3. KAPITEL
Verquerer und verquerer …
Die Sommerferien gingen viel zu schnell vorbei, und schließlich war der erste Tag meines Unterstufenschuljahrs da. Asher High befand sich am Stadtrand von Birmingham, nur eine zehn Minuten lange Autofahrt vom Haus meiner Großeltern entfernt. Go Tigers. Mit dem Bus wurde aus der Zehnminutenfahrt ein Trip von einer knappen Dreiviertelstunde, aber ich war für jede weitere Sekunde dankbar. Wie ich Kat an jenem Tag im Krankenhaus erzählt hatte, waren meine Eltern auf der Asher High gewesen. Die ganze Zeit musste ich nur daran denken, dass ich womöglich ihre Fotos dort in einem der Schaukästen entdecken könnte.
Niemals würde ich sie mir anschauen. Wenn ich sie sähe, bekäme ich wahrscheinlich auf dem Flur einen Zusammenbruch, etwas, das seit der Beerdigung nicht mehr passiert war. Ja, ich glaubte gern, dass ich inzwischen stabiler geworden war, mich besser beherrschen konnte, aber ich wollte kein Risiko eingehen.
Ich saß vorn direkt hinter dem Fahrer, hielt die ganze Zeit über den Kopf gesenkt, sprach mit niemandem und war die Erste, die ausstieg. Ich beeilte mich so, zum Eingang zu kommen, dass mein Rucksack mir dabei ständig auf den Rücken schlug.
Vor dem Schulgebäude blieb ich stehen, die Augen weit aufgerissen, ein Grummeln im Magen. So. Viele. Schüler. Große. Kleine. Unterschiedlicher Herkunft. Mädchen, Jungen. Arme. Reiche. Aufgetakelt, lässig. Dünn, dick. Brav bedeckt, halb nackt. Alle standen in Grüppchen herum, aufgeregt, weil sie sich nun wiedersahen. Jeder schien über irgendjemand anders zu reden und zu lachen.
Das Gebäude selbst war ziemlich weitläufig und irgendwie beängstigend, weil … wow! Die Tiger nahmen ihre Schulfarben ernst. Noch nie hatte ich so viel Schwarz und Gold auf einem Haufen gesehen. Zwischen schwarzen Steinen waren goldene Steine angeordnet. Eine Menge Bäume mit schwarz angemalten Stämmen und goldenen Blättern. Auf dem gepflasterten Weg führten schwarz-goldene Tigerpfotenabdrücke zum Eingang, der von Metalldetektoren flankiert wurde. Jemand hatte an den oberen beiden Ecken Tigerohren angebracht und Schnurrhaare im mittleren Teil, um dem Ding ein Gesicht zu geben.
Rede niemals schlecht über Dschungelkatzen, sagte ich mir. Sonst würde man mich womöglich mit dem Kopf in die Kloschüssel stecken.
Ich machte im Sekretariat halt und bat um einen Grundrissplan, nur um ein Seufzen zu ernten, begleitet von einer Geste zu einem Stapel auf dem Tresen. Ich nahm mir einen Plan und murmelte: „Danke.“ Meinen Stundenplan hatte ich bereits, es ging also nur darum, mein Ziel zu finden. Ich hatte noch nie einen besonders guten Orientierungssinn gehabt.
Als ich auf dem Weg nach draußen war, kam eine Frau aus dem hinteren Büro, sah mich, änderte ihre Richtung und lief direkt auf mich zu.
Sie streckte eine sorgsam manikürte Hand nach mir aus. „Du bist Alice Bell.“
„Ali“, sagte ich, während wir uns begrüßten. Ihr Griff war fest. Zu fest.
„Ich bin die Direktorin. Dr. Wright. Und ich bestehe auf dieser Anrede, kein Ms Wright, nicht Wright oder ‚Hey, Lady!‘ Ich habe mir meinen Titel verdient und möchte davon Gebrauch machen. Alles klar?“
„Ja.“ So unauffällig wie möglich musterte ich sie. Dunkelbraunes Haar umrahmte ein attraktives Gesicht mit einem fein geschwungenen Mund. Ihr Teint hatte einen Olivton, und in ihren braunen Augen stand praktisch geschrieben: Es ist mir ernst!
„Wenn du irgendein Anliegen haben solltest“, sagte sie im Weggehen, „zögere nicht, dich an meine Assistentin zu wenden.“
„Danke, das werde …“
Sie war bereits verschwunden und hörte mich gar nicht mehr.
Ich durchquerte den Flur, dessen Wände mit „Tigers Rule“-Postern zugepflastert waren. Es wimmelte von Schülern, die in alle Richtungen strömten. Ein paar warfen sich einen (natürlich schwarz-goldenen) Beachball zu, überall war Lachen zu hören. Ich war wohl nicht schnell genug, denn einige Leute rannten mich fast um.
In einer Anwandlung von Selbstschutz quetschte ich mich an eine Wand mit Schließfächern. Die Massen würden sich bald ausdünnen, dann könnte ich meinen Weg ohne Unfallgefahr fortsetzen. Während ich wartete, versuchte ich nicht an meine alte Schule zu denken und an die Tatsache, dass ich nach Schulschluss nicht zur nebenan gelegenen Grundschule gehen würde, um … um jemanden abzuholen.
Nein, nicht dieses Thema.
„Ali?“
Ich hob den Kopf und erblickte eine hübsche Brünette umgeben von einer Gruppe Mädchen. „Kat! Äh, ich meine Mad Dog.“ Ich war so happy, ein bekanntes Gesicht zu sehen, dass ich etwas tat, was ich schon den ganzen Sommer über nicht mehr getan hatte. Ich lächelte.
Sie erwiderte mein Lächeln, ehrlich erfreut, mich zu treffen, und winkte mich zu sich.
Ich ging auf sie zu, und sie umarmte mich, als wären wir gute Freundinnen, die sich lange nicht gesehen hatten.
