Dreizehn

Als er am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam, waren fast alle anderen schon da, was ihn nach den Strömen Alkohol, die letzte Nacht geflossen waren, einigermaßen erstaunte.

Man hielt sich schweigend an Mineralwassergläsern fest und pickte an trockenen Brötchen herum. Sicher, sie mussten alle einen gewaltigen Kater haben, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass eher Frieders Enthüllung für diese gedrückte Stimmung verantwortlich war.

Sibylle hatte geweint, ihr Gesicht war verquollen, darüber konnten auch die dicke Schicht Make-up und die zu Fliegenbeinen getuschten Wimpern nicht hinwegtäuschen. Er zuckte die Achseln, belud seinen Teller mit einem Brötchen, Butter, Leberpastete und ein paar Weintrauben, goss sich einen Becher Kaffee ein und wollte sich gerade an den Tisch setzen, als der Hausmeister wie von Furien gehetzt über den Rasen gelaufen kam und im Küchentrakt verschwand.

Alarmiert trat Haferkamp ans Fenster und spähte hinaus in den verregneten Park. Drüben am Teichufer lag irgendein Bündel. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten – das war ein Mensch. Ohne lange zu überlegen, entriegelte er die Terrassentür und lief geradewegs zum Teich hinunter. Er hörte den Hausmeister hinter sich brüllen: «Bleiben Sie da weg!», hörte, dass jemand hinter ihm herlief, aber er drehte sich nicht um.

Der Mann lag mit dem Gesicht nach unten und ausgebreiteten Armen bis zur Taille im Wasser. Entengrütze klebte im kurzen Haar, die linke Hand hatte sich um ein Teichrosenblatt gekrallt.

Es war Frieder.

Haferkamp beugte sich vor, um ihn beim Gürtel zu fassen, geriet ins Rutschen und wurde jäh zurückgezerrt.

«Dem ist nicht mehr zu helfen. Der ist tot.» Der Hausmeister zog ihn mit sich fort.

Verschwommen nahm er die verstörten Gesichter der anderen wahr, jemand wimmerte.

«Treten Sie bitte alle zurück», bellte der Hausmeister. «Die Polizei wird jeden Moment hier sein.»

«Die Polizei? Sind Sie nicht ganz gescheit?» Das war Möller. «Wir müssen den Notarzt rufen. Maria, wo hast du mein Handy?»

Aber der Hausmeister scheuchte sie wie einen Hühnerhaufen vor sich her. «Zurück ins Haus, und zwar alle, sofort!»

Auf der Terrasse hatten sich die Angestellten eingefunden.

Haferkamp hielt nach Hedwig Wegner Ausschau, konnte aber ihr Gesicht in der Menge nicht ausmachen.

Der Geschäftsführer kam gelaufen – «Was ist denn hier los, um Himmels willen?» –, er hatte wohl gerade erst seinen Dienst angetreten. Der Hausmeister nahm ihn beiseite und redete drängend auf ihn ein. «Da war nichts mehr zu machen», endete er schließlich. «Ich hab die Beine gefühlt – eiskalt und steif.»

Maria schnappte nach Luft und stolperte ins Haus. «Mein Gott, er muss ertrunken sein. Der war doch randvoll, der wusste doch nicht mehr, wo oben und unten ist.» Sie fing an zu weinen.

Haferkamp schüttelte den Kopf, aber die Benommenheit wollte nicht weichen. Schließlich ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und legte beide Hände um seinen Kaffeebecher.

«Wo ist Patricia?», fragte jemand leise.

Er hob den Kopf. «Sie ist letzte Nacht zurück nach Düsseldorf. Ich habe ihr noch die Koffer zum Auto getragen.»

«Wir müssen sie anrufen», jammerte Walterfang.

«Nein», antwortete Kai energisch. «Noch wissen wir nichts.»

Dann wurde es wieder still.

Haferkamp sah sich langsam um. Dagmar saß auf einem Hocker beim Fenster und starrte zu Boden, neben ihr stand Kai und hielt sie vorsichtig bei den Schultern. Rüdiger und Möller lehnten mit ausdruckslosen Gesichtern an der Tür, an der Wand Walterfang, dem unablässig die Tränen übers Gesicht strömten, aber er schien es gar nicht zu merken.

