Siebzehn

Haferkamp erwachte mit einem Ruck, sein Herz raste.

Schon nach acht! Er hatte vergessen, den Wecker zu stellen. Benommen rappelte er sich auf, suchte sein Waschzeug und frische Kleidung zusammen und trat in den Flur.

Einige Zimmertüren standen offen, die Duschen nebenan und gegenüber liefen. Er ging den Gang hinunter an Walterfangs Zimmer vorbei, aus dem es nach Tigerkäfig stank. Auch die beiden Duschen am anderen Ende waren besetzt.

Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Dagmar lehnte an ihrem Türpfosten, ein feuchtes Handtuch über der Schulter. Er begegnete ihrem brennenden Blick und schluckte. Dass es sich in diesem Chaos dennoch so richtig angefühlt hatte, erschreckte ihn bis in die Knochen. Mit zügigen Schritten kehrte er in sein Zimmer zurück und schloss die Tür.

Hartmut, Beate und Johanna waren gestern Abend, nachdem sie sich lange mit Toppe unterhalten hatten, wieder gefahren. «Die Polizei braucht uns nicht mehr», hatte Johanna gesagt, «wir bringen alles nur noch mehr durcheinander. Außerdem muss sich jemand um Patricia kümmern. Ich fahre zu ihr und sehe, ob sie Hilfe braucht. Schließlich muss sie eine Beerdigung organisieren. Und sie ist so jung …»

Sie hatten alle betreten ausgesehen und kein Wort herausgebracht. Haferkamp hatte Johanna fest in die Arme genommen und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit mit den Tränen gekämpft.

 

Als er endlich in den Salon herunterkam, hatten die anderen ihr Frühstück schon beendet. Anscheinend hatte niemand gut geschlafen. Sie sahen müde aus und zerknautscht, selbst Kai war weiß wie die Wand. Er stand am Fenster und blickte hinaus in den trüben Morgen. «Taucher», sagte er, als Haferkamp sich neben ihn stellte.

Am Teich liefen mehrere Polizisten und Leute vom Technischen Hilfswerk herum, zwei Männer in Trockentauchanzügen standen am Ufer.

«Die werden die Tatwaffe suchen», sagte Haferkamp.

«In dieser Brühe kann man nicht einmal die eigene Hand vor Augen erkennen. Komm mit, wir schauen uns das an.»

Haferkamp zögerte, folgte ihm dann aber doch.

«Wenn die Polizei uns um Hilfe bittet, gehen wir sogar bei Nullsicht runter», erklärte einer der beiden Taucher bereitwillig.

«Ist das nicht zu gefährlich?», wollte Haferkamp wissen. «Ich meine, in diesem Tümpel natürlich nicht, aber wie ist das bei größeren Gewässern?»

«Wir sind immer angeleint», antwortete der Mann, «und wir stehen die ganze Zeit in Funkkontakt mit dem Leinenführer.» Er zeigte auf einen schon etwas älteren Mann mit Schirmmütze, der gerade verkabelt wurde.

«Und dann tasten Sie blind im Schlamm herum?», fragte Janicki ungläubig.

Der Taucher lachte. «Im Prinzip schon, immer eine Hand an der Leine, und mit der anderen tasten wir den Grund ab, Planquadrat für Planquadrat.»

«Zu zweit?»

«Nein, nein, aber bei uns hält sich immer ein zweiter Mann bereit, für den Fall, dass der erste in Schwierigkeiten gerät.» Er wurde abgelenkt. «Ich glaube, da will jemand etwas von Ihnen.»

Sibylle stand auf der Terrasse und wedelte mit beiden Armen. Sie eilten um den Teich herum über den holperigen Rasen.

«Die Polizei ist wieder da», flüsterte sie aufgeregt.

Die Haustür klappte, und man hörte Ackermann rufen: «Halt die doch ma’ ebkes los, dat ich den ganzen Krempel reinschleppen kann!»

Auch Toppe und Steendijk waren schwer bepackt, Laptops, Bandgeräte, ein Drucker.

Toppe sah wesentlich förmlicher aus als gestern – graues Jackett über schwarzem Rollkragenpullover –, und seine Miene verhieß nichts Gutes. «Ich sage Ihnen gleich, dass es reine Freundlichkeit von mir ist, dass ich Sie hier vernehme und nicht einzeln vorlade.»

