Sechzehn

Dunkelheit hatte sich über den Park gelegt, und ein heftiger Wind war aufgekommen, endlich doch Oktoberwetter.

Sibylle hatte die schweren Vorhänge vor den Fenstern zum Park fest zugezogen. Sie lungerten im Salon herum, warteten auf das Abendbrot. Auch Walterfang war wieder aufgetaucht. Der Arzt hatte ihm ein Beruhigungsmittel gegeben, und er hatte den Nachmittag verschlafen. Seine Aussprache war immer noch ein wenig verwaschen. «Was wollten die Bullen eigentlich wissen?»

Maria achtete nicht auf ihn. «Habt ihr was von gestern Abend erzählt?»

Rüdiger sah sie scharf an. «Ich halte es nicht für ratsam, darüber zu reden. Schon gar nicht, wo sich die beiden von der Trachtengruppe hier herumdrücken. Nachher denken sie noch, wir treffen irgendwelche Absprachen.»

«Meinst du, die belauschen uns?», flüsterte Maria.

«Unsinn!» Möller schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. «Wir sollten uns lieber darüber unterhalten, wie es mit der ‹13› weitergehen soll.»

«Bist du noch ganz gescheit?», zischte Sibylle. «Wie kannst du jetzt nur darüber nachdenken!»

Möller bleckte die Zähne. «Rüdiger und ich haben schon letzte Nacht darüber gesprochen.»

«Da lebte Frieder ja auch noch», jaulte sie.

«Könntest du deine Hysterie ausnahmsweise stecken lassen? Irgendetwas muss schließlich passieren. Wir haben eine Tournee vor uns, schon vergessen? Immerhin achtzehn Auftritte.»

Bylle setzte ihr Trotzgesicht auf. «Also mich kriegen keine zehn Pferde auf die Bühne.»

Dagmar strich sich mit beiden Händen durchs Haar. «Ich finde das jetzt auch etwas pietätlos, wenn ich ehrlich bin», sagte sie leise.

«Meine Güte», fuhr Rüdiger sie an, «stellt euch doch mal den Tatsachen! Wir haben Verträge zu erfüllen, nicht nur mit den Veranstaltern, auch mit dem WDR.»

«Die hat alle Frieder gemacht», warf Sibylle ein. «Nicht einmal ich habe sie zu sehen gekriegt.»

«Eben», sagte Möller. «Die Frage ist, in wessen Namen hat er die gemacht. In unserem? Nach gestern Abend bin ich mir nicht mehr so sicher.»

«Genau», pflichtete Rüdiger ihm bei. «Ich meine, wir hätten vor Jahren mal darüber gesprochen, eine GbR zu gründen, aber ich glaube, wir haben es dann doch nicht getan, oder? Was ist, wenn Frieder schon lange seine eigene Gesellschaft hatte? Mann, Mann, Mann, wie konnten wir all die Jahre so blauäugig sein? Nicht einmal die Abrechnungen haben wir kontrolliert.»

«Vielleicht weiß Patricia darüber Bescheid», überlegte Sibylle.

«Da kannst du Gift drauf nehmen», murmelte Haferkamp.

Dagmar hielt es nicht länger auf ihrem Sessel. «Ihr wollt also allen Ernstes einfach mit den Proben weitermachen und die ‹Verträge erfüllen›, als wäre nichts passiert? Ihr müsst verrückt sein!»

«Nein, natürlich nicht.»

«Auf keinen Fall!»

Haferkamp und Janicki versuchten, sie zu beruhigen, und sie nahm es dankbar zur Kenntnis. «Ich stelle mich auf keine Bühne, das ist sicher. Das kann auch kein Mensch von uns verlangen.»

Da stieß Walterfang plötzlich einen hohlen Schrei aus, und alle schauten ihn verdutzt an.

«Was für eine gigantische Verarschung!», brüllte er. «Was für ein Egomane! Was für eine Sau! Der ist schon immer über Leichen gegangen, du hattest ganz Recht, Dagmar, du weißt gar nicht, wie Recht du damit hattest.»

