15. KAPITEL
Die Dame und der König der zerrissenen Herzen
Auf der Fahrt zu Coles Haus beschäftigten mich die Worte meiner Schwester. Er wird kommen, um dich zu holen. Wer würde kommen? Warum?
Wie auch immer, als wir ankamen, hatte ich keine Gelegenheit mehr, darüber nachzudenken. In der Scheune lagen alle aus Coles Truppe auf Krankenhausliegen, die meisten waren an einen Tropf angeschlossen. Mr Ankh ging herum und prüfte die Vitalwerte. Einige Jäger schliefen, andere hatten zu große Schmerzen, um einschlafen zu können. Brent … er war besonders still, sein Körper vollkommen übersät mit schwarzen Geschwüren.
Von allen Kids im Raum brauchte er anscheinend am nötigsten eine medizinische Behandlung, doch Mr Ankh kümmerte sich überhaupt nicht um ihn. Dr. Wright, die kleinere Verletzungen verarztete, warf nicht mal einen Blick zu seiner Liege hinüber. Das konnte nur bedeuten …
Cole fluchte fürchterlich. Trotz seines aggressiven Tonfalls hörte ich, wie betroffen er war. Er legte mich auf ein freies Bett und sagte zu Mr Ankh: „Trina und Haun sind immer noch draußen und suchen …“ Die Stimme versagte ihm. Er presste die Lippen zusammen.
Er irrte sich, ich sah Trina und Haun, sie lagen weiter vorn und … Nein, ihre Körperhüllen lagen dort, aber sie waren in Geistform im Wald unterwegs.
„Ich habe deinen Vater schon losgeschickt, um sie zu holen“, sagte Mr Ankh.
Dr. Wright legte sich eine Hand aufs Herz, ihr Gesichtsausdruck blieb unbewegt wie immer. „Es tut mir leid, Cole. Er war ein wunderbarer Mensch.“
Cole senkte den Kopf.
„Er ist doch nicht … das kann nicht …“, stotterte ich.
„Doch, er ist. In ein paar Tagen werden wir herausgefunden haben, ob seine Seele weitergewandert oder ob er zum Zombie geworden ist.“
Coles Stimme klang heiser und belegt, so hatte ich ihn noch nie erlebt. Ich schauderte, aber nicht nur deswegen. Gab es keine Möglichkeit, hier und jetzt festzustellen, was mit Brents Seele geschehen war? Ich wollte niemals irgendwann als untoter Seelenkörper aufwachen.
„Wir müssen seinen Körper heimlich zu ihm nach Hause bringen und ihn in sein Bett legen. Seine Freundin wird morgen früh die anderen von seinem Tod informieren. Es dürfte sich herumsprechen, dass er von derselben Krankheit befallen wurde wie Boots und Ducky.“ Er lachte bitter. „Inzwischen wird sie wohl nicht mehr als besonders selten betrachtet werden, was?“
„Es tut mir so leid“, sagte ich leise. Ich konnte die Verzweiflung wegen dieses Verlusts nachempfinden, das fürchterliche Gefühl zu wissen, jemand, den man liebte, hatte dermaßen gelitten.
„Cole, leg dich hin“, forderte Mr Ankh ihn auf. „Wir müssen dich verarzten.“
Innerhalb weniger Minuten waren wir an einen Tropf angeschlossen. Cole schwieg, aber ich spürte seinen Schmerz förmlich in großen schweren Wellen. Ich hatte Brent kaum gekannt, doch selbst mir ging es zu Herzen.
„Er hätte nicht anders gehen wollen“, bemerkte Collins.
Cole schlug den Kopf auf sein Kissen.
Dr. Wright kam zu ihm und tätschelte ihm die Hand.
Mein Kinn begann zu zittern.
„Du wirst nicht heulen“, sagte sie zu mir. „Das hilft uns jetzt nicht weiter.“
Obwohl das etwas grausam klang, waren die Worte nett gemeint und sollten mir Kraft geben. „Ich weiß.“ Wie viele Freunde hatte Cole schon auf diese Art verloren? Wie viele mehr würden es noch werden? Und was war mit mir? Ich würde diese Typen besser kennenlernen, sie wahrscheinlich ins Herz schließen und sie dann wieder verlieren.
Als Trina und Haun in die Scheune kamen, kämpften beide gegen Tränen an. Mir war immer stärker zum Heulen, als ich zusah, wie sie zu ihren Körperhüllen gingen und hineinschlüpften, als würden sie sich mit einer schimmernden Decke zudecken.
„Ich kann es nicht glauben, dass er tot ist“, sagte Trina heiser. Einer ihrer nackten Oberarme war mit roten und schwarzen Flecken übersät. Ihr Haar, verklebt mit getrocknetem Blut, stand zu allen Seiten ab. Ihre Oberlippe war gesprungen, auf einer Wange hatte sie einen Bluterguss, und auf dem Kinn eine längliche verschorfte Wunde.
Eine warme Träne lief mir aus dem Augenwinkel, während ich beobachtete, wie Mr Ankh Trina in die Arme nahm und sie an sich drückte.
Bronx, der mit Cole und mir angekommen war, lag auf der Liege neben ihr. Still legte er einen Arm über seine geschwollenen und bereits dunkel verfärbten Augenlider. Er war ebenfalls mit roten und schwarzen Flecken übersät, sein Haar war vollkommen zerzaust.
Als Nächster kam Mr Holland in die Scheune, er ging direkt auf seinen Sohn zu. „Es tut mir leid. Er war ein guter Junge. Wir werden ihm die Ehre erweisen, so wie den anderen auch.“
Cole nickte nur steif. Eine weitere Träne lief mir die Wange herunter.
„Kümmere dich um Ali“, sagte Cole mit hohler Stimme, die mir endgültig das Herz zu brechen drohte. „Sie hat eine Menge abbekommen.“
Schweigen entstand. Dann tätschelte Mr Holland seinem Sohn die Schulter. „Okay.“
Er drehte sich zu mir um und säuberte und verband meine Wunden so vorsichtig wie möglich.
„Ich habe gehört, du hast dich heute Nacht ebenfalls um jemanden gekümmert.“
„Das haben wir ja alle.“
„Bescheiden? Tatsächlich? Das hätte ich nicht von dir gedacht.“ Er warf blutiges Verbandsmaterial in den Mülleimer neben meinem Bett. „Dann hat sich Mackenzie den Weg allein freigekämpft? Frosty auch?“
„Ich hab getan, was die anderen genauso für mich getan hätten.“
„Ja, aber du bist noch nicht gut trainiert.“
Ich seufzte. „Kommt jetzt die Stelle, an der Sie mich beschuldigen, mit den Bösen zusammenzuarbeiten?“
Er verzog amüsiert die Lippen, wie Cole es manchmal tat. „Nein. Du wusstest nicht, auf welchen Kampfplatz sie dich mitnehmen würden. Also hättest du niemandem erzählen können, wo es hingeht. Die Overalls sind den Zombies gefolgt und die Zombies dir.“
Apropos … „Was haben die mit diesen Kreaturen vor?“
„Abgesehen davon, dass sie versuchen, sie in menschliche Körper zu transferieren? Ich wünschte, ich wüsste es.“
Er ging weiter. Die Truppe verfiel in Schweigen, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Ich hätte gern gewusst, was ich ihnen zum Trost hätte sagen können, doch ich erinnerte mich daran, wie mich Ärzte, Krankenschwestern und Bekannte mit ihren lächerlichen Plattitüden nach dem Unfall genervt hatten.
Es wird schon wieder alles gut. Sie würden weitermachen, ja, sie würden jedoch nie das Bewusstsein für ihre eigene Sterblichkeit einbüßen.
Die Zeit heilt die Wunden. Jemanden zu verlieren, den man liebt, ist wie ein Körperteil zu verlieren. Man ist sich immer bewusst, was man vermisst, was man einmal gehabt hatte.
Es tut mir so leid. Das stimmte auch, aber diese Worte halfen keinem wirklich weiter. Ihr Freund war von ihnen gegangen, sie würden ihn erst wiedersehen, wenn sie selbst starben. Dieser Gedanke könnte sie nicht trösten.
„Die Zombies haben neue Kräfte entwickelt“, sagte Frosty und durchbrach die Stille mit seinem ruppigen Ton, den er normalerweise für mich reserviert hatte. „Sonst flüchten sie vor den Halogenstrahlern, heute nicht.“
„Ich glaube nicht, dass sie stärker geworden sind“, widersprach Cole. „Ich denke einfach, dass sie sehr entschlossen waren, sich Ali zu schnappen.“
„Aber warum denn?“, fragte ich erstaunt.
Keiner hatte eine Antwort für mich.
Die folgenden Monate fühlte ich mich wie in dichtem Nebel. Brent war nicht mehr auf die Asher High gegangen. Er hatte bereits sein Abitur gemacht und in seiner eigenen Wohnung gelebt. In der Schule wusste also niemand, dass er tot war. Keiner verstand daher, wieso Cole und seine Freunde ständig so gereizt waren.
