7. KAPITEL
Aus der Verpuppung in die Hölle
Cole führte mich nach draußen, über den sonnenüberfluteten Parkplatz, der nun verlassen dalag, ohne irgendwelche Kids - und somit ohne Zeugen -, zu seinem braunen Jeep Wrangler. Oder vielleicht war es ein weißer Jeep Wrangler. Wegen des ganzen Schlamms, der an der Karosserie klebte, war das schwer zu beurteilen.
Das Dach fehlte und die Türen ebenfalls. Der Boden war mit trockenem Laub und sonderbaren dunklen Fleckenbedeckt. Die Rückbank war herausgenommen worden, sodass sich dort nun eine offene Ladefläche befand.
Ich kletterte auf den Beifahrersitz, während er zur Fahrerseite ging. Ein kurzer Blick zum Himmel zeigte mir - Gott sei Dank -, dass es nirgends eine Kaninchenwolke gab.
„Aber Dr. Wright wird …“, begann ich.
„Es wird sie nicht interessieren, dass wir nicht da sind“, unterbrach er mich.
„Woher willst du das denn wissen? Hast du ihr Bescheid gesagt?“
Schweigen.
Ich nahm das als ein dickes fettes Nein. „Wohin fahren wir?“ Wie auch immer seine Antwort ausfallen mochte, ich hatte keine Angst. Nicht mal, wenn er sagen würde:Ins Schlachthaus! Oder, noch viel schlimmer, in eine Karaoke-Bar. (Ich bin eine sehr, sehr schlechte Sängerin.) Wir würden miteinander reden.
Er stellte das Radio an. Since October schallte plötzlich aus den Lautsprechern. Der Wagen schoss mit quietschenden Reifen aus der Parklücke, und der aufgewirbelte Staub verteilte sich auf uns. Okay. Nachricht erhalten. Zuerst wollte er also das Anschweigespiel spielen. Dann bereite dich mal darauf vor, zu verlieren, Cole Holland!
Der Fahrtwind wehte durch mein Haar, und ich studierte Coles Profil. In der Mitte seiner Nase befand sich ein winziger Höcker, als wäre sie mehr als einmal zu Bruch gegangen. Der Riss in seiner Lippe war fast verheilt und der Bluterguss auf seiner Wange verblasst. Das Kinn hatte er entschlossen nach vorn geschoben, ich bedauerte jeden, der ihn herausforderte.
Ungefähr nach zehn Minuten Fahrt, während Hügel und Bäume an uns vorbeiflogen, drehte er die Musik leiser und warf mir einen kurzen Blick zu. „Was ist?“
Na bitte! Gewonnen! „Ich gucke nur.“
Er schob das Kinn weiter vor. „Dieser Typ … Justin …“
„Was ist mit ihm?“, sagte ich, als er nicht weiterredete.
„Gehst du mit ihm?“
Der Wahnsinn! Justin hatte mich das Gleiche wegen Cole gefragt. Ich dachte an die Reaktion von Kat, Reeve, Poppy und Wren bezüglich meiner Beziehung zu Cole und Justin, und mir wurde eins kristallklar: Auf der Asher High klingelten gleich die Hochzeitsglocken, wenn man mit einem Jungen redete.
„Nein, tu ich nicht. Weshalb interessiert dich das überhaupt?“ Mein Tonfall klang ziemlich bedürftig, das nervte mich. Im Grunde hatte ich jetzt in Jungen-Code so was gesagt wie: Bitte, bitte sag mir doch, dass du gerne mit mir gehen willst. Bitte, ich flehe dich an!
Glücklicherweise sah er darüber hinweg.
„Wie bist du gestern nach Hause gekommen?“
„Ich bin gelaufen.“
Er warf mir einen Blick zu, der nicht anders als böse zu bezeichnen war.
„Mach das nie wieder, hast du mich verstanden? Diese Wälder sind gefährlich!“
Für einen Moment konnte ich nur plappern:„Erstens klingst du jetzt wie mein Großvater, zweitens finde ich es absolut erstaunlich, dass du glaubst, mich herumkommandieren zu können.“Vergiss das Bedauern für denjenigen, der ihn herausfordern sollte. Das brauchte er offensichtlich! „Drittens: Woher willst du wissen, dass ich durch den Wald gegangen bin? Vor allem, da du weißt, dass ich nicht weit von der Schule wohne.“
„Stimmt nicht“, sagte er selbstsicher.