Er wurde langsam wieder leiser und fiel in seinen gewohnten nöligen Tonfall. «So langsam geht mir erst auf, wie lange er schon unfreundlich zu mir war. Aber soll mich das etwa wundern? Ihr seid doch auch alle gegen mich. Ich muss gar nicht lange überlegen. Zum Beispiel du, Maria, du hast mich doch eben gar nicht wahrgenommen.»

«O nein, bitte», stöhnte Janicki gequält, «nicht wieder diese Leier.»

«Du hast leicht reden», fauchte Walterfang zurück. «Dich wollte er ja auch mitnehmen, aber mich hat er weggeworfen wie einen dreckigen Lappen.»

Sie wussten, dass es besser war, jetzt nichts zu sagen, sonst konnte das Ganze noch Stunden dauern.

Da krachte etwas gegen die Fensterscheibe, sie zuckten zusammen und starrten einander an.

Schließlich ging Haferkamp zum Fenster und schob den Vorhang beiseite.

«Der Wind», sagte er, «es war nur ein Ast.»

Sibylle hatte ihre Knie bis unters Kinn gezogen und die Arme um ihre Unterschenkel gelegt. «Ich habe furchtbare Angst, das kann euch auch nicht anders gehen. Es ist unheimlich. Sollen wir nicht alle zusammen hier im Salon schlafen? Wir könnten einfach die Matratzen und das Bettzeug runterholen.»

Kai Janicki lachte freudlos. «An deiner Stelle würde ich mir das gründlich überlegen, Bylle. Es könnte nämlich sein, dass du die Nacht zusammen mit einem Mörder verbringst.»

Sie wurde blass. «Hör auf, du weißt genau, dass es keiner von uns gewesen sein kann.»

«Bist du dir sicher? Wenn ja, frage ich mich, warum du Angst hast. Oder glaubst du etwa, dass draußen ein Wahnsinniger herumschleicht, der es darauf abgesehen hat, die ganze ‹13› zu meucheln?»

«Du bist unmöglich, Kai», sagte Dagmar müde.

Dann lauschte sie. «Da kommt ein Auto.»

«Ach, du Scheiße, daran habe ich überhaupt nicht mehr gedacht.» Haferkamp rieb sich die Schläfen. «Das müssen Johanna, Hartmut und Beate sein.»

«Und sie wissen noch von nichts», vollendete Janicki den Gedanken.

Sibylle war schon hinausgelaufen.

 

Es war ein tristes Abendessen.

Den drei Neuankömmlingen wurde nur allmählich klar, was man ihnen eben eröffnet hatte. Sie saßen hilflos da und bekamen keinen Bissen herunter.

«Ihr seid wahrhaftig fein raus, dass ihr nicht hier wart», meinte Maria bitter, «sonst stündet ihr jetzt auch unter Mordverdacht.»

«Was?» Johanna schlug die Hand vor den Mund. «Glaubt die Polizei etwa …»

«Das kann doch nicht deren Ernst sein!» Hartmut Stollner schüttelte heftig den Kopf.

Beate sagte nichts, starrte Maria nur ungläubig an und schien sich in sich zu verkriechen.

«Tja, wir sind in einer dummen Lage», erklärte Kai. «Außer uns war kein Mensch im Haus.»

«Das kann schon sein», entgegnete Hartmut, ganz offensichtlich um Sachlichkeit bemüht, «aber in den Park kommt doch jeder ungesehen hinein.»

«Der große Unbekannte, der schwarze Mann?» Janickis Stimme war kalt. «Glaubst du tatsächlich, Frieder hätte sich mit jemandem verabredet – nachts um vier im Park, bei strömendem Regen? Ach, komm!»

«Muss er doch gar nicht. Vielleicht hat er nur etwas beobachtet, das er nicht sehen sollte», beharrte Stollner. «Wer weiß, welches Gesindel sich da nachts herumtreibt.»

Haferkamp hörte nur mit halbem Ohr zu. Er beobachtete Johanna. Der Schock, der ihr Gesicht noch vor einer halben Stunde in eine weiße Maske verwandelt hatte, hatte nachgelassen. Sie sah jetzt nur noch sehr, sehr traurig aus.

«Ha, Kai», mischte sich Maria wieder in das Gespräch, «erzähl ihnen, welche Bombe Frieder letzte Nacht hat platzen lassen, erzähl ihnen, was dieser …»

«Tu’s doch selbst», sagte Kai und schob sich ein Tomatenachtel in den Mund.