Cole organisierte einen kleinen privaten Gedenkgottesdienst für Brent. Zu sehen und mitzuerleben, wie sie, einer sonst unerschütterlicher als der andere, über den Verlust des Freundes zusammenbrachen, beeindruckte mich tief, und ich heulte wie ein Baby.
Manchmal konnte ich nur daran denken, wer wohl der Nächste sein würde, der unterging. Cole? Wir beide hatten keine Vision mehr gehabt und wussten immer noch nicht, was das für uns bedeutete. Frosty? Wie würde Kat mit seinem Verlust umgehen? Sicher wäre sie am Boden zerstört.
Wie ich es schon einmal nach einer Katastrophe erlebt hatte, ging das Leben weiter, egal, was um uns herum geschah. Jeden Tag nach der Schule trainierte ich im Fitnessstudio und mit Cole. Im Ring war ich nicht so gut wie auf dem Feld. Beim Training, ohne den Adrenalinstoß oder die Stresssituation eines richtigen Kampfes, konnte ich nicht alles aus mir rausholen.
Ich war eindeutig das schwache Glied in der Kette.
Cole warf mich unzählige Male auf den Hintern, er kämpfte mit Schwertern und Dolchen gegen mich, aber er küsste mich nicht wieder. Nicht dass ich an so was gedacht hätte. Wirklich nicht.
Ich war fast jede Nacht wach. Wenn ich nicht mit Cole im Wald vor dem Haus meiner Großeltern patrouillierte, legte ich Fallen für die Zombies aus. Wenn ich keine Fallen auslegte, suchte ich nach ihren Nestern. Wenn ich nicht nach Nestern suchte, hielt ich vom Fenster meines Zimmers aus Ausschau nach den Monstern oder versuchte den Text im Tagebuch zu entziffern.
Zwei weitere Abschnitte hatten sich mir geöffnet, einer über die ersten Zombies, was Dr. Wright mir ja bereits erklärt hatte, und einer über die ersten Jäger, wovon sie nichts gesagt hatte. Diese ersten Jäger waren noch nicht in der Lage gewesen, ihren Körper zu verlassen, und mussten lernen, sich in ihrem natürlichen Zustand gegen die Kreaturen zur Wehr zu setzten. Der Tod eines Kämpfers aus ihren Reihen hatte sie gerettet. Die Zombies hatten seinen Geist verschlungen und sich dabei eine Infektion geholt, die fast alle Untoten dahingerafft hatte. Fast.
Das war alles, was ich herausfinden konnte, aber vielleicht war das auch besser so. Was ich erfuhr, verwirrte mich. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und zeigte Cole das Tagebuch, er konnte jedoch nichts lesen, sondern sah nur Codeschrift - auf allen Seiten. Das bedeutete, dass ich den Text irgendwie selbst decodierte.
Cole hatte keine Ahnung, wie ich das anstellte oder wer der Autor gewesen sein könnte. Er riet mir, das Buch seinem Vater zur Erforschung zu überlassen, aber das lehnte ich ab. Ich brachte es nicht über mich, es wegzugeben. Wir stritten deshalb, doch Cole gab letztendlich nach. Er fotografierte die Seiten, und ich behielt das Tagebuch.
Für mich gab es keinen untätigen Moment, das war schon mal sicher, trotz der Tatsache, dass die Zombies sich nicht sehen ließen. Seit der Nacht, in der sie mir nachgejagt waren, war keine einzige Kreatur mehr erschienen. Cole meinte, dass sie wahrscheinlich endlich ihre Erholungsphase nachholen müssten. Meine Spekulation war, dass die Overalls etwas damit zu tun hatten, worauf er mir erzählte, dass sein Vater und Mr Ankh sie ausspioniert und bei ihnen keine Aktionen festgestellt hatten.
Zu Hause lief es nicht gut, denn meine Großeltern waren nicht glücklich mit mir. Ich schlief während des Unterrichts ständig ein, und meine Zensuren wurden zusehends schlechter. ZweiMal wurde ich ins Büro der Rektorin gerufen, getadelt, bekam Hausarrest und wurde wieder zur Therapie geschickt.
Nachdem ich das erste Mal zu Dr. Wright musste - sie schickte mich ohne Strafe weg, vielen Dank, ließen Wren und Poppy mich fallen, als wäre ich radioaktiver Müll.
„Wir können es uns nicht leisten, mit solchen Problemen in Zusammenhang gebracht zu werden“, erklärte Poppy. „Vor allem wenn diese Aktionen bei Twitter erscheinen. Kein College wird uns dann annehmen.“
„Wir haben dich davor gewarnt, dass so was passieren würde“, sagte Wren.
An diesem Tag in der Cafeteria lächelte sie mich an und flüsterte mir zu, ich solle mich an Cole halten. Inzwischen wusste ich, weshalb. Sie wollte sich Justin Silverstone schnappen. Nun sah man die beiden öfter Händchen haltend durch die Flure schlendern. Offensichtlich waren sie das neue „In-Paar“ der Asher High.
Kat stand zu mir, und dafür liebte ich sie umso mehr. Ich würde sie nie fallen lassen. Niemals. Egal, was Cole sagte.
„Bei unserer allerersten Begegnung habe ich dir erklärt, dass du meine Nummer eins werden würdest“, sagte sie. „Und ich lüge oder übertreibe nie.“
„Das stimmt“, erwiderte ich lachend.
„Außerdem, wie könnte ich dich fallen lassen, wo ich doch kurz davor bin, meinen Gerüchtebaum zu vollenden?“
Ach ja. Der Gerüchtebaum. Um ehrlich zu sein, interessierte mich der gar nicht mehr. Ich hatte versucht, mich bei Mackenzie für meine ungerechtfertigte Anschuldigung zu entschuldigen, aber das hatte sie nicht beeindruckt. Sie beachtete mich nicht und warf mir höchstens mal einen bösen Blick zu. Eines Tages beim Mittagessen platzte mir der Kragen. „Womit hast du eigentlich Probleme?“, fragte ich sie über den Tisch hinweg. Jawohl, inzwischen saß ich mit Coles Gruppe zusammen. „Ich habe dir gesagt, dass es mir leidtut.“
Kat, die ich mitgeschleift hatte, fragte: „Ja, genau, was ist dein Problem?“
Ein Blick aus smaragdgrünen Augen traf Cole, der neben mir saß, und Mackenzie sagte: „Heb dein Verbot auf, damit ich das erledigen kann.“
„Auf keinen Fall. Es wird nicht aufgehoben“, sagte Cole kopfschüttelnd.
Das Verbot, Ali wehzutun? „Komm schon, heb es auf“, forderte ich.
Mackenzie sprang auf, lehnte sich über den Tisch und stützte sich mit den Händen darauf ab, sodass das ganze Ding wackelte. „Erstens brauche ich deine Schützenhilfe nicht, Barbie. Und zweitens …“ Sie warf Cole einen wütenden Blick zu. „Du kannst das nicht ewig unterdrücken.“
„Natürlich brauchst du meine Unterstützung, Tinker Bell“, entgegnete ich.
Sie achtete überhaupt nicht auf mich.
„Da du nicht willst, dass ich deinen leckeren Wonneproppen anschreie, wie wär‘s, wenn ich ihr stattdessen erzähle, was du zu mir gesagt hast?“ Sie wandte sich mir wieder zu. „Jedes Mal, wenn ich ihn frage, ob er mit dir geht, sagt er Nein. Aber dann scharwenzelt er um dich rum und … na ja, du weißt ja, wie er zu dir ist.“
Ja, das wusste ich. Freundschaftlich, das war alles, weiter nichts. „Worauf willst du hinaus?“
„Ich denke, er benutzt dich. Entweder das, oder er belügt mich und sich selbst auch. Ich frage mich nur, was er dir erzählt.“ Bei diesen Worten richtete sie sich auf, stampfte aus der Cafeteria und schob alle, die ihr im Weg standen, beiseite.
„He!“, riefen die Leute ihr empört hinterher.
Ich blieb auf meinem Platz sitzen, während eine schreckliche Information mein Hirn erreichte. Mackenzie und Cole redeten über mich, und zwar des Öfteren, wenn man bedenkt, dass sie gesagt hatte: jedes Mal, wenn …
Was wurde noch so gesprochen?
Hatte sie ihn gebeten, wieder zu ihr zurückzukommen? Offensichtlich liebte sie ihn nach wie vor, aber was empfand er für sie?
Ob sie weiterhin was miteinander gehabt hatten, nachdem ich auf die Bildfläche getreten war, wusste ich nicht. Es sollte mich auch nicht interessieren, dennoch, das tat es.
„Geh ihr lieber nach“, sagte Kat zu Trina.
Mir war klar, dass sie mich damit aus dem Fokus der Aufmerksamkeit retten wollte. Jedes Mal, wenn ich glaubte, ich könnte sie gar nicht noch mehr lieben, überraschte sie mich, indem sie ein weiteres Stück meines Herzens eroberte.
Trina aß ein Sandwich und sah nicht einmal zu Kat hinüber.
