Sechs

Die Vergrößerung eines Fotos vom Kleinkunstfestival in Essen, das musste 1980 gewesen sein, alle Mitwirkenden auf der Bühne beim großen Finale.

Haferkamp musste unwillkürlich grinsen, als sein Blick auf die platinblonde Frau mit den Silberstiefeln fiel. An ihren Namen konnte er sich nicht erinnern, wohl aber an ihren grottenschlechten Auftritt, eine schlüpfrige Nummer auf Stammtischniveau. Die Dame war es nicht müde geworden zu erzählen, dass sie schon einmal im Fernsehen aufgetreten war, und hatte jedem, der nicht rechtzeitig die Beine in die Hand genommen hatte, ihre Autogrammkarte aufgedrängt. Schon bei den Proben hatte sie sich aufgeführt wie eine Diva, dem Veranstalter eine armlange Cateringliste präsentiert – Haferkamp hatte bis dahin nicht einmal gewusst, dass es so etwas gab –, am Maskenbildner herumgenörgelt und die Kollegen schikaniert. Alle hatten zähneknirschend den Mund gehalten.

Und dann Dagmar, ausgerechnet die gutmütige, nette Dagmar. Sie hatten hinter der Bühne auf das Finale gewartet, die Diva nervös trippelnd im blauen Kostümchen und mit blitzenden Silberstiefeln.

Dagmar, entspannt an der Wand lehnend, die Ruhe in Person. «Silberne Stiefel …», hatte sie versonnen gemurmelt.

Die Diva hatte an ihrem Revers herumgezupft und ein wenig atemlos gelacht. «Ja … ja. Gefallen sie dir nicht?»

«Nun ja, ich würde so was nie anziehen, aber … zu dir passen sie.» Freundliches Lächeln.

Die Diva hatte gekichert. «Die hat mir eine Freundin geschenkt. Kommen aus Italien.»

«Nichts anderes hätte ich erwartet», war es leichthin zurückgekommen.

Unterdrücktes Prusten aus verschiedenen Ecken.

Die Diva bekam einen fleckigen Hals, wollte sich abwenden, aber Dagmar hatte leise gelacht. «Irgendwie erinnerst du mich an ‹Flash Gordon›.»

Auch die Diva hatte wieder gelacht, verwirrt, aber hoffnungsfroh. «Ja? Witzig … aber eigentlich, wenn ich ehrlich bin, ich weiß gar nicht … Wer ist denn das, ‹Flash Gordon›?»

Und Dagmar just in dem Moment, als der Moderator die Diva auf die Bühne bat: «Das ist eine Comicfigur.»

Haferkamp erinnerte sich an den lautlosen Applaus der anderen hinter der Bühne, an Dagmars unschuldiges Gesicht und an seine Erleichterung, dass er sich nie eine Frau zum Feind gemacht hatte, damals jedenfalls noch nicht.

Sein Magen knurrte, und er schaute auf die Uhr. In einer Viertelstunde würde sein Lieblingsgrieche öffnen, aber nach dem schönen Abend gestern mit Dagmar und Kai stand ihm eigentlich der Sinn nicht nach einem einsamen Essen im Restaurant, schon gar nicht an einem Sonntag, wenn alle in Familie machten und schlecht erzogene Fünfjährige zwischen den Tischen herumflitzten. Auf ein Butterbrot oder Eier mit Speck hatte er auch keine Lust.

Wenn er jetzt eine Zigarette rauchte, wäre der Hunger für eine ganze Weile vergessen.

Er betrachtete seine Hände – Wurstfinger – und kniff sich in den Bauch, mindestens zwölf Kilo hatte er zu viel drauf, und Übergewicht in seinem Alter war sicher gefährlicher als Rauchen.

Monika hatte jahrelang an die vierzig Zigaretten am Tag geraucht, bis zu dieser ‹Wellnesswoche› in einem sündteuren Hotel mit irgendwelchem fernöstlichen Tingeltangel. Danach war sie zur militanten Nichtraucherin mutiert. Wenn er von einem Doppelkopfabend kam, hatte sie alle Fenster aufgerissen und manisch seine Kleider in die Waschmaschine gestopft, er hatte duschen und sich gründlich die Haare waschen müssen, bevor er ins Bett durfte. Schließlich hatte es ihm keinen Spaß mehr gemacht.

