16. KAPITEL

Die Guten, die Bösen und die richtig Bösen

Eine Minute vor zehn an diesem Abend sah ich vor meinem Fenster das Licht einer Taschenlampe. Coles Signal. Er war da.

Das Gewitter hatte seine Spuren hinterlassen. Der Himmel spannte sich endlos undonyxschwarz über uns, der Boden war nass, dunkel und matschig. Ich hatte die letzten fünf - hüstel, fünfundsechzig, hüstel - Minuten nach Cole Ausschau gehalten und mich gefragt, wie ich ihn bemerken sollte. Nun, jetzt wusste ich es.

Mit fürchterlich schlechtem Gewissen überprüfte ich die Kissen-Ali, die ich unter die Bettdecke gelegt hatte, verließ mein Zimmer, ging auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und zur Hintertür nach draußen. Pops und Nana waren viel älter als meine Eltern und ihre Ohren längst nicht so gut, wie deren gewesen waren. Ich ging das volle Risiko ein, das war mir klar, aber die neuen Regeln ließen mir keine andere Wahl. Ich musste es tun.

Die Tür quietschte in den Angeln, als ich sie öffnete, und ich zuckte zusammen. Ein paar Sekunden wartete ich, horchte. Als alles ruhig blieb, schloss ich ab und schob den Schlüssel in meine Hosentasche. Es war jetzt viel kälter als am Tag, und ich war froh, dass ich ein langärmeliges Hemd, dicke Socken und Stiefel angezogen hatte.

„Hallo, du …“

Unsere Blicke trafen sich und der Rest der Welt verschwand …

… Cole drückte mich an die Schlafzimmerwand, ich schlang die Beine um seine Hüften. Seine Hände umschlossen mein Gesicht, ich schob die Finger in sein Haar. Er hielt mich mit seiner Stärke gefangen und küsste mich, bis ich japsend einatmen musste.

„Alles okay, Prinzessin?“

Prinzessin. Er hatte mich schon einmal Prinzessin genannt, als wäre ich gerade aus einem Märchen entsprungen. Ich schmolz dahin. „Mir geht es gut.“

„Mehr?“

„Bitte.“

Wieder küssten wir uns, diesmal sogar noch wilder, noch inbrünstiger.

Zum ersten Mal störte uns niemand. Die Vision konnte bis zum Ende durchgespielt werden, eine Menge Küsse begleitet von heftigen Atemzügen wurden nach und nach von der Dunkelheit der Nacht und der Stille überblendet. In dieser Dunkelheit erfüllten mich die unterschiedlichsten Empfindungen. Erregung, Sehnsucht, Nervosität. Wir hatten so lange keine Vision mehr gehabt, dass ich schon davon ausgegangen war, sie würden für immer ausbleiben.

Für mich bedeutete das, wir hatten eine Zukunft.

„Warum jetzt?“, sagte er, hier, in der Wirklichkeit.

Hinter ihm ragten die Zaunpfähle auf, neben ihm Bäume. Kaum Mondlicht, keine Taschenlampe, aber ich konnte sein Gesicht genau erkennen. Sein dunkles feuchtes Haar war zurückgekämmt, die violetten Augen strahlten.

„Was hat sich verändert?“

„Ich wahrscheinlich.“ Wie mir bereits klar geworden war, hatte ich ihn unbewusst von mir geschoben, mich gegen ihn gewehrt. Heute, nachdem ich mit Kat gesprochen hatte … Nun, ich war mir nicht sicher, wie viel Zeit ich noch mit ihr haben würde, und ich beneidete sie um die Beziehung mit Frosty. Ich wollte so eine Verbindung zu Cole haben und wusste, ich könnte es wahr machen, wenn ich mich dieser Möglichkeit öffnete.

„Ich bin damit einverstanden. Ich will das“, flüsterte er rau. Es klang so verführerisch und köstlich wie Schokolade. „Was wir gesehen haben.“

„Ich auch“, gestand ich.

„Kennst du mich denn gut genug?“

Ich wusste, er war stark, entschlossen, beschützend, und er sorgte sich eher um seine Freunde als um sich selbst. Er richtete sich nur nach seinen eigenen Regeln. In der Zeit des Wilden Westens wäre er ein Outlaw gewesen. Wir hatten den gleichen Humor.

„Ja“, flüsterte ich. „Ich denke schon. Nicht für Sex“, fügte ich hinzu. „Noch nicht. Aber …“

„Aber mehr als das, was wir bereits haben.“

„Ja.“

„Gut.“

Er nahm meine Hand und führte mich im Dunklen über den matschigen Boden. Ich wusste, dass hier draußen Fallen ausgelegt waren, doch ich konnte sie nicht sehen. Ebenso wenig entdeckte ich irgendwelche Anzeichen für Zombies.

„Einer der Jungs wird jede Stunde euer Haus überprüfen.“

„Danke.“ Coles Jeep parkte wie üblich am Rand des Waldweges. Der einzige Unterschied zum letzten Mal war, dass Bronx nicht hinter dem Steuer wartete. Cole setzte sich auf den Fahrersitz.

Ich schnallte mich an und drehte mich zu ihm um. „Geht es allen gut?“, erkundigte ich mich, als wir über die holperige Straße fuhren.

„Ja, sie erholen sich wieder.“

„Wo war das Nest?“

„Ein Mausoleum auf dem Friedhof.“

„Und sie haben dort … was? Geschlafen?“

Er nickte. „Wir haben die Tür geöffnet, und sie standen nur da und starrten uns an. Sie haben sich nicht mal gewehrt, als wir angriffen.“

„Vielleicht stimmte mit ihnen was nicht.“ Wie zum Beispiel … die Nachwirkung eines für sie giftigen Geistes?