„Musst du dich in jeden Streit einmischen?“, fragte Frosty sie stattdessen. „Ali kann das alleine klären.“
Er hatte neben Mackenzie gesessen und befand sich nun praktisch neben Trina. Jetzt rückte er sichtlich ein Stück von ihr ab, als könnte er den Gedanken nicht ertragen, dass Kat ihn in der Nähe seines angeblichen Seitensprungs sah.
„Hörst du diesen fürchterlich nervenden Krach?“, sagte Kat an mich gewandt, ohne ihn anzusehen.
Er schüttelte traurig den Kopf. „Du bist so kindisch, Kitty Kat.“
„Brumm, brumm.“
„Ich weiß nicht, was ich jemals an dir gefunden habe“, behauptete er.
Sie schnappte nach Luft und warf mit einer Orange nach ihm, doch er wich mit Leichtigkeit aus.
„Du hast all meine wundervollen Eigenschaften gesehen, du Idiot!“
Er lachte schallend. „Bist du sicher, dass du welche hast?“
„Ich habe eine Menge, und das weißt du genau!“
Sie gingen nicht offiziell miteinander, aber jeder, der sie sah, wusste, dass sie zusammengehörten. Sie brachte ihn zum Lachen. Wie sich gezeigt hatte, half sie ihm auch aus seiner Depression wegen Brents Tod. Er dagegen konnte sie von dem, was sie plagte, ablenken. In letzter Zeit war sie zu oft blass und ruhig, doch wenn ich das ansprach, winkte sie ab und wechselte das Thema.
Ich wusste nicht, was ich mit ihr machen sollte. Himmel noch mal, ich hatte überhaupt keine Ahnung, was ich mit allem machen sollte.
Später an diesem Tag landete ich mit Cole im Boxring. Wir befanden uns beide in Geistform, während unsere Körperhüllen friedlich auf Krankenhausliegen ruhten. Ich war zu abgelenkt, um irgendetwas zu lernen. Immer wieder musste ich an Kat und an einige unserer Unterhaltungen denken und grübelte darüber nach, was mit ihr los sein könnte.
Dass Wren und Poppy sich aus dem Staub gemacht hatten, ließ sie kalt. „Echt? Das habe ich schon erwartet“, hatte sie gesagt. „Allerdings hatte ich gehofft, sie hätten beim ersten Mal begriffen, wie schrecklich das Leben ohne mich ist.“
Sie fehlte an mehreren Schultagen, doch wenn ich sie danach fragte, sagte sie nur: „Meine Mutter findet es cool, dass wir ein bisschen was zusammen machen.“ Wieder winkte sie ab.
„Ali!“
Coles Stimme riss mich aus den Gedanken. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie er ein Bein ausstreckte, aber zu spät, um zu reagieren. Er kickte mir die Füße weg, und ich stolperte zu Boden.
Du musst dich konzentrieren, sagte sein Gesichtsausdruck. Wir sollten ja nicht sprechen, wenn wir in diesem Zustand waren.
Er half mir nicht beim Aufstehen. Tat er nie. Ich rappelte mich alleine wieder auf. Jede Minute, die ich hier verbrachte, sollte mich stärker machen. Und wisst ihr was? Dafür mochte ich ihn nur umso mehr. Ich musste stärker werden. Die Zombies …
„Ali …“ Cole kickte erneut nach mir, und ich fiel ein zweites Mal zu Boden. Diesmal presste der Aufprall mir die Luft aus der Lunge, und ich blieb flach auf dem Rücken liegen. Cole breitete die Arme aus, als wollte er sagen: Was habe ich dir gerade gesagt?
Tut mir leid, formte ich mit den Lippen, während ich aufstand.
Er winkte mich mit einem Zeigefinger zu sich, was bedeutete: Jetzt greifst du mich zur Abwechslung mal an.
Ich nickte, um ihm zu verstehen zu geben, dass es bei mir angekommen war. Da ich wusste, wie schnell er reagierte, nahm ich mir nicht die Zeit, um zu überlegen, wie ich mich ihm am besten näherte. Ich griff einfach an. Trotzdem behielt er die Oberhand. Ich schlug zu, er blockierte. Ich kickte, er sprang zur Seite. Bei den Gelegenheiten, wenn er meine Faust auffing, hätte er mich wegschieben müssen, mir den Arm auf den Rücken drehen oder was auch immer tun müssen. Das tat er aber nicht, sondern er ließ mich los und wartete auf den nächsten Angriff.
Das ärgerte mich. Zum ersten Mal, seit wir gemeinsam trainierten, nahm er mich nicht ernst und behandelte mich wie ein Baby.
Noch mehr Schläge, er blockierte. Noch mehr Kicks, er wich aus.
„Wow, Holland, du Softie, jetzt zeig‘s ihr doch mal richtig wie ein Mann!“, rief Frosty.
Ich zuckte zusammen bei seiner lauten Stimme, aber nur ein bisschen. Langsam gewöhnte ich mich an die Verschärfung der Sinne, auch an die des Geruchssinns.
Lucas und Collins - die ihre Körperhülle mit den Fußfesseln zu Hause gelassen hatten, sodass sie, wie ich vermutete, in Geistform keine Funktion hatten - stellten sich auf seine Seite und lästerten.
Cole warf Frosty einen wütenden Blick zu.
Er hätte es besser wissen müssen. Ich hatte bereits meinen Ellbogen nach hinten gezogen und schaffte es nicht mehr, den Schlag zu stoppen und abzudrehen. Auf die Art landete ich endlich einen Treffer.
Im Ring stolperte sein Geist, auf der Krankenliege, wo seine Körperhülle lag, flog sein Kopf zur Seite und Blut schoss aus seiner Nase.
Okay, ich konnte einfach nicht anders. Ich lachte. Ich musste so lachen, dass ich mir fast in die Hose gemacht hätte, beugte mich vornüber und hielt mir den Bauch. Das fühlte sich gut an. So wunderbar gut. Ich glaube, so hatte ich noch nie gelacht.
Cole segelte durch den Raum und schlüpfte in seine Körperhülle. Er setzte sich auf, das Blut lief ihm weiter aus der Nase. „So komisch war das nun auch wieder nicht“, sagte er, aber seine Stimme klang amüsiert.
Ich folgte ihm. Bei der ersten Berührung meiner Geistform mit meinem Körper wurde ich eins, die Luft war warm, die Geräusche und Gerüche normal. „Doch, das war es“, sagte ich. „Das war‘s wirklich.“ Wieder musste ich kichern. Als ich mich endlich beruhigt hatte, fragte ich: „Ist deine Nase gebrochen?“
„Nein. Dafür bräuchte man einen Vorschlaghammer. Und es tut mir leid, Barbie, aber du bist kein Vorschlaghammer.“ Er wischte sich das Blut mit dem Handrücken weg.
„Ich hätte gern eine Chance, um dir das Gegenteil zu beweisen“, sagte ich betont süßlich.
„Ich bitte dich, ich bin doch nicht dumm. Genug mit den Fäusten. Das würde mein Gesicht vielleicht nicht überstehen. Es wird Zeit für die Schwerter. Mal sehen, ob du besser geworden bist.“
Ich ging zur Waffenwand am anderen Ende der Scheune, während Cole einen Dummy in die Mitte des Kampfrings schob. Nein, ich meine nicht ihn oder einen seiner Freunde (haha). Es war eine lebensgroße Kampfpuppe.
Meist arbeitete ich mit einem der Jungen, aber am Tag zuvor hatte ich Cruz fast ein Ohr abgehackt. Nicht etwa wegen meiner enormen Leistungsfähigkeit, sondern weil ich gestolpert war und ihn mitgerissen hatte. Also konzentrierten wir uns heute auf die Grundkenntnisse, die ich bereits tausend Mal geübt hatte.
Ich nahm eins der kürzeren Schwerter, das sich leichter handhaben ließ.
„Würdest du Gewichte stemmen, wie ich dir geraten habe, müsstest du nicht mit so einem Weichei-Schwert kämpfen.“ Trina kam wie gewohnt in schwarzem Tanktop und Pants aus der Dusche, ein weißes Handtuch um den Nacken.
Seit der scheußlichen Nacht im Wald hatte sie mich aus vollem Herzen in der Gruppe aufgenommen. Sie kam manchmal zu mir, wenn ich mit Kat zusammen war, und wir beide plauderten über alles Mögliche, was Kat zum Wahnsinn trieb. Zu Kats Verteidigung muss ich sagen, sie bat mich nie darum, Trina fallen zu lassen. Trotzdem fragte ich mich, ob es sie störte, dass ich es nicht tat.
Die Schneide pfiff durch die Luft, als ich die Waffe meiner Wahl in vorgetäuschter Wut herumschwang. „Von einem Schlag mit dem Weichei-Schwert bist du genauso tot wie von einem mit einem Männerschwert.“
Sie strich sich mit den Fingern das kurze Haar aus dem Gesicht und grinste. „Vielleicht. Aber während du damit zuschlägst, siehst du längst nicht so cool aus.“
„Zurück zum Training“, rief Cole.
„Ja, Sir, sofort“, antwortete ich, worauf mehrere Kids lachten.