Er überlegte, ob er zum Automaten an der Post laufen sollte, aber es goss in Strömen, und außerdem bevorzugte er eine edle englische Marke, die man nur beim Tabakhändler bekam. Morgen vielleicht. Wieder schaute er auf die Uhr. Die Fotos von 1980/81 würde er noch sichten, dann würde er sich eine Pizza kommen lassen, mit Salami, Oliven und Sardellen. Ihm war nach etwas Salzigem nach all dem Wein und Tequila letzte Nacht. Er sollte wieder einmal ein bisschen kürzer treten, also nur ein Bier zum Essen heute. Ausnahmsweise würde er vorm Fernseher essen. Kam sonntags nicht immer ein ‹Tatort›? Normalerweise mochte er keine Krimis, las auch keine, wenn es sich vermeiden ließ, aber heute war ihm nach etwas Anspruchslosem. Eine Programmzeitschrift hatte er nicht, brauchte er auch nicht, schließlich wusste er, wann die Nachrichtensendungen liefen, und was Kulturprogramme anging, hielt ihn Frau Moor auf dem Laufenden.

Monikas Woche wurde vom Fernsehprogramm bestimmt. Mit den Jahren waren immer mehr ‹Lieblingssendungen› hinzugekommen, zum Schluss war die Kiste jeden Abend gelaufen und am Wochenende fast rund um die Uhr.

Der Regen war noch dichter geworden. Er stand auf, um das Licht einzuschalten und die Fenster zu schließen. Obwohl er stundenlang gelüftet hatte, hing Walterfangs fauliger Körperdunst immer noch in der Luft.

Ob der tatsächlich zu Sibylle gefahren war? Womöglich freute sie sich sogar über den Besuch, die beiden schienen sich zu verstehen.

Ihm lief ein Schauer über den Rücken. Sibylle hatte ihn schon immer irritiert. Was auch immer sie tat oder sagte, es war stets zu viel, zu laut, zu schrill. Wenn sie ihre Haarfarbe wechselte, dann von pechschwarz zu weißblond, und wenn sie auf damenhaft machte, trug sie die Schminke pfundweise auf und zwängte sich in Kostüme mit dicken Goldknöpfen, gemusterte schwarze Nylons und Lackstilettos. Sie sprach entweder mit dunklem, rauchigem Timbre oder mit einer zuckrigen Kleinmädchenstimme. Und immer lag eine versteckte Anklage in ihrem Blick.

Er hielt sie möglichst auf Abstand, denn er war sicher, wenn man ihr Aufmerksamkeit schenkte, verschlang sie einen mit Haut und Haar. Auf der Bühne war sie bestenfalls mittelmäßig, dennoch hätschelte Frieder sie, indem er in seine Sketche für sie gern die Rolle der Frau einbaute, die klug und gleichzeitig umwerfend sexy war. Selbstverständlich hätschelte er sie, schließlich verfügte Sibylle über wichtige Kontakte. Sie arbeitete im Kultusministerium als ‹persönliche Assistentin› des Ministers, was vermutlich eine nette Umschreibung für ‹Sekretärin› war.

«Zeitungsartikel», schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Daran waren die Fernsehleute bestimmt auch interessiert.

Er rollte mit dem Stuhl zur Seite und zog einen schmalen Ordner aus dem Regal. Er hatte nur die wichtigsten Artikel aufbewahrt, die Berichte aus Lokalteilen und Käseblättern interessierten ihn nur am Rande, die fielen eher in Walterfangs Ressort, aber auch Frieder sprach manchmal von seinem lückenlosen ‹Archiv›. Eine Weile blätterte er hin und her, las einzelne Passagen noch einmal und wählte schließlich eine Besprechung ihres 98er Programms in der ‹Zeit› aus, die anlässlich ihrer zweiten Nominierung zum ‹Deutschen Kleinkunstpreis› erschienen war.

Dann nahm er sich die Fotos vor: der Beginn des Iran-Irak-Krieges, die Attentate auf Reagan und den Papst, Prinz Charles heiratet Diana, John Lennon wird erschossen.

Der kabarettistische Blick auf die Ereignisse der Welt war ihnen immer Programm, ja Pflicht gewesen. Was auch immer passierte, sie, zumindest die Schreiber unter ihnen, hatten schon den Kommentar im Kopf.