„Kann sein. So was haben wir noch nie erlebt.“

„Dann habt ihr sie ohne Probleme vernichtet?“

„Jawohl.“

Ich hätte wetten können, dass sie es anschließend gefeiert hatten. Bitte eine Mitleidsparty für Ali, weil ich nicht dabei gewesen war. Ich schaute aus dem Seitenfenster und strich mit einer Fingerspitze über die staubige Scheibe, wobei ich eine Linie hinterließ. „Wie haben die Jungen das Nest überhaupt gefunden?“

Cole setzte den Blinker und überholte einen Wagen, dann noch einen.

„Sie waren auf Patrouille und sind dem Geruch nachgegangen, der sogar stärker als sonst war.“

Wir schwiegen beide, sodass ich meinen Gedanken nachhing - die schnell von den Zombies zu Cole wechselten. Ich wusste, wohin er mich brachte. Zu sich nach Hause. Wir würden in sein Zimmer gehen und … dann was? Einfach loslegen? Verdammt! Auch wenn ich vorerst keinen Sex wollte, ich hatte noch nicht „das Gespräch“ mit ihm geführt. Die Dinge könnten außer Kontrolle geraten, oder ich änderte vielleicht meine Meinung.

„Was … glaubt ihr Jäger denn, was Himmel und Hölle sind?“, fragte ich, um etwas zu sagen. „Geht ihr in die Kirche?“

„Ich kann nicht für die anderen sprechen, aber ja, ich gehe zur Kirche. Mit meinem Vater, jeden Sonntag. Und du?“

„Ich auch.“

Wir erreichten unser Ziel, und Cole parkte den Wagen in der Auffahrt. Er stieg aus, kam zu mir herum und half mir hinaus.

„Sei nicht nervös“, sagte er. „Wir werden nichts machen, was du nicht möchtest.“

Das war ja das Problem! Ich wusste nicht, was ich wollte. Jetzt oder nie, dachte ich. „Sind wir denn nun offiziell zusammen? Ich meine, gehen wir miteinander oder treffen wir uns nur?“

Er blieb auf der Terrasse stehen und sah mich an, ein merkwürdiger Ausdruck lag auf seinem Gesicht.

„Ich habe mich wahrscheinlich nicht richtig verständlich gemacht. Wir waren zusammen und haben uns eine ganze Weile nur getroffen. Wir mussten ein paar Dinge ausbügeln.“

Freudige Erregung machte sich bei mir breit, so stark, dass ich zu zittern anfing. „Ach so.“

Einen kurzen Augenblick flackerte Misstrauen und Ärger in seinen Augen auf.

„Hast du dich mit jemand anders getroffen?“

„Nein!“

Sofort verschwand die Wut, trotzdem konnte mich sein Gesichtsausdruck nicht trösten. Ich hatte gedacht, Pops wäre wild entschlossen gewesen, was mein Boxtraining betraf, aber das, was ich bei ihm sah …

„Okay“, sagte ich, „ich wollte mich nur vergewissern.“

„Das nächste Mal vergewissere dich früher.“

Drinnen konnte ich einen kurzen Blick ins Wohnzimmer werfen, bevor er mich den Flur entlangzog. Ich war oft auf dem Gelände gewesen, aber niemals im Haus. Nur immer in der Scheune. Die Schlichtheit der Einrichtung erstaunte mich. Eine braune Couch, ein Lehnsessel und ein Kaffeetisch, keine weiteren Möbel und auch keine Fotos an den Wänden. Keine Blumenvasen oder andere Dekorationen. Moment. Das mit den Möbeln stimmte nicht. Da stand ein Safe, groß und schwarz, in dem sich wahrscheinlich haufenweise Waffen befanden, mit denen man eine ganze Stadt ausradieren könnte.

„Dein Vater …“, begann ich.

„Ist nicht zu Hause.“

„Und Bronx und Mackenzie?“

„Bronx schläft in seinem Zimmer, und Kenz ist draußen.“

Wieder Kenz. Ein Kosename bedeutete Zuneigung. Ich hätte Zweifel bezüglich seiner Gefühle für mich bekommen können - und bezüglich seiner Gefühle für sie. Hätte zulassen können, dass sie sich ausbreiteten, Wurzeln schlugen und Zweige bildeten, aber ich weigerte mich. Keine Ängste mehr, ermahnte ich mich. Außerdem, entweder vertraute ich ihm oder nicht. Beides zugleich ging nicht.

Meine Gedanken waren wie weggewischt, als wir sein Zimmer betraten. Ein leises Klicken ertönte, als er die Tür hinter uns schloss. Ich sah mich nervös um. Er hatte ein großes breites Bett mit dunkler Bettwäsche. Ein Nachttisch, auf dem ein Buch lag (dessen Titel ich nicht erkennen konnte). Ein Kleiderschrank. Sehr aufgeräumt. Sehr … einsam.

Ohne ein Wort schob Cole mich an die Wand; sie fühlte sich kalt an meinem Rücken an, und ich keuchte auf, dann presste er sich an mich. Er war so heiß, dass in meinem Hirn ein Kurzschluss entstand.

„Keine Bedenken?“

„N…nein.“

Er starrte mich eine ganze Weile an, bevor er endlich seine Lippen auf meine drückte und die Zunge in meinen Mund schob. Der Kuss war anfangs sanft und weich und wurde nach und nach zu etwas Wildem. Ich fragte mich benebelt, ob das bei uns immer so sein würde.

Irgendwann verlor ich meine Nervosität, ließ die Hände unter sein Shirt gleiten und strich ihm mit den Fingernägeln über den Rücken. Ich konnte nicht genug von ihm berühren, konnte ihm nicht nahe genug kommen.

Genauso wie in meiner Vision hatte ich die Beine um seine Taille geschlungen. Er lehnte sich zurück und zog mich mit sich. Jetzt hielt mich die Wand nicht mehr wie ein Anker aufrecht. Nur noch Cole.

Er bewegte sich auf das Bett zu, während ich mich wie Efeu an ihn klammerte. Dann beugte er sich hinunter … hinunter … und die weiche Matratze fing mich auf. Ohne den Kuss zu unterbrechen, folgte er mir und legte sich auf mich.

