Zehn
Es war Sibylle, die das gereizte Schweigen beim Essen nicht länger ertrug.
«Ich habe übrigens tolle Neuigkeiten. Heinrich weiß es schon.» Sie warf Walterfang, der ihr gegenüber saß, einen verschwörerischen Blick zu. «Man hat mir einen PR-Job bei SAT 1 angeboten!»
«Wie bist du denn da drangekommen?», fragte Maria atemlos.
«Keine Ahnung, sie haben mich einfach angerufen. Die brauchen jemanden für ein neues Format, das im März nächsten Jahres starten soll.»
«Und was soll das sein?», wollte Möller wissen.
«Richtig konkret sind sie nicht geworden, aber am 10. November habe ich ein Gespräch.»
«Du hast dich nicht beworben?»
Sibylle feixte. «Nö, aber ganz unbekannt bin ich in der Branche schließlich nicht.»
Möller schüttelte missbilligend den Kopf. «So was habe ich ja noch nie gehört.»
Walterfang lachte leise. «Da kann doch nur einer dahinter stecken. Gib’s schon zu, Frieder.»
Seidl fuchtelte abwehrend mit seinem Besteck und schluckte den Bissen, den er im Mund hatte, herunter. «Ich wollte, es wäre so, aber damit hab ich wirklich nichts zu tun.»
Haferkamp saß am Tischende neben Kai Janicki. Sie hatten beide Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat bestellt, aber während Haferkamp genüsslich aß, stocherte Kai nur geistesabwesend auf seinem Teller herum.
«He, Kai», rief Walterfang, «wenn du dein Essen nicht mehr schaffst, hier sitzt ein williger Abnehmer.» Er hatte sein Hirschragout mit Wirsing in Windeseile verspeist.
Janicki stand auf, reichte ihm wortlos den Teller herüber und ging hinaus auf die Terrasse.
Haferkamp folgte ihm. Im Haus war Rauchverbot, und bevor sie sich wieder in Klausur begaben, wollte er sich noch schnell eine Zigarette gönnen.
Als er sah, dass Kai in sein Handy sprach, zog er sich an das entgegengesetzte Ende zurück, aber sein Freund hatte das Gespräch schon beendet.
«Und? Alles in Ordnung mit Bettina?», fragte Haferkamp.
Janicki zögerte. «Nein», sagte er dann, «es geht ihr sehr schlecht. Wenn ihre Eltern nicht zu uns gekommen wären, hätte ich überhaupt nicht fahren können.» Er verstaute das Handy in der Hosentasche. «Seit wann rauchst du eigentlich wieder?»
«Seit ein paar Wochen.»
«Gibst du mir auch eine?»
Haferkamp hielt ihm die Schachtel hin und gab ihm Feuer.
«Danke.» Kai schaute ihn nachdenklich an. «Ich weiß auch nicht, was diesen Schub ausgelöst hat. Eigentlich hatte sie sich gut erholt, aber am Mittwoch ging’s plötzlich wieder los, und zwar massiv.»
Haferkamp fasste sich ein Herz. «Wie hat sie es eigentlich aufgenommen, dass sie so sang- und klanglos durch Patricia ersetzt worden ist?»
Janicki sah blicklos in die Ferne. «Eigentlich ganz locker. Sie meinte, sie sei ja ohnehin nur die Ersatzfrau gewesen, und jetzt müsste sie sich wenigstens nicht mehr mit dem Lampenfieber rumplagen.»
«Ersatzfrau?», wunderte Haferkamp sich und drückte seine Zigarette in einem Blumenkübel aus. «Sie war immerhin dreiundzwanzig Jahre dabei.»
«Schon.» Kai machte es ihm nach und versteckte die beiden Kippen unter den Erikapflanzen. «Ich weiß nicht, vielleicht gerät sie auch in Panik, wenn ich wegfahre, und dann geht’s wieder los. Das war auch letztes Mal so.»
«Als du mit Dagmar bei mir warst, um das Programm durchzugehen?»
«Ja.»
«Hm …»
Die anderen warteten schon.
«Ich habe mir das Ganze durch den Kopf gehen lassen», begann Kai sofort. «Wir können nicht über die Sketche abstimmen, solange wir kein vernünftiges Konzept haben. Wir müssen uns erst einmal anschauen, welche Themen wir jeweils behandelt haben, und dann sehen, welches Motto sich daraus ergibt. Hat sich irgendjemand schon Gedanken darüber gemacht, wie das Programm heißen soll?»
Rüdiger schnitt ihm das Wort ab. «Bevor wir uns darüber unterhalten, muss ich erst mal was loswerden. Ich stimme dir übrigens voll und ganz zu, Kai, es wird Zeit, dass wir, genauso wie sonst auch, die inhaltlichen Aussagen diskutieren. Es ist doch total Scheiße, was hier abgeht, Listen machen, drei ernste, drei doofe. Ich bin doch hier nicht bei ‹Indisch Atmen›, wir sind doch keine gottverdammte Selbsthilfegruppe.» Seine Stimme blieb ganz beherrscht.
Sozialpädagoge, dachte Haferkamp.