«Haben wir etwas falsch gemacht?», fragte Maria schnippisch.

Toppes Augen wurden schmal. «Sie haben nicht die Wahrheit gesagt, und das, glauben Sie mir, war ein großer Fehler. In diesem Fall werde ich völlig humorlos. Frau Henkel, kommen Sie bitte kurz mit hinaus!»

Dagmar schlich hinter ihm her.

«Laut Belegungsplan sind Sie und ihr Mann in Zimmer 116, aber nach den Vernehmungen gestern habe ich den Eindruck, dass Sie in getrennten Zimmern sind.»

«Nicht von Anfang an», druckste Dagmar. «Wir haben uns gestritten, und da ist Rüdiger ausgezogen.»

«Wann war das?»

«Vor zwei Tagen.»

«Und in welchem Zimmer ist Ihr Mann jetzt?»

«Keine Ahnung.»

Toppe schüttelte den Kopf und ging wieder in den Salon. «Jupp», forderte er Ackermann auf, «ein Zimmer haben wir gestern leider nicht durchsucht, weil man uns verschwiegen hat, dass es von Herrn Henkel bewohnt wird. Kümmerst du dich darum?»

«Klaro.» Er streckte Rüdiger die flache Hand entgegen. «Den Schlüssel, bitte!»

Dann machte er sich auf den Weg. «Na denn man tau», meinte er fröhlich. «Wie schnell is’ nix getan, sag ich immer.»

 

Toppe zeigte wenig Geduld. «Sie haben den Streit, den Sie am Montagabend hatten, bewusst heruntergespielt, Frau Henkel. Warum?»

Dagmar senkte den Blick. «Es war mir peinlich, und es hatte nichts mit Frieders Tod zu tun.»

«Das würde ich gern selbst entscheiden. Also, schildern Sie mir bitte den Verlauf des Abends, und ich rate Ihnen dringend, bei der Wahrheit zu bleiben.»

«Gut.» Sie faltete die unruhigen Hände. «Ausgelöst worden ist der Krach eigentlich durch Patricia. Sie deutete an, dass Frieder uns allen etwas verschweigt, aber Frieder hat dazu nichts gesagt, also hat sie es uns erzählt. Dass Frieder bei der ‹13› aussteigt, weil er demnächst eine eigene Comedyshow bei SAT 1 hat, und die entsprechenden Verträge seien alle schon unterschrieben …»

«Und?» Toppe regelte die Lautstärke am Aufnahmegerät nach.

«Na ja, wir waren verständlicherweise ziemlich geplättet, aber richtig schlimm wurde es erst, als herauskam, dass er uns den Namen gestohlen hat. Seine Show heißt ‹Die Wilde 13›.»

«Ist der Name denn nicht geschützt?», fragte Toppe ungläubig.

Sie lachte bitter auf. «Jetzt ja, Frieder hat ihn schützen lassen. Wir hatten das leider all die Jahre versäumt, wie so vieles andere auch.»

«Und damit ist Ihre Truppe quasi gestorben», schloss Toppe.

«Richtig», antwortete sie, und ihre Augen funkelten. «Wenn Patricia sich nicht verplappert hätte … Frieder wollte nämlich das WDR-Feature und die Jubiläumstour noch mitnehmen, bevor er uns vor vollendete Tatsachen gestellt hätte. Wäre ja auch eine Superpublicity für seine Sendung gewesen.»

«Weiter!»

«Was weiter?», regte sie sich auf. «Wir sind natürlich ausgerastet. Sibylle ist auf Patricia los, und ich habe Frieder ein paar gescheuert. Dann musste ich heulen und bin auf mein Zimmer.»

«Wo Sie dann kurze Zeit später Frau Langenberg aufgesucht hat.»

«Ganz genau.»

«Bleiben Sie bei Ihrer Aussage, was den Rest Ihrer Nacht angeht?»

«Ja, natürlich.» Die Hitzewallung kam wie immer völlig aus dem Nichts, Schweißbäche liefen ihr aus den Haaren ins Gesicht. Sie wischte sie mit dem Pulloverärmel weg und lächelte entschuldigend.