Zu meiner Überraschung ging er nicht weiter. Jedenfalls nicht viel weiter. Alles, was wir taten, war, uns zu küssen und hier und dort mit den Händen herumzuspielen - oben, aber nicht unten. Schließlich stöhnte er auf und hob den Kopf. Seine Pupillen waren riesig, das Violett kaum noch zu erkennen.

„Wir müssen damit aufhören.“

Was? Warum?„O…kay.“

„Wir beide werden wissen, wann du für mehr bereit bist.“ Er rollte sich neben mich und zog mich an sich.

„Was ist, falls ich warten will, bis ich heirate?“

„Sollte das ein Antrag sein?“, fragte er lachend.

„Nein!“

„Wenn du das so brauchst, dann brauchst du‘s eben so. Lass dich nie zu was anderem überreden, auch nicht von mir. Ich sag‘s ja nicht gern, aber ich werde es sicher versuchen.“

„Ich wäre wahrscheinlich enttäuscht, wenn du‘s nicht versuchen würdest.“ Ich schmiegte mich an ihn und er strich mir durchs Haar. Ich bemerkte, dass er genauso zitterte wie ich, und das gefiel mir.

„Vermisst du dein anderes Leben?“, wollte er wissen.

Sosehr mich der Themenwechsel auch überraschte, ich musste nicht lange nachdenken. „Ja, aber nur, weil ich meine Familie vermisse. Ich wünschte … ich wünschte, ich könnte meinem Vater sagen, dass er nicht verrückt ist. Ich würde meiner Mutter gern sagen, wie sehr ich sie liebe. Und ich wünschte, meine kleine Schwester wäre am Leben und gesund. Sie war für mich ein echter Lichtblick.“

„Hat sie dich wieder besucht?“

„Nein.“ Obwohl sie mich so verzweifelt gewarnt hatte, hätte ich sie gern noch mal gesehen. „Das Letzte, was sie zu mir gesagt hat, war: ‚Er wird kommen, um dich zu holen.‘“

„Wer?“

„Das weiß ich nicht.“

Cole setzte sich auf und sah mich grimmig an. „Kannst du mir von dem Autounfall erzählen? Was ist genau mit deinen Eltern passiert?“

Ich leckte mir die Lippen und zwang mich zu sprechen, bevor ich wie sonst immer bei diesem Thema meine Klappe zufallen lassen konnte. „Ich bin zu mir gekommen und sah meinen Vater im Scheinwerferlicht des Wagens auf der Straße liegen. Drei Zombies fielen über ihn her. Dann bin ich ohnmächtig geworden. Als ich wieder aufwachte, mussten die Zombies meine Mutter irgendwie aus dem Auto geschleift haben, denn sie lag jetzt neben ihm, und diese Kreaturen waren bei ihr.“

„War dein Vater in dem Moment am Leben?“

„Ich denke nicht. Er gab keinen Laut von sich.“

„Und deine Mutter?“

„Auch … tot, glaube ich. Im Auto hat sie so … da war so viel Blut.“ Meine Lippen fingen an zu zittern.

„Du meinst nicht, es wäre möglich, dass sie rausgegangen ist, um deinem Vater zu helfen?“

„N…nein.“Oder?

„Wir müssen nicht weiter darüber reden“, sagte Cole und legte sich wieder neben mich. „Wenn dich das zu sehr aufregt.“

„Es ist okay. Warum fragst du?“ Gerade hier und jetzt, ausgerechnet.

Lastende Stille folgte. „Derjenige, den deine Schwester meinte …“

„Ja?“

„Bitte lass mich erst ausreden, ehe du was sagst, ja? Falls dein Vater noch am Leben war, bevor die Zombies ihn gebissen haben, könnte er von ihnen infiziert worden sein. Er könnte …“

„Nein!“, rief ich. Etwas leiser sagte ich: „Nein. Das ist unmöglich.“

„Ali.“

„Nein.“ Ich sah zur Zimmerdecke hoch, Tränen traten mir in die Augen und tropften auf meine Wangen. Er wollte mir einreden, dass mein Vater zu diesem Bösen geworden war, vor dem er sich immer gefürchtet hatte? Das konnte einfach nicht stimmen. Niemals.

Wenn ich gegen meinen eigenen Vater kämpfen müsste … wenn ich ihn vernichten müsste … Nein! Das könnte ich nicht. Ich würde es niemals tun.

Aber jemand anders würde es tun, dachte ich. Womöglich war das längst geschehen.

„Ich weiß, es ist fast unerträglich, sich das vorzustellen. Dir ist sicher auch klar, dass ich es nie gesagt hätte, wenn es nicht möglich wäre. Ich würde dir nie vorsätzlich wehtun, ich wollte dich nur darauf vorbereiten. Nur für den Fall, weil … Genau das ist mit meiner Mutter passiert.“

Schockiert sah ich ihn an. „Deine Mutter war ein Zombie?“

„Ja. Ich war dabei, als mein Vater sie eingeäschert hat“, sagte er leise.

„Ich … ich …“ Das Einzige, was ich tun konnte, war, mich noch dichter an ihn zu schmiegen und ihm mit meiner Wärme Trost zu spenden.

„Sie hat mich verfolgt, entschlossen, mich ebenfalls zu einem Zombie zu machen. Ich habe gegen sie gekämpft, doch nicht mit aller Kraft, schließlich war sie meine Mutter. Dann hat sie mich gebissen. Ich habe nach meinem Vater gerufen, und als er in mein Zimmer gestürzt kam, hat sie ihn auch angegriffen. Fast hätte sie ihn besiegt, aber er hat seine ganze Energie zusammengenommen und sie mit seiner glühenden Hand vernichtet. Er hat dabei geweint.“

„Ach, Cole, das tut mir so leid.“

„Anfangs sind die Zombies nicht so emotionslos. Sie erinnern sich an das, was sie hatten. Und sie sind wütend, weil wir es immer noch haben. Sie wollen es uns nehmen. Die Tatsache, dass sie so entschlossen hinter dir her sind …“

Ja. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber er hatte recht. Es wäre möglich, dass mein Vater mich verfolgte.