«Aber was anderes», fuhr Rüdiger fort. «Bisher hatte ich hier immer das Gefühl, dass ich über mich selbst bestimmen kann, aber es scheint sich etwas Grundlegendes geändert zu haben. Wieso, Frieder, buchst du ohne jegliche Absprache vierzehn Tage am Stück? Und woher nimmst du dir das Recht zu bestimmen, wer wann anreist? Wenn du auf einmal den Boss raushängen lassen willst, dann mach eine klare Ansage, darauf können wir uns einstellen.»
Sibylle reagierte als Erste. «Wenn das ein Versuch werden soll, den Konflikt, der sich hier anscheinend aufgebaut hat, gruppendynamisch und demokratisch zu lösen, finde ich deine Wortwahl aber reichlich daneben.»
Aber Frieder reagierte gleich. «Tut mir Leid, ich verstehe ja, dass einige von euch sauer sind, aber bei mir ging in letzter Zeit echt alles drunter und drüber. Wisst ihr, unser Entschluss zu heiraten kam sehr spontan. Kaum hatten wir darüber gesprochen, da saßen wir schon im Flieger nach Vegas. Ich habe nur versucht, auf den letzten Drücker alles trotzdem noch irgendwie zu organisieren.»
«Das hättest du delegieren können», meinte Haferkamp. «War schließlich sonst auch nie ein Problem.»
«Kommt, Kinder, macht mal halb lang.» Dagmar hob beschwichtigend die Hände. «Für mich ist es offensichtlich, dass wir wegen dieser dämlichen Fernsehaufnahmen ganz schön unter Druck stehen, und zwar alle. Das gefällt mir nicht. Ich denke, wir sollten das für den Moment ausblenden und so locker wie immer an die Sache herangehen.»
Maria lachte auf. «Die Macht der Medien. Sagt mal, wieso können die uns überhaupt vorschreiben, dass wir nur sechs Stücke aus den alten Programmen spielen dürfen?»
«Das tun sie doch gar nicht», antwortete Frieder ungeduldig. «Sie zeichnen nur sechs auf. Auf der Tour können wir so viele spielen, wie wir wollen.»
«Und warum haben wir dann nur sechs ausgesucht?», fragte sie katzig.
«Hört doch endlich auf!» Heinrich Walterfang kämpfte mit den Tränen. «Habt ihr denn alles vergessen? Habt ihr tatsächlich vergessen, wie toll es mit uns war all die Jahre? Wir sind zusammen in Urlaub gefahren, wir haben Freundschaften fürs Leben geschlossen …»
Maria, die neben ihm saß, tätschelte ihm die Hand, und er nickte dankbar.
«Sogar eine Ehe ist daraus hervorgegangen. Ich weiß, einige von euch finden mein Junggesellendasein seltsam, und ein paar teilen meine politischen Ansichten nicht, aber das ist für mich nie ein Problem gewesen.»
Haferkamp litt still vor sich hin, aber Walterfang war noch nicht fertig.
«Für mich …» Er schluckte hart. «Für mich war die Gruppe identitätsstiftend, versteht ihr? Mein Gott, was haben wir zusammen schon für Riesenerfolge gefeiert! Und ich sage euch, wenn wir uns auf den echt professionellen Weg begeben hätten, dann wären wir ganz oben, dann hätten wir längst eine eigene Fernsehshow. Und jetzt geht ihr hin und macht alles kaputt. Das könnt ihr doch nicht tun. Ihr könnt doch nicht alles wegwerfen.»
Endlich unterbrach Frieder ihn. «Du hast ja Recht, Heinrich. Wir sind schon ein ganz besonderer Haufen, und ich bin sicher, keiner von uns stellt unsere Freundschaft in Frage. Jetzt lasst uns endlich diesen leidigen Konflikt vom Tisch räumen. Weißt du, Martin, im Grunde bin ich der gleichen Ansicht wie du. Du kannst nicht ernsthaft glauben, dass mir dieser seichte Mist gefällt, der sich heute Kabarett schimpft. Aber wir können auch die Augen nicht davor verschließen, dass die Zeiten sich geändert haben. Wir leben nicht mehr in den Siebzigern. Ich fürchte, auch wir müssen uns ein wenig anpassen, wenn wir mithalten wollen. Da stellt sich mir die Frage: Ist es nicht besser, scheinbar mit dem Strom zu schwimmen – auf hohem Niveau natürlich – und die Dinge von innen heraus zu verändern?»
Martin Haferkamp holte Luft, aber Dagmar fuhr sofort dazwischen: «Jetzt halt dich mal zurück, Martin. Ich denke, so langsam kristallisiert sich heraus, worum es eigentlich geht. Ich schlage vor, dass ihr beide, Frieder und du, einen langen Spaziergang miteinander macht. Dann kehrt hier vielleicht endlich Frieden ein.»
«Du hast ’n Vogel», sagte Haferkamp und wunderte sich, wie sehr es ihn traf, dass sie ihn derart in den Regen stellte.