„Na, so was! Seht doch mal, was die Katze angeschleppt hat. Ist das nicht verrückt? Aber jetzt mal ganz ernsthaft. Ich bin ja so froh, dass du hier bist.“ Sie musterte mich von oben bis unten und grinste erneut, diesmal durchtrieben. „Na, sieh mal einer an, total chilischarf. Gefällt mir!“
Natürlich eine Lüge. Ich trug lediglich alte Sneakers, zerrissene Jeans und das älteste T-Shirt, das ich besaß. Der Stoff war schon so fadenscheinig, dass es glatt als Fransenshirt durchgegangen wäre. Ich hatte einfach keine Lust gehabt, mich zu stylen, als wollte ich irgendwas feiern.
Die Therapeutin, zu der mich meine Großeltern geschickt hatten, hätte gesagt, ich bestrafte mich dafür, dass ich am Leben war, während der Rest der Familie verunglückt war. (Wenn sie das noch ein einziges Mal mehr von sich gegeben hätte, hätte ich mir die Ohren abgehackt und sie ihr auf den Tisch geworfen.) Vielen Dank, darauf war ich auch schon selbst gekommen. Deshalb änderten sich meine Gefühle aber nicht.
„Na?“, drängelte Kat. „Willst du mir jetzt nicht sagen, wie gut ich aussehe?“
Ich sah sie von oben bis unten an. „Du siehst nicht gut aus. Du siehst umwerfend aus“, sagte ich schnell, bevor sie mich entrüstet ansehen konnte. Sie trug Glitzerschuhe, Hüftjeans von Miss Me und ein knallenges schwarzes Top. Ihr dunkles Haar fiel ihr in sanften Wellen auf die Schultern.
„Der goldene Stern für Ali“, sagte sie. „Also, dann darf ich dich mal vorstellen. He, Girls, das ist eine ganz besondere Freundin von mir.“
Ich versteifte mich, weil ich annahm, dass sie jetzt erzählen würde, woher wir uns kannten, aber das tat sie nicht. Dafür hätte ich sie knutschen können.
„Ali, das sind Reeve, Poppy und Wren.“
Okay. Keine Jane, Beth oder Kelly hier. „Hallo“, sagte ich ein bisschen lahm. Die Mädchen sahen genauso makellos aus wie Kat, mit umwerfenden Gesichtern, die man sonst nur aus Magazinen kannte. Sie trugen bemerkenswerte Outfits, die man ebenfalls nur in Magazinen fand.
Magazine. Genau. Das ergab einen Sinn. Kat hatte die drei aus der Zeitschrift „Makellose beste Freundinnen“, da war ich sicher. Im Vergleich dazu fühlte ich mich verlottert und um Klassen unter ihnen, als wäre ich aus dem Blatt „Streuner der Woche“.
„Nett, dich kennenzulernen“, sagte Wren, eine atemberaubende Afroamerikanerin mit unglaublichen karamellbraunen Augen.
„Freundinnen von Kat …“, bemerkte Poppy, eine Rothaarige mit Sommersprossen, die ganz sicher dazu bestimmt war, einen Prinzen oder etwas Ähnliches zu heiraten.
Reeve warf ihr dunkles Haar über die Schulter zurück. „Ich gebe dieses Wochenende eine Party.“
Sie sah umwerfend und selbstbewusst aus. Ihr Teint hatte einen wunderbaren sonnigen Bronzeton.
„Einfach nur ein kleines Zusammentreffen, um zu feiern, dass wir die erste Schulwoche lebend überstanden haben. Na ja, die ersten drei Tage.“
Warum begann die Schule immer in der Mitte der Woche?
„Du musst unbedingt kommen“, fügte sie dazu.
„Ich, also …“
Ich war noch nie auf einer Party gewesen, hatte aber dafür eine Menge über die gehört, die meine Freundinnen besucht hatten. Deshalb wusste ich, dass ich erstens in einem Raum vollgestopft mit Leuten festsitzen würde, die ich nicht kannte. Zweitens in einem Raum festsitzen würde mit Leuten, die betrunken waren und die ich nicht kannte, denn es würde garantiert getrunken werden. Nicht nur meine Freundinnen hatten mir davon berichtet, sondern auch meine Mutter hatte mich vor Schulpartys gewarnt, auf denen Tausende von Hirnzellen ertränkt wurden. Und drittens, die Fete würde am Abend stattfinden.
Früher hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als abends das Haus zu verlassen. Ich hätte so manches für einen einfachen Mondscheinspaziergang gegeben. Einen Arm? Ein Bein? Warum nicht meine Seele?
Und nun? Allein der Gedanke daran machte mich fertig.
„Sie wird ganz bestimmt mitkommen“, versprach Kat. „Dafür werde ich sorgen. Und jetzt macht, dass ihr wegkommt. Ich muss noch unter vier Augen mit Ali reden.“
Sie gab jedem der Mädchen einen Kuss auf die Wange und schickte sie fort, bevor sie sich wieder an mich wandte.
„Du hast also schon deinen Stundenplan, oder?“
Ich ging nicht weiter darauf ein, dass sie gerade meinen Besuch auf der Party angekündigt hatte. Es bestand kein Grund, ihre Gefühle mit störrischen (und kindischen) Äußerungen zu verletzen wie: Niemals bringst du mich dazu, dort hinzugehen.
„Ja.“ Da ich alles im Kopf hatte, ratterte ich den Plan herunter und hoffte, dass wir wenigstens eine Stunde gemeinsam haben würden.
„Der Hammer! Wir haben die Mittagspause und den letzten Block zusammen, um unsere Schulübernahme zu planen. Ich hab‘s schon beschlossen. Du und ich und meine Mädchen werden die Herrschaft übernehmen. Ich bringe dich zu deiner ersten Stunde. Das ist zwei Häuser entfernt, also ein kleiner Walk.“
„Musst du auch darüber?“
„Nein, hierhin.“ Sie deutete mit dem Daumen auf einen Raum hinter uns.