Ich nahm Kampfhaltung ein. Bevor ich meinen ersten Schlag landen konnte, sah ich Mackenzie, die aus dem Bad kam. Sie war in Tarnkleidung und für den Kampf bewaffnet. Heute Abend war sie an der Reihe, nach Nestern zu suchen. Sie nickte mir kurz zum Gruß zu - keinen Hass konnte ich in ihrem Blick entdecken.
Nanu, nanu! Das war aber neu.
„Ich habe mit ihr gesprochen“, sagte Cole und überraschte mich damit.
Ich weiß. Ich schlug mit größerer Wucht als beabsichtigt nach dem Dummy. „So, und was hast du ihr diesmal gesagt?“, fragte ich angriffslustig.
„Dass zwischen ihr und mir nichts mehr passieren wird, egal, wie es mit uns weitergeht. Außerdem habe ich sie daran erinnert, dass du ihr das Leben gerettet hast.“
Egal, wie es mit uns weitergeht … Das Schwert entglitt mir, als es auf den Dummy traf, und ich stolperte. Ich wedelte mit den Armen, um die Balance zu behalten, und erwischte mit einer Hand Coles Gesicht.
„Tut mir leid.“
„Das sollte es auch. Du kannst eine echte Nervensäge sein.“
„He!“
„Was denn? Das war doch ganz harmlos.“
Er hob das Schwert auf und stellte sich hinter mich, um mir den Griff der Waffe richtig in die Hand zu drücken. In die andere legte er mir einen Dolch. Als sich unsere Finger berührten, lief mir ein Schauer über den Rücken. „Trina hat eine Axt“, sagte ich schnell, um meine Reaktion zu kaschieren. Was hatte er gemeint, als er sagte:„Egal, wie es mit uns weitergeht …“? In der einen Minute war er heiß, in der nächsten kalt, das war verwirrend. „Sollte ich nicht besser erst lernen, damit zu kämpfen?“
„Trina ist stärker als du. Sie hat genug Kraft, um Knochen zu zertrümmern, ganz gleich, welche Waffe sie benutzt.“
Warmer Atem streichelte meinen Nacken.
„Im Moment arbeitest du besser mit einem Dolch.“
Ich bekam eine Gänsehaut. „Wenn du meinst.“
Mit langsamen und leichten Bewegungen führte Cole meine Hand mit dem Dolch auf den Dummy zu.
„Zombies spüren zwar keinen Schmerz, aber sie reagieren auf Kraft. Stich hier zu …“ Er versenkte die Klinge in die Seite der Puppe. „Dann wird der Körper sich in diese Richtung biegen und die andere Seite angreifbar machen.“
Er nahm meine Hand mit dem Schwert hoch und deutete einen Schlag an, der dem Dummy den Kopf abtrennen würde, wobei sich meine Arme kreuzten.
„Wie du weißt, hast du in einem echten Kampf oft auf beiden Seiten Gegner“, erklärte er. „Nutze den Schwung und drehe dich.“
Er führte mich in die Drehung, zog meine gekreuzten Arme in einem graziösen Bogen auseinander, weiter und weiter, bis mein Körper ein Kreuz bildete.
Wenn die Zombies tatsächlich auf uns zugestürzt wären, hätte ich einen erstochen, den anderen enthauptet. Einfach so. Cole trat ein paar Schritte zurück und ließ mich den Bewegungsablauf immer und immer wieder üben, bis ich es mit geschlossenen Augen geschafft hätte.
„Wie lauten die Regeln beim Kampf?“, fragte er mich, während ich arbeitete.
Zum größten Teil stimmten seine Regeln mit denen meines Vaters überein, wenn es nicht so war, hielt ich mich an Coles Rat. Er hatte mehr Erfahrung. „Niemals still stehen.“
„Und?“
„Falls mein Dolch im Körper eines Zombies feststeckt, loslassen. Nicht versuchen, ihn herauszuziehen. Das macht mich angreifbar und kostet mich kostbare Zeit, die ich mir nicht leisten kann.“
„Und?“
„Wenn ich alle meine Waffen verloren habe, bevor ich die Mehrzahl der Zombies kampfunfähig gemacht habe, nicht versuchen, sie zu verglühen, weil ich es nicht schaffen werde, ihnen lange genug meine Hände aufzulegen. Ich sollte flüchten.“
„Nicht sollte, muss.“
Schließlich wurde der Dummy weggeschoben, und ich hatte Platz, mein Schwert frei zu schwingen. Das Metall pfiff bedrohlich, wenn ich es durch die Luft zog. Ich lernte, wie ich mein Handgelenk mit dem Schwert so schwungvoll drehen konnte, dass der Schlag nicht vorhersehbar - und daher abzuwehren - war.
Als Cole zufrieden war und mir alle Muskeln, die vorher schon überanstrengt gewesen waren, wehtaten, wechselten wir zum Schießstand. Er wählte eine 22er Pistole und mehrere Ladungen Munition. Ich hatte bereits gelernt, wie man das Ding auseinandernahm, wieder zusammensetzte und das Magazin lud. Im Dunklen.
Offensichtlich würde diese Waffe bei einem Zombie nicht viel ausrichten und ihn auch nicht aufhalten, aber sie war für Anfänger perfekt, weil sie keinen starken Rückstoß hatte.
Ich stülpte mir Ohrschützer über, zielte auf die Pappzielscheibe und schoss, bis ich keine Munition mehr hatte, dann sicherte ich die Pistole, legte sie auf den Tresen vor mir und nahm die Ohrschützer ab.
„Besser“, sagte Cole. „Diesmal hättest du einen Arm und die Hüfte gestreift, statt nur in die Luft drum herum zu ballern.“
Ich sah ihn verärgert an. „Genauer ging es nicht.“
Bevor er etwas erwidern konnte, vibrierte mein Handy in der Tasche. „Moment“, sagte ich und nahm es heraus, um aufs Display zu sehen. Nana. Sie hatte gelernt, wie man eine SMS verschickte.
Ich möchte, dass du zum Dinner zu Hause bist.
Ich schickte schnell eine Bestätigung zurück.
JETZT.
Ich seufzte. „Ich muss los.“ Ich hätte wetten können, dass wieder ein Lehrer bei ihnen angerufen und sich über mein Verhalten beschwert hatte.
„Ist gut, eine Minute.“
Cole zog mich an sich und legte sein Kinn auf meinen Kopf. Es gefiel mir gut, wie groß er war. Das gab mir das Gefühl, kleiner zu sein.
„Kennst du mich jetzt gut genug? Vertraust du mir?“
„Ich … ich …“ Ich fühlte mich völlig überrumpelt, trotz der Tatsache, dass er mir vor einer Weile diesen Hinweis gegeben oder auch nicht gegeben hatte. Egal, wie es mit uns weitergeht …
„Ich bin ein bisschen verwirrt“, gestand ich. „Warum fragst du?“
„Wir hatten uns vorgenommen, uns erst besser kennenzulernen, bevor wir ernst machen.“
Mir klappte die Kinnlade herunter. „Also das war es, was wir die ganze Zeit gemacht haben?“
Er lehnte sich zurück, kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf ein Ziel: auf mich.
„Willst du damit sagen, dass nicht?“
„Also, na ja, hm.“ Wollte er immer noch mit mir gehen? Hatte gar nicht aufgehört, es zu wollen? „Was ist mit dem, was du zu Mackenzie gesagt hast? Nicht heute, davor.“
„Ich fand, dass die Sache mit uns sie nichts angeht. Und ich sehe, dass Zurückhaltung bei dir nicht funktioniert“, sagte er trocken. Er strich mir mit den Fingerspitzen über das Rückgrat. „Daher lass mich dir helfen. Meine Lieblingsfarbe ist … Himmel noch mal, weiß ich nicht. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Mein Lieblingsfilm ist - welcher schon - Zombieland. Aber nicht, weil die Guten am Ende gewinnen, das ist eine nette Zugabe, sondern weil Emma Stone heiß ist.“
Ich schnaufte. Typisch Kerl.
„Meine Lieblingsband ist …“
„Lass mich mal raten“, unterbrach ich ihn. „White Zombie? Slayer?“
„Red. Und nein, nicht weil ich Zombies bluten sehen will. Wie steht es mit dir? Wen magst du? Ich bin ehrlich gesagt überrascht, dass du White Z und Slayer kennst.“
„Ich mag Red auch, aber Skillet gefällt mir besser. Die habe ich mir immer gemeinsam mit meiner Schwester angehört. Warum sollte ich die anderen Bands nicht kennen?“
„Weil du so engelhaft aussiehst.“
„Und? Findest du Engel heiß?“, fragte ich betont cool, in der Hoffnung, nicht zu verraten, wie aufgeregt ich tatsächlich war. Die ganze Zeit über hatte er mich kennenlernen und mit mir gehen wollen. Verrückt!
„Am heißesten.“
Ich musste lachen, auch diesmal aus vollem Herzen. In letzter Zeit konnte ich mich besser amüsieren, was merkwürdig war. Ich hätte ernster denn je sein müssen. So viel passierte, so viel stand auf dem Spiel … so viel war zu befürchten.
„In dem Fall kann ich sagen, ja, ich fange an, auf dein Urteil zu vertrauen. Aber … war da noch irgendwas mit Mackenzie nach eurer Trennung?“ Ich musste es einfach wissen.
