2. KAPITEL
Der Pfuhl von Blut und Tränen
Sie waren alle gestorben. Meine Familie lebte nicht mehr. Weg. Verschwunden. Ich wusste es, sobald ich in einem Krankenhausbett aufwachte und die Krankenschwester, die sich über mich beugte, mir nicht in die Augen sah und mir nicht sagen wollte, wo die anderen waren.
Als der Arzt kam, um mir die Nachricht zu übermitteln, drehte ich mich einfach zur Seite und schloss die Augen. Das war ein Traum. Nur ein schrecklicher Traum, aus dem ich wieder aufwachen würde. Wenn ich das nächste Mal erwachte, würde alles in Ordnung sein.
Ich bin aber nicht mehr aus diesem Traum aufgewacht.
Es stellte sich heraus, dass meine Mutter bei dem Autounfall umgekommen war, genau wie mein Vater und meine … meine … Ich konnte diesen Gedanken nicht ertragen. Es ging einfach nicht. Also. Noch mal von vorn. Bei dem Autounfall war meine Familie getötet worden, und ich hatte nur unerhebliche Verletzungen erlitten. Eine Gehirnerschütterung, ein paar gebrochene Rippen, das war‘s. Das kam mir alles so fürchterlich unfair vor, versteht Ihr? Ich hätte so schlimm aussehen müssen wie meine Mutter. Zumindest den ganzen Körper eingegipst. Irgendwas in der Art.
Stattdessen ging es mir, abgesehen von erträglichen Schmerzen und kleineren Beschwerden, gut.
Sehr gut. Na klar.
Meine Großeltern mütterlicherseits kamen mich öfter besuchen und weinten um die Familie, die sie verloren hatten. Ich hatte sie zwei Wochen vorher noch gesehen. Zwei Wochen, bevor meine Mutter mich und meine … Mein Kinn zitterte, aber ich biss die Zähne zusammen. Als Mom uns zu einem Besuch bei ihnen mitgenommen hatte. Wir waren nur ein paar Stunden dageblieben, hatten gemeinsam Mittag gegessen und uns angeregt und gut gelaunt unterhalten.
Obwohl Nana und Pops mich mochten und mir gegenüber immer freundlich waren, gehörte ich wohl nicht zu ihren Favoriten. Ich glaube, ich erinnerte sie zu sehr an meinen Vater, der für ihr einziges Kind nie gut genug gewesen war.
Trotzdem würden sie mich in der Zeit der Hilflosigkeit und Trauer nicht allein lassen, versprachen sie. Ich sollte zu ihnen ziehen, sie würden sich um alles kümmern.
Also würde ich nun in einem zwei Etagen umfassenden Haus wohnen, das genauso langweilig aussah wie mein altes Zuhause und mir fremd war. Ein Gebäude, das nicht mein Vater gebaut hatte - und das nicht mit den entsprechenden Schutzvorrichtungen ausgerüstet worden war, doch das war keine große Sache. Ich hatte niemals bei einer Freundin übernachtet, immer nur in meinem eigenen Bett geschlafen. Dennoch, keine große Sache.
Ich hätte traurig sein müssen, wollte traurig sein, aber ich war völlig vor den Kopf geschlagen … leer … wie eine bloße Hülle.
Die Ärzte und Schwestern versicherten mir hundertmal, wie leid es ihnen täte und dass es mir bald wieder besser ginge. Die üblichen Floskeln. Es tat ihnen leid? Und? Das brachte mir meine Familie nicht zurück. Mir würde es bald wieder besser gehen? Bitte! Mir würde es nie wieder gut gehen.
Was hatten die schon für eine Ahnung davon, wie es war, wenn man die Menschen verlor, die man am meisten liebte? Was wussten die schon von dem Gefühl, das man hatte, wenn man plötzlich allein war? Wenn ihre Schicht endete, fuhren sie nach Hause. Sie würden ihre Kinder in die Arme nehmen, zusammen mit ihren Lieben essen und über ihren Tag reden. Und ich? Ich konnte solche einfachen Freuden nie wieder erleben.
Ich hatte keine Mutter mehr.
Ich hatte keinen Vater mehr.
Ich hatte keine Schw… − Familie mehr.
Himmel noch mal, ich hatte wahrscheinlich auch meinen Verstand verloren. Diese Monster …
Polizisten besuchten mich, ebenso Sozialarbeiter und Therapeuten. Alle fragten, was genau passiert war. Vor allem die Cops wollten wissen, ob eine Meute wilder Hunde meine Eltern angefallen hätte.
Wilde Hunde. Ich hatte keine Hunde gesehen, aber das ergab im Zusammenhang mit dem, was ich gesehen hatte, mehr Sinn.