Cole seufzte. „Komm, ich bringe dich nach Hause.“

„Okay“, erwiderte ich leise. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, um mir einen Plan zurechtzulegen.

Wenige Minuten später saßen wir in seinem Wagen und kurz darauf parkte Cole an der Straßenbiegung in der Nähe unseres Grundstücks. Er überprüfte sein Handy, während wir durch den Wald rannten, und runzelte die Stirn.

„Irgendwas passiert bei dir zu Hause“, sagte er.

„Was?“ Ich begann zu rennen und hielt nach Zombies Ausschau.

„Er hat nicht geschrieben, was.“

Cole holte mich ein und lief vor mir, damit ich nicht in eine der Fallen tappte. Auf halbem Weg roch ich den typischen Geruch nach Verwesendem. Er hing in der Luft, so intensiv, dass ich das Gefühl hatte, er legte sich wie ein Film auf meine Haut.

Ich warf einen Blick nach oben, konnte jedoch keine Kaninchenwolke am Himmel entdecken.

Warum hatte Emma mich nicht gewarnt? „Okay, die Zombies sind hier irgendwo“, sagte ich und zog meinen Dolch. „Kannst du sie sehen?“

„Noch nicht, aber sie sind nahe. Der Geruch ist unglaublich stark.“

Cole zog mit der einen Hand seine Armbrust aus der Scheide und presste sich mit der anderen das Handy ans Ohr.

Je näher wir dem Haus kamen, desto schneller rannten wir. Kein Zombie sprang auf uns zu. Wir kamen am Zaun an, auch dort wartete kein Zombie, Gott sei Dank, ich erkannte Cruz, der von der Hintertür auf uns zukam. Schnell zog ich das Gartentor auf, zu aufgeregt, um mich von Cole zu verabschieden. Ich musste nach meinen Großeltern sehen.

„Was zum …“, hörte ich ihn sagen.

Das Erste, was ich bemerkte: Alle Lichter im Haus waren eingeschaltet. Das Zweite: Überall waren Polizisten.

„Waffen“, erinnerte mich Cole.

Ich warf das Messer auf den Boden und rannte weiter. „Nana! Pops!“ Ein Polizeibeamter an der Hintertür hielt mich fest.

„Bist du Ali?“, fragte er.

Die Terrassenlampe tauchte uns in helles Licht. Er war ein älterer Typ, etwas dicklich, und er sah sehr besorgt aus. „Ja. Wo sind meine Großeltern? Geht es ihnen gut? Was ist passiert?“

„Geht es dir gut?“, wollte er wissen.

„Ja, alles in Ordnung. Meine Großeltern …“

Er ignorierte mich und rief: „Ich habe das Mädchen!“ Sein Blick richtete sich hinter mich. Cole war mir gefolgt. „Wer bist du?“

„Ich bin ihr Freund“, war Coles Antwort.

Die Besorgnis im Gesicht des Polizisten verschwand, jetzt schien er zu verstehen. Weitere Polizisten kamen zu uns gelaufen. Während sie ihre Fragen stellten und ich wissen wollte, was los war, begann sich langsam alles aufzuklären. Ein „Vandale“ war ins Haus eingebrochen und hatte meinen Großeltern Angst eingejagt. Pops hatte Nana befohlen, sich zu verstecken, und er suchte nach mir, fand mich jedoch nicht. Der Einbrecher hatte ihn entdeckt und ihn niedergeschlagen. Nana hatte die Polizei angerufen.

Das konnte kein Zombie gewesen sein. Cole hatte mir versichert, dass um das ganze Grundstück herum Blutlinien gezogen worden waren. Aber woher kam dann der Geruch?

„Justin“, zischte Cole.

Ich riss erstaunt die Augen auf. Justin konnte doch so etwas nicht getan haben, das glaubte ich nicht. Seine Truppe wahrscheinlich schon eher. Trotzdem, dieser Verwesungsgeruch …

Ich würde später darüber nachdenken. Pops lag im Krankenhaus, sein Zustand war stabil, und die Ärzte gingen davon aus, dass er sich wieder vollständig erholen würde. Nana war dageblieben, um ans Telefon zu gehen, falls meine vermeintlichen Kidnapper anrufen sollten. Nur dass ich nicht gekidnappt worden war. Ich hatte mich rausgeschlichen.

Diese Schuld würde ich ewig mit mir herumtragen. Ich hatte den Krieg ins Haus meiner Großeltern gebracht und konnte mich nicht einmal damit trösten, dass ich draußen gekämpft hatte. Spaß hatte ich gehabt, mit meinem Freund herumgeknutscht, während sie sich Sorgen gemacht und gelitten hatten.

„Kann ich mit ihr reden?“, fragte ich krächzend.

„Sicher“, sagte der Cop, dem ich in die Arme gelaufen war.

Obwohl sie mit Coles Befragung noch nicht ganz fertig waren, begleitete er mich ins Haus und bestand darauf, mich nicht allein gehen zu lassen. Ich fand Nana im Wohnzimmer auf der Couch, wo sie leise vor sich hin weinte. Ihre Augen waren gerötet, die Lider geschwollen, ihr lief die Nase. Sie mussten ihr schon gesagt haben, dass sie mich gefunden hatten, aber dann hatten sie mich lange aufgehalten, um erst mal herauszufinden, was los war.

Kaum dass sie mich sah, sprang sie auf, kam auf mich zu und riss mich in die Arme. Ich drückte sie an mich, hielt sie so fest ich konnte und heulte mit ihr.

„Es tut mir so leid.“

„Darüber reden wir später. Ich bin einfach nur froh, dass dir nichts passiert ist.“

Nach all dem, was meine Großeltern Gutes für mich getan hatten, hatte ich ihnen nichts als Sorgen bereitet. Und das Schrecklichste war, ich wusste genau, dass sich daran nichts ändern würde.