„Nein. Wir verstehen uns besser als Kumpel, ich glaube, das wird ihr auch langsam klar.“
„Wir sind auch Kumpel“, erinnerte ich ihn.
Sein Griff wurde fester. „Ich will nicht dein Kumpel sein, Ali. Ich will mehr.“ Er ließ eine Hand unter mein T-Shirt gleiten, sodass er meine nackte Haut berührte. „Schließ das Fenster in deinem Zimmer heute Nacht nicht zu. Ich komme vorbei und beweise es dir.“
Für einen Augenblick blieb mir die Luft weg. „Indem du mir weiter Lehrstunden gibst?“, brachte ich gerade noch atemlos heraus. Ich wusste, was er meinte, ich gebe es zu, aber ich war so nervös und unsicher, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich darauf reagieren sollte.
Er küsste mich auf die Schläfe. „Genau. Allerdings nicht für das, was ich dir im Boxring beigebracht habe.“
Wie ein Tag, der so verheißungsvoll begonnen hatte, dermaßen katastrophal enden konnte, war mir ein Rätsel.
Cole wurde von seinem Vater zu sich gerufen, deshalb bot Trina an, mich nach Hause zu fahren. Am Himmel war kein Kaninchen zu sehen, was eine milde Gnade war, aber meine Großeltern warteten ungeduldig auf der Veranda, was Ärger bedeutete. Ich traf die coolste Entscheidung des Tages und schickte Trina schnell weg, bevor sie auf die Idee kommen konnten, sie in die Mangel zu nehmen.
Als sie mich sahen, standen sie auf und gingen ins Haus. Ich folgte ihnen und ließ den Sonnenuntergang - und das Chaos, das damit einherging - links liegen.
„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte ich mich und warf einen sehnsüchtigen Blick zur Treppe, die zu meinem Zimmer führte.
„Lasst uns einfach das Dinner genießen, in Ordnung?“, sagte Nana. „Danach reden wir.“
Ich kaute auf meiner Unterlippe. Protest wäre jetzt fehl am Platz, wie ich wusste. „Okay.“
Es gab Hackbraten mit Kartoffelpüree, dazu so viel süßen Tee, wie in mich reinpasste. Wegen des Fitnesstrainings hatte ich einen ordentlichen Appetit entwickelt. Trotz der Spannung, die in der Luft lag, saugte ich das Essen förmlich ein wie ein Staubsauger auf höchster Stufe.
Kaum dass ich fertig war und sagte: „Das war köstlich, vielen Dank!“, kam die Explosion.
„Bist du auf Drogen?“, wollte Nana wissen, ihr halb geleerter Teller war vergessen.
Entsetzt ruckte ich hoch. „Nein! Natürlich nicht!“
Pops warf mir seinen strengsten Blick zu. „Wir wollen dir glauben, wirklich, doch du zeigst alle klassischen Anzeichen.“
„Was für Anzeichen?“, fragte ich, aber ich konnte es mir denken.
„Uns hat schon wieder eine Lehrerin angerufen.“
Nana stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab. Da sie normalerweise immer eine vorbildliche Haltung hatte, war mir klar, dass ihre Nachlässigkeit zeigte, wie beunruhigt sie war.
„Du hast eine Fünf in ihrem Unterricht. Sie sagt, du hättest die ganze Zeit während ihrer Stunde geschlafen. Außerdem hat sie mir erzählt, dass du dich mit den falschen Leuten herumtreibst.“
Aha! Jetzt ging es um Cole. „Hast du mit der Rektorin gesprochen, mit Dr. Wright?“ Bei einem meiner Besuche in ihrem Büro hatte sie mir versprochen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um mir Ärger zu ersparen.
„Ja“, gestand Nana steif.
„Und was hat sie gesagt?“
„Dass wir uns keine Sorgen machen sollen, dass du ein gutes Kind bist und dass deine Freunde in Ordnung sind.“
„Na also.“
„Aber wir glauben ihr nicht“, rief Nana und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Alle Anzeichen sprechen dagegen.“
„Lasst mich doch testen. Ich werde euch beweisen, dass ich keine Drogen nehme.“ In Gedanken machte ich mir eine Notiz. Ich musste Cole fragen, ob das Zombie-Antiserum als Rauschmittel eingestuft wurde.
Das besänftigte sie ein bisschen, dann meckerten sie eine Weile über meine Zensuren.
„Wirst du von irgendjemandem in der Schule tyrannisiert?“, fragte Nana schließlich sanft. „Ist das dein Problem?“
„Nein. Ich bin so schnell abgelenkt, das ist alles. Es dauert, bis ich die Ereignisse verarbeitet und mich umgewöhnt habe.“
„Versuch‘s noch mal.“ Pops zeigte mit einer Kopfbewegung auf mein verfärbtes Kinn. „Wir haben gemerkt, dass du ständig verletzt bist, Ali.“
Verdammt. Ich hatte mein Bestes getan, um alles mit meinen Klamotten oder mit Make-up zu verdecken. „Okay, ihr wollt die Wahrheit, dann werde ich ehrlich sein. Ich lerne boxen.“ Besser, ich gab ihnen ein paar echte Infos als einen Sack voller Lügen. „Ich wusste, dass ihr euch Sorgen machen würdet, obwohl kein Grund dafür besteht, deshalb habe ich nichts gesagt.“
„Boxen?“ Nana blinzelte hektisch, als müsste sie ihrem Hirn Starthilfe geben, damit es meine Worte verstand. „Wofür denn das?“
„Selbstverteidigung. Ich will mich vor Angreifern schützen können, wenn nötig.“
Sie wechselten einen Blick, dann sagte Pops: „Wer bringt dir das bei? Und warum erfahren wir erst jetzt davon?“
„Trina, das Mädchen, das mich gerade nach Hause gefahren hat.“ Ich hatte tatsächlich ein paarmal mit ihr trainiert. „Manchmal auch Cole“, gab ich dann leise zu.
Nana riss die Augen auf und fasste sich an die Kehle. „Oje. Ich muss gestehen, ich dachte, sie wäre ein Junge und wollte dir schon verbieten, dich weiter mit ihm zu treffen … mit ihr. Und das denke ich immer noch“, fügte sie hinzu. „Offensichtlich tut dieses Boxen deiner schulischen Leistung nicht gut. Sosehr ich Cole schätze, für ihn gilt dasGleiche.“
„Sagt das nicht, es hat nichts damit zu tun, das verspreche ich, und mit ihm auch nicht.“
„Von jetzt an möchten wir, dass du nach der Schule direkt nach Hause kommst.“
Panik überfiel mich. „Nein.“ Ich schüttelte nachdrücklich den Kopf. Ich liebte sie, aber ich konnte nicht zulassen, dass sie mir das nahmen. Das Training war für mein Überleben so wichtig wie für die Erreichung meines absoluten Ziels - die vollkommene Vernichtung der Zombies.
„Doch.“ Pops starrte mich entschlossen an.
Ich wusste, er hatte solchen Widerstand bereits einmal erlebt, wahrscheinlich von meiner Mutter, und gelernt, sich dagegen durchzusetzen.
„Wir haben versucht, dir Luft zu lassen, damit du dich eingewöhnen kannst. Jetzt versuchen wir einen anderen Weg. Diesen.“
Einen Augenblick hörte ich nur ein Klingeln in meinem Ohr, dann meinen heftigen Atem. Beides ein disharmonisches Konzert. Cole hatte mich gewarnt. Eines Tages würde ich ausziehen müssen, hatte er gesagt. Wir dachten dabei an die Sicherheit meiner Großeltern, nicht an ihre Strenge.
Ich war erst sechzehn. Laut Gesetz durfte ich noch nicht allein wohnen, oder? Wenn ja, wie sollte ich mich dann ernähren? Vor einiger Zeit hatte ich Nana und Pops über Geld reden hören. Sie hatten darüber gesprochen, dass Dad eine hohe Lebensversicherung auf sich und Mom abgeschlossen hatte. Sie hatten überlegt, wie viel sie mir geben, welchen Betrag sie fürs College zurücklegen und wie viel sie selbst für meine Kleidung und die Verpflegung zurückbehalten sollten. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, meinen Anteil jetzt zu bekommen, würde es funktionieren.
„Du kannst trotzdem morgen mit Kat zum Shoppen gehen“, sagte Nana. „Wir wollen nicht, dass du aufhörst zu leben, wir wollen dir einfach Grenzen setzen.“
Ach ja. Kat und ich hatten einen großen Tag geplant, nur für uns beide. Ich freute mich immer noch darauf, doch diese Freude wurde jetzt von Verzweiflung überschattet. Ich musste mit Cole reden, um für diese neueste Entwicklung eine Lösung zu finden.