Toppe lächelte nicht. «Darüber reden wir noch einmal.»

 

Kai Janicki wusste, dass er die hübsche Kommissarin auf die Palme brachte, so wie er seit gestern alle auf die Palme brachte. Aber er schaffte es einfach nicht, seinen Zynismus abzustellen. Es war die einzige Möglichkeit, diesen Irrsinn durchzustehen.

«Doch, doch, Frau Steendijk, Frieder hat seine Gründe sehr schön dargelegt. Die ‹Wilde 13› sei doch nur zweite Liga, und er habe keine Lust mehr, den ganzen unprofessionellen Rest der Truppe mit durchzuschleppen.» Er lachte. «Aber ein paar Brosamen hatte er auch zu verteilen: Einige von uns wollte er nämlich mit zum Fernsehen nehmen. Angeblich hatte er schon großartige Verträge ausgehandelt für diejenigen, die – ich zitiere wörtlich – ‹was auf der Pfanne haben›.»

«Wen wollte er mitnehmen?»

«Sein holdes Weib, selbstverständlich, Hartmut für die Musik und Dagmar und mich als Autoren.»

«Und alle anderen wären auf der Strecke geblieben», stellte sie fest.

«Richtig.»

«Und das haben Sie für so unwichtig gehalten, dass Sie mir gestern nichts davon erzählt haben?»

Wieder lachte Janicki. «Was geht in Ihrem schönen Kopf vor? Gekränkte Eitelkeit als Tatmotiv? Dann bin ich ja fein raus.»

 

«So, ma’ ebkes gucken … doch, dat Band läuft noch.»

Haferkamp entspannte sich.

«Sie waren der Einzigste, der sich so früh vom Acker gemacht un’ von dem ganzen Zoff nix mitgekriegt hat. Wie kam dat eigentlich?»

«Ich hatte schlicht und ergreifend die Nase voll. Seit wir angekommen sind, hat es nur Stress gegeben, wessen Sketche genommen werden, wie viel Klamauk man ertragen kann. Irgendeiner war immer beleidigt. Am Montagabend war die Stimmung sowieso schon miserabel, und als Patricia anfing, dramatisch zu werden, hat es mir gereicht. Ich wollte nichts mehr hören.»

«Wat man verstehen kann.» Ackermann nickte. «Un’ wat haben Sie dann gemacht?»

«Ich habe mich in meinem Zimmer aufs Bett gelegt und muss eingedöst sein. Um halb zwei bin ich wieder aufgewacht und hatte Durst, also bin ich runtergegangen. Ich wollte mir ein Bier holen.»

Ackermann beugte sich vor. «Haben Sie da jemand gesehen?»

«Ja, Patricia kam gerade die Treppe vom zweiten Stock herunter, in jeder Hand einen schweren Koffer. Die habe ich ihr abgenommen und zu ihrem Auto getragen.»

«Un’ da hat die Ihnen dann brühwarm von dem Zoff erzählt», stellte Ackermann fest.

Haferkamp stieß verächtlich die Luft aus. «Sie hat mich kaum eines Blickes gewürdigt.»

«Dat muss mir ja ’ne Pute sein … aber egal! Wie Sie wieder in ’t Haus gekommen sind, war da noch wer unten?»

«Ja, im Salon hockte Walterfang wie ein Häufchen Elend und ließ sich von Maria trösten. Draußen auf der Terrasse saßen Rüdiger und Möller und lamentierten. Sie haben mir erzählt, was Frieder ihnen eröffnet hatte.»

«Auffe Terrasse, im Oktober, mitten inne Nacht! War dat nich’ ’n bisken kalt?»

Haferkamp musste grinsen. «Ich glaube nicht, dass sie viel gemerkt haben, so betrunken, wie sie waren.»

«Waren die sauer?»

«Ja, sicher, die hatten eine Stinkwut.»

«Un’ Sie?»

«Ich?» Haferkamp überlegte. «Nein», sagte er langsam, «ich war nicht einmal sonderlich überrascht. Schließlich kenne ich Frieder seit über dreißig Jahren.»

Ackermann blinzelte dramatisch. «Soll dat heißen, der war so einer, der nich’ nach rechts un’ links guckt un’ quasi über Leichen geht?»