Ich konnte mich nicht zurückhalten, ihn zu fragen: „Warst du gestern Nacht hinter unserem Haus im Garten?“ Bitteschön. Besser gleich die brutale Antwort bekommen, statt mich drum herumzudrücken und mich verrückt zu machen.
Ein Augenblick des Schweigens. Dann: „Ja.“
Moment mal. Wie bitte?„Warum?“
Er drehte die Musik wieder lauter. Ich dachte kurz daran, sie selbst leiser zu stellen, letztendlich blieb ich doch Miss Wohlerzogen, wie meine Mutter mich immer hatte haben wollen, und hielt meine Hände im Zaum. Das hier war sein Auto. Er konnte tun, was er wollte. Aber außerhalb seines Wagens …
Nach einer Weile bog er auf den Parkplatz eines Supermarkts. Ein paar Autos standen davor, Leute gingen aus und ein. Cole drehte den Zündschlüssel und zog ihn ab. Die Musik erstarb.
Er überlegte einen Moment, dann sagte er: „Ich gebe dir meine Telefonnummer.“
Sein Blick nach vorn durch die Windschutzscheibe war so finster, dass ich dachte, er wollte das, was immer er da erblickte, auf der Stelle vernichten.
„Wenn du jemanden brauchst, der dich von der Schule nach Hause fährt, ruf mich an oder schick mir eine SMS, und ich kümmere mich darum.“
Oho. Was war das? Der böse Junge von der Asher High bot mir doch nicht etwa an, mich zu chauffieren? Mich. Das merkwürdige Mädchen mit dem starren Blick.
„Okay?“, drängte er. „Verstanden?“
Tatsächlich. So war‘s. So war es wirklich. „Ich hatte eine Mitfahrgelegenheit“, sagte ich. „Aber ich wollte lieber laufen.“
Er sah mich durchdringend an und ich erschauerte.
„Das ist alles, was du mir zu sagen hast?“
„Also … ja.“ Was hatte er denn erwartet? Das ist echt das beste Angebot, das ich jemals in meinem Leben erhalten habe! Jetzt könnte ich einen Freudentanz aufführen und dem Himmel danken! Niemals würde ich irgendwas in der Art von mir geben. Die Tatsache, dass ich das überhaupt gedacht hatte, war mir schon peinlich genug.
„Warum wolltest du unbedingt laufen?“
„Weil ich eben Lust dazu hatte“, erwiderte ich, wie ich es meinen Großeltern gegenüber getan hatte.
„Du solltest den Weg besser nicht mehr zu Fuß gehen.“
„Oder was dann?“, fragte ich. Das sollte kein Scherz sein. Ich wollte es wirklich wissen.
Er klang fast animalisch, irgendwie unnatürlich, als er knurrig meinte: „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du einem den letzten Nerv töten kannst? Oder sind die Leute, mit denen du zu tun hast, zu höflich dafür?“
„He! Ich …“
Er ratterte seine Telefonnummer herunter, und ich musste mich beeilen, um mitzuhalten und sie in mein Handy zu tippen.
„Jetzt gib mir deine.“
Es dauerte einen Augenblick, bis diese Worte bei mir ankamen. In was für eine merkwürdige Szene war ich da geraten? „Ich habe keinen Wagen, deshalb kann ich dir auch keine Mitfahrgelegenheit anbieten. Es gibt also keinen …“
„Willst du mich abwimmeln? Gib mir deine Telefonnummer.“
Ich war von seiner Hartnäckigkeit hin-und hergerissen zwischen höchst erfreut und sehr verärgert. Verärgert gewann. „Bitte mich nett darum“, sagte ich. Plötzlich kam mir ein Tag mit meiner Mutter wieder ins Gedächtnis.
Also, Mom, die Mutter des Jahres wirst du nun wirklich nicht. Du hast mir ja gar nicht meinen Lieblingsschokoladenkuchen gebacken.
Ich habe nur darauf gewartet, dass du mich nett darum bittest, meine Süße.
Eine Welle von Heimweh überrollte mich.
„Bitte“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Also, wie kann ich dem wohl widerstehen?“, murmelte ich und war versucht, ihm eine falsche Nummer zu geben, nur um es ihm zu zeigen. Aber dann könnte er mich nicht anrufen, und, na ja, ich wollte, dass er mich anrief - obwohl ich keine Ahnung hatte, worüber wir uns unterhalten sollten.