Wenige Tage später kam Pops aus dem Krankenhaus. Er wirkte so gebrechlich, dass ich die Ärzte verfluchte, die ihn entlassen hatten, außerdem die Versicherungsfirma, die sich weigerte, noch länger für seinen Aufenthalt zu bezahlen.

Ich sagte Nana, sie solle so viel wie nötig von meinem Collegegeld nehmen und ihn zurück ins Hospital bringen, aber das lehnte sie ab. Sie wollte Pops unbedingt wieder zu Hause haben, um ihn selbst zu pflegen.

Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, und die Wangen waren eingefallen. Seine Haut sah grau aus und dünn wie Pergamentpapier, fast alle seine Gelenke wirkten angeschwollen. Mein Pops war so ein freundlicher, guter Mann. Wie hatte ihm jemand bloß so etwas antun können?

Am nächsten Schultag stellten Cole und ich Justin und seine Schwester auf dem Parkplatz zur Rede. Cole entdeckte sie, als sie gerade aus dem Bus stiegen. Er sprang aus dem Jeep und rief: „Silverstone!“

Justin sah ihn an. Ohne dass ein weiteres Wort fiel, stürzten die beiden aufeinander zu und begannen sich zu prügeln.

Ich ging auf Jaclyn zu. „Solltest du dich da einmischen, geht es dir genauso wie deinem Bruder“, zischte ich ihr zu. „Wir werden uns jetzt unterhalten.“

Sie warf ihr Haar zurück. „Fick dich.“

„Wenn du meinen Großeltern jemals wieder zu nahe kommst“, sagte ich wütend, „dann bist du so was von fällig. Hast du mich verstanden?“

Sie sah mich finster an, während der Wind ihre Frisur durcheinanderwehte. „Wovon redest du überhaupt? Wir haben gar nichts mit deinen Großeltern gemacht.“

„Genauso wie du nicht diese Gerüchte über mich in die Welt gesetzt hast, was?“

Im Hintergrund waren die Kampfgeräusche der Jungen und ihr Fluchen zu hören.

Sie zuckte die Achseln. „Okay, die Gerüchte habe ich verbreitet. Na und?“

„Du bist eine bösartige kleine Schlampe, die keine Moral kennt und sicher auch nicht davor zurückschreckt, sich an unschuldigen Leuten zu vergreifen. Ich weiß, dass deine Truppe zum Haus meiner Großeltern gekommen ist, um mich zu schikanieren, vielleicht sogar, um mir was anzutun. Als ihr festgestellt habt, dass ich nicht da war, habt ihr‘s an meinen Großeltern ausgelassen.“

„Wenn ich es dir doch sage. Ich habe deinen Großeltern nichts getan.“

„Aber du weißt, wer es war, und wirst es mir verraten.“ Ich wartete nicht erst auf ihre Antwort. Sie musste kapieren, wie ernst ich es meinte, daher versetzte ich ihr einen Faustschlag auf die Nase, die zu bluten begann. Aufheulend klappte sie zusammen und sank auf die Knie.

Dr. Wright kam herausgerannt, die Eingangstür des Schulgebäudes schlug laut knallend hinter ihr zu. „Aufhören!“, rief sie. „Es reicht, Jungs! Ali! Sofort aufhören!“

Die Sicherheitsbeamten zerrten Cole und Justin auseinander. Ich hob beide Hände mit den Handflächen nach außen und sagte: „Selbstverteidigung.“

Wir wurden alle vier vom Unterricht suspendiert.

An dem Abend kam Kat, um mich zu besuchen, doch ich war viel zu aufgewühlt, und am Ende stritten wir uns sogar.

„Ich habe dir von meiner Krankheit erzählt, aber du verrätst mir einfach nicht, was mit dir los ist“, sagte sie und warf verärgert die Arme hoch. „Dabei weiß ich, dass irgendwas abgeht. Du verbringst immer mehr Zeit mit Cole. Dauernd hast du blaue Flecken. Ich würde wetten, dass er dich schlägt, wenn nicht alle anderen, mit denen du herumhängst, genauso aussähen. Ich weiß, dass du irgendwo mitmachst, wo Frosty auch mitmacht, und du verheimlichst mir was.“

„Das stimmt“, gab ich zu. „Aber ich kann dir nichts darüber sagen.“

Sie blickte mich gekränkt an. „Vertraust du mir nicht?“

„Doch. Dieses Geheimnis betrifft allerdings eine ganze Gruppe von Leuten. Ich darf sie nicht hintergehen.“

„Ich bin deine Freundin.“

„Das bist du, ja. Aber mit den anderen bin ich auch befreundet.“

„Ali …“

„Es tut mir so leid, ich kann es einfach nicht.“

Verärgert fuhr sie davon.

Den restlichen Abend verbrachte ich wie betäubt, streifte durchs Haus, überprüfte bewaffnet bis an die Zähne, alle Fenster und Türen. Nach all den Jahren, die ich an ihm gezweifelt hatte, wurde ich nun zum Abbild meines Vaters.

Es bestand kein Grund, mich hinauszuschleichen. Cole und die Jungen waren da draußen, patrouillierten in der Gegend und prüften die Fallen. Ich hätte auch nicht wach bleiben müssen, aber ich konnte mich nicht dazu zwingen einzuschlafen.

Pops und Nana verboten mir, Cole zu treffen. „Diesmal wirklich“, sagten sie. Und sie meinten es ernst. Nana schlief im Wohnzimmer auf der Couch.

Etwas musste geschehen.

Am nächsten Morgen schickte ich ihm eine SMS. Kannst du heute Abend zum Dinner kommen? Meine Großeltern würden ihn lieben, wenn sie ihn besser kennenlernten.

Seine Antwort kam sofort. Ja. Alles okay?

Ich habe nur Sehnsucht.

Wurde ja Zeit. Bis dann.

Ich musste grinsen. Da ich das Handy draußen hatte, beschloss ich, Kat auch eine SMS zu schicken.

Tut mir leid. Es machte mich fertig, dass ich sie so verletzt hatte.