Ich warf einen Blick auf die Uhr am Ende des Flurs. Wir hatten noch sechs Minuten, bis es zur Stunde läutete. „Kommst du dann nicht zu spät zu deinem Unterricht?“
„Ja, aber mach dir deshalb keine Sorgen.“ Verschwörerisch grinsend hakte sie sich bei mir ein. „Das ist meine gute Tat des Tages. So habe ich was bei dir gut. Richtig, ich sammle Punkte. Frag die anderen. Es gibt in der ganzen Schule keinen Einzigen, der mir nicht einen Gefallen schuldet. Wirklich wahr.“
So klein sie auch war, sie hatte kein Problem, sich den Weg freizukämpfen. Sie war außerdem nicht auf den Mund gefallen, wenn jemand was sagte oder tat, das ihr nicht gefiel. Dabei unterhielt sie sich angeregt mit mir und erklärte mir alles, was ich „zum Überleben“ brauchte.
„Die ist eine Schlampe. Er spielt. Der ist süß, hätte sich vergangenes Jahr aber fast eine Überdosis verpasst, also Finger weg! Sie ist eine falsche Hexe, lügt und betrügt. Ja, genau, Trina, ich rede von dir!“, rief sie. „Übrigens“, sagte sie an mich gewandt, „Trina flucht, das ist trashig. Meine goldene Regel ist, niemals zu fluchen. Ich habe nämlich Klasse. Anders als Trina, die Schlampe von Birmingham.“ Den letzten Teil des Satzes rief sie wieder laut.
Ich rechnete fast damit, dass die attraktive, aber etwas männlich wirkende Trina uns verfolgen und Kats Zähne mit ihren Fäusten Bekanntschaft machen lassen würde, aber sie stellte sich nur in Kampfpose auf und warf Kat einen Blick zu, der Rache versprach.
Okay. Noch ein wichtiger Vorsatz: Versuche nie, Trina zu provozieren! Ihr Tanktop ließ etliche Tattoos und viel von ihren muskulösen Armen sehen. Ihr Haar war bis knapp über die Ohren kurz geschnitten, auf ihrem Nacken verliefen Narben, die aussahen, als stammten sie von Bissen.
Und ich sollte unbedingt aufhören, meinen Hals zu verrenken, sonst würde ich mir eine Querschnittslähmung holen.
„Der ist schwul, will‘s aber nicht zugeben“, fuhr Kat fort, die anderen zu beschreiben, als wäre nichts geschehen. „Also, am besten drüber hinwegsehen und nicht darauf ansprechen. Die Freundin von dem da drüben hat es in sich, er dagegen ist ziemlich beschränkt. Ach, und sie ist so rotzig, dass man ein Kleenex braucht, wenn man mit ihr redet. Tu so, als hätten sie die Pest, das ist besser für dich. Die da ist nicht direkt schlecht. Der ist … ätzend!“ Sie blieb ruckartig stehen, sodass ich ebenfalls anhalten musste. „Lach jetzt, als hätte ich irgendwas total Komisches von mir gegeben“, forderte sie mich auf.
Lachen? Echt? Wusste ich denn noch, wie das ging?
Sie boxte mir in die Seite. „Lach jetzt“, flüsterte sie drängend.
Okay, ich zwang mich also zu lachen. Es ist mir peinlich zuzugeben, aber es klang, als wäre mir ein Frosch in die Kehle gehüpft und würde meine Stimmbänder als Bongos benutzen. Selbst Kat sah mich erschrocken an.
Sie erholte sich schnell wieder, warf ihr Haar zurück und ließ ihre magische Lache erschallen. Es hörte sich an, als würde ein Engel auf einem Regenbogen Harfe spielen. So was Unfaires!
„Warum machen wir das jetzt?“, fragte ich leise.
„Sieh nicht hin, aber da drüben ist mein Ex.“
Sicher war ich nicht die Einzige, bei der ein „Sieh nicht hin!“ so klang wie „Jetzt ist der beste Moment, einen Blick darauf zu werfen!“ Ich sah mich um.
„Böse Ali!“ Wieder boxte sie mir in die Seite. „Böse, böse, böse Ali! Hast du gar keine Selbstbeherrschung?“
„Tut mir leid.“ Ich rieb mir die Seite, aber hörte ich auf zu gucken? Nein. Ich starrte hinüber.
Zu unserer Rechten befand sich eine Gruppe von acht Jungen. Wenn ich eine Definition von Serienverbrecher hätte geben sollen, dort stand er, beziehungsweise acht davon. Sie waren alle groß und muskelbepackt. Die meisten hatten Tattoos auf den Armen und Piercings im Gesicht. Ein paar trugen Ketten um die Taille wie einen Gürtel, doch für diese Typen waren das ganz sicher Waffen.
Beweis: Zwei von ihnen hatten elektronische Fußfesseln über ihren verdreckten Boots.
Sie schubsten sich lachend und boxten sich gegenseitig. Einer krallte sogar eine Hand ins Haar eines anderen Typen und hielt ihn fest, sodass der gebückt stehen bleiben musste, während die anderen auf ihn zeigten und ihn mit den schlimmsten Schimpfworten bedachten.
„Es waren früher noch mehr“, sagte Kat. „Zwei aus der Gruppe sind letztes Jahr an einer Krankheit gestorben, eine Art Blutvergiftung, bei der man von innen praktisch verrottet. Es ist nicht ansteckend oder so, jedenfalls behaupten das die sprichwörtlichen ‚Sie‘ - es wurden Flugblätter überall in der Schule verteilt, weil alle in Panik gerieten. Trotzdem ist es merkwürdig, dass zwei Typen das zur selben Zeit hatten, finde ich.“
Ich hörte irgendwas aus ihrer Stimme heraus, das mich aufhorchen ließ. „Hast du die beiden gekannt?“
„Ja. Ich dachte, ich könnte nicht mehr aufhören zu heulen. Wahrscheinlich hört sich das jetzt schrecklich an, dennoch bin ich irgendwie froh, dass sie zusammen gegangen sind. Sie waren dicke beste Freunde, du hast nie einen ohne den anderen gesehen. Oha, unsere kleine Unterhaltung wird etwas morbid. Bitte um Entschuldigung.“
„Keine Sorge“, sagte ich, obwohl mir mulmig war. Ich wollte nie wieder an Blut und Tod denken, schon gar nicht darüber reden. „Und welcher ist jetzt deiner?“ Ich versuchte, das Thema auf die Lebenden zu lenken.
