5. KAPITEL

Das todbringende Kaninchen kehrt zurück

Am nächsten Morgen, als ich durch die Flure der Asher High lief (Go Tigers), brannten mir die Augen vor Müdigkeit. An den Wänden hingen noch mehr Poster als sonst, diesmal zusätzlich geschmückt mit Fähnchen. Ich hatte die ganze Nacht in der verzweifelten Hoffnung auf einen weiteren Besuch von Emma auf dem Fensterbrett verbracht - voller Angst bei dem Gedanken an eingebildete Monster.

Ehrlich, wie jämmerlich stand ich denn da?

Ohne Schlaf konnte ich nicht länger funktionieren, das war mir klar. In meinem Kopf befand sich nur Mus - offensichtlich. Ich hatte das Gefühl, meinen Körper nicht mehr aufrecht halten und kaum noch laufen zu können. Das bestätigte sich, als ich in jemanden reinlief. Eine Schülerin, die ich nicht kannte. Ich murmelte eine Entschuldigung, und sie ging ohne ein Wort weiter.

Denk später an Em, an diese Freaks und an deine Verrücktheit. Sieh einfach zu, dass du den Tag überstehst. Gute Idee. Ich würde mich daran halten. Tatsächlich gab es einen Weg, das durchzustehen. Kat. Sie war die perfekte Ablenkung. Allerdings gab es da ein Problem. Während ich mich an den Schülermassen vorbeischob, ertappte ich mich dabei, wie ich stattdessen Ausschau nach Cole Holland hielt.

Meine Handflächen wurden feucht, als ich mich der Stelle näherte, an der ich ihn am Tag zuvor gesehen hatte. Wie aus weiter Ferne hörte ich das Öffnen und Schließen der Fächer, Geplauder und Lachen, Schritte von flachen und hohen Absätzen. Noch näher … war er heute wieder da? Ich drückte die Schultern durch, als ich um die Ecke bog, und versuchte mich für ein Zusammentreffen zu stählen, für alle Fälle.

Gute Idee. Er war da.

Ganz cool bleiben, Bell. Er lehnte an einem der Schließfächer, die Hände in die Taschen seiner Jeans geschoben. Heute hatte er eine andere Kappe auf, diesmal in Blau, deren Schirm beschattete sein Gesicht, verbarg diese wahnsinnigen violetten Augen. Ich konnte trotzdem den Bluterguss am Kinn und einen Riss in seiner Unterlippe erkennen.

Er hatte sich geprügelt.

Cole trug ein schwarzes T-Shirt, das sich unanständig eng um seine hart erarbeiteten Muskeln spannte. Eine Kette hing um seine Taille, ich hätte schwören können, dass angetrocknetes Blut daran klebte. Seine Boots waren frisch geputzt, allerdings abgetragen.

Seine Freunde hatten sich wieder um ihn versammelt, doch diesmal waren es weniger. Jeder von ihnen hatte irgendwelche Verletzungen. Im Gesicht, am Hals, an den Armen, den Fingerknöcheln, einige sogar ziemlich schlimm. Frostys Handgelenke waren beide verbunden, sodass man seine Tattoos nicht mehr sah.

Okay, ernstlich. Die mussten zu einem Fightclub gehören.

„Hallo, Ali!“

Oje. Frosty hatte mich beim Glotzen erwischt. Statt sauer zu werden, schenkte er mir ein sonniges Lächeln.

„Siehst gut aus.“

„Danke“, erwiderte ich und versuchte, nicht nervös zu werden. Na gut, ich hatte meine beste Jeans rausgekramt und ein fließendes grau-weiß gestreiftes Top, in dem meine Brüste größer wirkten. Was soll‘s! Das hieß noch gar nichts.

„Warum erhörst du nicht unsere Gebete und kommst mal auf einen Plausch zu uns rüber?“, wollte Frosty, vor Charme sprühend, samtweich wissen.

Ich sah Cole an und fragte mich, ob er mich auch einladen würde. Er starrte mich jetzt ebenfalls an, doch er lächelte nicht. Sein Gesichtsausdruck war finster.

In dem Augenblick, als sich unsere Blicke trafen, verschwand die Welt um mich herum …

… und wir befanden uns mitten auf dem nun leeren Flur. Seine starken Arme umfassten mich, er zog mich an sich. Hitze überflutete mich, gefolgt vom Duft sonnengetrockneter frischer Wäsche und Sandelholz. Diesmal kein Erdbeerlutscher, aber das machte kaum einen Unterschied. Mir lief trotzdem das Wasser im Mund zusammen.

Der Blick seiner violetten Augen hielt meinen, als wäre ich das schönste Mädchen der Welt.

„Halt mich fest.“

Ich strich mit den Fingern über seine Brust bis hinauf zu seinem Nacken und in sein Haar. Keine Kappe. Keine Verletzungen. „Gefällt dir das?“

„Ja, genau so.“

Wir pressten unsere Lippen aufeinander, seine Zunge drang in meinen Mund vor, und er übernahm das Kommando.

Ich legte den Kopf schräg, um einen intensiveren Kontakt zu ermöglichen. Seine Bartstoppeln kratzten an meiner Haut, aber selbst das war aufregend und wundervoll und äußerst anregend.

Mein zweiter Kuss, dachte ich wie im Rausch, er war noch besser als der erste und schmeckte nach Zimt und Minze. Ich beschloss, das war ab jetzt mein neuer Lieblingsgeschmack, mit dem ich jeden Tag beginnen musste. Und seine Hände … ach, was er mit seinen Händen anstellte …

Er wusste ganz genau, was er tat. Offensichtlich hatte er Erfahrung, eine Menge Erfahrung, spielte auf Mädchenkörpern wie auf einem Piano.

Spielen … das Wort hallte in meinem Kopf wider. War das für ihn ein Spiel oder mehr? Der Anfang einer Beziehung? Würde er mit mir reden, wenn unser Kuss endete, oder wollte er dann nichts mehr mit mir zu tun haben? Würden seine Freunde denken, ich sei eine, die leicht zu haben ist? „Sieh mal, wie schnell sie ihm in die Arme fällt.“ Würde ich als die Asher-High-Schlampe bekannt werden, die mit dem Erstbesten knutschte?