Nana streckte einen Arm aus und tätschelte meine Hand. „Wir wollen nicht, dass du dich hier wie eine Gefangene fühlst, aber du musst etwas ändern, mein Schatz. Wenn deine Mutter noch da wäre, würde sie wegen deiner Zensuren ausrasten.“
Ich wusste, sie meinten es gut, das war jedoch zu wichtig für mich. Ich schob meinen Stuhl zurück und stand auf. „Hört zu. Ich werde mit dem Boxtraining weitermachen, und ihr werdet damit einverstanden sein.“ Da war Power in meinen Worten, obwohl ich mich in meiner natürlichen Form befand. Ich konnte ihren freien Willen nicht brechen, aber ich konnte versuchen, ihre Meinung zu ändern. „Es ist gut für mich. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich lebendig.“
„Ali …“
„Nein, bitte, sagt jetzt nichts.“ Ich wollte nicht, dass sie mit ihren Worten meine wieder rückgängig machten. „Ich gehe nach oben. Bitte … denkt noch mal darüber nach, okay? Ich brauche das mehr, als ihr euch vorstellen könnt.“
Ich wartete nicht auf eine Erwiderung, stampfte die Treppe hoch und schloss mich in meinem Zimmer ein. Um mich abzulenken, schlug ich das Tagebuch auf. Ich wollte nachsehen, ob ich inzwischen eine neue Passage entschlüsseln konnte. Zu meiner Überraschung war das der Fall.
Falls du es schaffst, das zu lesen, bist du mir sehr ähnlich, anders als andere. Und wenn du bereit bist, Opfer zu bringen, kannst du im Kampf Gut gegen Böse etwas ausrichten. Stell dir nur eine Frage: Wie kannst du deine Zeit am besten nutzen? Wenn die Antwort lautet, zu lernen, den Feind zu bekämpfen, der in der Lage ist, alles zu zerstören, was dir lieb und teuer ist, dann bist du auf der richtigen Spur. Falls du antwortest, mich amüsieren und auf das Böse warten - dann wird das Ende schneller da sein, als du denkst.
Wer auch immer das geschrieben hatte, sagte mir stets zum passenden Zeitpunkt, was ich hören musste.
Nun stell dir die zweite Frage. Wärst du bereit, dein eigenes Leben aufzugeben, um andere zu retten? Wenn du mit Ja antwortest, bist du bereit für die dritte. Ist dir klar, dass der einzige Weg, wirklich und wahrhaftig zu leben, der ist, zu sterben?
Der folgende Text war noch verschlüsselt.
Ich dachte stundenlang über diese Worte nach. Meinen Großeltern hatte ich gesagt, dass ich mich zum ersten Mal lebendig fühlte. War das so, weil ein Teil von mir bei dem Unfall mit meiner Familie gestorben war, um in dieser neuen Welt der Geister wieder zum Leben erweckt zu werden? Oder war das im Tagebuch wörtlich gemeint? Der Autor hatte einmal seinen infizierten Geist erwähnt - schädlich für die Zombies - und dass er hatte sterben müssen, damit die anderen überlebten. Hatte er sich den Monstern angeboten, sodass sie ihn verschlangen?
Ich musste daran denken, wie die Zombies immer von mir abließen, nachdem sie mich gebissen hatten. Während des letzten Kampfes hatte ich das Gefühl gehabt, als fürchteten sie sich tatsächlich vor mir, vor dem, was ich ihnen antun könnte. Jetzt fragte ich mich, ob sie eine „Krankheit“ in meinem Geist spürten. Fragte mich, ob sie bei den anderen Jägern auch so reagierten.
Als es auf Mitternacht zuging, war ich der Lösung noch nicht näher gekommen - und eine neue Frage tat sich auf. Wo blieb Cole? Er hatte versprochen, mich zu besuchen.
Wie aufs Stichwort summte mein Handy.
Ich las: Schaffe es nicht, tut mir leid. Bronx und Frosty haben ein Nest gefunden. Verletzt. Fallen aufgestellt, Wache stationiert, bleib im Haus. Alles wird gut. Bis morgen.
Mein Herz wummerte wie ein Vorschlaghammer. Ich wollte unbedingt mehr hören, aber ich wusste es besser, als ihm eine SMS zu schicken. Eine Ablenkung könnte den Tod für ihn bedeuten. Bronx und Frosty würden verarztet werden müssen, und ich war sicher, der Rest der Truppe kehrte zum Nest zurück, um alle zu zerstören, die von den Jungs nicht erwischt worden waren. Es machte mich fertig, dass ich nicht bei ihnen war.
In dieser Nacht warf ich mich von einer Seite auf die andere, meine Gedanken rasten. Ein Schönheitsschlaf schien mir nicht vergönnt zu sein. Um acht duschte ich und zog mich an - ein T-Shirt, Shorts und Flip-Flops, meine verletzten Handgelenke unter bunten Stoffarmbändern verborgen. Obwohl ich am Verhungern war, entschied ich mich, nicht zum Frühstück in der Küche zu erscheinen. Ich hatte keine Ahnung, was ich zu meinen Großeltern hätte sagen sollen oder wie ich diese Situation meistern sollte.
Schließlich erlaubte ich mir, Cole eine SMS zu schicken. Ich fragte, wie es Frosty und Bronx ging. Fünf Minuten später gab es immer noch keine Antwort. Wahrscheinlich schlief er. Die Wochenenden waren die einzige Zeit, in der wir uns erholen konnten. Na ja, einige von uns.
Wie verabredet fuhr Kat um zehn vor dem Haus vor. Ich nahm meine Tasche - beziehungsweise meinen Überlebenskoffer mit der Taschenlampe, dem Stemmeisen (für den Kampf), einer Nagelfeile (zum Zustechen), dem Antiserum und meinem Handy - und rannte in vollem Tempo von der Tür zum Auto. Das hätte ich mir sparen können. Nana und Pops waren hinten im Garten.
Ich glitt auf den Beifahrersitz des Mustangs und bekam eine Gänsehaut. Jeden Tag wurde es ein bisschen kälter. Ich roch Kats vertrauten Duft - ein leichtes blumiges Parfüm - und registrierte ihr wie üblich schalkhaftes Lächeln.
„Okay, wow!“, sagte sie. „Es gibt ja mehrere Werte auf der Skala ‚Ich habe dich vermisst‘. Dieser Sprint von der Veranda zum Auto muss ganz oben liegen.“
Zarte Röte überzog ihre Wangen heute, die Schatten unter ihren Augen waren verschwunden. „Na gut, dann verdiene ich eine Belohnung.“
„Deine Denkweise gefällt mir. Lass uns einen Kaffee trinken, bevor wir ins Zentrum gehen. Ich gebe einen aus.“
Während sie zum nächsten Starbucks fuhr, suchte ich am Himmel nach Wolken der Verdammnis. Gute Nachricht: kein Kaninchen. Schlechte Nachricht: Der Himmel war grau, dunkle Wolken kündigten ein Gewitter an. Wenn die Sonne sich weiterhin versteckte, konnte sie die empfindlichen Zombies nicht daran hindern herauszukommen. Richtig?
Ich nahm mir vor, Cole danach zu fragen. Solange ich es nicht wusste, musste ich in Alarmbereitschaft bleiben. Für alle Fälle.
„Irgendwas von Cole gehört?“, fragte sie.
„Weswegen? Warum? Hast du was gehört?“
Sie schnurrte geradezu vor Wonne. „Ruhig Blut. An meine Ohren ist nichts gedrungen. Und ich denke, ich kann ohne Probleme sagen, er gehört ganz dir. Ich schwöre, in der Schule verschlingt er dich mit Blicken. Was ich unauffällig herausbekommen wollte, war, ob du was von Frosty weißt. Er hat mich seit gestern Abend weder angerufen noch eine SMS geschickt. Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Normalerweise hängt er mir immer an den Fersen.“
Aha. „Cole hat irgendwas verlauten lassen, dass Frosty sich nicht wohlfühlt. Er ist aber wohl auf dem Weg der Besserung, also wirst du sicher bald von ihm hören.“ Ich wusste, dass mit ihm alles in Ordnung sein musste, denn sonst hätte Cole garantiert nicht schlafen können und mich angerufen.
„Wahrscheinlich. Er versucht es inzwischen mindestens zweiMal am Tag.“
„Versucht was?“ Ich brachte es nicht über mich, es selbst auszusprechen.
„Sex“, kam es geradeheraus.
„Aha.“
Wir erreichten den Drive-in, aber es waren drei Wagen vor uns.
„Ja, genau. Er war mein Erster“, fügte sie hinzu. „Mein Einziger. Wie steht‘s mit dir?“
„Ich … äh … hab noch nie …“
Sie riss ihre hübschen haselnussbraunen Augen auf. „Noch nie?“
„Noch nie.“
„Du Glückliche. Ich wünschte, ich hätte auch noch nie. Nicht weil es schlecht ist, sondern weil sich danach alles ändert. Es wurde das Einzige, was Frosty von mir wollte. Aber jetzt genug über mich. Du denkst daran, das Unanständige mit Cole zu tun, oder nicht?“
„Nein. Doch. Vielleicht. Ach, ich weiß nicht.“ Nervös zwirbelte ich meinen Sicherheitsgurt zwischen den Fingern. „Ich bin mir ja nicht mal sicher, ob wir offiziell zusammen gehen, obwohl er meinte, er will, dass ich ihn besser kennenlerne. Als ich sagte, das wäre noch nicht der Fall, schoss er Informationen über sich auf mich ab, als wäre ich eine Schießscheibe.“
„Mädchen, der will dich garniert, und zwar mit Frosted Flakes zum Frühstück. Das sind übrigens seine Lieblingsfrühstücksflocken.“
Da fehlten mir die Worte.