«Ein bisschen hart formuliert, würde ich sagen», Haferkamp zögerte, «aber doch, im Grunde stimmt das. Aber wie gesagt, mich persönlich hat Frieders Alleingang nicht sehr getroffen. Ich hatte schon vorher beschlossen, nach der Tour auszusteigen.»

«Echt? Wusste dat einer?»

«Nein.»

«Okay, Sie haben also den Walterfang gesehen, die Maria un’ die beiden Männer. Sonst noch wen?»

«Nein.»

«Auch den Frieder nich’?»

«Nein.»

«Un’ wie weiter?»

«Ich bin ins Bett gegangen.»

«Dat war wann ungefähr?»

Haferkamp kratzte sich am Hinterkopf. «Ich würde sagen, so gegen zwei.»

«Un’ danach nix mehr?»

«Doch», sagte Haferkamp. «Ich bin nochmal wach geworden, weil irgendwas gepoltert hat. Es hörte sich an, als wäre jemand die Treppe heruntergefallen.» Er kam Ackermanns Frage zuvor. «Das war um Punkt drei. Ich habe auf die Uhr gesehen.»

 

«Et wär nich’ schlecht, wenn Sie ’n itzken lauter sprechen, sons’ muss ich dauernd am Regler rumfummeln.»

Möller kniff die Lippen zusammen.

«Also, ma gucken, ob ich dat richtig hab: Sie haben mit dem Rüdiger auf de Terrasse gesessen, un’ um Viertel nach zwei is’ die Mutti gekommen un’ hat Ihnen den Wurm gesegnet, un’ da sind Sie auch nach Bett hin.»

Gott, war dieser Mensch primitiv, das war ja unerträglich!

 

«Frau Möller, würden Sie mir bitte erklären, warum Sie mir gestern nichts davon erzählt haben, dass es sogar zu Handgreiflichkeiten gekommen ist?»

«Weil Sie das nichts angeht!» Maria freute sich, dass der Kommissar rot anlief.

«Wie sehr Sie sich irren», sagte Toppe leise. «Jetzt noch einmal von vorn, und zwar mit genauen Zeitangaben!»

 

«Das haben Sie richtig verstanden», antwortete Möller. «Meine Frau kam heraus und meinte, es würde langsam Zeit, ins Bett zu gehen.»

«Ja, ja, man muss wissen, wann man zu spuren hat, sons’ hängt nachher tagelang der Haussegen schief, wa?» Ackermann kicherte. «Un’ wat hat Rüdiger gemacht?»

«Herr Henkel ist mit mir zusammen hoch und ist auf die Toilette gegangen. Und das ist das Letzte, was ich von ihm gesehen habe.»

«War sons’ noch wer auf?»

«Ich habe nur Walterfang gesehen, der lag im Salon auf dem Sofa und schlief.»

«Un’ wo is’ Frieder hingegangen, als Sie fertig gezofft hatten?»

«Ich habe nicht die leiseste Ahnung.»

 

«Ist ja schon gut», knurrte Maria. «Um Viertel nach eins hat sich die Runde aufgelöst, nur Kai, Frieder und mein lieber Gatte haben noch diskutiert. Das hat mich aber nicht weiter interessiert, weil der Heinrich völlig zusammengeklappt ist und sich schließlich jemand um ihn kümmern musste. Sibylle und Dagmar waren ja schon hochgegangen. Irgendwann ist Heinrich eingeschlafen. Ja doch!», fauchte sie, als sie merkte, wie Toppe zu einer Frage ansetzte. «Das war um Viertel nach zwei.»

«Weiter!»

«Ich bin auf die Terrasse, um meinen Mann zu holen. Der saß da mit Rüdiger und qualmte. Ich war stinksauer, denn ich leide sehr stark unter PMS und kann dann diesen Rauchgeruch überhaupt nicht vertragen.»

Sie musste sich sehr zusammenreißen, denn der Kerl besaß doch tatsächlich die Dreistigkeit zu grinsen.

«Ich bin dann jedenfalls ins Bett gegangen, und fünf Minuten später kam auch mein Mann. Ich hab ihn noch Zähne putzen geschickt. Dann haben wir geschlafen.»