Hatte ihn das abgestumpft, zynisch gemacht? «Du lässt doch gar nichts an dich heran!» Wie oft hatte Monika ihm diesen Satz oder Variationen davon um die Ohren gefetzt?

Es war wohl eher andersherum: Man brauchte eine gewisse Abgeklärtheit, Gelassenheit und Autonomie, um Kabarett zu schreiben.

Autark war er schon sehr früh gewesen, er hatte es werden müssen.

Die Ehe seiner Eltern war unerträglich gewesen, kein Miteinander, kein Verständnis oder Verzeihen, keine Wärme, kein Respekt auf beiden Seiten, nur ein ständiger Kampf um Machtanteile. Streiten, Schreien und als gegenseitige Bestrafung tage-, wochenlanges Schweigen. Und im Hintergrund die Oma, die Mutter seiner Mutter, die alles kommentierte und wenn opportun, ihrer Tochter die Stange hielt.

Der wilhelminische SA-Vater, die Trümmerfrau-Mutter, die sich nicht fügen wollte. Der Mann, der sich getäuscht und auf ganzer Linie versagt hatte, die Frau, die daraus neuen, unverhofften Selbstwert lieh. Die perfekte deutsche Hausfrau natürlich, Wäsche, Wohnung, Essen, alles tipptopp und prächtige Kinder. Aber zwei Jungen eben, und Männer schätzte seine Mutter nicht.

Sein Bruder, sieben Jahre älter als er, hatte sich so früh wie möglich vom Acker gemacht. Bis heute hatten sie fast keinen Kontakt.

Nach außen hin alles makellos, blitzblanke Fenster, die Wäsche auf der Wiese gebleicht und immer arbeitsam und fromm. Wenn jemand da war, küsste sie ihn sogar mit harten, trockenen Lippen.

Männer mochte sie schon, auf eine gewisse Weise, aber das hatte sich ihm erst erschlossen, als er erwachsen gewesen war und sich die Blitzlichtaufnahmen zu einem großen Bild gefügt hatten: wie sie sich im Elternschlafzimmer eine Unterhose anzieht und der Maklerfreund seines Vaters mit rotem, grinsendem Kopf daneben steht, wie der elsässische Vetter seines Vaters eilig das Haus verlässt, während sie am Spülbecken steht und sich untenrum wäscht, grobe Hände unter Pullovern, nestelnde Finger am Hosenschlitz.

Er blieb immer unbemerkt, er war ja nur ein Kind. Vaters Misstrauen, der Verdacht, die mächtigen, hilflosen Wutexplosionen, ihr vorwurfsvolles Leiden – warum bin ich nur so gestraft – und doch versteckter Triumph.

Macht, um etwas anderes war es nie gegangen.

Er rieb sich die Augen und griff zum Telefon, die Nummer des Pizzataxis kannte er auswendig. Dann holte er ein Set, Teller und Besteck aus der Küche und deckte den Wohnzimmertisch. Das Bier konnte warten. Gähnend und ziemlich lustlos suchte er die restlichen Fotos zusammen.

Wieder ein gemeinsamer Urlaub, die gesamte ‹13› diesmal und einige Freunde, einundzwanzig Leute, Camping in Cornwall. Es waren drei schöne Wochen gewesen, keine Dramen, kaum Missstimmungen, was sicher auch Klaus’ Verdienst gewesen war.

Es versetzte ihm einen scharfen Stich, als er in das jungenhafte, fröhliche Gesicht blickte. Klaus Schröder, Sibylles Verlobter. Klaus war der Einzige von ihnen, der nicht an der Uni Duisburg war. Er hatte in Düsseldorf Grafik und Design studiert, aber Sibylle und er waren schon zu Schulzeiten ein Paar gewesen, und als sie zur Gruppe stieß, hatte sie ihn einfach mitgebracht. So war er ihr 13. Mann geworden, das Tüpfelchen auf dem ‹i›. Eine Bereicherung, ein Geschenk, sein Einfallsreichtum hatte sogar Frieder Respekt abgerungen.