Großartig. Wieder mal ein Glückstreffer. Meine Gedanken konnten meine verrückten Halluzinationen durchbrechen und mich …

„Hallo, Ali!“

Ich blinzelte. Der Traumkuss löste sich in nichts auf, und der Rest der Welt erschien in meinem Blickfeld. Ich sah die sich langsam auflösenden Gruppen, hörte das Zuschlagen der Schließfächer, vermischt mit lautem Fußgetrappel. Ein Mix unterschiedlicher Parfüms lag in der Luft, einige süßlich, andere würzig.

Kat stand vor mir und runzelte die Stirn. „Da bist du ja wieder“, sagte sie. „Zurück aus den Ferien in Aliland. Weißt du, dass du sozusagen mitten im sozialen Sibirien hockst und den Verkehr blockierst?“

„Tut mir leid.“

Sie seufzte. „Ich weiß, wenn Leute sich entschuldigen, ist das ein Zeichen von Schwäche. Aber ich denke, es ist ein Zeichen von Stärke, wenn sie sich bei mir entschuldigen. Jetzt tu mir mal den Gefallen und lausche meinen Worten, als wären sie wunderbare Musik, und trage sie ewig in deinem Herzen: Wenn du dir Cole Holland nicht aus dem Kopf schlägst, wirst du wie ich auf der Liste der Superunglücklichen landen.“

Ich konnte nicht anders. Ich warf einen Blick über meine Schulter. Cole …

Er kam auf mich zu. Entschlossen und mit finsterem Gesichtsausdruck. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt, ich sah Schorf auf seinen Fingerknöcheln. Er musste vergangene Nacht eine Menge Faustschläge ausgeteilt haben. Mir tat derjenige leid, den er bearbeitet hatte.

Du stehst hier einfach so rum. Willst du, dass er dich zur Rede stellt? Er würde wissen wollen, warum ich ihn ständig so anglotzte.

Ich hatte geglaubt, heute meine Erwachsenenhose anzuhaben, aber nein. „Danke für den Rat!“, stieß ich hervor. „Ganz recht, ich werde mich danach richten. Wir sehen uns beim Mittagessen, okay?“ Bevor Kat noch irgendwelche Fragen auf mich abschießen konnte, wandte ich mich in die entgegengesetzte Richtung und machte einen gigantischen Umweg zur Mädchentoilette gegenüber von meinem Klassenraum. Glücklicherweise holte Cole mich nicht ein. Vielleicht hatte er‘s gar nicht versucht, was eher denkbar war. So, wie er in Form war, würde er selbst einen Gepard einholen.

Am Waschbecken spritzte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete mich mit einem Papiertuch ab, damit auch nicht ein einziger Tropfen auf mein Shirt fallen konnte, und musterte mich im Spiegel. Meine Wangen waren gerötet, die Unterlippe rot und leicht angeschwollen. Ich musste wohl darauf herumgekaut haben, während dieser Visionssache.

Besser, als wenn Cole daran geknabbert hätte, oder?

Keine Zeit, mir eine glaubwürdige Antwort durch den Kopf gehen zu lassen. Mackenzie Love kam hereingeschwebt, offensichtlich mit einem festen Vorsatz. Heute hatte sie ihr dunkles Haar aufgesteckt, ein paar Strähnen ringelten sich um ihr Gesicht. Ihr Make-up war perfekt, bis auf den gelbblauen Fleck auf ihrer linken Wange. Ein Fleck, der verdächtig nach einem Bluterguss aussah. Sie trug ein langärmeliges hochgeschlossenes Top und eine Hose aus fließendem Stoff. Stilvoll, bequem, dennoch ziemlich unangemessen bei der Hitze draußen.

Die Augen zusammengekniffen, jeder Zentimeter die Jägerin, kam sie auf mich zu. Das musste die In-die-Enge-treiben-und-drohen-Aktion sein, vor der Kat mich gewarnt hatte.

„Ich weiß nicht, wer du dir einbildest zu sein und was du vorhast“, zischte sie mir zu. „Aber ich werde dich unter die Erde bringen, wenn du einem meiner Freunde was antust.“

Ja, richtig vermutet. „Ich bilde mir ein, ich bin Ali Bell, und ich stehe hier und kümmere mich um meine eigenen Angelegenheiten. Das solltest du auch mal versuchen.“

Da Mackenzie kleiner war als ich, musste sie den Kopf heben, um mich anzusehen. Zum ersten Mal machte mich meine Größe sehr, sehr glücklich.

Sie knurrte und bleckte ihre perfekten weißen Zähne. „Und du solltest dich lieber vorsehen. Es wäre nicht gut für dich, mich zu verärgern.“

„Was dann? Wirst du in dem Fall riesengroß und grün und bekommst überall Muskeln?“ Sorry, aber mich konnte man nicht so leicht einschüchtern. Ausnahme natürlich jemand mit schwarzen Haaren und violetten Augen.

Mackenzie knurrte wieder und dachte offensichtlich über eine Antwort nach. Ich hätte wetten können, dass ich die erste Person war, die sich gegen sie wehrte. Obwohl ich mir auch nicht vorstellen konnte, dass Kat vor ihr kuschte oder zurückzuckte, egal welchen Gegner sie vor sich hatte.

„Ich will nicht zu spät zum Unterricht kommen“, sagte ich, entschlossen, die Angelegenheit hier und jetzt zu beenden. „Vielleicht kannst du ja nachher noch mal darauf zurückkommen, wenn du dir eine Beleidigung ausgedacht hast.“

Ich lief an ihr vorbei aus der Toilette … und entdeckte Cole am Ende des Flurs. Wunder über Wunder, er war mir tatsächlich gefolgt.

Als er mich sah, kam er sofort auf mich zu. Bekam ich keine Zeit, mich zu erholen, oder was? Als ich ihm entgegenging - ja, ihm entgegen -, läutete es gerade zur Stunde. Die gute Nachricht war, ich musste mich nicht mit ihm auseinandersetzen. Bevor er mich erreichte, stand ich vor meinem Klassenraum, schoss hinein und schloss die Tür hinter mir.