„Nun?“
Ich ratterte meine Nummer herunter.
„Danke“, sagte er.
Wenn ich mich nicht täuschte, lag Erleichterung in seiner Stimme. Nein, ich musste mich getäuscht haben. Entweder das oder mein IQ-Pegel war angesichts dieser violetten Augen in den Keller gerutscht.
„Warte.“ Er stieg aus.
Er kam um den Wagen herum und … half mir beim Aussteigen. Wow! Ich hätte niemals gedacht, dass er irgendwelche Höflichkeitsgesten zeigen würde.
„Sag bloß nicht, dass du den ganzen Rest des Tages so anstrengend sein wirst.“
„Das werden wir wohl gemeinsam herausfinden“, entgegnete ich. Seine Haut fühlte sich an meiner warm an, die Handflächen rau und schwielig. Es gefiel mir, ich erschauerte sogar.
„Ist dir kalt?“ Er stützte sich mit beiden Händen am Jeep ab und hielt mich dazwischen gefangen.
„Nein. Ich meine, ja. Also vielleicht. Ich weiß nicht.“ Wollte er mich küssen? Diesmal richtig? Hier, jetzt, vor all diesen Leuten? Ich würde mir das nicht gefallen lassen. Richtig?
„Ich glaube nicht, dass dir kalt ist“, flüsterte er rau. „Du hast Angst. Und das solltest du auch.“
Ich schluckte. „Ich habe keine Angst.“
„Mal sehen, wie ich das ändern kann. Wir unternehmen einen kleinen Abenteuertrip, du und ich. Du musst mir nur versprechen zu gehorchen, wenn ich etwas befehle. Ich werde nicht nett fragen, egal wie sehr du auch mit deinen Wimpern klimperst.“
Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, noch nie hatte ich mit den Wimpern geklimpert, doch er schüttelte den Kopf, um mich zum Schweigen zu bringen.
„Es ist nur zu deiner Sicherheit.“
Wieder wollte ich protestieren.
Wieder schüttelte er den Kopf. „Das ist der Deal. Du stimmst zu, oder ich fahre dich jetzt sofort zur Schule zurück, und keine deiner Fragen wird beantwortet werden.“
Wütend strich ich mir mit der Zunge über die Zähne. Er war hinterlistig und manipulativ, das war sicher. Zu dumm, dass ich ihn trotzdem mochte. „Was glaubst du denn, was ich für Fragen habe?“
„Wahrscheinlich dieselben wie ich.“
Auf keinen Fall. Unmöglich. „Okay, ich richte mich nach deinen Anordnungen.“ Alles für ein paar Antworten. „Nur damit das klar ist, dafür werde ich dich hassen.“
„Kapiert“, sagte er mit einem amüsierten Unterton in der Stimme. „Aber bitte schlag mir nicht in mein hübsches Gesicht. Ich möchte es gern so behalten.“
Jetzt hätte ich fast gegrinst. Jemand, der so selbstgefällig war, sollte nicht so umwerfend sein, andererseits liebte ich ja auch Kat.
Cole betrachtete meine leicht zuckenden Lippen. Er beugte sich zu mir herunter … so weit, dass ich seinen heißen Atem auf meiner Haut spürte.
„Was denkst du gerade?“, wollte er wissen, während sein Mund meinem ganz nah war.
Sag ihm das um Himmels willen nicht! Ich dachte über eine coole Antwort nach. „Wird Mackenzie nichts dagegen haben, wenn wir zusammen sind? Nicht dass wir zusammen sind. Ich meine nur, dass …“Sei still, du Idiotin. Das reicht.
Er richtete sich ruckartig auf. Der Vielleicht-küsst-er-mich-Moment war in Sekundenschnelle beendet.
„Das sollte sie nicht. Wir gehen nicht mehr miteinander.“
Ich erhielt keine Gelegenheit, etwas darauf zu erwidern, denn er fügte hinzu: „Komm schon, es wird Zeit für unser Abenteuer. Ich will dir was zeigen.“
Hinter dem Gebäude begann der dichte üppige Wald, der sich bis zum Haus meiner Großeltern erstreckte. Ich runzelte die Stirn. Die Fahrt zum Supermarkt hatte demnach länger gedauert, als sie hätte dauern sollen. Ich ging die Route in Gedanken zurück und stellte fest, dass Cole ein paar Umwege gefahren war. Es hatte keine Veranlassung dazu gegeben - es sei denn, er war so paranoid wie ich und vermutete, dass wir verfolgt wurden.