Trotzdem sagte ich nichts davon. Unser Wagen war ins Schleudern geraten, und wir hatten uns überschlagen. So viel wusste die Polizei, und mehr brauchte sie auch nicht zu wissen. Ich würde kein Wort über die Monster verlieren. Dazu bestand kein Anlass. Sicher hatte dieser kleine Anfall von Halluzination etwas mit meiner Gehirnerschütterung zu tun.
Niemals würde ich erzählen, dass meine Mom noch im Auto gewesen war, als ich die Augen das erste Mal geöffnet hatte. Und als ich das zweite Mal zu mir gekommen war? Da hatte sie draußen gelegen, beleuchtet von den Scheinwerfern, genauso wie mein Dad, und diese Dinger hatten in ihren Innereien gewütet, waren praktisch darin eingetaucht und wieder herausgekommen, wie um Luft zu holen.
Obwohl ich es mit aller Kraft versucht hatte, war ich nicht in der Lage gewesen, mich zu befreien und ihr zu Hilfe zu kommen. Mein Sicherheitsgurt hatte sich verhakt, und ich hatte mir irgendwo einen Fuß eingeklemmt, sodass ich förmlich an den Sitz gefesselt gewesen war. Als die Monster in meine Richtung geblickt hatten, die stechenden Augen auf mich gerichtet, und einen Schritt auf den Wagen zu gemacht hatten, war ich in Panik geraten, hatte verzweifelt meine … das andere Familienmitglied beschützen wollen.
Bevor eine von uns angegriffen worden war - von den wilden Hunden, wie ich mir inzwischen selbst einredete -, war ein Auto angefahren gekommen, die Insassen hatten uns entdeckt und die Biester vertrieben, sie waren weggerannt. Obwohl „rennen“ nicht das richtige Wort war. Einige schienen zu gleiten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was danach gewesen war, nur an einzeln aufflackernde Bilder. Gleißendes Licht in meinen Augen. Geräusche, als würde Metall gegen Metall schaben. Männer, die sich etwas zuriefen. Dann starke Arme, die mich befreiten und aus dem Wagen zogen, ein schmerzender Stich in meinen rechten Arm, etwas, das mir auf das Gesicht gedrückt wurde. Danach nichts mehr.
„Hallo, du bist doch Alice, richtig?“
Ich blinzelte, bis sich der schreckliche Nebel der Erinnerung langsam lichtete, und wandte den Kopf in die Richtung der einzigen Tür im Raum. Ein hübsches Mädchen, wahrscheinlich in meinem Alter, kam herein. Die Unbekannte hatte glattes dunkles Haar, große haselnussbraune Augen mit schwarz getuschten Wimpern und einen perfekten, von der Sonne sanft geküssten Teint. Sie hatte sich in ein langärmliges pinkfarbenes T-Shirt geworfen, auf dem ein Pfeil gedruckt war, der nach oben wies und die Aufschrift„I‘mWith Genius“ zeigte. Dazu trug sie einen Mikrominirock, der gerade mal ihre Hüften bedeckte. Eigentlich hätte man das Ding korrekter als Badeanzugunterteil bezeichnen müssen.
Es erübrigt sich wohl zu sagen, dass mein hässliches, papierdünnes Nachthemd mit den schiefen Schnürbändern daneben ziemlich lächerlich wirkte.
„Ich heiße Ali“, erwiderte ich. Das waren die ersten Worte, die ich nach einer scheinbaren Ewigkeit mal wieder von mir gab. Meine Kehle fühlte sich rau an, ich klang heiser, konnte es jedoch nicht zulassen, dass sie mich noch mal Alice nannte. Die letzte Person, die das getan hatte, war … na, egal. Ich wollte es jedenfalls nicht.
„Cool. Ich heiße Kathryn, doch alle nennen mich Kat. Mach bitte keine Katzenwitze, sonst muss ich dir wehtun. Mit meinen Krallen.“ Sie wedelte mit ihren Händen und zeigte mir ihre langen Fingernägel. „Tatsache ist, dass ich seit Ewigkeiten kein Miau mehr sage.“
Kein Miau mehr sage?„Ich nehme an, es wäre uncool, wenn ich dich Pretty Kitty nennen würde.“ Keine Ahnung, warum ich plötzlich so zum Scherzen aufgelegt war, ich kämpfte nicht dagegen an. Ich brauchte all meine Kraft, um gegen alles andere anzukämpfen. „Wie wär‘s mit Mad Dog?“
Sie verzog die Lippen zu einem ironischen Grinsen. „Har, har, har. Jetzt würdest du mich aber enttäuschen, falls du mich nicht Mad Dog nennst.“ Sie kam mit einer eleganten Bewegung ein Stück näher. „Also, nun ja. Was den Grund meines Besuchs angeht … bringen wir erst mal den Austausch von notwendigen Hintergrundinfos hinter uns. Meine Mutter arbeitet hier und hat mich heute mitgenommen. Sie meinte, du könntest sicher eine Freundin gebrauchen oder irgendwas vergleichbar Tragisches.“
„Mir geht‘s bestens“, sagte ich sofort. Wieder dieses blöde Wort. Bestens.