Natürlich kam ich wieder zu spät. Mr Butthole ließ mich vor die Klasse treten, damit ich mich entschuldigte. Das wäre gar nicht so schlimm gewesen, aber durch das Glasfenster in der Tür sah ich Cole, der mich wütend anstarrte. Entweder war das sein normaler Gesichtsausdruck oder ich befand mich in Schwierigkeiten.

Ich verlor ihn erst aus dem Blick, als ich mich auf meinen Platz setzte. Was für eine Erleichterung! Zwei Mal hatte ich mich erfolgreich vor einer Konfrontation gedrückt, jetzt musste ich es nur noch schaffen, ihm für den Rest meines Lebens aus dem Weg zu gehen. Es war unmöglich, zu erklären, was da schon wieder auf dem Flur vorgefallen war. Nicht, ohne dass ich in einer Flut von Schamgefühlen ertrank. Unmöglich zu erklären, warum es passiert war oder wie.

Auf dem Weg zur zweiten und dritten Stunde sah ich ihn nicht. Und irgendwie schaffte ich es, mein Versprechen bei Ms Meyers einzuhalten. Treffer! Als es zur Mittagspause klingelte, rechnete ich fast damit, dass Frosty und Bronx vor der Tür auf mich warteten. Taten sie nicht. Noch ein Treffer! Ich befürchtete, Cole würde aus einer verborgenen Ecke hervorschießen und mich zur Rede stellen. Tat er nicht. Sieg! Wahrscheinlich hatten sie mich bereits vergessen.

Nachdem ich mein Buch und die Notizen in meinem Fach verschlossen hatte, schlenderte ich zur Cafeteria. Kat würde eine Erklärung für mein Benehmen heute Morgen verlangen. Es würde wohl nicht ziehen, zu sagen: Ich bildete mir gerade ein, mit dem Freund deines Exfreundes in heißen Kontakt zu treten. Sie hätte sicher eine Menge Fragen dazu, und ich hatte keine Antworten. Also jedenfalls keine andere als die, dass ich total ausgerastet bin.

Kurz bevor ich die große Doppeltür erreichte, stellte sich mir Mackenzie in den Weg. Fast wäre ich in sie reingerannt.

„Du wirst mir nicht wieder ausweichen“, zischte sie mich an. „Diesmal nicht.“

„Müssen wir wirklich noch irgendwas diskutieren?“, fragte ich seufzend. Es war reine Klugscheißerei gewesen, als ich ihr das vorschlug.

„Ja, wir müssen noch irgendwas diskutieren“, ahmte sie mich spöttisch nach. „Ich habe Cole gesehen, der dich bis zur Toilette verfolgt hat. Du bist vor ihm weggelaufen. Warum?“ Sie versuchte nicht mal ihre Wut zu verbergen. „Spielst du vielleicht die eiserne Jungfrau? Dafür dürfte es wohl zu spät sein. Nach dem, was ich so höre, kannst du ja nicht aufhören, ihn anzuschmachten.“

Hitze stieg in mir auf und brannte auf meinen Wangen. Cole hatte irgendetwas zu seinen Freunden gesagt, oder sie hatten was herumerzählt. Wie auch immer, die anderen hatten was bemerkt. „Was geht dich das an?“, fragte ich schnippisch. „Nach dem, was ich so höre, seid ihr gar nicht mehr zusammen.“

In ihren Augen detonierte eine Bombe, ich meinte, das Knistern von Flammen zu hören.

„Du hast ja keine Ahnung, was zwischen mir und Cole passiert.“

„Da hast du recht, und es interessiert mich auch nicht“, entgegnete ich, obwohl ein kleiner Teil von mir schon gern die Wahrheit gewusst hätte.

Ihre dunklen Wimpern senkten sich und verbargen die jadegrünen Augen. „Ich hatte dir bereits gesagt, dass ich dich fertigmache, wenn du ihm wehtust. Das war ernst gemeint. Jetzt sage ich dir, halte dich von ihm fern, ansonsten wische ich den Boden mit deinem Gesicht, bevor ich dich fertigmache.“

Okay, das reichte. Sie hatte meine Geduld überstrapaziert. „Wenn du möchtest, dass ich heule und dir verspreche, alles zu tun, was du willst, dann musst du schon etwas überzeugender drohen.“ Eine vernünftige Person hätte jetzt erwähnt, dass Cole und ich noch nie ein Wort miteinander gewechselt hatten - und das auch nicht planten, aber in letzter Zeit war ich nicht gerade vernünftig.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und sah mir in die Augen. „Ich bin zu Dingen fähig, von denen du nicht einmal träumst.“

„Ganz meinerseits.“

„Große Reden. Lass doch mal sehen, was du draufhast.“

„Lass du lieber mal sehen, wie du dich zurückziehst, Love Button, bevor dir eine Ader platzt“, ertönte eine bekannte Stimme hinter ihr.

Mackenzie herumwirbelte, ich sah aber noch ihren wütenden Blick.

„Ach, die Straßenkatze. Kommst du zur Rettung einer anderen Streunerin?“

Kat kam grinsend an meine Seite. „Ja, das tu ich. Zu deiner Rettung, nur um das klarzustellen. Meine Ali hat einiges drauf. Als ich sie das erste Mal traf, lagen eine Menge Leute vor ihr, die vor Schmerz stöhnten und jammerten. Ehrlich. Außerdem will ich nicht, dass sie gleich suspendiert wird, weil sie der ganzen Schule einen Gefallen tut und dir deine eigenen Zähne zum Frühstück serviert. Abgesehen davon, ist Cole derjenige, den du dir vornehmen solltest. Er hat sie ja förmlich mit seinen Blicken verschlungen. Ich wundere mich, dass Ali keine Bisswunden hat.“

Mackenzie ballte die Hände zu Fäusten, und ich stellte mich vor Kat, nur für alle Fälle. Niemand würde meiner Freundin wehtun und lange genug leben, um es weiterzuerzählen. Das war mein neues Motto, eins, das ich für immer aufrechterhalten würde.

„Jetzt hast du echten Ärger“, säuselte Kat.