Sie schnaufte abschätzig. „Der Blonde. Und er war meiner. War. Er ist es nicht mehr und wird es auch nicht wieder sein.“
Ich scannte die Gruppe. Zwei waren Afroamerikaner, einer hatte den Kopf rasiert, zwei hatten braunes Haar, einer kohlrabenschwarzes, und zwei waren blond. Ich wollte mir die Blonden genauer ansehen, hatte ich wirklich vor, doch sobald ich den mit dem schwarzen Haar erblickte, das fast blau schimmerte, blieb ich hängen.
Er trug eine hellrote Baseballkappe. Darauf stand etwas, aber das konnte ich nicht entziffern. Er war der Einzige, der keinen Blödsinn machte. Mit dem Rücken an die Schließfächer gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, beobachtete er seine Freunde amüsiert.
Er sah umwerfend aus, und mir lief zweifellos bereits der Geifer aus dem Mund. Nach einem kurzen unauffälligen Check - große Überraschung, es war nicht der Fall! - fragte ich mich, welche Farbe seine Augen wohl hatten. Vielleicht Braun. Oder sogar Haselnussbraun. Wie auch immer … wow, echt wow! Reh im Scheinwerferlicht? Hi, ich bin Ali.
„Yo, Kitty Kat“, rief jemand.
Ich zwang mich, den Blick von der Rotkappe abzuwenden, und sah zu … einem der Blonden.
„Komm mal rüber, und sag mir richtig Guten Tag. Ich weiß, dass du das willst.“
„Was ich will, ist dich in der Hölle schmoren zu sehen!“, rief Kat ihm zu.
„Ach, komm schon. Sei doch nicht so, Baby.“
Er war der Größere der beiden Blonden, hatte kalte braune Augen und ein Gesicht, bei dessen Anblick sich der Teufel in einer schattigen Ecke versteckt, den Daumen in den Mund geschoben und nach Mami gerufen hätte. Auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass ein Mädchen wie Kat von so einem Typen fasziniert war, traute ich ihm durchaus zu, seine Freundin zu betrügen. Das konnte kein anderer als ihr Ex sein.
„Du liebst mich, du kannst doch gar nicht anders.“
„Ich hoffe, Rina hat dir einen Tripper verpasst.“
Die Jungen um ihn herum lachten. Die Tatsache, dass er weiterhin grinste, statt Kat zu ermorden, überraschte mich.
„Das ist gemein, Baby. Ich hab dich nur aufgezogen, als ich dich so genannt habe.“
„Beide Male?“
Soso, der Ex. Also war vermutlich Trina, die Lügnerin und betrügerische Hexe, diese Rina, mit der er in den Sommerferien herumgemacht hatte. Ehrlich mal. Das haute mich total um. Kat war eins der hübschesten, feministischten Mädchen, das ich jemals kennengelernt hatte. Trina war hardcore.
Obwohl, dieser Ex war das auch. Abgesehen von seinem Ich-bin-ein-Serienkiller-Gesicht hatte er schwarze Tattoos um die Handgelenke, die an Bänder erinnerten, und Knochentattoos auf seinen … na ja, Knöcheln.
„Ich bin nicht sauer“, sagte Kat. „Du hast mich belogen und ich hab dich belogen. Wir sind quitt.“
Plötzlich war sein Grinsen verschwunden. „Wobei hast du gelogen?“
Sie schenkte ihm ein Süßstofflächeln, als hätte sich seine Amüsiertheit auf sie übertragen.
„Immer wenn wir rumgemacht haben, habe ich mich nicht wirklich amüsiert, wenn du weißt, was ich meine.“
„Heiß“, sagte einer seiner Freunde.
Der Blonde schob den Typ von sich. „Lass den Quatsch!“, wandte er sich an Kat, es klang nicht, als würde er Spaß machen. In seinen dunklen Augen war ein verzweifeltes Glimmen.
„Du hast mir nicht zu sagen, was ich machen darf. Es ist auch kein Quatsch, sondern Ernst.“ Kat zeigte ihm den Stinkefinger, und seine Freunde brachen wieder in schallendes Gelächter aus.
Seine selbstsichere Fassade bröckelte, aber er sagte: „Ich werde dich schon umstimmen, das ist nur eine Frage der Zeit.“
„Es ist eine Frage der Zeit, wann ich deine Eier an meinen Hund verfüttere.“ An mich gewandt sagte sie: „Erinnere mich daran, dass ich mir einen Hund anschaffe.“
Schließlich blickte der Schwarzhaarige zu uns herüber - ja, ich glotzte ihn fasziniert an und vergaß Kat und ihre Probleme völlig. Violett, stellte ich fest. Diese Augen hatten die erstaunlichste Schattierung von Blau, die ich jemals gesehen hatte. So was Unglaubliches.
Das waren doch sicher Kontaktlinsen oder was?
Er sah Kat kurz an und grinste zur Begrüßung. Ich konnte mich gerade noch davon abhalten, an meinen Fingernägeln zu kauen. Eine fürchterliche Angewohnheit, die ich mir vor Jahren abgewöhnt hatte. Würde er mich ansehen?
Antwort: ja.