Jetzt hörte er Martinshörner, die Wagen näherten sich rasch. Mit bleischweren Gliedern erhob er sich und schleppte sich zur Terrassentür.

Zuerst der fuchtelnde Hausmeister, dann rannten Streifenbeamte und Sanitäter mit schweren Koffern über den Rasen zum Teich hinunter, gefolgt von einem dünnen Mann mit gelben Gummistiefeln und einer viel zu großen signalroten Weste, wohl der Notarzt.

Rüdiger schob Haferkamp grob zur Seite. «Lass mich mal durch.» Nach und nach kamen auch die anderen heraus. Sibylle schlug die Hände vors Gesicht und blinzelte durch die Finger.

Einer der Polizisten schien Fotos zu machen, danach versperrten die Rücken der Männer ihnen die Sicht auf Frieders Körper. Irgendwann sahen sie den Arzt beiseite treten – die Stiefel schwarz von Schlamm – und den Kopf schütteln. Sibylle heulte auf, und Haferkamp merkte, dass er die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Ihm war schwindelig.

Jetzt kamen weitere Leute vom Parkplatz her über die Wiese, sie liefen nicht, blickten ernst und nickten kurz in ihre Richtung.

«Wer sind die?», fragte Rüdiger leise.

«Mordkommission», antwortete Haferkamp.

«Was?», kam es entgeistert von Maria. «Wieso Mord?»

«Ich glaube, die müssen bei unklarer Todesursache immer kommen», sagte Kai.

Haferkamp nickte. Vier Leute vom Klever KK 11, er kannte sie alle. Hauptkommissar Toppe, der Dezernatsleiter, und seine Partnerin, beruflich und privat, Astrid Steendijk, waren seit vielen Jahren Stammkunden. Auch der asketische van Gemmern von der Spurensicherung war ein treuer Käufer in der Hörbuchabteilung – Lesen lag ihm anscheinend nicht so. Den vierten im Bunde kannte er ebenfalls, Josef Ackermann, der auf Biographien stand und eine heimliche Schwäche für historische Romane hatte – «Kann ruhig für Frauen sein, je schmökeriger, desto besser, un’ ich heul’ auch schomma gern».

War der Mann nicht eigentlich beim Betrugsdezernat?

Ackermann schien ihn in der Gruppe ausgemacht zu haben, winkte wie wild und strahlte über sein ganzes Schratgesicht. Er trug pinkfarbene Cordhosen, einen in Pink und Marine geringelten Pullover und quietschgelbe Flip-Flops.

Haferkamp hob grüßend die Hand.

«Kennst du den etwa?», fragte Möller.

«Ja.»

«Und der soll Polizist sein?»

«Sicher. Einer der besten, wie ich gehört habe.»

Er sah Toppe mit dem Arzt sprechen, der zuerst nickte, dann eine vage Handbewegung machte. Die Uniformierten fingen an, ein größeres Areal mit Flatterband abzusperren.

Haferkamp drehte sich weg und tastete seine Taschen nach seinen Zigaretten ab, er musste sie auf dem Frühstückstisch liegen gelassen haben.

Er ging hinein. Sein Kaffee war inzwischen kalt geworden, aber er trank ihn trotzdem, hoffte, dass er so den schalen Geschmack in seinem Mund loswurde.

Dagmar war ihm gefolgt. Sie sah ihn aus tränennassen Augen an, sagte aber nichts. Er machte einen Schritt auf sie zu, doch sie ging an ihm vorbei, goss sich ein Glas Orangensaft ein und trank mit gierigen Schlucken.

«Es ist wohl besser, wir behalten es für uns», sagte er.

«Ja, natürlich», antwortete sie tonlos und goss sich ein zweites Glas Saft ein. Er zündete sich eine Zigarette an und blieb in der Tür stehen. Ein Leichenwagen holperte langsam über die Wiese. Die Kripoleute waren herangekommen.

«Guten Morgen, mein Name ist Toppe, Kripo Kleve, und das ist meine Kollegin, Frau Steendijk. Würden Sie sich bitte eine Weile zu unserer Verfügung halten, wir möchten mit Ihnen sprechen.» Haferkamp kannte ihn nur als Privatmann, hatte ihn noch nie so ernst und ruhig erlebt, seine Stimme klang beinahe fürsorglich. Für Toppe war es genau umgekehrt, dachte er, der kannte den Buchhändler, den privaten Haferkamp hatte er nie getroffen.