Langsam öffnete Mackenzie ihre Fäuste wieder. „Du bist es gar nicht wert“, zischte sie ihrer brünetten Gegenspielerin zu.

„Tatsächlich? Na, dann geh mal zu Frosty, und frag ihn“, sagte ich. „Sie ist mehr wert als das.“

Lachend wedelte Kat ihr mit einem kleinen Finger zu, hakte sich bei mir unter und schob mich in die Cafeteria, wo wir zusammen auf einen freien Tisch am hinteren Ende zusteuerten. Noch besser war, dass Mackenzie wieder einmal geifernd zurückblieb.

„Wie du wahrscheinlich festgestellt hast, gibt es hier nur zwei Personen, die genug Mumm haben, um sich gegen sie zu wehren. Ich bin eine davon, aber ich hatte keine Ahnung, dass du die andere bist“, sagte Kat ausgelassen. „Ich bin sooo froh, dass wir uns im Sommer an einem nicht bekannten Ort getroffen haben.“

„Ich auch.“ Mir wurde klar, dass alle in der Cafeteria uns beobachteten, schweigend und teilweise den Mund vor Erstaunen aufgerissen. Ich rieb mir mit den Handflächen über die Schenkel, als könnte mir diese Berührung Bodenhaftung geben. Hatten sie die Unterhaltung mit Mackenzie mitbekommen?

Ich bewegte mich schneller, als ich Cole entdeckte. Er saß am selben Tisch wie am Tag zuvor und war von denselben Freunden umgeben. Unsere Blicke trafen sich für einige Sekunden. Ich hielt die Luft an, wartete auf eine Vision … nichts passierte.

Ich weiß nicht, was oder ob er überhaupt etwas erwartete. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, bis Mackenzie zu ihm ging und sich neben ihn setzte. Sie umfasste sein Kinn und strich ihm mit den Fingern über die Wange. Er runzelte die Stirn, entzog sich ihrem Griff und die beiden begannen einen leisen, aber wütenden Meinungsaustausch. Zumindest hatte ich diesen Eindruck. Ich glaubte, ein drohendes Knurren von ihm zu hören. Er massierte sich den Nacken, als müsste er seine Hände beschäftigen, um dieses Mädchen nicht zu erwürgen.

„Und schon ist sie wieder auf einer weiteren mentalen Reise“, murmelte Kat.

Reiß dich zusammen, Bell. „Tut mir leid.“

„Jetzt kannst du aber nicht mehr behaupten, du wärst nicht an Cole interessiert“, meldete sich Wren von gegenüber.

Na, großartig. Ich war so abgelenkt gewesen, dass ich sie gar nicht bemerkt hatte. Heute war ihr Tonfall zumindest nicht mehr so scharf, sie wirkte entspannt und happy. Moment mal … hatte sie etwa ein ausgefranstes Shirt an? Reeve und Poppy saßen neben ihr, die gesamte Gruppe hatte sich nun versammelt. Die anderen beiden trugen ebenfalls etwas Ausgefranstes. Hatte ich irgendwie einen (schrecklichen) Trend kreiert?

„Ich bin nicht an ihm interessiert“, sagte ich. Ich war inzwischen regelrecht von ihm besessen.

„Aha.“

Wrens Schultern sackten herunter, als wäre sie eine Blume in einer Vase ohne Wasser.

„Ich dachte, ihr hättet mir geraten, mich von ihm fernzuhalten.“

„Ich habe meine Meinung geändert“, sagte sie strahlend und spielte mit ihren Locken. „Ihr würdet ein heißes Paar abgeben, einfach heiß.“

Jetzt klang sie etwas zu euphorisch. Mir war nicht klar, was ich davon halten sollte, nachdem ich wusste, dass sie ihn für den größten Troublemaker hielt.

„Ali, Ali, Ali“, sagte Kat und schnalzte mit der Zunge. „Sieh doch nicht so verloren aus. Du hast die richtige Entscheidung gefällt. Cole hat mal einen Haufen rostiger Nägel gegessen und behauptet, es würde schmecken wie Tränen eines Einhorns vermischt mit Feenstaub. Wahre Geschichte. Ich war dabei.“

Reeve nickte wild. „Ich war nicht dabei, aber das könnte ich glauben. Ich habe mal mitbekommen, wie er einen Lehrer verprügelt hat, weil der es wagte, ihn nach der Bedeutung von X minus Y zu fragen.“

„Der Typ musste drei Monate ins Krankenhaus“, sagte Poppy und tippte sich mit einem Fingernagel ans Kinn. „Oder war es ein Schüler, den er geschlagen hat, weil der die Frechheit besaß, eine andere Antwort zu geben als er?“

„Wahrscheinlich beides. Mit den Leuten, die er verprügelt hat, könnte man einen neuen Staat gründen. Und gleich noch eine Stadt daneben mit denen, die er fast erwürgt hätte.“ Reeves zarte Finger flatterten an ihre Kehle, als würde sie mit den Opfern mitleiden. „Das letzte Mal, als er so was gemacht hat, war das Schrecklichste, was ich je gesehen habe“, fügte sie grinsend dazu. „Oh, oh.“ Sie klatschte. „Es läuft über YouTube. Am besten, du gibst mir deine Nummer und ich simse dir den Link.“

„Vielleicht hat Ali ja Glück, und er vergreift sich nicht an ihr“, sagte Wren.

Die anderen Mädchen brachen in Gelächter aus, und Wrens Wangen färbten sich rot.

„Zu allererst wird er sich an ihr vergreifen“, sagte Kat lachend. „Wahrscheinlich hat er sich das schon hundertmal ausgemalt.“

Jetzt wurde mir heiß, und mit ziemlicher Sicherheit errötete ich allerliebst. Ich nahm mir fest vor: Recherche zu Cole Holland, sobald ich zu Hause bin. Nicht dass ich nur die Hälfte dessen glaubte, was die Mädchen mir erzählten, doch meine Neugierde war erwacht.