Aber dazu kam es nicht, denn Kommissar Toppe betrat das Zimmer.

«Man hat mich benachrichtigt, dass die letzten Mitglieder des Ensembles angekommen sind», sagte er und schaute sich die neuen Gesichter an. «Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten. Aber essen Sie in Ruhe zu Ende, ich warte im Blauen Saal auf Sie.»

Der ist stinksauer, dachte Haferkamp, und zwar stinksauer auf uns.

«Ich kann sowieso nichts essen.» Johanna war gleich aufgestanden, und Beate und Hartmut folgten.

 

Der Polizist holte zwei weitere Stühle an den Tisch unterm Fenster und nahm ihre Personalien auf. Jetzt schaute er freundlich, und seine Stimme war warm.

«Ich mache das Bühnenbild», erklärte Johanna.

«Und ich bin für die Maske und die Kostüme zuständig», ergänzte Beate.

«Dann müssen Sie der Musiker sein», schloss Toppe, machte sich eine Notiz und blickte wieder auf. «Ich möchte mir gern ein möglichst umfassendes Bild von Ihrer ‹13› machen, Struktur, Konstellationen, Aufgaben, wie alles angefangen hat, wie Ihre Beziehungen außerhalb der Gruppe sind.» Er schmunzelte. «Erzählen Sie ganz unsortiert, was Ihnen dazu einfällt. Ich picke mir schon raus, was für mich interessant ist.»

Es war Johanna, die das Wort übernahm. Sie war mit Autoritäten schon immer am unbefangensten von ihnen allen umgegangen.

Sie erzählte von ihrer Anfangszeit an der Uni, von den gemeinsamen Urlaubsreisen, vom allmählich immer größeren Erfolg.

Toppe stellte interessierte Zwischenfragen, ein Nicken, ein Lächeln an der richtigen Stelle machten das Gespräch zu einer unverkrampften Plauderei.

«Er war ein Ladykiller», sagte Johanna, als sie endlich bei Frieder angelangt waren, «und in der Anfangszeit waren die Mädels, glaube ich, alle mehr oder weniger in ihn verknallt.»

Beate wurde blutrot und bückte sich schnell, um ein Taschentuch aus ihrer Handtasche zu nehmen.

«Aber das hat sich rasch gelegt. Wenn man hart miteinander arbeitet, nutzt sich die Romantik schnell ab. Und das mussten wir nach dem Studium eigentlich immer, wenn wir zusammen waren – hart arbeiten, meine ich –, weil wir ja nur diese wenigen Wochen im Jahr hatten, um ein ziemlich großes Programm auf die Beine zu stellen.»

Hatte es Animositäten gegeben, größere Zerwürfnisse? Dreißig Jahre waren schließlich eine lange Zeit.

«Das sind irgendwie die falschen Vokabeln …» Johanna sah nachdenklich an Toppe vorbei. «Es gab natürlich die üblichen Eifersüchteleien unter den Autoren bei der Frage, wessen Text ins Programm genommen werden sollte.»

«Ja», bestätigte Beate lächelnd, «und jedes Jahr den gleichen Ärger unter den Schauspielern, wenn Frieder wieder einmal seine Partner an die Wand spielte. Er ist nämlich verdammt gut, und manchmal vergisst er, dass außer ihm noch andere auf der Bühne stehen.»

«Gab es jemals körperliche Übergriffe?»

Toppe schien zu bemerken, dass so etwas völlig undenkbar schien, denn er schlug rasch eine andere Richtung ein.

«Ich würde gern etwas über Frieder Seidl außerhalb des Kabaretts erfahren, über sein berufliches und privates Leben.»

Diesmal war es Hartmut Stollner, der antwortete. «Er hat Wirtschaftswissenschaften studiert, aber während des Studiums hat er bereits ab und an in Werbeagenturen gejobbt. Soweit ich weiß, hatte er sogar eine Zeit lang eine eigene kleine Agentur. Jedenfalls ist er direkt nach dem Examen bei einer Düsseldorfer Werbeagentur eingestiegen und dort stetig die Leiter hinaufgeklettert. Vor sieben, acht Jahren hat sich sein Seniorpartner zur Ruhe gesetzt, und Frieder hat den Laden ganz übernommen. Er muss wohl ganz gut verdient haben, denn soweit ich weiß, kam er nicht aus einem begüterten Elternhaus.» Er sah die beiden anderen an.