„Das weiß ich doch. Habe ich ihr auch gesagt.“ Kat schnappte sich den einzigen Besucherstuhl im Raum, schob ihn neben mein Bett und setzte sich. „Außerdem erzählt man nicht gleich jedem Unbekannten seine Geheimnisse. Das wäre schon ein bisschen merkwürdig. Sie ist aber nun mal meine Mutter, und du brauchst ganz eindeutig eine Schulter zum Ausweinen, was sollte ich also sagen? Nein? Nicht mal ich bin so herzlos.“
Ich hatte keine Lust, mich von ihr bemitleiden zu lassen. „Du kannst deiner Mutter sagen, ich war sehr unhöflich und habe dich rausgeschmissen.“
„Okay“, fuhr sie fort, als hätte ich gar nichts gesagt. „Das Leben ist zu kurz, um sich in seinem Elend zu wälzen, das weiß ich. Egal, wie du sicher schon mitbekommen hast, bin ich für dich eine absolute Spitzengesellschaft. Oh, oh. Und weißt du was? Ich habe noch einen Platz in meinem Fave Five Account frei - nicht diese lahme Telefonwerbung, sondern mein derzeitiger engster Kreis - und ich suche nach jemandem, der einen Platz in der ersten Reihe bekommt. Du kannst das also sozusagen als Bewerbungsgespräch betrachten.“
Irgendwie erwachte bei ihrer kleinen Rede meine gute Laune wieder ein bisschen. „Bei einem Platz in der ersten Reihe deiner fünf Lieblingsanschlüsse handelt es sich also um einen Job, oder was?“, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen.
„Natürlich.“ Sie strich sich mit den Fingern durchs Haar. „Ich will ja nicht prahlen, aber ich bin äußerst unterhaltsam.“
„Soso. Ich glaube, etwas ruhiger wäre erstrebenswerter.“
„Etwas ruhiger kannst du vergessen. Das solltest du dir aufschreiben, unterstreichen, gelb markieren und mit Sternchen kennzeichnen, mit goldenen.“ Ohne Luft zu holen, redete sie weiter: „Lass uns doch mal überprüfen, ob wir kompatibel sind, okay?“
O-kay. Dann würden wir das eben durchziehen. Die ganze Zeremonie. Alice würde jetzt so tun, als wäre alles in bester Ordnung. „Klar, machen wir.“
„Also … du hast deine Familie verloren, ja?“, sagte sie.
Das nannte man wohl direkt auf sein Ziel zugehen, aber wenigstens schlich sie nicht mit irgendwelchen Plattitüden um den heißen Brei herum. Das war vielleicht der Grund, wieso ich mit einem gekrächzten „Ja“ antwortete. Das war mehr, als ich jedem anderen bisher zugestanden hatte.
„Ein echter Schlag.“
„Allerdings.“
„Isst du das hier noch auf?“ Sie deutete auf den Vanillepudding, den mir jemand gebracht hatte.
„Nein.“
„Wahnsinn. Ich bin am Verhungern.“
Sie grinste breit und katzenhaft, schnappte ihn sich und den Löffel und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Nach dem ersten Bissen seufzte sie genießerisch.
„Dann hör mal zu, und sag mir, ob du meiner Meinung bist.“
„Hm, okay.“ Ich hatte so das Gefühl, als würde ich während dieser Unterhaltung wohl noch öfter ein „Hm“ von mir geben. Selbst wenn sie einfach nur dasaß, kam sie mir wie ein energetischer Wirbelwind vor, dem ich nicht gewachsen war.
Nach einem weiteren Löffel Pudding sagte sie: „Also. Mein Freund und ich hatten uns vorgenommen, den Sommer zusammen zu verbringen, trotzdem musste er irgendwelche Angehörigen in Nowhereland besuchen. Zumindest hat er das behauptet. Egal. Jedenfalls war erst mal alles wunderbar, weil wir jeden Abend telefonierten, dann, peng - auf einmal rief er nicht mehr an. Natürlich versuchte ich ihn zu erreichen, schickte ihm SMS, wie das eben eine brave Freundin so macht. Das war nicht aufdringlich, ich schwör‘s, ich hab‘s nämlich nach dem … sagen wir mal, nach dem dreißigsten Mal aufgegeben. Eine Woche verging, bis er endlich reagierte. Er war völlig besoffen und alles, so nach dem Motto: Hallo Baby, ich vermisse dich und was hast du gerade an? Als wäre gar nichts gewesen. Ich hab ihm gleich klargemacht, dass er kein Anrecht mehr darauf hat, das zu erfahren.“
Schweigen.
