich nicht.»
«Also, das finde ich jetzt auch nicht gut, wie du hier polarisierst», hob Sibylle an, verstummte aber sogleich wieder.
Es dauerte weitere fünfundvierzig Minuten, bis man sich darauf geeinigt hatte, welche Sketche als «seriös» und welche als «primitiv» einzustufen seien, dann wurden sie sich über die Auswahl aber schnell einig.
Haferkamp stand auf und ging zu dem Beistelltisch, um sich ein Mineralwasser einzugießen.
Mit dem Ergebnis konnte er leben, aber die Stimmung im Saal behagte ihm nicht.
Um vier Uhr bot Rüdiger eine Runde Weißbier an. Danach stand die Auswahl des aktuellen Programms an.
«Und bitte, Leute, ein bisschen weniger emotional, wenn’s geht», mahnte Frieder. «Denkt dran, wir müssen heute unbedingt zu einem Ergebnis kommen.»
Diesmal wurde die Diskussion derart zivilisiert geführt, dass Haferkamp sich wunderte, dass nicht irgendwer einen Antrag zur Geschäftsordnung stellte. Man demonstrierte Streitkultur, genügend Übung hatten sie ja.
Gegen halb sechs schritten sie zur ersten Abstimmung, und Möllers «Griechischer Wein» landete mit fünf zu vier Stimmen auf dem ersten Platz.
Haferkamp verknotete sich der Magen. Er biss sich auf die Lippen, aber Dagmar hielt es nicht länger aus und sprang auf.
«Mir reicht’s, das ist doch eine gottverdammte Farce hier! Wenn die anderen auch da wären, sähen die Abstimmungsergebnisse ganz anders aus. Der Haufen hier ist doch überhaupt nicht repäsentativ, aber ich vermute mal, da steckt Methode hinter.»
«Komm, hör auf.» Rüdiger wollte sie wieder auf den Stuhl herunterziehen. «Du verträgst einfach kein Bier.»
Aber sie schlug seine Hand weg. «Wie du meinst, mein Gebieter. Dann gibt es heute eben kein Ergebnis mehr. Ich muss nämlich schleunigst raus hier.»
Haferkamp schaute ihr nach. Er wusste, dass sie keineswegs betrunken war.
Auch Frieder stand auf. «In Ordnung, so wie es aussieht, führt wohl kein Weg daran vorbei: Wir verfahren nach dem gleichen Muster wie vorhin. Teilen wir die Texte, die zur Wahl stehen, in zwei Kategorien ein und mischen dann. Ich finde das zwar höchst ermüdend, aber bitte – Pause bis nach dem Abendbrot, gleicher Ort, aber hoffentlich bessere Stimmung.»