«Allmählich könnten wir von der persönlichen Schiene runterkommen», sagte Kai. «Das politische Kabarett steckt seit Jahren in der Krise, das ist wahrhaftig nichts Neues.»
«Ach was», fuhr Frieder dazwischen. «Politisches Kabarett, literarisches Kabarett, Comedy, dieses Schubladendenken ist doch ein typisch deutsches Nachkriegsproblem, genauso wie die Trennung von E- und U-Musik. Das hat es in England zum Beispiel nie gegeben. Wir können froh sein, dass diese Grenzen endlich aufweichen, es ist wahrhaftig höchste Zeit.»
Haferkamp lachte kurz auf. «Wie bitte? Comedy als Überwindung des nationalsozialistischen Traumas? Einen größeren Bockmist hab ich noch nie gehört.»
Kai warf ihm einen scheinbar kritischen Blick zu, aber er sah das Schmunzeln in den Augenwinkeln.
«Nun ja, es stimmt», meinte der, «das Kabarett befindet sich im Wandel. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass auch wir uns verändert haben. Mittlerweile sind wir alle etabliert.»
«Willst du damit sagen, wir sind nicht mehr hungrig genug?», fragte Dagmar. «Das sehe ich aber anders.»
«Mag sein, ich bin mir nicht so sicher. Ich weiß nur, dass ich um etliche Illusionen ärmer bin und sicher nicht mehr der große Weltverbesserer wie vor zwanzig Jahren. Aber was solls. Wenn ich mir unser aktuelles Material anschaue, wie wär’s mit dem Titel: ‹Zwischen arm und selig›?»
«Super!», rief Sibylle. «Echt super, passt irgendwie zu allem, was ich gelesen habe. Lasst uns ein paar Pullen Wein köpfen.»
Sie stieß auf wenig Gegenliebe, aber das machte ihr nichts aus. «Hast du die Bush-Pantomime schon drauf, Kai? Die ist bestimmt zum Schreien.» Sie kicherte. «Fällt die eigentlich unter ‹seriös› oder ‹primitiv›? Komm, lass sehen. Vielleicht bringt das ja ein bisschen Leben in die Bude.»
«Wir wissen doch noch gar nicht, ob wir die ins Programm nehmen», knurrte Möller.
«Natürlich kommt die ins Programm», fuhr Frieder ihn an. «Das ist eine Supernummer. ‹Zwischen arm und selig› gefällt mir übrigens sehr.»
Martin Haferkamp konnte nicht einschlafen, obwohl er hundemüde war.
Sie gingen ihm alle auf die Nerven: Sibylle, die immer überkandidelter wurde, der missgünstige Möller mit seiner herrischen Maria. Und dann Dagmar – sicher, sie war schon immer ihre ‹Miss Harmony› gewesen, aber doch noch nie auf seine Kosten.
Vielleicht waren dreißig Jahre einfach genug. Vielleicht sollte er nach der Jubiläumstour aussteigen und etwas ganz anderes machen. Er spielte schon lange mit dem Gedanken, einen kleinen Verlag zu gründen und eigene Sachen zu veröffentlichen, neuen Autoren die Gelegenheit zu geben, sich zu äußern, Schräges, Skurriles, kein Mainstream. Vielleicht hatte Kai Lust, mit einzusteigen, das konnte er sich gut vorstellen.
Sie hatten es tatsächlich noch geschafft, das Programm zusammenzustellen. Sibylle hatte dabei zwei Flaschen Wein niedergemacht, alle anderen hatten sich an Nichtalkoholisches gehalten, das Eis war zu dünn, als dass man sich hätte gehen lassen können.
‹Zwischen arm und selig› war kein schlechtes Programm, aber sie hatten schon rundere gehabt. Das lag sicher auch daran, dass Frieders Handschrift fehlte. Seine Sketche hatten eine besondere Leichtigkeit, sie waren gekonnt, und er schrieb sie fast mit links. Das hatte er oft erlebt, wenn sie auf die Schnelle noch einen Kracher brauchten. Wieso war Frieder so aus dem Tritt, dass er nichts mehr zustande brachte?
Hansjörgs Texte waren nicht annähernd ein Ersatz. Den ‹Griechischen Wein› bekam er immer noch nicht runter, aber daran konnten sie bei den Proben hoffentlich noch arbeiten.
Um Viertel vor eins waren sie endlich fertig geworden und bis auf die überdrehte Bylle und Walterfang, der den ganzen Abend fast fieberhaft den großen Versöhner gegeben hatte, todmüde. Frieder hatte trotzdem noch seinen Laptop eingeschaltet und die Texte des neuen Programms rundgemailt. Johanna musste sich Gedanken zum Bühnenbild machen und das entsprechende Equipment besorgen, ebenso Bärbel, die sich um die Kostüme kümmerte. Die beiden würden am Freitag mit einem Kleinlaster anrollen und unterwegs noch Hartmut und sein Piano einsammeln.
Haferkamp fühlte sich klebrig.
Wenn er jetzt duschen ging, würde er das halbe Haus aufwecken, sicherlich Dagmar im Zimmer auf der anderen Seite.
Er tat es trotzdem.