Ich hätte erst mal nicht so schnell eine Antwort erwartet, aber schon wenige Minuten später hörte ich das Signal.

Nein, mir tut es leid. Ich habe gedrängelt, dabei drängle ich nie.

Ich musste lachen. Kat hatte es echt drauf. Sie brachte mich in jeder Situation zum Lachen.

Freundinnen?

Die besten!

Ich hatte das Gefühl, als wäre ich ein schweres Gewicht losgeworden, legte meine Waffen ab und ging hinunter zum Frühstück. Nana hatte den Tisch schon gedeckt, und Pops saß auf seinem Stuhl. Seine Schultern waren herabgesackt, seine Kleidung zerknautscht. Er hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, sein Haar über die kahle Stelle zu kämmen, sodass die längeren Strähnen jetzt schlaff auf seine Schläfen fielen. Die Schatten unter seinen Augen wirkten noch dunkler. Er hatte die Hände auf die Tischplatte gepresst und starrte wie in Gedanken verloren darauf. Vielleicht hatte er sich im Krankenhaus irgendein Virus eingefangen.

„Pops“, sagte ich leise.

Er zuckte zusammen, als hätte ich ihn geschlagen, und sah mich mit seinen blutunterlaufenen Augen an.

„Ja?“, krächzte er heiser.

Ich erkannte seine Stimme überhaupt nicht wieder. „Geht es dir gut? Kann ich irgendwas für dich tun?“

„Alles okay“, murmelte er.

Nana brachte eine große dampfende Pfanne mit gebratenen Eiern an den Tisch. Der Geruch von Schinken und Käse lag in der Luft. Ich setzte mich links neben Pops. Nachdem Nana jedem eine Portion aufgefüllt hatte, nahm sie sich ebenfalls einen Stuhl, und wir aßen schweigend. Jedenfalls sie und ich. Pops schob Eier und Schinken mit der Gabel auf dem Teller hin und her, ohne einen einzigen Bissen zu sich zu nehmen, und grummelte dauernd etwas vor sich hin.

„Du musst essen“, sagte Nana zu ihm.

Er verstummte und starrte sie an, so intensiv, als würde ihr Anblick ihn versteinern.

„Was denn?“, fragte sie und rutschte auf ihrem Stuhl herum. „Habe ich irgendwas im Gesicht?“

Er sagte kein Wort.

Sie sah mich an, eine stumme Frage in ihrem Blick. Ich schüttelte den Kopf, dann drehte ich mich wieder zu Pops um. Er presste die Finger auf die Tischplatte, als müsste er sich daran festhalten. Um nicht … anzugreifen?

Dann zog er die Lippen zurück und bleckte die Zähne. Ein leises Knurren kam aus seiner Kehle. Ich sah, wie er sich anspannte.

Als er hochschnellte, sprang ich ebenfalls auf. Er stürzte sich auf Nana, ich mich auf ihn. Gerade noch rechtzeitig konnte ich ihn zurückreißen und ihn zu Boden schleudern. Nana schrie auf.

„Ich will kosten …“, zischte er und versuchte sich aus meinem Griff zu befreien, um auf Nana loszugehen.

Kosten? Das klang ja wie … Oh, nein! Nein, nein, nein. Er war doch am Leben. Es konnte nicht sein … er durfte nicht …

Ich bemühte mich, seine Arme auf den Boden zu drücken, er schaffte es jedoch, sich loszureißen. Pops war stärker, als er aussah. Mein friedlicher netter Großvater schlug mir ins Gesicht, einmal, zweimal. Nur mein Training mit Cole half mir, nicht auszuflippen.

„Was machst du denn da, Carl? Aufhören! Du tust ihr ja weh!“

Ich hasste es, das tun zu müssen, doch ich schlug zurück. Nana kam herübergelaufen, wollte mir wahrscheinlich zu Hilfe eilen, aber ihre Nähe wühlte ihn weiter auf, sodass er noch heftiger gegen mich ankämpfte, um zu ihr zu gelangen.

„Hol mein Handy!“, rief ich. „Es ist in meinem Zimmer. Ruf Cole an! Bitte, Nana. Bitte! Nur Cole. Er wird uns helfen. Bitte!“

Sie zögerte, trat ein paar Schritte zurück, auf ihrem Gesicht standen Entsetzen und Unsicherheit. Erneut schlug Pops mit den Fäusten auf mich ein. Ich rang mit ihm, wusste, wenn ich ihn losließe, würde es nur noch schlimmer werden. Ich konnte nicht gegen ihn kämpfen und gleichzeitig Nana von ihm abhalten.

„Tu es“, schrie ich. „Und komm nicht wieder rein. Pops ist nicht er selbst. Er wird dir wehtun.“

„Ali, ich …“

„Geh!“

Endlich machte sie sich auf den Weg und verschwand aus der Küche. Jetzt, wo sie weg war, richtete sich seine ganze Rage gegen mich. Er begnügte sich nicht mehr mit Schlägen, sondern kratzte und biss um sich. Ich musste ihn nun nicht länger unten halten und sprang auf.

„Beruhige dich, Pops. Alles okay, ja? Du willst das doch gar nicht.“

Er rappelte sich auf … wurde plötzlich schlaff, fiel wieder zu Boden, verdrehte die Augen und blieb still liegen. Ich beobachtete entsetzt, wie sich sein Geist aus dem Körper erhob. Jetzt wusste ich Bescheid. Ein Zombie hatte ihn gebissen. Hatte ihn infiziert. Ihn getötet.

Er war tot, doch er war nicht gestorben.

Sein Geist sah genauso krank aus wie seine Körperhülle, sogar noch grauer. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, ohne mich direkt anzusehen, schnüffelte, leckte sich die Lippen und wollte auf die Tür zugehen.

„Pops!“, sagte ich und trat ebenfalls aus meinem Körper.