„Bringst du mich jetzt nach Hause?“, wollte ich wissen, nicht sicher, was ich davon hielt.
„Ja und nein. Nun bitte kein Wort mehr, bis ich sage, dass es okay ist. Du lenkst mich sonst ab, und ich muss aufpassen, dass wir in keine Drahtfalle treten.“
„Hast du ‚Drahtfalle‘ gesagt?“
„Nicht ablenken“, flüsterte er.
Ich biss mir auf die Zunge und schwieg, während wir durch Geäst, über dicke Baumwurzeln und zwischen Findlingenbergauf und bergab liefen.
Als wir hinter unserem Garten ankamen, brannten meine Beinmuskeln, und mein Herz klopfte heftig.
Bitte notieren: Beginne noch heute mit dem Konditionstraining. Wenigstens duftete die Luft, nach der ich gierig schnappte, nach Kiefern und Wildblumen. Der Gestank nach Verwestem war verschwunden.
„Siehst du diese Spuren?“, fragte Cole und deutete auf den Boden.
Angst kroch in mir hoch, als ich dieselben Fußabdrücke sah, die ich zwei Nächte zuvor entdeckt hatte. Ich konnte sogar das Muster der Sohlen meiner Tennisschuhe erkennen, aber keine Abdrücke von Emmas Slippern. „Ja, sehe ich.“
Er sah mich scharf an. „Weißt du, von wem die stammen? Abgesehen natürlich von denen, die von dir sind.“
„Nein.“ Vielleicht. Ich strich mir mit der Zunge über die Lippen. „Weißt du‘s? Und woher weißt du, dass ich hier draußen war?“
„Du könntest mir ruhig ein bisschen mehr zutrauen. Deine Schuhgröße ist gut neununddreißig, und deine Schuhsohlen haben ein ganz bestimmtes Zickzackmuster.“
So etwas würde keinem normalen Menschen auffallen. Wie - und warum - hatte er sich das gemerkt?
Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hast also hier draußen nichts gesehen?“
„Bis auf dich?“, fragte ich, um herauszufinden, was genau er jetzt andeuten wollte.
„Ja, bis auf mich.“
Ich konnte es nicht zugeben. Es ging einfach nicht. „Zuerst möchte ich, dass du mir antwortest. Weißt du, woher diese Abdrücke stammen?“
„Ja“, sagte er, ohne zu zögern.
Unwillkürlich ging ich einen Schritt auf ihn zu. „Und woher?“
„Sag du‘s mir.“
Ich stemmte die Füße in den Boden, aus Sorge, ich könnte auf ihn losstürzen und ihn durchschütteln. „Ich habe ja nicht behauptet, dass ich es weiß.“
„Du bist blass geworden, das sagt schon alles.“
„Ich … ich …“
„Ich muss es aus deinem Mund hören.“
Nervös und trotzig schüttelte ich den Kopf. „Nein, ich sag‘s nicht.“
Cole sah mich stirnrunzelnd an, eine unterschwellige Drohung lag in seinem Blick.
„Du machst es mir wirklich schwer, Ali. Ich sollte nicht mit dir darüber reden. Und ich kann auf keinen Fall irgendetwas direkt verraten. Du musst mir sagen, was ich dir beizubringen versuche.“
Verflucht! Wollte er tatsächlich das andeuten, was er anzudeuten schien? Dass er ebenfalls Monster sah, es jedoch nicht zugeben konnte, bevor ich es nicht zugab? Aber wenn ich es zugab, und er meinte etwas anderes …
„Probieren wir es mal so“, schlug er vor. „Dein Vater ist tot, nicht? Er wurde in diesem Sommer getötet.“
Ich wirbelte herum und stellte mich mit dem Rücken zu ihm. „Ich will nicht darüber reden“, sagte ich. Mir war klar, dass Cole ebenfalls im Internet über mich recherchiert hatte, so wie ich über ihn.
„Er ist nachts bei einem Autounfall am Friedhofsgelände umgekommen“, drängte Cole weiter. „Du warst mit ihm zusammen. Hast du da irgendetwas … Merkwürdiges gesehen?“
„Ich möchte nicht darüber reden“, wiederholte ich und stakste weg von ihm. Sollte ich es aussprechen, würde ich vor seinen Augen anfangen zu heulen, dagegen weigerte ich mich hartnäckig.