Als sich unsere Blicke trafen, fühlte sich mein Mund plötzlich wie ausgetrocknet an, und alles um mich herum verschwand aus meinem Fokus. Ich sah nur noch ihn, wollte gar nichts anderes sehen. Innerhalb von einer Sekunde standen wir uns nicht mehr im Flur gegenüber …
… sondern waren ineinander verschlungen; er presste mich an sich, meine Hände lagen um seinen Nacken, und wir küssten uns. Wunder über Wunder, er war mindestens zehn Zentimeter größer als ich, gab mir das Gefühl, klein und zierlich zu sein. Wie angenehm! Außerdem - Wahnsinn! -, es gefiel mir, was wir taten … Mich hatte noch nie ein Junge geküsst, aber ich spürte definitiv seine Zunge an meiner, mit der ich mich in seinen Mund vortastete. Wir verschlangen uns geradezu.
„Ali“, hauchte er und zog mich an sich, umarmte mich fester.
„Cole“, flüsterte ich atemlos. Ich konnte gar nicht genug von ihm bekommen und wollte nie wieder damit aufhören. Er war so warm. So wahnsinnig warm, nachdem ich den ganzen Sommer über nur Kälte gespürt hatte. Egal mit wie vielen Decken ich mich zugedeckt hatte, mir war ständig kalt gewesen. Ich wollte so bleiben, hier an Ort und Stelle, für immer.
Mit den Fingern strich ich durch sein Haar, stieß ihm dabei die Kappe vom Kopf. Er beugte sich weiter herunter, eroberte meinen Mund tiefer und forscher.
„Du schmeckst gut“, sagte er heiser.
Er duftete nach Sandelholz und nach irgendwas Fruchtigem, wie ein Erdbeerlutscher, den ich gerade ausgewickelt hatte.
„Jetzt nicht reden, küssen …“
„Ali … Ali!“ Kat baute sich vor mir auf. Sie runzelte die Stirn und wedelte mit den Händen vor meiner Nase. „Hallo? Jemand zu Hause?“
Ich blinzelte und stellte fest, dass ich immer noch auf demselben Fleck stand. Auf diese Feststellung folgte eine weitere. Ich hatte nicht den Flur überquert, den Typen nicht auf halber Strecke getroffen, Cole - ich nannte ihn Cole - nicht durchs Haar gestrichen. Ihn nicht berührt und ihn schon gar nicht geküsst. Trotzdem prickelten meine Lippen, ich konnte kaum atmen.
„Geht‘s dir gut?“, erkundigte Kat sich, ganz offensichtlich besorgt.
Da sie so klein war, hatte ich kein Problem über ihre Schulter zu den Jungen hinüberzublicken. Fast alle anderen waren von den Fluren verschwunden, vielleicht weil bereits das zweite Stundenläuten eingesetzt hatte undlangsam verstummte. Mist. Mist. Mist. Mist. Wie lange hatte ich ihn angestarrt?
Wenigstens glotzte er mich ebenfalls an. Aber womöglich war das gar nicht so gut. Er wirkte nämlich missmutig. Es war die Art böser Blick, den man bei einem Typen in einer dunklen Gasse sieht, bevor er dein Gesicht in den Dreck drückt, damit er dir die Geldbörse klauen kann. Einer seiner Freunde klopfte ihm auf den Arm, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Rotkappe bleckte kurz die Zähne in meine Richtung, drehte sich um und stampfte den Flur entlang zum Ausgang. Die anderen folgten ihm.
„Hey, Alter, könntest du mir vielleicht mal sagen, was da abgeht?“, beschwerte sich einer von ihnen.
Ich lehnte mich an die Schließfächer, um nicht umzuknicken. Jetzt, wo der Abstand zwischen uns größer wurde und er mich nicht mehr anstarrte, konnte ich endlich wieder Luft holen. „Der mit der Kappe“, krächzte ich. „Wie heißt der?“ Wahrscheinlich hätte ich Kat erst mal versichern sollen, dass ich noch ganz klar in der Birne war, doch ich wollte unbedingt was über ihn erfahren. Außerdem, hätte mir in diesem Moment irgendjemand diese Versicherung abgenommen?
Kats Kopf sank nach vorn, als wäre er ihr mit einem Mal zu schwer geworden. Dabei ließ sie mich jedoch nicht aus den Augen.
„Warum? Interessiert er dich?“
Ich wollte den Mund schon öffnen und etwas sagen, unterließ es dann aber. Mich interessierte, was gerade eben passiert war. Warum ich mir vorgestellt hatte … ihn zu küssen. Vor allem, wieso diese Vision dermaßen lebhaft gewesen war, dass ich seine Hitze gespürt hatte und seine Kraft. So real, dass ich körperlich reagiert hatte.
„Nur neugierig“, sagte ich schließlich und versuchte eine Gleichgültigkeit vorzutäuschen, die ich nicht empfand. Doch es stimmte. Ich war neugierig. Sie kaufte es mir nicht ab.
„Das ist Cole Holland. Und Mädchen, mit diesem Typen willst du dich wirklich nicht einlassen. Vertrau mir.“
Ich war schockiert. Er hieß tatsächlich Cole?
Aber … woher hatte ich das gewusst?
Du hast gehört, wie jemand ihn Cole genannt hat, das ist alles. So was läuft im Unterbewusstsein ab.
Vielleicht. Wahrscheinlich. „Warum?“, krächzte ich.
„Weil ich eben vertrauenswürdig bin. Hallo, du hast mich gefragt, oder?“
Ich hätte glatt die Augen verdreht, wenn ich nicht so erschüttert gewesen wäre. „Nicht − wieso ich dir vertrauen soll, sondern:“Warum will ich mich nicht mit ihm einlassen?“
„Oh. Na gut. Erst mal, weil er dich einschüchtert.“
„Ich bin nicht eingeschüchtert.“
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um mir den Kopf zu tätscheln. „Wenn du dir schon diese kleine Wahrheit nicht eingestehen willst, wie wär‘s damit? Weil er der Anführer dieses rabiaten Vereins ist und total gefährlich.“
Gefährlich. Ja, das drang zu mir durch. „Du warst mit einem seiner Freunde zusammen.“
Kat streckte die Arme aus, als hätte ich ihr gerade ein Argument geliefert. „Und nun sieh, wo mich das hingeführt hat - betrogen und ein gebrochenes Herz.“ Das leise Klicken sich schließender Türen erfüllte den Flur, und sie blickte sich um. „Komm mit. Das können wir unterwegs zu deinem Klassenraum besprechen.“
Jetzt, wo die Gänge verlassen waren und ich mich frei bewegen konnte, hätte ich mich entspannen sollen, aber ich fühlte mich, als wäre ich irgendwo angestöpselt. An etwas wie eine Batterie. Ich hatte Energie, und in meinem Kopf summte es. Selbst die Beleuchtung in den Fluren erschien mir heller.