Sie beobachtete mich erwartungsvoll und nahm noch einen Löffel Pudding. Ich war versucht, mich im Zimmer nach einer anderen Person umzusehen, für die ihre belastenden Infos gedacht waren. Die wenigen Freundinnen, die ich im Lauf der Jahre gehabt hatte, hatten mir natürlich auch Storys aus ihrem Leben und von ihren Typen erzählt, aber keine war gleich in der ersten Minute so offen gewesen.
„Und? Was sagst du?“, drängelte Kat.
Ach ja. Das war der Augenblick, in dem ich mein Urteil abgeben sollte. Zustimmung oder Kritik. „Es war … richtig?“
„Genau! Und jetzt hör dir mal das an: Er hat mich mit einem falschen Namen angesprochen. Nicht beim Sex oder so was. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte ich ihn wohl gekillt, dann hätte er gar nicht mehr die Gelegenheit gehabt, seine kläglichen Erklärungen abzugeben. Nein, es war, als wir das letzte Mal telefoniert haben.“
Ich brauchte einen Moment, um mir noch mal die ganze Geschichte durch den Kopf gehen zu lassen und zu kapieren, was sie jetzt von mir erwartete. „Das ist echt ätzend?“ Eigentlich wollte ich es nicht als Frage rüberbringen, aber ich war mir nicht so sicher.
„Ich wusste, dass du mich verstehst! Wir beide haben einen Draht, als wären wir kurz nach der Geburt getrennt worden. Na ja, jedenfalls haben wir einfach aufgelegt. Das heißt vielmehr, ich habe einfach aufgelegt, mit einem richtig schönen Knall. Dafür klopfe ich mir immer noch auf die Schulter. So, es klingelt also wieder, und er ist dran mit einem ‚Hey, Rina‘. - ‚Wie bitte? Rina? Wieso willst du Rina anrufen?‘, frag ich. Er druckst rum, sucht nach einer Ausrede, aber mir war alles klar. Er ist ein hinterhältiges Dreckstück, das mich betrügt. Der hat bei mir ausgedient.“
„Gut so.“ Immerhin. Was hält man davon? Ich war doch tatsächlich fähig, meine Meinung zu äußern. „Betrug ist das Letzte.“
„Schlimmer. Wenn die Schule wieder anfängt, werde ich diesem Typ das noch mal klarmachen, aber nicht zu knapp. Er hat mir geschworen, dass er mich liebt, für immer und ewig, nur mich allein, und er muss dafür bezahlen, dass er mich belogen hat. Rina wird auch einiges zu hören bekommen. Hoffentlich stirbt sie an irgendeiner fürchterlichen Krankheit. Die verdient es gar nicht, dass ich meine wertvolle Zeit mit ihr verschwende.“
Schule. Oje. Da war noch was in meinem Leben, das sich drastisch ändern würde. „In welche Schule gehst du?“
„Asher High. Die beste Schule überhaupt, musst du wissen.“
„Meine Eltern sind da ebenfalls gewesen.“ Noch mal oje! Warum musste ich das Thema auch ansprechen? Ich krallte die Finger in die Decke und wünschte, ich könnte meine Worte zurücknehmen. Vielleicht könnte ich so tun, als wäre ich völlig normal, aber das ginge nur, wenn die Unterhaltung sich nicht um persönliche Angelegenheiten drehte.
„Und du?“, erkundigte sie sich, ohne auf meine unbedachte Bemerkung einzugehen.
Gut, das war sehr gut. „Carver Academy.“ Allerdings jetzt nicht mehr. Meine Großeltern wohnten in … genau in der Einflugschneise der Asher High, fiel mir da ein. Sah so aus, als würde ich nach den Sommerferien noch öfter mit Kat zusammentreffen. Ich wollte schon den Mund öffnen und ihr das mitteilen, hielt mich aber schnell zurück. Kein Grund, dieses Thema jetzt anzusprechen.
„Eine Astro Jet, was? Wir haben euch letztes Jahr haushoch geschlagen. Es leben die Tigers! Ich bin sicher, du hast danach geheult. Also sei fürs kommende Schuljahr gewarnt. Ihr werdet wieder verlieren, und du wirst wieder heulen müssen. Tut mir echt leid, aber je eher du dich an diesen Gedanken gewöhnst, desto schneller wirst du‘s überwinden.“
Sie löffelte den Rest Pudding aus dem Becher und schnappte sich mein Wasserglas. Den Strohhalm warf sie beiseite, bevor sie daraus trank.