„Zur Frage, ob es das wert ist, kann ich dir sagen, es ist ein großer Schritt. Jetzt, wo Frosty mein Ex ist, muss ich mit der Tatsache leben, dass jemand, den ich verachte oder vielleicht auch nicht, mich nackt gesehen hat.“
Ein schmaler Sonnenstrahl schlich sich durchs Wagenfenster und ließ ihre Augen in einem hellen Grünton schimmern. Die Sonne! Wunderbar! Eine Sorge weniger. Natürlich verschwand dieser Strahl eine Sekunde später, als hätte es ihn nie gegeben. Verflucht!
Wir rückten ein Stück weiter vor. „Ich weiß, dass ihr euch schon geküsst habt“, sagte Kat. „In der Tat weiß jeder aus dem Klub, dass du Cole geküsst hast, und jeder wundert sich, dass du immer noch Luft in der Lunge und überlebt hast. War er denn gut?“
Ein verträumter Seufzer entschlüpfte mir. „Er war erstaunlich.“
Ihr Lachen klang wie die Glöckchen von Feen, rein und fröhlich.
„Dich hat‘s ja schwer erwischt, meine Liebe.“
„Ja.“
Sie trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. „Also hier ist mein Rat. Wenn du beschließt, es zu tun, dann bestehe darauf, dass ihr ein Kondom benutzt. Ich weiß, ich weiß, ich klinge wie eine Sexratgeberin, aber du willst doch sicher keinen kleinen Cole in deinem Bauch wachsen haben, oder? Und außerdem, wer weiß, wo Mackenzie sich rumgetrieben hat? Wir wissen es jedenfalls nicht.“
Bei dem Gedanken, über so etwas zu reden, überkam mich Panik.
„Du solltest mal dein Gesicht sehen“, sagte Kat kopfschüttelnd. „Okay, da der Unterricht von Professorin Mad Dog noch nicht zu Ende ist, werde ich dir jetzt sagen, was mein Dad mir erzählt hat, und hoffe, dass du nicht aus dem Wagen springst. Sprich vorher mit ihm. Das ist mein Ernst, Kat, ich meine natürlich Ali. Und versuche nicht, die Unterhaltung erst anzufangen, wenn es zur Sache geht, oder womöglich mitten drin. Setz dich mit ihm zusammen, bevor irgendwas in der Art passiert - solange die Situation unverfänglich ist. Hat ein Typ erst mal Sex im Kopf, wird er dir alles versprechen, um das zu bekommen, was er will, Kathryn … äh, Ali. Hörst du mir zu? Du musst herausfinden, wo du mit ihm stehst. Ich bitte dich aber, beschließe, dass du noch nicht so weit bist.“
„Okay“, sagte ich vollkommen eingeschüchtert. Ich sollte mit Cole darüber reden? Lieber würde ich gegen Zombies kämpfen! „Also dein Vater hat dir das gesagt?“ Mutiger Mann.
„Natürlich meinte ich meine Mutter.“ Kat lachte erneut, diesmal klang es etwas nervös. „Egal. Das perfekte Thema, um eine Unterhaltung mit Cole anzufangen, ist die Frage, ob ihr offiziell zusammen geht. Ist das so, oder ist es nicht so? Wie denkst du darüber? Wird er sich auch mit anderen treffen? Dann führst du ihn zu der größeren Frage. Wird Zärtlichkeit dabei sein? Glaub mir, das ist wichtig. Einmal hat mich Frosty zwei Sekunden danach verlassen, hat sich einfach angezogen und ist aus dem Fenster geklettert. Ich hab mich gefragt, ob er mich veräppeln wollte, aber natürlich konnte er ja nicht antworten, weil er verdammt noch mal nicht mehr da war.“
Bevor ich darauf etwas sagen musste, erreichten wir den Bestellservice und gaben unsere Wünsche durch. Kat nahm einen Eismokka und ich einen knallheißen Zimtmilchkaffee.
„Und dann noch was“, sagte sie, während wir zur Kasse weiterfuhren.
Ich konnte gerade noch ein Aufstöhnen unterdrücken.
„Ich merke, dass dir der Gedanke unangenehm ist, das mit Cole zu besprechen, aber sieh es mal anders. Wenn du nicht mit ihm darüber reden kannst, solltest du dich auch nicht nackt vor ihm ausziehen. Sag ich nur mal so.“
Würde ich mich dabei jemals wohlfühlen?
„Das macht neun Dollar fünfundsiebzig“, sagte der Kassierer.
Nachdem alles bezahlt war, bekamen wir unsere Getränke. Ich hatte so was schon lange nicht mehr gehabt. Nicht, seit meine Mutter beschlossen hatte, sie könnte ohne ihren Koffeinschub am Morgen nicht existieren. Ich durfte allerdings nur koffeinfreien Kaffee trinken, weil ich zu jung für richtigen war. Damals hatte ich mich beschwert, jetzt musste ich bei der Erinnerung daran lächeln. Sie hatte mich nur beschützen wollen.
„Das ist viel besser als ein Frosty“, sagte Kat und lachte über ihren eigenen Witz.
Ich glaube, meine Mutter hätte Kat gemocht. Ganz sicher hätte sie ihren Spaß mit ihr gehabt.
Wir verbrachten ein paar Stunden im Einkaufszentrum, liefen umher, sprachen über alles und nichts, probierten Klamotten an und kauften sogar ein paar. Während ihr Geschmack eher in Richtung Rüschen ging, bevorzugte ich mehr das, na ja, Forschere. Nicht sehr sexy, das wusste ich, aber zurzeit war mir wichtiger, die Welt mit meinem Können im Schwertkampf statt mit Schönheit zu verblüffen.
Auf dem Weg nach draußen stießen wir auf Poppy und Wren, die gerade hereinkamen. Wren hob die Nase in die Luft und warf ihr Haar über die Schulter zurück, während sie so tat, als würde sie uns nicht sehen. Poppy winkte uns zu, ihr Blick wirkte traurig.
Wren schlug ihr auf die Hand. „Jetzt ermuntere sie nicht. Sie ziehen uns nur mit runter.“
Wut kochte in mir hoch.
„Was habe ich bloß in denen gesehen?“, schimpfte Kat.
Sie tat so, als wäre die Ablehnung der beiden keine große Sache, aber ich spürte, wie es ihr wirklich ging. In ihrem Blick lag Traurigkeit. Sie warf ihr Haar ebenfalls stolz nach hinten, und wir setzten unseren Weg fort.
Als wir wieder in ihrem Wagen saßen und auf dem Weg nach Hause waren, sagte ich: „Ich weiß, dass du sie vermisst. Wenn du sie treffen möchtest, lass dich bitte nicht durch mich daran hindern. Wir können uns ja trotzdem sehen, wir sagen es den anderen einfach nicht.“
„Zwing mich nicht dazu, dir eine Ohrfeige zu verpassen, damit du deinen Verstand einschaltest.“ Die nächste Kurve nahm sie etwas zu scharf. „Das haben sie schon einmal mit mir gemacht, dann haben Frosty und ich uns getrennt, und plötzlich riefen sie mich wieder an. Justin war vorher auch mit Cole zusammen, und jetzt geht Wren mit ihm. Das sind Heuchlerinnen, und sie verurteilen andere. Wie du aber wahrscheinlich bemerkt hast, sind mir Liebe und Hingabe wichtig.“
„Das stimmt.“
Sie grinste träge. „Außerdem ist das Leben viel zu kurz, um sich was vorzumachen und solche Spielchen zu spielen. Ich möchte meine Zeit gern mit Leuten verbringen, bei denen ich mich wohlfühle, weil ich bei ihnen ich selbst sein kann. Leute, die mich glücklich machen.“
Starke Worte und etwas, das ich erst erlebt hatte, nachdem meine Familie gestorben war. „Danke.“
„Nichts zu danken. Oder ja, denn ich habe dich gerade zum glücklichsten Mädchen der Welt gemacht.“
Kurz bevor wir unser Ziel erreichten, brach ein Unwetter los. Der Regen goss vom Himmel und klatschte gegen die Windschutzscheibe. Kat parkte am Straßenrand, und ich suchte meine Taschen und Tüten zusammen.
„Komm doch mit rein“, bot ich an, „und bleib ein bisschen.“ Ich wollte sie jetzt nicht loslassen. „Falls du nicht irgendwas anderes vorhast.“
„Habe ich nicht. Bist du sicher, dass du meine Gesellschaft noch länger aushalten kannst? Mein Dad meint ja, man könnte mich nur in kleinen Dosen vertragen.“
„Nun pass du aber auf, dass ich dir nicht eine Ohrfeige verpassen muss.“
Sie lachte, und ich musste unwillkürlich mit einstimmen.
Kaum hatten wir den Wagen verlassen, waren wir klatschnass. Bis auf die Haut durchnässt, rannten wir zur Haustür. Wir lachten immer noch, als wir drinnen waren, deshalb war es das wert.