Obwohl ich keine Ahnung hatte, wie lange ich noch mein Handy haben würde, gab ich ihnen meine Nummer und notierte mir ihre. Der Punkt war, meine Großeltern würden wahrscheinlich die Rechnung nicht weiterbezahlen. Sie würden sagen: Wozu brauchst du ein Handy, wenn wir hier ein wunderbares Festnetz haben? Mein Handy war das Letzte, was meine Eltern mir geschenkt hatten. Ich würde ausflippen ohne das Ding.

Ich hatte Fotos von Emma darin gespeichert, auch ihre Textnachrichten. Obwohl sie noch so jung gewesen war, hatte sie bereits ihr eigenes Handy gehabt. Dad wollte, dass wir immer erreichbar waren, nur für den Fall. Und nein, ich hatte mir seit der Sache kein einziges Foto angesehen und keine der SMS gelesen. Dazu fehlte mir der Mut. Bis jetzt. Aber eines Tages würde ich so weit sein, das hoffte ich.

„Hier, iss das.“ Kat reichte mir die Hälfte ihres PB&J. „Wenn ich meine Ali richtig einschätze, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das tue, wird sie keinen meiner wunderbaren Ratschläge beachten und Cole den Kopf verdrehen. Und wenn du dich um so einen bemühst, brauchst du Kraft.“

„Ich bemühe mich nicht um ihn!“ So verrückt war ich nicht, oder doch? „Aber vielen Dank fürs Sandwich.“ Ich hatte meins vergessen und verschlang dieses, als wäre es Manna vom Himmel. „Habt ihr Mädels denn einen Freund?“

„Ich ja“, sagte Wren. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. „Er hat letztes Jahr den Abschluss hier gemacht und geht jetzt auf die UA. Normalerweise treffen wir uns an den Wochenenden. Er studiert Medizin, und ich will Krankenschwester werden. Wenn er mit der Ausbildung fertig ist, heiraten wir, und alles ist super.“

Poppy zuckte die Achseln. „Ich halte erst mal eine Zeit lang die Augen offen, mal sehen, was so auf dem Markt ist, bis ich jemanden ausmache, der mir gefällt. Leider habe ich für dieses Jahr keinen Hauptanwärter gefunden.“

Reeve warf ihren seitlichen Pferdeschwanz hinter die Schulter zurück. „Für mich gibt es niemanden.“

„Lüg doch Ali nicht an.“ Kat hob drohend einen Finger. „Wenn sie und Cole in einer wunderschönen Gefängniszeremonie heiraten, denn wir wissen ja alle, dass er mal dort landen wird, kann Ali dir vielleicht Kontakte vermitteln.“

Ihr Blick aus strahlenden haselnussbraunen Augen richtete sich auf mich.

„Reeve ist nämlich seit zwei Jahren in Bronx verknallt.“

Diese Information traf mich wie … na, sagen wir mal - ein Schlag mit dem Baseballschläger. So was hätte ich ja niemals vermutet. „Aber der ist doch so …“

„Serienkillermäßig?“, schlug Kat vor und zog die Augenbrauen hoch.

Nun ja, als wäre ich geeignet, das zu beurteilen. Bronx mochte vielleicht die Ausstrahlung eines Serienkillers haben, aber ich war besessen von dem Typen, der sein Anführer war.

„Ich habe versucht, sie zu warnen“, sagte Wren.

„Und nicht nur ein Mal“, bestätigte Poppy nickend.

Jetzt wurde Reeve rot. „Bronx hat mehr als einMal klargemacht, dass er sich nicht für mich interessiert“, sagte sie und hob das Kinn. „Also ist es sowieso egal.“

Wren umfasste ihre Wasserflasche. „Und wie oft habe ich dir gesagt, dass du ohne ihn besser dran bist?“

„Das bist du echt“, bestätigte Poppy.

„Außerdem“, fuhr Reeve fort, „habe ich beschlossen, John Clarys Einladung anzunehmen und mich mit ihm zu treffen.“

„John Clary“, riefen Kat, Poppy und Wren gleichzeitig.

„Er passt perfekt zu dir!“

„So ein guter Typ!“

„Er kann dir in Mathe helfen, damit du bessere Zensuren bekommst.“

Ich konnte leider nichts dazu beisteuern, da ich keine Ahnung hatte, wer John Clary war.

Während die Mädchen ihr noch tausend Fragen stellten, klingelte es zum Ende der Pause. Es war Zeit, sich auf den Weg zu den Unterrichtsräumen zu machen. Arme Reeve! Sie wirkte auf mich, als würde sie nackt vor ihrer Geschichtsklasse stehen, um einen Vortrag über die Hexenprozesse von Salem zu halten, und sich selbst als Anschauungsmaterial zur dort angewandten Folterpraxis herzeigen.

Ich verabschiedete mich und stand auf. Als ich mich umdrehte, stieß ich mit jemandem zusammen. Ich murmelte eine Entschuldigung, während ich Halt suchend meine Hände ausstreckte, die auf einer festen Männerbrust landeten.

Was auch immer ich hatte sagen wollen, erstarb auf meinen Lippen, denn ich stellte fest, dass ich Cole Holland berührte.

Meine Hände liegen tatsächlich auf Cole Hollands Brust.

Den Blick gehoben … und da war er. Ich schnappte nach Luft, atmete dabei den Duft von Sandelholz ein und hätte fast aufgestöhnt. Er roch genauso wie während meiner … Himmel noch mal! War das wieder eine Halluzination? Hier und jetzt? Ich presste die Fingerspitzen auf seine Brust. Er fühlte sich fest und warm an. Was bedeutete … das hier war Wirklichkeit. Es passierte tatsächlich.

Nun konnte ich das Aufstöhnen nicht mehr unterdrücken. Ich wollte zurückweichen und stieß gegen die Sitzbank. Er versperrte mir den Weg nach vorn.

Mein Magen machte komische Sachen, schien sich zu drehen und eine Zirkusnummer zu vollführen.

„Na, na“, sagte Kat übertrieben fröhlich. Die anderen Mädchen warfen ihm nur einen skeptischen Blick zu, bevor sie sich aus dem Staub machten. „Bist du hier, um Ali und mich zu unserem Klassenzimmer zu begleiten, großer Junge?“

In Coles Wange zuckte ein Muskel, als müsste er seine Wut unterdrücken. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er hoffte, eines Tages Weltmeister im Schwergewichtsboxen zu werden.