„Hast du einen Freund?“
„Nein.“
Sie hob eine ihrer dunklen Augenbrauen und verzog die Lippen, die mit einem glitzernden Gloss geschminkt waren. „Eine Freundin?“
„Nein.“
„Zu dumm aber auch. Nicht wegen der Freundin. Obwohl das natürlich cool gewesen wäre, dann hätte ich meine erste lesbische Freundin und bräuchte mir keine Gedanken darüber zu machen, dass du mir meinen Typen wegschnappst, so wie diese Schlampe Rina. Nein, wegen des Freundes. Du hättest mir nämlich einen seiner Freunde vorstellen können. Ich würde meinem Ex zu gern ein paar Fotos von einer vorgetäuschten heißen neuen Liebesaffäre schicken. Hey, soll ich mir irgendwo einen Rollstuhl schnappen und dich ein bisschen durch die Gegend kutschieren? Wir könnten zur Cafeteria runter und einen Burger essen. Sind nicht gerade die besten da, aber nach dem Pudding als Appetitanreger brauche ich wirklich was Handfestes. Und nur zur Information für die Zukunft - wenn ich Hunger habe, werde ich verrückt.“
Das Zimmer verlassen? In die Welt hinausgehen? „Nein danke.“ Ich drückte mich noch fester in meinen Kissenberg und gähnte nachdrücklich. „Ich bin irgendwie müde.“
Sie hob die Hände in einer verständnisvollen Geste. Das erinnerte mich an … niemanden. Sofort stand sie auf.
„Brauchst gar nichts mehr zu sagen. Hab vollkommenes Verständnis. Bin schon weg und lasse dich in Ruhe.“ Mit wenigen Schritten war sie an der Tür, wo sie mit dem Rücken zu mir stehen blieb und sich umsah. „Weißt du, ich glaube, ich mag dich, Ali Bell. Ich muss dich noch ein paar Mal besuchen, um mir sicher zu sein, aber doch, ich glaube, wir werden richtig dicke Freundinnen und du rückst an die erste Stelle meiner Top Five.“ Und dann ging sie.
Wie es sich ergab, wurde ich am darauffolgenden Tag aus dem Krankenhaus entlassen. Ich begegnete Kat den ganzen restlichen Sommer nicht wieder, was wahrscheinlich am besten so war. Sie war ein nettes Mädchen, doch ich keine gute Gesellschaft. Wenn ich noch mehr Zeit mit ihr verbracht hätte, wäre sie vermutlich vom Glauben abgefallen, was meine Unterhaltungsqualität anging. „Um Himmels willen. Komm mir bloß nicht zu nahe“, wäre sicher ihre Reaktion gewesen, von wegen dicke Freundinnen. Ich bezweifelte, dass ich es jemals in ihre Fave Fifty geschafft hätte.
Ob man mich als einen depressiven, neurotischen Problemfall bezeichnen konnte?
Zu meiner Verblüffung durchschauten meine Großeltern mein „Mir geht‘s bestens“-Geschwafel und verbrachten Stunden, Tage und Wochen mit Versuchen, mich aufzuheitern. Sie waren wirklich wunderbar, aber mir war klar, dass ich sie frustrierte.
Ich sollte mal richtig heulen, rieten sie mir, dann würde ich mich besser fühlen. Was ich ihnen einfach nicht zu sagen schaffte, war, dass sich meine Tränen unter Verschluss befanden, obwohl sie ständig hinter meinen Augen brannten. Um ehrlich zu sein, störte mich das auch gar nicht. Ich wollte nicht heulen. Unbewusst akzeptierte ich, dass ich es verdiente zu leiden … das Brodeln in meinem tiefsten Innern zu ertragen.
Eigentlich hätte ich noch viel Schlimmeres verdient.
Als der Tag der Beerdigung anbrach, waren alle inklusive mir selbst bestürzt, als ich darum bat, zu Hause bleiben zu dürfen. Ich konnte einfach nicht … allein der Gedanke daran, mir anzusehen, wo meine Familie den Rest der Ewigkeit verbringen, wo sie jahrelang verrotten würde, bevor sie endgültig verschwand, machte mich krank. Auch wenn das als ungehörig angesehen werden würde, ich wollte mich so an sie erinnern, wie sie gewesen waren: lebendig und energisch. Natürlich lehnten meine Großeltern diese Bitte ab.
Auf dem Weg dorthin saß ich auf der Rückbank ihrer Limousine. Sie waren genauso wie ich von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Mir hatten sie ein schickes neues Kleid gekauft. Ich hätte mir gewünscht, dass sie sich nicht solche Mühe gemacht und sich in diese Ausgaben gestürzt hätten. Lieber hätte ich einen Kartoffelsack getragen. Das war ein schrecklicher Tag, und das sollte sich in meiner Kleidung widerspiegeln.