„Cole ist der Schlimmste von dieser Bande“, erklärte Kat. „Er sagt was, und die anderen springen. Sie schwänzen oft den Unterricht, um … nun, da kann ich nur genauso spekulieren wie du. Na gut, vielleicht nicht genauso, aber viel weiß ich nicht. Du denkst wahrscheinlich, ich müsste Bescheid wissen, doch Frosty ist der Champion im Geheimnissehüten. Offensichtlich. Wie auch immer, sie haben ständig irgendwelche Verletzungen, also führen sie die widerlichsten Kämpfe aus, das ist klar. Habe ich schon erwähnt, dass sie nie was ausplaudern? Cole ist am schlimmsten, und Frosty ist der zweite in der Reihe derer aus der Gruft, das sage ich dir.“
„Frosty?“
„Mein Ex.“
„Das habe ich kapiert, aber sein Name ist doch …“
„Ein Spitzname, ganz recht. Er hat sich einmal im Winter aus Versehen aus seinem Haus ausgeschlossen. Als er gefunden wurde, war er vollkommen von Eis bedeckt und unterkühlt. Fast hätten sie ihm alle Gliedmaßen amputieren müssen. Wahre Geschichte.“
„Wirklich?“ Mir war nicht aufgefallen, dass ihm irgendwas fehlte. Falls sie etwas bei ihm amputiert hätten, dann doch sicher Finger, die empfindlichsten Teile der Hände.
„Na gut, er hat nur einen Zeh verloren, aber erfrieren ist tückisch. Na egal. Die einzigen Mädchen, die bei ihren privaten kleinen Abenteuern mitmachen, sind Mackenzie Love - Coles Ex - und Trina, die du unglücklicherweise vorhin kennengelernt hast.“
Cole hing mit seiner Ex herum? Das war allerdings eine schlechte Nachricht. Nicht dass es mir was ausmachte oder dass ich mich mit ihm treffen, ihn heiraten und mit ihm eine Familie gründen wollte. Es interessierte mich einfach. Ehrlich.
Was da im Flur passiert war - vielmehr, was da nicht passiert war -, schockierte mich. Ich meine, ich hatte schon immer eine blühende Fantasie. Wie ja auch das Monster im Hochzeitskleid bewies, das ich gesehen zu haben glaubte. Aber diese kleine Gedankenreise, bei der ich mit einem Typen im Flur herummachte, den ich noch nie zuvor getroffen hatte, übertraf bei Weitem alles, was ich mir bisher zusammengedacht hatte.
„Nur zur Warnung“, sagte Kat. „Wenn du mit denen was anfängst, wird Mackenzie dich in die Enge treiben und dich fertigmachen. Ach ja, deine Freunde werden dich dann fallen lassen, und du bist als Problemfall verschrien.“
Das mit dem Problemfall konnte mich nicht abschrecken. Nicht dass ich beabsichtigte, etwas mit Cole anzufangen, um das noch einmal zu betonen. „Hat man dich fallen lassen, als du dich mit Frosty getroffen hast?“
Einen Augenblick, nur einen kurzen Augenblick zeigte sich Traurigkeit in ihrem Gesicht, dann warf sie ihr Haar über die Schultern zurück und grinste.
„Ich war schon immer als absoluter Problemfall bekannt. Und obwohl es noch keinem aufgefallen ist, ich bin jetzt, nachdem Frosty und ich auseinander sind, noch schlimmer. Du wirst diese Seite von mir schätzen lernen, da bin ich sicher.“
„Das ist bereits der Fall“, sagte ich und meinte es auch so.
Wir kamen zu einer roten Tür. Kat blieb stehen und zeigte mit dem Daumen darauf. „Das ist dein Raum.“
Ich schaute durch das kleine Fenster in der Tür ins Klassenzimmer und wäre am liebsten weggelaufen oder hätte mich übergeben. Nein, beides. Überall saßen schon Schülerinnen und Schüler, kein freier Platz war zu sehen. Der Lehrer stand bereits vorn und hatte mit dem Unterricht angefangen. In dem Moment, in dem ich hineinging, würde es plötzlich still werden und alle würden mich anstarren.
Vielleicht war ich grün angelaufen und schlotterte. Kat sah mich an.
„Nervös?“
„Ja, aber nur ein bisschen … ganz schön.“ Ich hatte schon immer Probleme gehabt zu lügen. „Wollen wir schwänzen?“, fragte ich hoffnungsvoll. „Wir könnten ja zur zweiten Stunde neu anfangen.“
„Nein, ich will nichts ausfallen lassen und werde auch nicht versuchen herauszufinden, was ‚ein bisschen … ganz schön‘ ist. Ich will zu meinem Unterricht. Außerdem ist der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der beste Ort.“
Oh nein, das war er nicht. Ich wich einen Schritt zurück. „Ich warte draußen auf dich.“
„Du schaffst das schon“, sagte sie erbarmungslos. „Sie werden dich lieben. Und wenn nicht, na gut, dann sag Bescheid, wen ich bestrafen soll. Nur zu deiner Information, das ist meine Spezialität, genauso wie tiefe Liebe.“ Sie klatschte mir auf den Hintern. „Und jetzt geh, und schnapp sie dir, Baby.“
„Kat, warte …“
„Du hast das mit der tiefen Liebe gehört, ja? Und übrigens, in ein paar Monaten kannst du zu einer ausgewachsenen Tigerin werden, aber bis dahin …“ Sie öffnete die Tür und schob mich hinein. „Musst du die Wachstumsschmerzen ertragen.“
Ich überlebte die erste Stunde, und es gab lediglich eine Demütigungsaktion. Der „Lehrer“ - ich muss diese Bezeichnung in Anführungszeichen setzen - ließ mich vor der Klasse antreten, wo ich den anderen etwas über mich erzählen sollte und ihnen erklären musste, weshalb ich zu spät gekommen war. Offensichtlich gab es keine Schonzeiten für niemanden. Nicht am ersten Schultag und ganz sicher nicht für Neue, die ja wissen sollten, wie man einen Grundrissplan liest.