Sofort reagierte er auf meine Gegenwart und dachte nicht mehr daran, Nana zu folgen. Er kam auf mich zu. Als er sich auf mich stürzte, wich ich zur Seite aus. Im Haus gab es keine Blutlinien, sodass unser Geist mühelos durch den Tisch und das Frühstück glitt.

Eine Art Tanz entwickelte sich. Wir umkreisten uns. Er schoss auf mich zu, ich wich zurück. Dann begann alles wieder von vorn. Einen kleinen Dolch hatte ich noch im Stiefel behalten, aber ich brachte es nicht über mich, auf Pops einzustechen. Ich konnte mich auch nicht überwinden, ihn kampfunfähig zu schlagen, denn in dem Fall müsste ich ihn einäschern, und das brächte ich nicht fertig.

Schließlich kam Cole hereingestürmt, Mackenzie, Bronx und Mr Holland auf seinen Fersen. Coles Vater erkundigte sich nach meiner Großmutter und verschwand wieder, um sich um sie zu kümmern. Bronx schloss die Tür. Ich vermied es, Cole anzusehen. Es war das erste Mal heute, dass wir uns trafen, und im Augenblick konnte ich mir keine Vision leisten.

„Töte ihn nicht“, sagte ich. „Bitte. Es muss doch auch anders gehen.“

„Ruhig“, sagte Cole. „Pass auf, was du sagst!“

Pops hielt die Nase in die Luft, schnüffelte und leckte sich die Lippen. „Will kosten …“

Meine Freunde traten aus ihren Körpern und kreisten ihn ein. Nicht lange und sie hatten ihn gebändigt. Er lag auf dem Bauch, die Hände hinter dem Rücken, die Füße mit einer Art illuminiertem Strick zusammengebunden.

„Vielleicht können wir …“, begann ich, biss mir jedoch schnell auf die Zunge. Als Cole sich zu mir umdrehte und den Blick auf mich richtete …

… Cole stand vor mir, die Hände auf meinen Schultern. „Es tut mir leid. Es musste sein. Der Mann, den du geliebt hast, hätte dich nicht geschlagen. Ich weiß nicht, wann er gebissen wurde, aber ich kann es mir denken. Was du heute gesehen hast, war nur noch seine Hülle. Nur eine Hülle.“

„Wie konnte er denn dann ins Haus kommen?“, fragte ich, wobei mir die Tränen über die Wangen strömten. „Mit den Blutlinien überall um das Grundstück?“

„Die Blutlinien wurden von seinem Selbstverständnis unterwandert. Es ist sein Heim. Seine Regeln.“

Mir brach es das Herz. Ich hätte ihn auf Bissmale untersuchen müssen. Ich hatte in der Nacht des Einbruchs den Gestank nach Verwesung wahrgenommen. „Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, wäre mir ein anderer Weg eingefallen …“

„Es gibt keinen anderen Weg“, widersprach Cole heiser. „Er musste sterben. Soweit ich weiß, war bisher niemand in der Lage, aus diesem Zustand zurückzukehren.“

Er musste es wissen, oder? Er hatte schließlich zugesehen, wie seine eigene Mutter auf diese Weise gestorben war …

„Kossssten.“

Die Stimme meines Großvaters durchbrach die Vision. Die Welt kehrte an ihren Platz zurück. Cole stand auf der anderen Seite des Zimmers und hielt Pops fest.

„Gib mir die Erlaubnis, Ali“, sagte er.

Die Kraft meiner Worte hatte ihn bisher zurückgehalten - seine Worte wiederum brachten mich fast dazu, es auszusprechen. Ich widerstand.

„Was fehlt ihm denn?“, rief Nana weinend von nebenan. „Warum hat er Ali geschlagen? Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Er ist so ein friedfertiger Mann.“

„Mrs Bradley, ich hatte Ihnen gesagt, dass wir uns hier in Gefahr befinden“, war Mr Hollands Stimme von der anderen Seite der Tür zu hören.

„Ali“, drängte Cole.

Ich konnte diese Last nicht auf ihn abwälzen. „Ich … ich werde es selbst tun.“

Er betrachtete mich eingehend, bevor er steif nickte. „Schaffst du es?“

Ich blickte nach unten. Hindernis Nummer eins: Meine Hände sahen vollkommen normal aus. Zweifellos konnte ich das Glühen entwickeln, die Frage war nur, schaffte ich das auf Kommando?

„Ich will ihm nicht wehtun“, sagte ich mit zitterndem Kinn.

Hindernis Nummer zwei: meine Liebe zu diesem Menschen.

Nein, kein Mensch. Nicht mehr.

„Er wird nichts empfinden, das verspreche ich dir.“

Pops versuchte sich loszumachen, mir liefen wieder Tränen übers Gesicht. Er wollte Nana zerstören, das konnte ich nicht zulassen, also gab es im Grunde keine Hindernisse. Ich senkte den Blick und ging tief in mich. „Ja“, sagte ich und war von ganzem Herzen überzeugt. „Ich schaffe es.“

Etwas in meinem Inneren zerbarst, Hitze explodierte in meinen Händen, schoss mir den Arm hoch. Ich riss die Augen auf. Meine beiden Arme waren vollkommen erglüht, von den Fingerspitzen bis zu den Schultern.

Cole, Mackenzie und Bronx starrten mich schockiert an.

Ich stolperte auf meinen Großvater zu, ehe ich den Mut verlor, hockte mich neben ihn und wartete, bis Cole ihn auf den Rücken gedreht hatte. Pops schnappte mit den Zähnen nach mir. Ohne ihm in die Augen zu sehen, legte ich ihm zitternd die Handflächen auf die Brust.

Innerhalb eines Herzschlags war er verglüht und Asche schwebte durch den Raum. Ich blickte verblüfft auf meine Arme.

„Ali!“, rief meine Großmutter. „Ali, geht es dir gut? Sag doch was!“

Mackenzie und Bronx schlüpften in ihren Körper zurück, Cole ebenfalls. „Ali, berühre nichts!“

„Ali!“ Panik klang jetzt in Nanas Stimme mit. „Du sollst mit mir reden!“

Ich musste erst eins mit meiner Körperhülle werden, musste in sie zurückkehren, bevor ich meiner Großmutter antwortete.