„Was ist?“, drängte Kat.

Er starrte mich nur an. „Ali …“

Seine Stimme ging mir durch und durch, tief und voll und ein bisschen rau, als hätte er meinen Namen durch einen Fleischwolf gedreht. Warum war das so smexy? Und warum war das dieselbe Stimme, die ich von meinen Visionen her kannte?

„Meinst du mich?“, krächzte ich. „Was ist denn?“

Blöde Frage. Ich wusste genau, was war.

Er ging glücklicherweise nicht darauf ein, sondern sagte an Kat gewandt: „Lass Frosty nicht so lange zappeln. Du machst ihn fertig.“

Kat kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie wütend wurde.

„Er hat es verdient, fertiggemacht zu werden. Immerhin hat er den kleinen Frosty diesen Sommer nicht in der Hose gelassen“, zischte sie.

„Das stimmt nicht“, entgegnete Cole scharf.

„Doch.“

„Nein.“

„Doch!“

„Nein“, wiederholte Cole jetzt trotz ihrer wachsenden Wut ruhiger.

Ich hätte bei dem Wortwechsel wohl den Kopf hin-und herpendeln lassen wie bei einem Tennismatch, aber er hatte während der ganzen Zeit mich angesehen, und ich hatte nicht die Kraft wegzusehen.

„Doch, doch, doch“, schrie Kat und stampfte mit dem Fuß auf.

Endlich sah er sie an und entließ mich aus dem Kraftfeld dieses überirdischen Blicks.

„Wie alt bist du, fünf?“

„Sechs.“ Kat stemmte die Hände in die Hüften. „Dann sag mir mal bitte eins: Weißt du so genau, dass Frosty nicht fremdgegangen ist, weil du jeden Tag vierundzwanzig Stunden mit ihm zusammen warst?“

Schweigen.

„Das hatte ich auch nicht vermutet. Ali?“

Ich wusste, was sie mich fragte. Wollte ich, dass sie bei mir blieb?

„Ist schon okay“, sagte ich und hatte immer noch ein leichtes Krächzen in der Stimme. Reiß dich zusammen, und zeig endlich den Mumm, von dem Kat meint, dass du ihn hast! Ich konnte die Situation sicher noch retten. Ich hatte die Hölle auf Erden durchgemacht, das hier sollte nun wirklich ein Klacks sein.

Cole wandte sich mir zu und sah mich erwartungsvoll an.

„Alles okay“, versicherte ich erneut, mehr für mich selbst als für Kat. Zumindest klang meine Stimme jetzt fester. Ich würde diese Konfrontation überstehen, meine Fragen beantwortet bekommen und -bum! Alles wäre wieder so normal wie vorher.

„Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe.“

Weg war sie, ließ mich mit Cole allein. Was hatte sie mir gesagt? Dass er gefährlich war … abgehakt! Dass er immer noch mit seiner Ex herumhing … abgehakt! Dass er sich gern prügelte … doppelt abgehakt!

„Du hast jetzt bei Mrs Heldermon Unterricht“, sagte er. Keine Frage, eine Feststellung.

„Ja.“ Ich war überrascht, nicht weil er kein einziges Mal fluchte, wie ich es mir vorgestellt hatte. „Woher weißt du das?“

Er rieb sich den Nacken, genauso wie vorhin während seines Streits mit Mackenzie. Bitte mach, dass es kein Zeichen dafür ist, dass ich ihn nerve.

„Ich muss in dasselbe Gebäude. Gestern habe ich dich in die Klasse gehen sehen.“

Dabei hatte ich ihn überhaupt nicht entdeckt - obwohl ich nach ihm Ausschau gehalten hatte. Und wie ich Ausschau gehalten hatte! Entweder ließ meine Beobachtungsgabe nach oder er hatte eine außerordentliche Begabung, sich zu verstecken.

„Komm schon.“

Wir setzten uns in Bewegung. Jeder, der uns sah, drehte sich nach uns um. Freunde stießen sich gegenseitig an, Köpfe wurden in unsere Richtung gedreht. Es war, als wären wir gerade in der neuesten Realityshow zu sehen - die Überlebenden der Asher High - und die anderen wären unsere geschätzten Zuschauer.

Als wir außer Hörweite waren, sagte Cole mit unterdrücktem Ärger in der Stimme: „Was auch immer du jeden Morgen mit mir machst, lass es sein.“

Mein Kopf ruckte so schnell hoch, dass ich schon befürchtete, ein Schleudertrauma zu erleiden. „Was ich mit dir mache? Warum nicht, was du mit mir machst?“

„Was mache ich denn mit dir?“

Als würde ich meinen Irrsinn vor ihm zugeben, bevor er nicht selbst was verriet. „Das solltest du mir erklären.“ Immerhin könnte er ja auch von etwas völlig anderem reden. Vielleicht wollte er mir nur raten, ihn nicht ständig so anzuglotzen, wie ich es zuerst vermutet hatte. Vielleicht wollte er, dass ich mich nicht mit seinen Freunden anlege, obwohl sie mich in die Zange genommen hatten.

Wir gingen weiter, keiner von uns sagte ein Wort. Ich wollte darauf warten, bis er was von sich gab, aber ich konnte mich nicht lange beherrschen. „Mit wem hast du … dich denn geprügelt?“, platzte ich schließlich heraus.

„Mit niemandem, den du kennst“, entgegnete er, nachdem er einen winzigen Moment gezögert hatte.

Wieder Schweigen.

O-kay. Er hatte dieses kleine Meeting arrangiert, hatte mir zwei Fragen gestellt und ansonsten nichts weiter zu sagen. Das war … eine Erleichterung. Jawohl, eine Erleichterung und keine große Enttäuschung.

Viel zu schnell - oh, ich meine natürlich nach einer schrecklichen Ewigkeit - erreichten wir meinen Klassenraum und blieben davor stehen. „Vielen Dank für die Begleitung, aber das sollten wir wirklich nicht wiederholen“, murmelte ich. Vergiss die Antworten. Ich könnte ohne sie leben.