Als mir plötzlich die Füße weggerissen wurden, schrie ich laut auf.
Etwas klammerte sich rau und fest um meine Knöchel und zog mich mit den Füßen voran nach oben … höher … höher … bis ich kopfüber von einem Ast baumelte. Das Blut schoss mir in den Kopf, mir wurde schwindlig.
„Was zum Teufel ist das?“, rief ich. Ich blickte nach oben. Ein dickes Seil schlang sich um meine Fußknöchel - ein Seil, das die Farbe von Baumrinde hatte.
Jemand hatte hinter unserem Garten Fallen ausgelegt. Oder war das eine der Drahtfallen, die Cole erwähnt hatte?
Er kam zu mir und hockte sich vor mich. Wir sahen uns in die Augen, nur verkehrt herum.
„Lass mich runter“, sagte ich.
Er grinste böse. „Du und deine Befehle. Bitte mich nett darum.“
Wie konnte er es wagen, mir meine eigenen Worte vorzuhalten! „Würdest du mich … bitte herunterlassen?“ Ich schwächte meinen Süßstoffton ab, indem ich nach ihm schlug.
Lachend sprang er aus dem Weg. Er schien sich zu amüsieren.
„Aber, aber, das ist doch nicht notwendig. Ich helfe dir gern, ehrlich. Danach“, fügte er hinzu.
„Wonach? Was meinst du damit? Lass mich jetzt runter!“
„Nachdem wir uns fertig unterhalten haben.“
Ach wirklich? Ich streckte mich nach hinten und rollte mich dann ein, immer wieder, bis ich genug Schwung hatte. Er war inzwischen aufgestanden und bildete die beste Zielscheibe.
„Was hast du … hmpf!“
Er keuchte auf und krümmte sich nach vorn.Ich hatte ihm einen sauberen Hieb in den Magen verpasst. „Lass mich jetzt runter“, sagte ich zufrieden.
Nachdem er sich erholt hatte, kam er auf mich zu und stellte sich so dicht vor mich, dass sein Nabel direkt vor meiner Stirn lag. Mutiger Junge. Er hielt mich an der Taille fest, um mich am Schaukeln zu hindern. An meiner nackten Taille, wie ich in aufsteigender Panik registrierte. Mein Hemd war nach unten gerutscht und entblößte fast meinen BH.
„Verdammte Erdanziehungskraft.“ Ich griff schnell nach dem Saum meines Shirts und riss ihn hoch.
„Beruhige dich, bevor du noch meinen liebsten Körperteil verletzt.“ Er schob meine Hände zur Seite, und wieder rutschte mein Shirt runter. „Warte, lass mich mal.“ Er nahm den Saum des Shirts und klemmte ihn unter den Bund meiner Jeans. „Besser?“
„Ja, und jetzt hol mich hier runter! Wer macht denn so was überhaupt?“
„Ich“, sagte er einfach.
Ich versuchte ihn anzusehen, sein Gesicht war jedoch zu hoch. „Du hast das gemacht?“
„Das habe ich doch gerade gesagt, oder?“
„Aber warum?“
„Sag du‘s mir.“
Nicht schon wieder dieses Theater. „Cole, bitte. Tu mal so, als wärst du nie im Jugendknast gewesen, und lass mich runter.“
Er seufzte. „Ali hat eine boshafte Seite. Gut zu wissen. Ich habe dir bereits gesagt, ich lasse dich runter - nachdem wir geredet haben. Hat dein Vater jemals mit dir über merkwürdige Vorkommnisse gesprochen?“
Angst stieg in mir auf und schien wie eine eiserne Faust mein Herz zu umklammern. „Wie merkwürdig?“
„Sag. Du. Es. Mir.“
Verdammt!„Ich kenne dich doch gar nicht. Ich vertraue dir nicht. Deshalb werde ich nicht mit dir darüber reden.“
Wieder seufzte er. „Die Antwort ist simpel. Du wirst mich besser kennenlernen. Gehst du zum Spiel? Zu Reeves Party?“
Komisch, dass ich nicht lange überlegen musste. „Nein, nicht zum Spiel. Ich hatte allerdings überlegt, ob ich zur Party gehe.“
„Okay, lass mich das mal klarstellen: Du gehst also zur Party, aber hast du dich schon mit jemandem verabredet?“
„Nein.“ Moment. Ja, hatte ich. Ich ging mit Kat, oder?