„Nein!“, rief Cole, als ich die Hand danach ausstreckte.

Meine Geistfinger berührten meinen Körper, und ich keuchte auf, als sich die beiden Teile zusammenfügten. Das Glühen verschwand, doch ich spürte immer noch etwas von der Hitze, es zischte sogar leise.

„Geht es dir gut?“, wollte Cole wissen.

„Ja“, rief ich. „Mit mir ist alles in Ordnung, Nana!“Aber Pops geht es nicht gut. Wieder strömten mir Tränen über die Wangen. „Wie habe ich das gemacht?“, fragte ich Cole.

„Ich weiß nicht. So was habe ich bisher nicht gesehen. Ich hatte schon befürchtet, du verbrennst deinen Körper, wenn du ihn berührst. Das nächste Mal hör bitte auf mich. So eine Angst kann ich nicht noch einmal durchstehen.“

„Ali?“, rief Nana zittrig. „Ich muss mich selbst davon überzeugen, dass es dir gut geht.“

Ich sah Cole bittend an, flehte ihn still um Erlaubnis, ihr zu erklären, was gerade passiert war. Sie verdiente es, alles zu erfahren.

Er nickte.

„Die Wahrheit?“

Mackenzie protestierte, aber Cole sagte: „Ja.“

Ich öffnete die Tür und Nana kam hereingestürzt, Mr Holland folgte ihr. Beide sahen sich im Raum um.

„Carl!“, rief Nana und warf sich über Pops‘ reglosen Körper, als wollte sie ihn vor weiterem Schaden abschirmen. „Wach auf. Du musst aufwachen!“

Ich unterdrückte ein Schluchzen. „Das kann er nicht, Nana. Er ist … er ist von uns gegangen.“

„Nein! Er wird wieder aufwachen, bestimmt!“

Schließlich begriff sie und weinte nur umso heftiger.

Cole half ihr auf und führte sie zu einem Stuhl. „Es gibt etwas, das Ali Ihnen sagen will, bevor der Rettungsdienst kommt.“

Ich setzte mich neben sie. Da ich am ganzen Körper zitterte, bemühte ich mich, flach zu atmen, um mich zu beruhigen, damit ich nicht ausflippte.

Obwohl ich befürchtete, dass sie mich für verrückt erklären würde, dass sie uns alle für verrückt erklären würde, erzählte ich ihr von den Zombies. Von den Fähigkeiten meines Vaters und von meinen. Dass es Leute gab, die versuchten, diese Monster zu kontrollieren, und dass die bei uns eingebrochen waren und dass Pops von einem Zombie gebissen worden war.

Zombies hatten Pops infiziert und ihn verändert. Seinen Körper getötet - und ich hatte seinen Geist zerstören müssen.

Bei jedem Satz, den ich sagte, stöhnte sie gequält auf, und jeder dieser Schmerzenslaute ging mir zu Herzen. Zum Schluss war meine Stimme nur noch ein heiseres Flüstern.

„Das ist … das ist …“

Sie konnte die Worte nicht aussprechen, mit denen sie mich verfluchen wollte, doch ich wusste, dass sie ihr durch den Kopf gingen. Es musste einfach so sein.

„Es ist unglaublich, ich weiß“, sagte Mr Holland, um die Spannung im Raum zu lösen. „Aber was sie sagt, stimmt. Aus diesem Grund ist sie so oft weg gewesen und ständig verletzt. Deshalb hat sie sich nachts aus dem Haus geschlichen.“

Cole setzte sich neben uns und blickte Nana ernst an. „Es ist Zeit, den Notruf anzurufen. Sie sollten nicht länger warten, sonst wird es Fragen geben. Sagen Sie ihnen, dass er zusammengebrochen ist.“

Ich wusste, warum er das sagte. Die Polizei würde eine Autopsie veranlassen und zu dem Schluss kommen, dass Pops an dieser „seltenen Krankheit“ gestorben war.

Nanas Kinn zitterte, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie sah mich an, betrachtete mein verletztes Gesicht. „Es war ihm so unangenehm. Er hat mir noch heute Morgen erzählt, dass die Leute, die eingebrochen sind, ihn aus dem Haus geschleppt haben. Er hatte solche Angst gehabt, weil er glaubte, sie wollten ihn umbringen. Sie haben ihn bis hinter den Grundstückszaun mitgenommen, ihn dort festgehalten und ihm gedroht, die schrecklichsten Dinge mit ihm anzustellen. Er sagte, je größer seine Angst war, desto mehr spürte er diese heißen Stiche in seiner Brust. Er dachte, er hätte einen Herzanfall. Als sie die Sirenen hörten, ließen sie ihn los und er lief zurück ins Haus.“

Wut kochte in mir hoch, brodelnde, glühende Wut. Also waren die Leute, für die Justin arbeitete, tatsächlich dafür verantwortlich. Sie hatten Pops außerhalb der Blutlinie geschleppt und ihm Angst gemacht. Seine Furcht hatte die Zombies noch mehr angestachelt. Dann hatten sie zugesehen, wie diese Kreaturen sich über ihn hermachten.

Vielleicht hatten Justin und Jaclyn wirklich nichts gewusst, vielleicht aber doch. Wie auch immer, deren Anführer hatten damit gerechnet, dass Pops mich ansteckte - und mich zu einem Zombie machte. Was ich mir allerdings nicht erklären konnte, war, ob sie mit mir experimentieren oder mich vernichten wollten.

„Tut mir leid, Ali“, sagte Cole leise.

Ich wusste, dass er zum gleichen Schluss gekommen war. Mein Leben hatte gerade eine weitere fürchterliche Wende genommen. Ich hatte das schreckliche Gefühl, dass nun alles nur noch schlimmer werden konnte. Und wisst ihr was? Dieses Gefühl hatte ich schon einige Male gehabt … und ich hatte mich kein Mal geirrt.