Wie auch immer, ich wollte mich nicht mit mir selbst beschäftigen. Nana hatte sich das schulterlange braune Haar zu einem Bob schneiden lassen, dessen Enden ihre blassen Wangen streiften. In einer ihrer zitternden Hände klemmte ein Taschentuch, mit dem sie sich ständig die tränennassen Augen betupfte. Sie hatte ebenfalls ihre Familienmitglieder verloren, sagte ich mir. Ich war nicht die Einzige, der es schlecht ging. Ich hätte sie in ihrer Trauer unterstützen sollen, mich so verhalten sollen, wie sie es sich wünschte, aber … ich konnte es nicht.
„Willst du vielleicht ein paar Worte zu Ehren der, äh, Verstorbenen sagen?“, fragte mich Pops, nachdem er sich geräuspert hatte.
Sein ergrauendes Haar hatte sich an den Seiten zu stattlichen Geheimratsecken zurückgezogen. Außerdem wurden sie im Ganzen immer dünner. Und ja, er kämmte sich seine spärlichen Strähnen von den Seiten zur sich lichtenden Kopfmitte hin. Wie gern meine Mutter sich darüber lustig gemacht hatte.
„Ali?“
Ich brauchte nicht lange über meine Antwort nachzudenken. „Nein danke.“
Nana drehte sich um und sah mich an. Ihre Augenlider waren geschwollen und gerötet, ihr Make-up verwischt. Ich musste wegsehen. Diese goldbraunen Augen waren mir einfach zu vertraut, der Schmerz in ihrem Blick … erinnerte mich zu sehr an meinen eigenen.
„Bist du sicher?“, fragte sie. „Ich weiß, deine Mutter hätte es bestimmt gewollt …“
„Ja, ich bin mir sicher“, entgegnete ich schnell. Mir brach allein bei dem Gedanken daran der Schweiß aus, vor all diesen Leute zu stehen und meine geheimsten und liebsten Erinnerungen mit ihnen zu teilen. Auf keinen Fall. Niemals.
„Das ist deine Möglichkeit, dich von ihnen zu verabschieden, Alice“, sagte sie freundlich.
Mir wurde übel. „Nenn mich bitte Ali. Ich kann … ich kann nicht Auf Wiedersehen sagen.“ Das würde ich nie tun. Ein Teil von mir klammerte sich immer noch an die Vorstellung, dass ich irgendwann aufwachte und feststellte, es war einfach nur ein böser Traum gewesen.
Sie seufzte schwer und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn. „Ich denke nicht, dass der Weg, den du wählst, gesund ist.“
„Danke“, sagte ich erleichtert und ließ mich in den Sitz sinken.
Der Rest der Fahrt verlief in Schweigen, nur hin und wieder war ein unterdrücktes Schniefen zu hören. Was hätte ich dafür gegeben, wenn ich meinen alten iPod noch gehabt hätte! Dann hätte ich Skillet oder Red gespielt und mir eingebildet, mit … dazu zu tanzen. Ich war aber nicht zu Hause gewesen, um meine Sachen zusammenzupacken. Ich wollte nicht nach Hause fahren. Nana hatte das für mich getan. Da sie rein technisch nicht auf dem neusten Stand war, hatte sie sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen können, wozu dieses kleine Ding gut sein sollte.
Schließlich erreichten wir unser Ziel und gingen hinüber zu den Gräbern. Es würde kein Gottesdienst abgehalten werden. Die Zeremonie sollte hier stattfinden, was nicht richtig war. Meine Mutter war gern in die Kirche gegangen, und mein Vater hatte Friedhöfe gehasst; er war in der Nähe eines Friedhofs umgekommen - dieses Friedhofs, um es auf morbide Weise genau zu sagen. Und hier wollten sie ihn begraben? Das war in vieler Hinsicht falsch und machte mich fertig.
Er hätte verbrannt werden sollen, aber was wusste ich denn schon? Ich war ja nur die Tochter, die ihn in den Tod gedrängt hatte.
Jetzt im Tageslicht - oder zumindest hätte es taghell sein sollen - betrachtete ich den Ort, an dem mein Leben zerstört worden war. Der Himmel war dunkel, es nieselte, als würde die Welt um den Verlust weinen. Während mir das nur recht war, hätte meinem Vater das sicher nicht gefallen. Er hatte den Sonnenschein geliebt.
Das Grundstück auf dem lang gestreckten Hügel war in Abständen mit Bäumen bepflanzt. Ein paar Büsche wuchsen um einige Grabsteine, Blumen in jeder denkbaren Farbe sprossen in alle Richtungen.