Jetzt wandte sich der Polizist an den Hausmeister. «Sie waren es, der den Mann gefunden hat, nicht wahr?»

Der nickte beflissen. «Hetzel», sagte er, «Jürgen Hetzel.»

«Dann kommen Sie bitte kurz mit, Herr Hetzel.»

Astrid Steendijk schaute sich um. «Wer von Ihnen leitet dieses Haus?»

Der Geschäftsführer reckte den Zeigefinger wie ein Schuljunge.

«Sie sind Herr …?»

«Liebeskind, angenehm.»

«Gibt es einen ruhigen Ort, an dem wir uns kurz unterhalten können?»

«Mein Büro vielleicht?»

Er hatte noch nie in seinem Leben mit der Polizei zu tun gehabt, und ihm schlackerten ein wenig die Knie, daran konnten auch die samtschwarzen, freundlich blickenden Augen der Polizistin nichts ändern.

Sie überließ ihm seinen Chefsessel, legte Block und Stift auf den Tisch und setzte sich.

Er bemerkte, dass er an seinen Manschetten herumzupfte, und faltete schnell die Hände.

«Ich habe nur ein paar Fragen», sagte sie beschwichtigend.

«Ja», krächzte er und räusperte sich.

«Sie können mir sicher sagen, wer der Tote ist.»

«Natürlich, es ist einer unserer Gäste, ein Herr Seidl aus Düsseldorf, hat eine Werbeagentur. Er gehört zu den Kabarettisten, die jedes Jahr bei uns logieren und ihr Programm einstudieren», haspelte er. «Soll ich Ihnen seine Adresse geben? Es dauert einen Moment, ich habe den Computer heute noch nicht hochgefahren.» Himmel, er plapperte wie ein Idiot, was mochte sie nur von ihm halten?

«Danke, das können wir später erledigen.» Sie lächelte leicht. «Ich denke, ich kenne die Kabarettisten. Die ‹Wilde 13›, nicht wahr? Unser Buchhändler ist auch bei dieser Truppe.»

«Ach ja, Herr Haferkamp.»

«Wissen Sie, was passiert ist? Haben Sie in der letzten Nacht irgendetwas beobachtet oder gehört?»

«Nein, das konnte ich auch gar nicht, meine Wohnung ist in einem Nebengebäude, ein ganzes Stück vom Schloss entfernt.»

«Wann haben Sie Herrn Seidl zum letzten Mal gesehen?»

«Weiß ich gar nicht genau, irgendwann gestern Nachmittag, als die Leute vom Fernsehen abgefahren sind. Die haben bei uns gedreht.»

«Und wer von Ihren Angestellten ist nachts im Hotel?»

«Keiner. Die Rezeptionistin geht um vier, einen Nachtportier haben wir nicht, und der Hausmeister wohnt außerhalb und geht in der Regel um 17 Uhr. Ich mache um diese Zeit meistens auch Schluss. Anrufe werden danach auf meine Privatleitung gelegt.»

Sie machte sich eine Notiz. «Und nach 17 Uhr sind die Gäste sich selbst überlassen?»

Sollte das ein Vorwurf sein? «Natürlich nicht», verteidigte er sich. «Das Küchenpersonal ist noch da und sorgt für das Abendessen. Die gehen um neun.»

«Und wer gehört alles zum Küchenpersonal?»

«Die Chefin ist Frau Wegner, dann wären da noch Herr Sattler und vier Helferinnen. Sie arbeiten im Schichtdienst.»

«Wer hatte gestern die Spätschicht?»

Liebeskind musste überlegen. «Also, Frau Wegner habe ich gesehen, aber sonst … Die Küche erstellt ihren Dienstplan selbständig, wissen Sie. Ich kann das aber sofort abklären. Ich könnte Ihnen auch eine Liste unserer Angestellten ausdrucken.»

«Prima.» Sie lächelte wieder. «Das machen wir gleich. Wie viele Gäste haben Sie im Moment?»

«Nur die Kabarettleute, also zehn Personen im Augenblick. Die fehlenden drei sollen heute im Laufe des Tages anreisen, wie Herr Seidl mir sagte. Er hat sich um alle Buchungen gekümmert.»

«Sind alle Zimmer auf demselben Flur?»