Meine Meinung dazu: Mr Buttle - den ich von nun an nur noch Mr Butthole, sprich:‚Arschloch‘ nennen würde - exerzierte eine Machtprobe oder was auch immer. Ich überstand sie ohne innere Verletzungen, denn ein süßer Typ mit hundebraunen Augen lächelte mir aufmunternd zu. Als Mr Butthole sich umdrehte, zeigte er den Stinkefinger und brachte damit alle zum Lachen. Die Aufmerksamkeit wurdedadurch von mir abgelenkt.
Die zweite Stunde fand in einem Raum auf demselben Flur statt, aber zur dritten musste ich in ein anderes Gebäude. Trotzdem kam ich dort pünktlich an, und der Unterricht erwies sich als ein Kinderspiel. Niemand außer der kleinen dicken Ms Meyers versuchte mit mir zu reden. Sie trug ihr grau meliertes Haar in einem Knoten. Ihre Brille war viel zu groß für ihre Nase und rutschte ständig nach unten. Ms Meyers war eigentlich ganz in Ordnung.
„Ich freue mich wirklich sehr, ein neues Schuljahr mit euch zu beginnen“, erklärte sie enthusiastisch in die Hand klatschend. „Und ich bin sicher, dass es euch genauso geht, wenn ihr erst mal erfahrt, was wir vorhaben. Übrigens sind wir hier im Kurs ‚kreatives Schreiben‘, nur für den Fall, dass jemand aus Versehen in den falschen Raum gelaufen ist. Niemand? Okay, wunderbar. Dann fangen wir mit den Geschichten an.“
Ich stützte meinen Kopf in die Hände und hörte zu. Das hatte ich vor, ehrlich, doch meine Gedanken schweiften ab. Zu gern würde ich behaupten, ich dächte ernsthaft über meine Zukunft nach, über Möglichkeiten, wie ich meine Situation verbessern, mich wohlerfühlen könnte, irgendetwas Nützliches. Aber nein. Mein Gehirn sprang auf den Zug nach Cole-Holland-Stadt und weigerte sich zurückzukommen.
Eine Frage nach der anderen bildete sich. Was war da draußen auf dem Flur passiert? Hatte Cole etwas Ähnliches erlebt wie ich, als er mich angesehen hatte? Wenn ich seine Reaktion bedachte: Es war, als hätte ich ihn irgendwie verwirrt, verblüfft, ohne ein Wort zu sagen - vielleicht. Womöglich war er aber nur genervt gewesen. Ich hatte ihn ja geradezu mit Blicken durchbohrt.
Was, wenn ich wieder abdriftete - oder wie auch immer man das nennen sollte -, sobald ich ihn das nächste Mal traf?
Verzweifelt nach Aufklärung suchend, sollte ich zukünftig nach jeder Unterrichtsstunde Ausschau nach ihm halten, während ich zahlreiche Flure und Treppenaufgänge durchquerte. Und ja, zugegeben, es sollte sogar so weit kommen, dass ich ein bisschen langsamer ging, wenn ich an den Jungentoiletten vorbeikam, dennoch sollte ich nirgends einen Hinweis auf ihn finden.
Vielleicht war das auch gut so. Er schüchterte mich ein.
Da, ich hatte es eingestanden. Er war groß und böse und offensichtlich an Gewaltanwendung gewöhnt. Ich hatte in meinem Leben genug Gewalt erlebt, vielen Dank. Außerdem gab es eigentlich nur drei mögliche Variationen, sollte ich tatsächlich irgendwann ein Wort mit ihm wechseln.
Erstens: Er würde mir raten, mich zu verp… Schnitt!
Zweitens: Er würde jedem erzählen, dass ich eine sch… Schnitt! … Verrückte sei.
Drittens: Er würde mich fragen, was zum T… Schnitt! Was ich mir einbildete. Schließlich hatte er mich ganz bestimmt noch nie vorher gesehen.
Ich kannte ihn nicht, trotzdem stellte ich mir sofort vor, dass er eine Menge fluchte. Kat würde das nicht akzeptieren.
„… denke ich, dass man ihre Arbeit als Sinnbild von …“
Mir wurde bewusst, dass ich noch immer im Unterricht saß. Ms Meyers‘ Stimme versuchte sich in mein Bewusstsein zu kämpfen, doch mein Hauptthema rückte sehr schnell wieder ins Zentrum der Bühne. Ich hätte so gern mit meiner Mutter über Cole und das, was vorgefallen war, gesprochen. Wegen meines Vaters kannte sie sich mit Merkwürdigkeiten aller Schattierungen und Grade aus. Sie hätte mich nicht ausgelacht. Sie hätte mich nicht auf dem schnellsten Weg zum Psychiater geschickt. Sie hätte sich mit mir hingesetzt und mir geholfen, eine Erklärung zu finden, die mich zufriedenstellte.
Ich vermisste sie so sehr und wünschte mir so sehnlich, dass ich am Ende netter zu ihr gewesen wäre.
Na, so was. Ich konnte ja tatsächlich noch an etwas anderes denken als an Cole Holland!