Eines Tages würden um die Grabsteine meiner Familie auch Büsche und Blumen wachsen. Im Moment befanden sich dort nur drei große ausgehobene Löcher, die darauf warteten, dass sie mit Särgen gefüllt wurden.
Wieder einmal musste ich mir zu oft „Es tut mir leid!“ und „Bald geht es dir besser!“ anhören. Die konnten mich alle mal. Ich zog mich in mich zurück, blickte in die Luft und schaltete während der Zeremonie ab.
Um mich herum weinten die Leute in ihre Taschentücher. Da waren Mr und Mrs Flanagan, unsere früheren Nachbarn, mit ihrem Sohn Cary. Er war süß, ein bisschen älter als ich. Ich konnte mich nicht erinnern, wie oft ich mir vorgestellt hatte, wie alles verlaufen wäre, wenn ich ein normales Mädchen mit einem normalen Leben gewesen wäre. Ich hätte am Fenster gesessen, hinaus zum Nachbarhaus gestarrt und davon geträumt, wie er zu uns kommen und mich um ein Date bitten würde. Hätte mir ausgemalt, wie wir zusammen essen gingen, er mich anschließend an die Haustür brachte und mich küsste; das wäre mein erster Kuss gewesen. Er hätte versichert, wie egal es ihm sei, dass meine Familie verrückt war, wie er mich trotz allem liebte.
Hatte ich aber nicht. Genauso wenig, wie er mich eingeladen hatte.
Jetzt warf er mir einen traurigen Blick zu, und ich wandte mich ab.
Nachdem der Pfarrer mit der Zeremonie fertig war und meine Großeltern ihre Reden gehalten hatten, standen alle auf und versammelten sich in Gruppen, unterhielten sich, tauschten Geschichten aus. Zu viele von ihnen kamen zu mir herüber, tätschelten mir die Schulter und umarmten mich, was ich überhaupt nicht mochte und worauf ich auch nicht reagierte. Ich war nicht in der Lage, eine Zirkusshow abzuziehen, um niemandes Gefühle zu verletzen.
Ich wollte in meinem Bett liegen, unter der Decke versteckt, und mir vorstellen, ich hätte mein altes Leben wieder.
„Sie war so ein fröhliches Kind, nicht?“, sagte jemand neben mir. Eine Frau, von der ich wusste, dass ich sie kannte, ohne dass mir einfiel, woher, starrte auf den kleinsten Sarg, während ihr Tränen die geröteten Wangen hinabrollten. „Wir werden sie vermissen. Ich erinnere mich an diesen einen Tag …“
Sie hörte nicht auf zu reden. Ich stand da und glaubte keine Luft mehr zu bekommen. Ich wollte ihr sagen, sie solle ruhig sein, doch die Worte blieben mir im Hals stecken. Meine Füße schienen am Boden festzustecken, als hätte mir jemand Beton über die Schuhe gekippt, sonst hätte ich mich von ihr entfernt.
„… und dann war da der eine Tag, als sie in der Klasse geholfen hat …“
In meinem Kopf klingelte es die ganze Zeit, ich verstand kein einziges Wort. Das machte aber nichts. Ich wusste, von wem sie sprach, und wenn sie nicht bald aus meinem Sichtkreis verschwände, würde ich für nichts mehr garantieren können. Ich befand mich bereits auf halbem Weg zum Abgrund und schrie innerlich.
„… die anderen Mädchen beteten sie geradezu an …“
Grrrr! Die Schraube wurde fester und fester angezogen …
Das hast du verdient, sagte ich mir. Das war ein Teil meines Unglücks. Mit meinem Drängen, mit meinem Reden hatte ich meine Familie umgebracht, dafür gesorgt, dass sie in diesen Kisten lagen. Hätte ich anders agiert, nur ein bisschen anders, wären sie vermutlich noch am Leben, aber das hatte ich nicht, und da war ich nun. Da waren wir nun.
„… ihr Talent, ihr Wesen waren so etwas Seltenes und so wundervoll, und ich …“
Der Abgrund zog mich unaufhaltsam zu sich. Ich wurde aufgefressen, Stück für Stück. Diese Frau musste den Mund halten. Sie musste. Den. Mund. Halten. Das Herz schlug mir gegen die Rippen. Völlig aus dem Takt geraten. Falls sie nicht sofort aufhörte, würde ich sterben. Ich wusste, dann würde ich tot umfallen.
„… sagte ständig, sie wollte so sein wie du, wenn sie größer ist. Sie hat dich so angebetet …“
Aufhören, aufhören, aufhören! Sie redete unaufhörlich weiter über meine … Schwester …
Über Emma …
Emma, die für immer weg war … meine Lilie … einfach weg …
Ich hatte versprochen, sie zu beschützen. Ich hatte versagt.