„Gut. Dann treffen wir uns dort.“
Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf. Er würde mich dort treffen … wie bei einem Date?
„Nein, kein Date“, sagte er kopfschüttelnd. „Du sprichst nicht mit Leuten, die du nicht kennst, über deine Story. Und ich gehe nicht mit Mädchen zu einem Date, die ich nicht kenne.“
Großartig. Ich hatte es nicht vorgehabt, es war mir nicht aufgefallen, aber ich hatte dieses Date-Ding offensichtlich laut ausgesprochen. „Dann sind wir uns ja einig“, sagte ich. „Nur um es klarzustellen: Wir verbringen ein bisschen Zeit zusammen und reden über irgendwas anderes als Fußspuren und Merkwürdigkeiten?“ Mit den anderen als Lauschern, ging mir auf und ich stöhnte.
„Ja. Hast du ein Problem damit?“
Ein großes Problem. „Nein, überhaupt nicht. Wenn du darauf bestehst. Allerdings nur, weil ich denke, wir sollten diese Unterhaltung fortsetzen, und zwar, sagen wir mal, an einem Tag, an dem du ein bisschen kooperativer bist. Lässt du mich jetzt runter? Mir wird schon übel.“
„Wird dir nicht. Aber gut, wenn du noch eine Frage beantwortest, bekommst du deinen Willen.“
„Frag.“
„Passiert morgens immer etwas Merkwürdiges mit dir, sobald wir uns das erste Mal begegnen? Etwas, das nicht immer passiert, nur morgens.“
Das konnte er doch nicht wissen. Konnte er einfach nicht … es sei denn, mit ihm passierte genau das Gleiche. Er hatte es vorhin angedeutet, aber ich war davon ausgegangen, dass er von was anderem redete. Oh bitte, bitte, bitte, lass es die Visionen sein.
„Weshalb … weshalb fragst du?“
„Ist es so?“, drängte er.
„Ja.“ Mehr wollte ich nicht verraten. „Wie … wie ist es bei dir, siehst du was?“Ich musste unbedingt mit dem Stottern aufhören. Das war ja oberpeinlich.
„Ja.“
Eine Übereinstimmung. So viel mehr, als ich erwartet hatte. „Was siehst du denn?“, flüsterte ich, gespannt, Einzelheiten zu erfahren.
„Das werde ich dir erzählen, doch nicht hier und nicht zu diesem Zeitpunkt. Schreib auf, was du siehst. Ich tue es auch. Nach der Schule tauschen wir unsere Notizen aus. Auf die Art kann keiner dem anderen vorwerfen zu lügen. Und wenn du mir einen leeren Zettel gibst, wirst du es bereuen.“
„Jetzt habe ich aber Angst“, lästerte ich. Er machte mir tatsächlich Angst. „Das Gleiche gilt für dich.“
„Gut.“
Nun, wo wir das erledigt hatten … „Fahren wir zur Schule zurück? Lässt du mich runter?“
„Ich hab doch gesagt, dass ich das mache, oder?“ Er bückte sich und zog eine kleine … oh Gott! Er hielt eine Armbrust in der Hand!
Er zielte mit der Waffe nach oben und zog den Abzug. Ich schrie auf und fiel, als der Pfeil das Seil durchtrennte.
Ich plumpste aber nicht auf den Boden. Cole fing mich noch rechtzeitig auf. Er half mir, mich aufzurichten. Es dauerte einen Moment, bis der Schwindel nachließ und ich gerade stehen konnte. Machte ich mich dann von ihm los? Nein. Er hielt mich auch weiterhin fest.
„Warum trägst du so eine Waffe mit dir rum?“, fragte ich. Eine Waffe, die er offensichtlich in die Schule mitgenommen und durch den Sicherheitscheck geschmuggelt hatte.
„Sag du‘s mir.“
Das reichte. „Ist ja gut.“ Dieser Spruch nervte mich. Total. „Ist erst mal nicht so wichtig.“
Er umfasste meine Taille fester. „Muss ich betonen, dass diese Unterhaltung eben unter uns bleibt und dass du nicht einmal Kat davon erzählen darfst?“
Ja, ich hatte beschlossen, mit Kat über die Visionen zu sprechen, aber das war ja das Morgen-Erlebnis, nicht diese Unterhaltung. „Ist schon klar“, sagte ich.
„Gut. Das reicht erst mal.“