Johanna zog die Schultern hoch. «Frag mich nicht. Was das angeht, war Frieder immer sehr zugeknöpft.»

«Stimmt», bestätigte Beate. «Ich habe mir vorgestellt, dass Frieder aus ganz einfachen Verhältnissen kommen muss und sich dafür geschämt hat. Jedenfalls hat er das ganze Studium hindurch den vollen BaföG-Satz gekriegt, das weiß ich genau.»

Toppe fragte noch einmal nach Seidls Privatleben.

«Wie Johanna schon sagt, ein echter Frauentyp», sagte Stollner. «Er wechselt die Freundinnen … na ja, für meine Begriffe, zu häufig … aber Gott, ich bin nicht das Maß aller Dinge.»

«Dann kennt er seine jetzige Frau wohl noch nicht lange. Was können Sie mir über sie erzählen?»

«Patricia? Pff, wie lange werden die zusammen sein? Nicht viel länger als ein Jahr, würde ich sagen. Vorher lag sie ja fast noch in den Windeln. Sie ist fast fünfundzwanzig Jahre jünger als er. Aber sie ist nicht seine Frau.»

«Doch, doch», meinte Toppe. «Sie haben vor ein paar Wochen geheiratet, und sie erwartet ein Kind.»

Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, dann gab Beate so etwas wie ein Prusten von sich. «Ist das zu fassen? Über andere hat er sich jahrelang lustig gemacht, von wegen Muttertier und Familienochse.»

Toppe wechselte das Thema, und damit änderte sich auch sein Ton. Johanna setzte sich unwillkürlich aufrechter hin.

«Gestern spät am Abend hat es in der Gruppe einen heftigen Streit gegeben. Was wissen Sie darüber? Kennen Sie den Anlass?»

«Nein», antwortete Johanna langsam, «wir sind doch gerade erst angekommen.»

«Hat nicht Maria eben etwas davon gesagt, dass Frieder gestern Abend eine Bombe hat platzen lassen?», fiel es Beate wieder ein.

«Ja, aber sie hat nicht gesagt, welche.»

«Bei dem Streit ist es anscheinend um eine Fernsehsendung gegangen», fuhr Toppe fort, «und um Fernsehrechte. Können Sie sich darauf einen Reim machen?»

«Da kann es nur um den WDR gegangen sein», sagte Stollner. «Der Sender will zu unserem Jubiläum ein Feature über uns zusammenstellen und die Premiere live mitschneiden. Von anderen Fernsehsachen weiß ich jedenfalls nichts.»

Toppe sah nicht sonderlich zufrieden aus.

«Dann ging es in dem Streit noch um einen Namen, der geschützt werden sollte.»

Die drei schauten sich ratlos an und schwiegen.

«Frau Langenberg war allem Anschein nach sehr erregt», machte Toppe weiter, aber er klang nicht sehr hoffnungsfroh. «Sie hat mehrfach den Namen ‹Klaus› erwähnt.»

«Ach Gott!», rief Johanna bestürzt.

«Klaus Schröder», erklärte Stollner schnell, «Sibylles Verlobter. Er ist 1981 bei einem Autounfall ums Leben gekommen.»

Johanna war klar, dass der Kommissar wissen wollte, warum sie so heftig reagiert hatte.

«Ich glaube, wir haben alle den Eindruck, dass Sibylle seinen Tod nie richtig verwunden hat.»

«Gehörte Klaus Schröder auch zur ‹Wilden 13›?»

«Ja», sagte Johanna, «wir waren mitten in den Proben, als der Unfall passierte, und wir mussten irgendwie weitermachen.» Sie hielt unvermittelt inne, und jeder im Raum wusste, was ihr gerade durch den Kopf gegangen war.

«Bettina Janicki ist für Klaus eingesprungen. Es war eine furchtbare Zeit. Wir sind herumgelaufen wie Zombies.»