Er streckte einen Arm aus und legte die Hand an den Türrahmen, um mich an der Flucht zu hindern.

„Tut mir leid wegen Mackenzie“, sagte er, inzwischen nicht mehr so ärgerlich. „Sie wird dich nicht noch mal belästigen.“

Na ja, das war zumindest schon mal was. „Das hat mich nicht weiter beunruhigt“, erwiderte ich ehrlich.

Er verzog die Lippen, als müsste er sich ein Grinsen verkneifen. „Das sollte dich aber beunruhigen. Sie kann ziemlich … gemein werden. Sehr gemein.“

Was hatte er zuerst sagen wollen? Ver… Schnitt! (Kat wäre so stolz auf mich. Nicht mal in Gedanken konnte ich fluchen.) „Trotzdem mache ich mir keine Sorgen.“

Sein angedeutetes Grinsen wurde breiter. „Hast du dich schon mal richtig geprügelt?“ Mit seiner freien Hand nahm er eine meiner Haarsträhnen zwischen die Finger. „Du siehst eher aus wie jemand aus einem Märchen.“

„Die böse Hexe?“, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen.

„Also bitte. Die Prinzessin natürlich.“

Ui, war das gerade ein Kompliment gewesen? Musste ein Irrtum sein. Er hatte das nicht unbedingt freundlich gesagt.

Ich bemerkte zwei Schüler, die ein Stück entfernt von uns standen. Offensichtlich wollten sie in den Klassenraum und wagten es nicht, sich an Cole und mir vorbeizuschieben. Ich umfasste Coles Handgelenk und schob seinen Arm zur Seite. Die beiden beeilten sich, in die Klasse zu gehen. Ich blieb so stehen, dicht bei Cole, konnte sein Herzklopfen spüren und brachte es nicht fertig, mich wegzubewegen.

„Ja, ich habe mich schon geprügelt“, sagte ich schließlich, um seine Frage zu beantworten. Mit meinem Vater beim Trainieren.

Cole legte den Kopf schief und sah mich fest an. „Ein Faustkampf?“

Oh, oh. Ich sah seine violetten Augen aus der Nähe und war gefangen. Wahnsinn. „Gibt es noch was anderes?“

„Jede Menge, allerdings. Und gegen wen hast du gekämpft?“

„Niemand, den du kennst“, gab ich ihm seine eigene Antwort zurück. Wenn ich ihm die Wahrheit sagte, würde er annehmen, mein Vater hätte mich absichtlich gewinnen lassen. Oder noch schlimmer, er würde annehmen, ich wäre eine Bestie, die gegen den eigenen Vater kämpft. Und ich hätte keine Entschuldigung!

Wieder zuckten seine Mundwinkel. Ich schien ihn zu amüsieren, doch ich wusste nicht, wodurch. Er brachte mich jedenfalls ziemlich durcheinander. Wieso sollte er mich vor der Brutalität seiner Exfreundin warnen? Weshalb mich beruhigen?

Ich betrachtete sein Gesicht, versuchte Antworten zu finden, aber nichts.

„Ali?“

„Ja.“ Ich sah auf seinen Mund. Aus dieser Nähe entdeckte ich ein kleines Tröpfchen Blut auf dem Riss in seiner Unterlippe. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass er meinen Vater hätte besiegen können. Und ich war sicher, dass er dann trotzdem noch über ausreichend Energie verfügt hätte, um meine beiden Visionen wahr werden zu lassen.

„Ich fragte dich, ob du Bell mit Nachnamen heißt.“

Dieser überraschende Themenwechsel brachte mich völlig durcheinander. Ohne vor Scham zu sterben, weil ich mich in diesen dummen Gedanken verloren hatte, stellte ich mich schnell darauf ein. „Ja, Bell. Warum?“

„Dein Vater war Phillip Bell. Deine Mutter Miranda Bradley.“

War, hatte er gesagt. Nicht: Ist. Ich unterdrückte den plötzlichen Drang zu schreien. „Das stimmt“, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Woher weißt du das?“ Ich hatte nicht mal Kat gegenüber die Namen meiner Eltern erwähnt.

„Mein Vater ist mit ihnen zur Schule gegangen.“

Es gab jemanden, der sie gekannt hatte, jemanden, der ihren Verlust womöglich betrauerte. Wie merkwürdig festzustellen, dass die Menschen, mit denen ich mein ganzes Leben verbracht hatte, ein Leben vor meiner Existenz geführt hatten, ohne mich. Das war mir natürlich irgendwie klar gewesen, aber es so genau zu erfahren, war etwas anderes. „Dein Vater ist hier zur Schule gegangen?“

Er nickte.

Jetzt hatte ich ungefähr eintausend Fragen mehr. Waren unsere Eltern miteinander befreundet gewesen? Oder waren sie Feinde? Hatte sein Vater ihm irgendetwas über meinen erzählt? Woher wusste sein Vater von mir - hatte Cole mich ihm gegenüber erwähnt? Ich stellte ihm keine einzige dieser Fragen, denn das wäre eine Einladung an ihn, ebenfalls welche zu stellen. Ich war aber noch nicht so weit, um über das, was im Sommer passiert war, zu sprechen.

„Mein Vater würde gern wissen …“

„Danke für die Info zu deiner Freundin“, sagte ich schnell, um gleich klarzustellen, dass ein Gespräch über meine Eltern nicht zur Diskussion stand. Ich war nicht sicher, wie ich reagieren würde, und wollte nichts riskieren. „Wir sollten uns jetzt besser verabschieden.“

Er sah mich verständnisvoll an und nickte. „Okay. Aber nur um das richtigzustellen, Mackenzie ist nicht meine Freundin.“

Mehr sagte er nicht, und ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also drehte ich mich um und ging in den Klassenraum. Ein goldener Stern für mich - ich warf keinen letzten Blick über die Schulter zurück. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass er mich beobachtete. Ich spürte nämlich zwei Brandstellen auf meinem Rücken.