 

Die Kommissarin sah ein wenig erschöpft aus.

«Frau Langenberg konnte sich nicht mehr erinnern, wie lange Sie beide sich in ihrem Zimmer unterhalten haben.»

«Lange», sagte Rüdiger, «es war schon Viertel vor vier, als ich gegangen bin.»

Das schien sie zu interessieren, denn jetzt wirkte sie auf einmal hellwach. «Was haben Sie dann gemacht?»

Rüdiger zuckte die Achseln. «Ich bin schlafen gegangen.»

«Haben Sie jemanden gesehen?»

«Keine Menschenseele.»

«Ihr neues Zimmer ist im zweiten Stock neben dem von Herrn Seidl. Wissen Sie, ob der zu dem Zeitpunkt in seinem Zimmer war?»

Rüdiger Henkel schüttelte bedauernd den Kopf. «Nein, das weiß ich nicht, seine Zimmertür war jedenfalls geschlossen.»

Sie schaltete das Bandgerät ab. «Das wär’s erst einmal. Würden Sie mir bitte Herrn Walterfang hereinschicken?»

Aus dem Augenwinkel sah er noch, wie sie sich ausgesprochen attraktiv räkelte.

 

Heinrich Walterfang musste dringend aufs Klo, aber er wollte nicht fragen. Die Polizistin hatte sowieso schon so herablassend geguckt, als sie seine Personalien aufgenommen hatte und dabei auch auf den Beruf zu sprechen gekommen war.

«Ich habe zuerst gar nicht verstanden, worauf Frieder hinauswollte. Dann habe ich mich sehr aufgeregt, weil ein paar von den anderen ausgesprochen unfreundlich zu mir waren. Wenigstens Maria hat sich bemüßigt gefühlt, sich um mich zu kümmern.»

«Sie sind also nach dem Streit zusammen mit Frau Möller im Salon geblieben. War sonst noch jemand unten?»

«Einige waren noch auf der Terrasse.»

«Wer?»

«Das weiß ich nicht, ich habe nur jemanden quatschen hören.» Was guckte sie ihn denn so komisch an?

«Erzählen Sie weiter.»

«Ich bin auf dem Sofa eingeschlafen, und irgendwann gab’s einen furchtbaren Krach. Das war Frieder, der hatte einen Stuhl umgelaufen. Er hat mich, glaube ich, gar nicht gesehen, aber das ist ja nichts Neues. Jedenfalls hat er sich eine Flasche Bacardi geschnappt und ist raus in den Park.»

Die Kommissarin nickte. «Wir haben eine Bacardiflasche gefunden, im Pavillon am anderen Ende. Wissen Sie, um wie viel Uhr das war?»

Die war doch verrückt! «Nein, ich war verständlicherweise müde und habe gleich weitergeschlafen.»

«Sie sagten, Herr Seidl sei raus in den Park. Da musste er doch über die Terrasse, oder?»

«Jaa …» Sollte er fragen? Warum eigentlich nicht? «Hatte Frieder eigentlich sein Handy bei sich? Ich meine, man kann doch heute technisch so viel … Vielleicht hat Frieder sich ja mit jemandem verabredet.»

«Nein, das haben wir überprüft.» Sie schaute auf ihre Notizen. «Sie sind schließlich irgendwann ins Bett gegangen.»

Jetzt kam sein Trumpf! «Das war so um halb vier rum. Ich bin wach geworden, weil mir kalt war. Und da habe ich jemanden im Park gesehen. Ich konnte aber nicht erkennen, wer das war. Dazu war es zu dunkel, es hat ja geregnet. Aber es waren zwei, vielleicht auch drei Leute, und die standen nicht zusammen.»

«Wo genau waren diese Leute, was taten sie?»

«Das kann ich Ihnen nicht sagen.» Blöde Kuh! «Ich war, wie ich schon erwähnt habe, sehr müde und natürlich auch enttäuscht.»

 

«Mir ist noch etwas eingefallen», sagte Sibylle. «Sie wollen doch möglichst genau wissen, wer wann wo gewesen ist.»

Toppe sagte nichts, wartete nur ab.