Sie mussten so im vierten oder fünften Semester gewesen sein, als die beiden, Frieder und Klaus, auf die Idee kamen, eine eigene Werbeagentur zu gründen. Keine Ahnung, woher sie das Startkapital genommen hatten, aber von Anfang an waren sie ein sehr starkes Team gewesen, Klaus das kreative Genie, Frieder der Mann fürs Geschäftliche. Schon nach ein paar Monaten fing ihr Laden an zu laufen, und Klaus hatte sein Studium abgebrochen und sich ganz auf die Firma konzentriert. Es waren harte Zeiten für ihn gewesen, vierzehn, sechzehn Stunden Arbeit pro Tag in der Agentur, die Zeit für die ‹13› hatte er sich dennoch immer abgeknappst.

Haferkamp wusste noch genau, wie sauer er gewesen war, als sie sich an diesem Freitagabend im Audimax die Beine in den Bauch gestanden hatten, weil sie ohne Klaus nicht mit den Proben anfangen konnten. Sibylle war immer wieder zur Telefonzelle gelaufen und hatte vergeblich versucht, ihn zu erreichen.

Dann waren die beiden Polizisten gekommen: mit dem Auto frontal gegen einen Brückenpfeiler, keine Bremsspuren.

An die nachfolgenden Wochen hatte er nur verschwommene Erinnerungen. Wie im Fieber hatten sie alle an der Aufführung gearbeitet. Jeden Abend bis zum Umfallen geprobt, Bettina als Ersatzfrau eingearbeitet, und Sibylle war der stärkste Motor gewesen.

Über die fehlenden Bremsspuren wurde niemals gesprochen. An die Beerdigung erinnerte er sich, als wäre es gestern gewesen.

Frieder hatte nicht dabei sein können, er war in die Geschäftsleitung einer großen Düsseldorfer Agentur aufgenommen worden und leider unabkömmlich.

 

Sibylle Langenberg blieb benommen mit dem Telefon in der Hand sitzen.

Das konnte nur ein Traum sein. Sat1 wollte sie als Assistentin in den Public Relations für ein neues Format! Und sie hatte sich wie der letzte Trottel aufgeführt, mehr als ‹ja› und ‹danke› hatte sie nicht herausgebracht. Man würde ein Angebot schicken und dann wieder an sie herantreten.

Verdammt, sie hatte keine einzige Frage gestellt. Um welches Format ging es eigentlich, und wie, zum Teufel, waren sie ausgerechnet auf sie gekommen?

Nun ja, in den letzten Jahren hatte sie einen großen Teil der Pressearbeit für die ‹13› gemacht, ihr Name war mittlerweile nicht mehr ganz unbekannt in der Branche. Und dieses Jahr hatte Frieder ihr die komplette Public Relations anvertraut, plötzlich Knall auf Fall, weil sie Erfahrung hatte, klar, und weil sie wusste, welche Knöpfe sie drücken musste.

Die Maschine ‹13› am Laufen zu halten kostete viel Zeit und Energie, und in den letzten Wochen war es ihr, neben ihrem normalen, auch nicht gerade leichten Job fast zu viel geworden. Doch dieser Anruf gerade bewies ja, dass es sich lohnte, jede halbwegs freie Minute in das Projekt zu stecken.

Frieder und sie hatten die ‹13› ganz nach oben gebracht. Erst am Freitag hatte der Minister sie gebeten, für ihn vier Karten in der ersten Reihe für die Premiere zu reservieren. Das fiel eigentlich in den Bereich des Veranstalters, aber ein Anruf hatte selbstverständlich genügt. Die Premiere war zwar bereits ausverkauft, aber man hielt immer ein paar VIP-Karten zurück.

Sie fuhr hoch, als es klingelte. Noch eine Überraschung?

«Bylle?»

«Heinrich! Mensch, das ist ja süß!»

Walterfang betrachtete sie missbilligend. «Ich hätte dich fast nicht erkannt!»

Sie lachte hell und drehte sich einmal um sich selbst, dass die neue Frisur nur so flog, asymmetrisch, links ganz kurz, rechts fiel ihr eine blauschwarze Strähne ins Gesicht.

«Total super, nicht?»

«Blond und lang fand ich besser», brummelte er.

«Ts, typisch Mann! Aber jetzt komm schon rein.»

Er schaute sich neugierig in dem kleinen Einzimmerappartement um. «Du haust ja immer noch in dieser Winzbude.»