«Ja, im ersten Stock. Nur Herr Seidl und seine Frau haben ihr Zimmer im zweiten, obwohl …»

«Ja?» Sie sah ihn auffordernd an.

«Nichts, mir ist nur gerade eingefallen, dass ich Frau Seidl heute noch nicht gesehen habe. Warten Sie mal …»

Er stand auf und ging zum Fenster. «Ihr Wagen ist nicht da.»

Auch die Polizistin erhob sich. «Das war’s vorerst. Jetzt möchte ich bitte das Zimmer der Seidls sehen. Und es wäre nett, wenn Sie mir deren Adresse aufschreiben und dafür sorgen, dass wir möglichst bald mit den Küchenleuten von der Spätschicht sprechen können.»

 

Josef Ackermann klopfte Toppe auf die Schulter – «Immer schön die Ohren steif halten, Chef!» – und kam dann schnurstracks auf Haferkamp zu. «Bin ich froh, dat ich nich’ der Boss bin, der muss nämlich jetzt inne Pathologie. Ich würd da sofort flau fallen. Lassen Se uns ma’ ’n Stücksken weggehen», meinte er, nahm Haferkamp beim Arm und schaute ihn traurig an. «Is’ schad’, dat wir uns unter solche Umstände treffen müssen. Is’ dat Opfer ’n Freund von Ihnen?»

Haferkamp schluckte. «Ich kenne Frieder seit dreißig Jahren, er gehört auch zur ‹13›.»

«Ich hab et schon gehört. Seit Jahren wollt ich euch immer ma’ gucken, aber ir’ndwie hat dat nie geklappt.»

«Ist er ertrunken?»

«Sieht ganz so aus. Verstehen Sie dat?»

Haferkamp senkte den Blick. «Er war ziemlich betrunken gestern Abend. Eigentlich waren sie alle ziemlich hinüber.»

«Wie ‹sie›? Sie etwa nich’? Sagen Sie bloß, Sie wären Antialkoholiker. Also, dat hätt ich nich’ gedacht, dat passt gar nich’ zu Ihnen.»

Haferkamp musste grinsen. «Bin ich auch nicht, aber gestern war mir einfach nicht danach.»

«Dat kenn ich. Wann haben Sie denn den Frieder dat letzte Mal gesehen?»

«Das muss gegen Mitternacht gewesen sein …»

«Un’ wat war er da am tun?»

«Er saß mit den anderen im Salon.»

«Un’ hat ’ne Party gefeiert.»

«Kann man so sagen …»

«Da hör ich doch wat anderes raus. Jetz’ ma’ Butter bei de Fische.»

Haferkamp zuckte die Achseln. «Na ja, wir hatten gestern einen ziemlich anstrengenden Tag. Es lief nicht besonders gut mit den Proben, und dann der Zeitdruck. Ich würde sagen, wir waren alle etwas gereizt.»

«Nobel ausgedrückt. Et hat also Zoff gegeben.»

«So würde ich das nicht sagen …»

Ackermann blinzelte ihn unwillig durch seine dicken Brillengläser an. «Sie haben doch wat. Sons’ sind Sie doch ganz anders.» Dann fuhr er sich durchs Haar. «Wird wohl der Schock sein», murmelte er und zog einen Bleistiftstummel und einen Zettel, der aussah wie eine Tankquittung, aus der Hosentasche. «Warten Se ma’, dat muss ich ebkes aufschreiben: Haferkamp – Mitternacht – die anderen. Also, wie war dat? Wat haben Sie denn dann gemacht?»

«Ich bin auf mein Zimmer gegangen. Ich war müde, und ich musste noch Text lernen.»

«Un’ die anderen waren alle noch im Salon?»

«Ich glaube schon.»

«Na, jetz’ strengen Se sich aber ma’ ’n bisken an. Sie waren doch nüchtern.»

«Doch, die waren alle noch da.»

«Konnt der Frieder schwimmen?»

«Ja, natürlich.»

«Dann muss er aber echt einen im Kahn gehabt haben. Un’ die anderen?»

Haferkamp verstand nicht. «Was meinen Sie?»

«Na, ob die anderen wat mitgekriegt haben, wie dat passiert is’.»

«Nicht, dass ich wüsste. Wir sind alle geschockt.»

Ackermann steckte Stift und Zettel weg. «Dat kriegen wir schon noch.»