«Na ja», fuhr sie unsicher fort. «Als ich mich gerade mit Rüdiger in meinem Zimmer zusammengesetzt hatte, habe ich zuerst die Klospülung aus dem Bad gegenüber gehört, und kurz danach wurde an eine Tür geklopft. Vom Geräusch her würde ich sagen, das muss entweder vom Zimmer 115 oder 116 gekommen sein, also entweder von Martin oder von Dagmar.»

Toppe schien nicht besonders interessiert.

«Herr Henkel hat ausgesagt, dass er bis Viertel vor vier bei Ihnen geblieben ist. Worüber haben Sie sich so lange unterhalten?»

«Das wissen Sie doch inzwischen schon, über Frieders Verrat natürlich!»

«Haben Sie auch über Ihren verstorbenen Verlobten gesprochen?»

«Was?!» Ihre Beine waren plötzlich wie Gummi.

Er schaute sie ungehalten an. «Frau Langenberg, ich bin nicht sehr glücklich darüber, dass Sie mir verschwiegen haben, was am Montagabend wirklich passiert ist, aber ich gebe Ihnen eine zweite Chance.»

«Okay», sagte sie zittrig, «ich habe mich auf Patricia gestürzt, habe sie an den Haaren gezogen und gekratzt.»

«Das ist mir bekannt. Ich möchte wissen, wie es dazu gekommen ist. Was hat Sie so aus der Fassung gebracht, warum haben Sie den Namen ihres früheren Verlobten gerufen?»

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. «Weil er es schon wieder getan hat, weil er wieder alles kaputtgemacht hat …»

«Erzählen Sie», sagte Toppe ruhig und reichte ihr ein weißes Taschentuch, das sie einen Augenblick verwirrt anstarrte, dann wischte sie sich die Tränen weg.

«Ich habe Klaus zur ‹13› gebracht, ich habe ihn mit Frieder zusammengebracht. Klaus hat in Düsseldorf Grafik und Design studiert, und irgendwann ist Frieder mit der Idee gekommen, eine eigene Werbeagentur zu gründen. Klaus hat die gesamten Ersparnisse seiner Eltern reingesteckt und sich Tag und Nacht den Arsch aufgerissen – entschuldigen Sie.»

«Hat Seidl auch Geld investiert?»

Sie merkte, wie die Wut in ihr wieder zu toben begann. «Das behauptet er, aber ich habe keine Unterlagen darüber gefunden.»

«Weiter.»

«Klaus war der Kreative von den beiden – er war brillant –, und Frieder hat sich um die Akquise gekümmert. Nach einer Weile fing der Laden an zu laufen, und Klaus hat sein Studium abgebrochen. Und da geht Frieder hin und verscherbelt die Firma an eine Düsseldorfer Agentur. Klaus’ Ideen, all seine Entwürfe für Kampagnen, die Kundenkartei, alles weg! Und er hat keinen Cent gesehen, weil …»

«Weil es keine Verträge gab.»

«Ja, es gab überhaupt nichts Schriftliches, nichts war geschützt, wir konnten nichts tun. Und dann …» Sie schluchzte auf. «Er kam nicht zur Probe, ich habe immer wieder angerufen, aber er war nicht da. Dann kam die Polizei und sagte, er sei tot. Mit dem Auto gegen einen Brückenpfeiler, und es gab – keine Bremsspur.»

Toppe fasste ihre Hand mit dem zerknüllten Taschentuch und drückte sie sacht. «Und Sie sind dennoch bei der ‹13› geblieben, haben dennoch weiter mit Frieder zusammengearbeitet?»

«Ich musste doch weiterleben, das waren meine Freunde …»

Er gab einen Laut von sich, den sie nicht einordnen konnte.

«Eines verstehe ich nicht. Wieso sind Sie auf Patricia losgegangen und nicht auf Frieder?»

«Ich weiß nicht, vielleicht, weil sie gesagt hat, dass unser Name nie geschützt war und dass sie ihn jetzt haben schützen lassen. Dabei hat sie über unsere Dummheit gelacht.»

 

Haferkamp stand am Fenster. Die Taucher hatten die Tatwaffe anscheinend nicht gefunden, denn wieder durchkämmten Polizisten den Park und die angrenzenden Felder.