«Klar, bei den Mieten hier.» Sie tippte sich mit dem Ringfinger auf die Lippen. «Aber wer weiß, vielleicht kann ich mir ja bald was Größeres leisten.»

«Hört, hört, gibt’s da etwas, das ich nicht weiß?»

Sie erzählte es ihm.

«Sat1? Da steckt bestimmt Frieder dahinter», sagte er achselzuckend.

«Meinst du? Was hat der denn mit Sat1 zu tun?»

«Keine Ahnung, er kennt doch jeden. Sag mal, hast du was zu essen da? Ich komm um vor Kohldampf.»

«Nur Brot und Aufschnitt, zum Kochen fehlt mir einfach die Zeit. Gerade jetzt, wo Frieder mich mit dem ganzen Kram allein gelassen hat.»

Er folgte ihr in die Küche und schaute zu, wie sie den Tisch für ihn deckte.

«Vor dem Essen Händewaschen nicht vergessen», trällerte sie.

Walterfang ließ sich auf den einzigen Stuhl fallen.

«Ehrlich, Heinrich, du müffelst.»

Er starrte sie finster an. «Bleibt nicht aus. Meine Frau Mutter weigert sich neuerdings, meine Wäsche zu waschen. Und der Waschsalon ist teuer, das kann ich mir nicht so oft leisten.»

Sie blieb gegen den Kühlschrank gelehnt stehen und schaute zu, wie er sich vier Schnitten Brot dick mit Butter bestrich und mit Roastbeef und Rauchfleisch belegte. «Vielleicht ein Bier dazu?»

«Aber immer. Isst du nichts?»

«Hab schon.»

«Sag mal, könnte ich vielleicht heute Nacht bei dir pennen?»

Sie fuhr zusammen. «Äh, ja, bloß wo? Ich habe kein Gästebett.»

«Aber ’n schönes, großes Doppelbett hast du.»

«Heinrich …» Sie lachte unsicher. «Ich …»

«So hab ich das doch gar nicht gemeint», brauste er auf. «Ich habe bloß kein Geld für den Zug, und nachts ist Essig mit Trampen.»

«Ich helfe dir aus», haspelte sie. «Wie viel brauchst du? Reichen fünfzig Euro?»

«Könnte knapp hinkommen.» Er stapelte die Brote auf der flachen Hand, nahm die Bierflasche und ging ins Zimmer zurück. «Hier ist es gemütlicher. Schade, dass ich schon so bald wieder los muss, aber nach elf kriege ich am Wochenende in Münster keine Verbindung mehr nach Coesfeld. Dabei hab ich richtig Lust, mich mal wieder auszuquatschen.» Er ließ sich auf das Sofa mit dem indianisch gemusterten Überwurf fallen. «Ich meine, du bist doch auch viel alleine, ne?»

Sibylle setzte sich in den Sessel gegenüber und starrte ins Leere. «Schon, aber das ist nicht das Schlimmste. Es ist mehr diese innere Einsamkeit, die mich fertig macht.»

Walterfang schob sich eine halbe Schnitte in den Mund und grunzte zustimmend.

«Weißt du, seit damals bin ich diese Leere nicht mehr losgeworden. Und ich schaffe es einfach nicht, sie zu füllen.»

Er schluckte, beugte sich vor und nahm ihre Hand. «Ich predige es dir doch schon seit Jahren, Bylle, mach endlich eine Therapie.»

«Ich weiß, ich weiß ja.» Sie umfasste seine Finger, zitterte dabei. «Aber irgendetwas in mir hält an dieser Leere fest, sagt mir, ich habe kein Recht dazu, sie zu füllen.»

«Gott, Bylle, immer wieder, immer noch diese Schuldgefühle. Ich dachte wirklich, das hätten wir hinter uns.»

Sie schüttelte leise den Kopf.

«Bylle, Kind.» Er streichelte ihre Wange. «Du musst endlich loslassen.»

«Das will ich ja, aber ich kann nicht.» Sie schaute ihn wehmütig an.

Er lächelte. «Ich bin immer für dich da, das weißt du.»

«Ich weiß, Heinrich, und das ist verdammt schön. Aber jetzt lass uns von was anderem reden, okay? Das Leben geht schließlich weiter, irgendwie. Ist ja immer irgendwie weitergegangen. Also, hast du eine Ahnung, wo Frieder steckt?»