Ich überstand den Unterricht bis zur letzten Stunde ohne Probleme und zwang mich, bis zum Schlussvortrag zuzuhören - es ging darum, Gleichungen mit minimalem Rechenaufwand zu lösen -, dabei verbot ich mir die ganze Zeit, meine Gedanken zu Cole Holland abschweifen zu lassen. Go, Ali, go. Endlich, glücklicherweise klingelte es - und ein bisschen traurig stellte ich fest, dass ich keineswegs schlauer war.

Kat, mit der ich diesen Kurs gemeinsam hatte, hatte mir einen Platz neben sich freigehalten und wackelte immer mit den Augenbrauen, wenn ich sie ansah. Am Schluss der Stunde hielt sie mich auf, bevor ich flüchten konnte, und wollte jedes einzelne Wort von mir hören, das Cole und ich gewechselt hatten.

Die selbst auferlegte Cole-Holland-Sperre war damit aufgehoben, nahm ich an, ich war irgendwie froh darüber. Ich brauchte Rat. Ich wiederholte das Gespräch Wort für Wort, und ihre Aufregung verpuffte.

„Okay, ich weiß ja nicht, wie sie in der Carver Academy ‚cool‘ im Gegensatz zu ‚lahm‘ interpretieren. Ach, hatte ich erwähnt, dass wir euch vergangenes Jahr sowohl beim Football als auch beim Baseball den Hintern versohlt haben? Na, jedenfalls in der Asher High wird so was als echt lahm bezeichnet.“

Ich war nicht beleidigt. Diese Offenheit schätzte ich. „Was hätte ich denn sagen sollen?“

Sie blickte mich an, wobei ihre Augenlider flatterten, und senkte die Stimme zu einem rauchigen Flüstern. „Cole, du großer starker Tiger. Ich weiß, der Boogeyman denkt, du wirst aus seinem Schrank springen, aber ich glaube, du bist … He, Marcus, hörst du etwa bei unserem privaten Gespräch zu?“, rief sie. „Ja, so ist‘s gut, lauf nur.“

Ich konnte sie nur verwirrt anblinzeln. Niemals würde ich Cole einen großen starken Tiger nennen.

„Wo war ich stehen geblieben?“, fragte Kat. „Egal. Wenn ich deinen Gesichtsausdruck richtig deute, bist du noch nicht bereit für Flirtunterricht. Los komm, lass uns ins Café Bella gehen und so viele Lattes trinken, dass wir eine Woche lang Koffein pinkeln.“

Für mich hörte sich das an wie Engelsgesang. „Das würde mir gefallen.“

Sie lächelte. „Ich hab doch immer die besten Einfälle, oder?“

Der Himmel wirkte, als wäre er von einem grauen Film bedeckt. Dichte dunkle Wolken zogen über uns auf, die aussahen, als könnten sie jeden Moment platzen … bis auf eine. Die war weiß und flauschig, eine perfekte Schönwetterwolke - und geformt wie ein Kaninchen im Sprung.

Eiskristalle schienen durch meine Adern zu schießen, ich blieb ruckartig stehen. Das letzte Mal, nachdem ich so eine Wolke gesehen hatte, waren alle, die ich liebte, umgekommen.

Rein verstandesmäßig war mir klar, dass eine Wolke nicht meine Zukunft bestimmen oder womöglich vorhersagen konnte, aber …

Plötzlich drehte sich die Welt um mich, drehte und drehte sich. Autos um Autos zogen an mir vorbei, auf dem Parkplatz herrschte reges Treiben, alles wie in dichtem Nebel, die Geräusche gedämpft. Jemand hupte. Ein anderer beschwerte sich. Ich schaffte es nicht, mich vorwärtszubewegen. Stand nur da und starrte entsetzt nach oben.

„Ali?“

Kats Stimme schien von weither zu kommen, wie vom Ende eines langen schmalen Tunnels. Würde sie heute meinetwegen einen Unfall haben? Würde sie vor meinen Augen sterben? Würde ich wieder nur mit einem Kratzer davonkommen?

Mit einem Mal kam Leben in mich und ich wich vor ihr zurück.

„Ali?“, sagte sie noch einmal.

Ich zwang mich, sie anzusehen. Der Ausdruck von Besorgnis auf ihrem Gesicht hätte mich fast umgehauen. „Ich kann nicht“, sagte ich schnell. „Geht einfach nicht, tut mir leid.“ In meinem Kopf breitete sich Watte aus, mir wurde schwindlig. Ich wirbelte herum und rannte los, auf das Gebäude zu.

Ich hörte, wie sie mir hinterherrief, wusste, dass sie versuchte, mich einzuholen. Eine Hintertür wurde vom Wind aufgerissen und wieder zugeschlagen. Ich schoss hindurch, als sie sich das nächste Mal öffnete, und lief den Flur entlang. Ich sah Dr. Wright nicht, hörte nur, wie sie nach mir rief, doch ich achtete nicht auf sie. Dann stürzte ich in eine Toilette (für Jungen), wo ich mich in einer Kabine einschloss. Heftig atmend saß ich auf dem Klodeckel, zog die Knie hoch und kämpfte gegen die Tränen an.

Minuten, vielleicht sogar Stunden vergingen, aber weder Kat noch Dr. Wright fanden mich.

Was sollte ich tun? Was zum Teufel sollte ich tun? Ich hatte bereits den Bus verpasst und wollte auf keinen Fall Nana anrufen, damit sie mich abholte. Ich konnte … ich konnte heute einfach nicht in ein Auto steigen. Zu niemandem. Wenn jemand meinetwegen sterben sollte, würde ich dieses Schuldgefühl nie wieder loswerden.

Dir ist doch klar, wie irrational du bist, oder?

Ja, das war mir klar. Aber half mir das weiter? Nein.

Mein Zuhause war nur ein paar Kilometer entfernt. Ich kann laufen, beschloss ich. Ja, das war die perfekte Lösung. Es wäre kein Wagen im Spiel, und ich bekäme ein bisschen Bewegung, die ich so sehr benötigte. Langsam beruhigte ich mich wieder.

Das Gewitter würde jeden Moment losgehen, wahrscheinlich würde ich bis auf die Haut durchnässt sein, bis ich ankam, aber niemand würde in Gefahr gebracht werden. Das war alles, was zählte.