„Ali!“, rief Nana aus der Küche.
Leichte Nervosität befiel mich. Es wäre doch besser gewesen, am Morgen mit ihr zu reden. Wenn sie das mit dem Boxen jetzt in Anwesenheit von Kat ansprach, wüsste ich nicht, wie ich reagieren sollte.
Wir gingen tropfend zu ihr, wobei der Duft von gebratenen Karotten immer intensiver wurde. Nana stand am Tresen und zupfte Salatblätter.
Ich entspannte mich, als sie uns mit dem süßesten Lächeln begrüßte.
„Kathryn, meine Liebe, bleibst du zum Dinner? Es gibt Schmorfleisch. Das gehört zu Pops‘ Lieblingsspeisen.“
„Ist das okay?“, fragte Kat an mich gerichtet.
„Aber klar“, erklärte ich in einem Tonfall, der ihr sagen sollte, wie dumm diese Frage war.
Sie strahlte. „Dann - ja, ich bleibe gern zum Essen.“
„Das ist schön.“ Nana füllte den Salat in eine Schüssel. „In fünfzehn Minuten ist alles fertig. Warum geht ihr beide nicht nach oben und trocknet euch ab. Ihr seht ja aus wie Kanalratten.“
Das brachte uns erneut zum Lachen, und wir marschierten die Treppe hinauf. In meinem Zimmer rieben wir uns mit Handtüchern trocken, stellten dann fest, dass es nichts nützte, und zogen uns um. Ich lieh ihr ein T-Shirt, das ihr viel zu groß war, und eine Jogginghose, die sie an der Taille und an den Beinen umkrempeln musste.
Aus lauter Gewohnheit überprüften wir unsere Handys. Kat hatte eine SMS von Frosty, der sie fragte, ob sie sich später mit ihm verabreden wollte. Na bitte. Ich hatte doch gewusst, dass er sich erholen würde. Ich hatte eine Nachricht von Cole, der ankündigte, dass er mich um elf abholen würde. Darüber musste ich grinsen. Frosty fragte. Cole kündigte an. Trotzdem war ich aufgeregt, ihn zu sehen. Er …
Wom!
Bei dem Plumpsgeräusch wirbelte ich herum. Eine sehr blasse zittrige Kat schien auf halbem Weg zu mir auf die Knie gefallen zu sein. Ich ging schnell zu ihr, um ihr aufzuhelfen.
„Geht es dir gut?“
„Alles in Ordnung.“ Sie humpelte zum Bett, um sich auf der Kante niederzulassen, und rieb sich das Gesicht. „Ein kleiner Schwindelanfall, weiter nichts.“
Ein kleiner Schwindelanfall, der plötzlich auftrat, ohne Warnung. Ich dachte an die Narben in ihrer Armbeuge, an die Tage, an denen sie so blass und zittrig gewesen war. An die vielen Male, die sie nicht zur Schule gekommen war.
„Kat, irgendwas stimmt bei dir nicht. Ich will, dass du mir sagst, was los ist.“ Ich setzte mich neben sie und schlug die Beine übereinander. „Keine Ausreden mehr. Du kannst mir alles erzählen, niemand anders wird davon erfahren, das weißt du doch hoffentlich.“
Seufzend ließ sie sich nach hinten fallen und federte auf der Matratze auf und ab. „Na ja … Ich habe dir damals gesagt, dass meine Mutter in dem Krankenhaus arbeitet, in dem du lagst, und dass sie meinte, ich sollte mich mal um dich kümmern, falls du dich erinnerst.“
„Ja.“
„Das war gelogen. Tut mir leid“, sagte sie schnell, bevor ich etwas erwidern konnte. „Ich wollte dir einfach nicht beichten, was wirklich war. Das habe ich bisher keinem erzählt, auch nicht Frosty.“
„Und was ist es?“ Verwirrt und beunruhigt sah ich sie an. „Warum warst du da?“
Sie hielt sich die Hände vors Gesicht, sodass ich ihren Ausdruck nicht sah.
„Ich bin krank. Meine Nieren funktionieren nicht richtig. Ich muss zur Dialyse, ziemlich oft. Deshalb war ich wirklich da. Ich habe gehört, wie zwei Krankenschwestern sich über dich unterhielten, und beschloss, dir einen Besuch abzustatten.“
Ich zitterte vor Sorge. Ein Wort hallte in meinem Kopf wider. Krank. Krank. Krank. „Wirst du wieder gesund?“
„Meine Mutter … sie war auch nierenkrank und ist ziemlich früh gestorben. Kurz nach meiner Geburt.“
„Kat.“ Ich nahm ihre Hand und hielt sie fest, wollte sie nie mehr loslassen.
Sofort reckte sie das Kinn in die Luft. Tränen glitzerten in ihren Augenwinkeln, und wieder sahen ihre Augen eher grün als braun aus.
„Ich will nicht, dass du mich anders behandelst als vorher. Ich bin immer noch ich.“
Ja, das war sie, die beste Freundin, die ich bisher gehabt hatte. Ich hätte sie gern gerettet, irgendwie, auf irgendeine Art, da ich schon nicht meine Familie oder Brent hatte retten können. Sie zu verlieren würde für mich das Ende sein, das wusste ich.
Die Uhr tickte - oder auch nicht. Der Tod könnte in jeder Sekunde kommen. Ein Herzschlag, ein Blinzeln, ein Atemzug. Weg, verschwunden.
Kat. Nana. Pops.
Cole.
Ich hatte ihn auf Distanz gehalten, war um ihn herumgeschlichen, gestand ich mir ein. Ja, dachte ich, ich würde ihm eine Chance geben, dann wieder: nein, lieber nicht. Ja. Nein. Aufgeregt. Nervös. Immer einen Teil von mir zurückhaltend.
Okay, ab jetzt galten neue Regeln. Ich würde mein Leben nicht mehr von Angst bestimmen lassen. Diesen Gedanken hatte ich schon einmal gehabt, doch diesmal spürte ich den Sinn dieser Worte tief in mir. Diesmal würde ich mich danach richten.
„Du sagst, Frosty weiß nichts davon?“, fragte ich ruhig.
„Nein, tut er nicht.“ Sie sah mich ernst und mit einer Warnung im Blick an. „Das soll auch so bleiben, hörst du? Ich sollte es ja nicht, aber ich liebe ihn immer noch. Wenn er das herausfindet, wird er mich entweder fallen lassen oder seine Anstrengungen verdoppeln, um bei mir zu sein, solange ich noch da bin. Ich will nicht, dass er mich fallen lässt, und ich möchte noch weniger, dass er mich nur will, weil ich nicht mehr viel Zeit habe. Er soll um mich kämpfen, weil er mich liebt.“
„Ist ihm nicht aufgefallen, wie müde du manchmal bist? Deine Narben?“
„Na ja, klar. Aber dann sage ich, ich habe meine Periode, das reicht dann. Mädchensachen machen ihm Angst. Was die Narben angeht, ich habe ihm erzählt, dass ich in der Unterstufe mal einen fürchterlichen Kampf mit einer kleinen Hexe hatte, die mich wie ein Feigling gekratzt hat. Er hat mich mindestens einmal die Woche nach ihrem Namen und ihrer Adresse gefragt. Ich denke, er hofft auf ein kleines Wiederholungsmatch.“
Ich wollte darüber lachen. Ich wollte weinen. „Von mir erfährt niemand etwas, versprochen.“
Nach und nach entspannte sie sich. „Gut. Und jetzt, um das Gesprächsthema zu wechseln: Ich habe den Gerüchtebaum fertiggestellt. Du wirst nicht glauben, wer die Schuldige ist.“
Das interessierte mich inzwischen kaum noch, trotzdem wurde ich neugierig. „Wer?“
„Justins Schwester Jaclyn.“
„Natürlich“, sagte ich, und es war, als ginge in meinem Kopf ein Licht an. Wie peinlich, dass ich nicht selbst darauf gekommen war. Seit jener Nacht im Wald, als die Overalls „unsere“ Zombies mitgenommen hatten, hatte ich nicht mehr mit Justin geredet. Jaclyn drehte sich immer in eine andere Richtung, wenn sie mich entdeckte. „Sie hasst mich.“
„Hass ist vielleicht ein zu mildes Wort. Das solltest du aber nicht persönlich nehmen, glaube ich. Sie hasst jeden, der was mit Cole zu tun hat. Sogar mich hat sie gehasst, als ich mit Frosty zusammen war. Nicht etwa, dass sie irgendwann erklärt hätte, wieso.“
Ich wusste, weshalb, durfte es ihr jedoch nicht sagen.
„Wirst du sie zur Rede stellen?“, fragte Kat.
„Nein“, entgegnete ich seufzend. „Das ist vorbei. Erledigt.“ Ich wollte nicht riskieren, wegen so einer Geschichte Ärger heraufzubeschwören. Nicht, wo ich so viel zu verlieren hatte. Außerdem würde Cole sich dann auf Justin stürzen, und im Moment hatte er auch so genug um die Ohren.
Das hatten wir alle.