Ein Schrei löste sich aus meiner Kehle, gefolgt von einem weiteren und noch einem. Ich nahm nichts mehr um mich herum wahr, presste mir die Hände auf die Ohren, um das Entsetzen in meiner Stimme nicht hören zu müssen. Fiel auf die Knie.
Nein, nicht nur auf die Knie, in den Abgrund fiel ich, tief und tiefer. In einen tiefen, nicht endenden Schlund der Verzweiflung, schreiend und weiter schreiend, vollkommen aufgezehrt von meiner Trauer, überflutet von meinem Schmerz.
Ich spürte Hände, die mich tätschelten, aber ich beruhigte mich nicht. Ich schrie so laut und so lange, bis endlich meine Stimme versagte und ich nach Luft schnappte und würgte. Tränen rannen mir übers Gesicht. Ein Teich von Kummer und Leid. Ich schluchzte so heftig, dass ich am ganzen Körper geschüttelt wurde. Meine Augenlider schwollen an. Ich konnte nichts mehr sehen, nicht mehr atmen, ich wollte nicht mehr atmen. Sterben wäre eine Erleichterung gewesen.
Ich weiß nicht, was danach geschah. Zum zweiten Mal in meinem Leben verlor ich das Bewusstsein. Vielleicht würde ich nie mehr aufwachen …
Aber natürlich erwachte ich wieder. In den folgenden Tagen versuchte ich mich immer mit dem Gedanken zu trösten, dass das Schlimmste, was mir jemals zustoßen konnte, bereits passiert war. Große Überraschung, es half nichts. Irgendwann akzeptierte ich, dass es nicht irgendein Albtraum war. Dies war meine neue Wirklichkeit, und ich sollte mich besser damit abfinden, sonst würden die Tränen niemals versiegen.
Jeden Abend saß ich in meinem Zimmer auf dem Sims des einzigen Fensters und blickte in den Garten hinunter. Da unten sah ich über zweitausend hügelige Quadratmeter mit Bäumen und Blumen. Ein Zaun umgab das Grundstück. Außerhalb erhoben sich bewaldete Hügel, die von silbrigem Mondlicht beschienen wurden, doch weil das Land anstieg, sah ich dahinter nichts mehr, nur die dicken Baumstämme.
Ich war müde, aber ich konnte nicht schlafen. Jedes Mal, sobald ich wegdriftete, träumte ich vom Autounfall. Ich wollte lieber meine Zeit mit der Suche nach den Monstern meines Vaters verbringen, nicht sicher, ob ich deren Existenz oder Nichtexistenz beweisen musste. Ständig dachte ich an die Male, wenn ich meinen Vater dabei überrascht hatte, wie er dasGleiche tat.
Dad hatte eine Pistole mit sich herumgetragen, obwohl ich nie einen Schuss gehört hatte. Jetzt fragte ich mich, ob man mit einer Schusswaffe etwas ausrichten könnte. Die Monster waren durch die menschliche Haut gedrungen … wie Geister … wie Dämonen, derer Existenz ich mir so ungewiss gewesen war.
Das ist albern. Es gibt keine Monster.
Und doch, einige Male nach dem Unfall war ich mir sicher, dass ich eins gesehen hatte.
Wie aufs Stichwort bewegten sich die Büsche. Ich lehnte mich vor und presste die Nase an die Glasscheibe. Wahrscheinlich der Wind, dachte ich, sah jedoch Äste, die einer nach dem anderen zu greifen schienen. Sicher waren es Zweige, keine Arme. Und das da waren Blätter, keine Hände. Ganz bestimmt.
Etwas weiß Aufblitzendes erregte meine Aufmerksamkeit. Ich schluckte. Das war keine Frau mit gebeugten Schultern, die durch den Wald streifte, sondern ein Reh. Musste ein Reh sein, aber …
Rehe trugen keine Hochzeitskleider.
Ich schlug mit der Faust gegen die Scheibe, bis das Fenster vibrierte. Und die Frau - das Reh - lief davon, schnell verschluckt von den Bäumen. Ich wartete mehrere lange Minuten, doch sie - es - trat nicht mehr in mein Blickfeld.
Als die Sonne aufging, fühlten sich meine Lider wie Sandpapier an. Ich musste damit aufhören, musste aufhören, mich selbst zu quälen. Ansonsten wäre ich gezwungen, das Handtuch zu werfen und zuzugeben, dass ich die Verrücktheit meines Vaters geerbt hatte.
Wäre das nicht eine besondere Ironie des Schicksals?
Dieser Gedanke brachte mich nicht vor Bitterkeit zum Lachen, zum Weinen oder dazu, mich im Bett zu verkriechen. Ich plante meine nächste Nachtwache.