Auf keinen Fall würde ich ein Wörtchen darüber an Nana und Pops verlieren. Die beiden würden ausflippen - nicht dass sie mir das jemals zeigen würden. Sie wären nach wie vor freundlich und würden vorgeben, dass alles bestens sei. Sie wussten ja auch nicht, dass ich sie über mich hatte flüstern hören.
„Das arme Ding. Die Therapie wirkt nicht. Ob sie sich je erholen wird? Was meinst du?“
„Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es wehtut, mit anzusehen, wie schlecht es ihr geht, aber nichts dagegen tun zu können. Sie lässt mich nicht an sich heran.“
„Ich weiß. Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt.“
Sie versuchten mich zu Kinobesuchen zu überreden, zum Eislaufen und Shopping, Dinge, die Leute in meinem Alter eben scheinbar gern tun. Meine Antwort war immer dieselbe.Nein! Jedes Mal gaben sie mir dann einen Kuss auf die Stirn, gefolgt von der Bemerkung: „Na ja, vielleicht nächstes Mal.“
Weil ich sie nicht noch mehr frustrieren wollte, verkniff ich mir zu sagen: „Wahrscheinlich eher nicht.“ Die meiste Zeit hielt ich mich in meinem Zimmer auf und so wollte ich das auch haben.
Ich gewöhnte mir eine Art Routine an. Am Wochenende las ich vormittags die Iron-Fey-Serie. Abends hörte ich mir die Tapes an, die mein Vater für meine Mutter aufgenommen hatte. (Ich wohnte in ihrem alten Kinderzimmer und hatte den Kassettenrekorder gefunden.) Die Nächte verbrachte ich mit der Suche nach Monstern. Wochentags verließ ich das Haus morgens, um zur Schule zu gehen, am Sonntag ging ich zur Kirche. Das war alles.
Die Pausenklingel durchbrach meine Gedanken wie ein Faustschlag einen Spiegel. Ich ruckte hoch. Ms Meyers stapelte Bücher auf ihren Schreibtisch. Die anderen Schüler strömten bereits zum Ausgang. Ich räumte mein Zeug zusammen, um das Gleiche zu tun.
„Alice Bell“, rief Ms Meyers, bevor ich mich verdrücken konnte.
Ich sah sie an. „Bitte nennen Sie mich Ali.“
Sie nickte und schenkte mir ein freundliches Lächeln. „Ich habe deine Unterlagen von der Carver Academy eingesehen und war beeindruckt. Wegen der vielen Bestnoten nehme ich an, dass du dort sicher nicht im Unterricht geschlafen hast.“
Autsch.„Ich habe nicht geschlafen, ganz bestimmt.“
Ihr Lächeln wurde breiter und zeigte mir, dass sie nicht sauer auf mich war.
„Ich weiß, dass Lesen und Schreiben nicht für jeden gleich interessant sind, aber gib mir doch morgen noch eine Chance, ja? Wenn dir mein Unterricht nicht gefällt und ich es nicht schaffe, dich zu begeistern, okay, dann schlaf oder träum − oder wie auch immer du das nennen willst.“
Das klang fair. „Versprochen.“
„Gut.“ Sie deutete mit dem Kinn zur Tür. „Dann geh mal lieber. Du musst ja sicher zur nächsten Stunde.“
Ich betrat den Flur - und wünschte, die Welt würde in dieser Sekunde untergehen. Frosty und einer seiner besonders wild aussehenden Freunde standen vor der Tür. Sie starrten mich mit kampferprobten Jägerblicken an und kamen auf mich zu. Ich hätte wetten können, sie wollten mich davor warnen, Cole noch einmal zu belästigen.
Wie erniedrigend! Ich ging einfach weiter, und sie liefen neben mir her, auf jeder Seite einer. Testosteron umwallte mich und schloss den Rest der Welt aus.
„Hi, ich bin Frosty“, sagte der blonde Hardcoretyp. Von Nahem betrachtet waren seine Augen nicht vollständig braun, sondern erinnerten hübsch an Schwarzbeeren mit Schokostreuseln.
Mein Magen knurrte. Okay, ich hatte Hunger. Wahrscheinlich, weil mich seine Augenfarbe an einen leckeren Nachtisch denken ließ. Was soll‘s! Appetit zu haben war ja was Feines, wo ich doch den ganzen Sommer über nie Derartiges verspürt hatte.
„Das da ist Bronx, mein Kumpel“, fügte er hinzu, als ich nicht reagierte.
„Ich bin Ali.“ Entweder hatte ich Bronx vorher nicht gesehen - was unwahrscheinlich war - oder er war erst später gekommen. „Bronx also. Weil du da herkommst?“
„Nein“, entgegnete Frosty an seiner Stelle.
Bronx gab keinen Ton von sich, aber − meine Güte! −, dafür glotzte er. Dieser Blick von einem Typen mit Piercings in beiden Augenbrauen und Haaren in Electricblue war nicht einfach unheimlich, sondern satanisch.
„Aha“, sagte ich. Was sonst?
Ein Grüppchen Sportler kam an uns vorbei. Zu meiner Überraschung drückten sie sich an die Wand mit den Schließfächern, um meinen riesigen muskelbepackten Buchstützen aus dem Weg zu gehen. Ich roch ihre Angst förmlich, der saure Geruch schwebte in der Luft.
Sehr merkwürdig.
In meiner alten Schule hatten die Sportfreaks praktisch regiert, ihr Wort war Gesetz. Das Einzige, was sie wirklich beschäftigte, war das nächste Spiel. Andere Schule, andere Welt, nahm ich an.
„Jungs“, ertönte da Dr. Wrights Stimme.
Ich hörte das Klick-Klack ihrer Absätze, bevor ich sie am Ende des Flurs erblickte.
„Ihr belästigt doch nicht Ms Bell, oder?“, sagte sie, während sie auf uns zukam. Ihr Blick war auf Frosty geheftet. „Ich möchte euch ungern den Tag mit Nachsitzen verderben.“
„Dazu besteht gar kein Grund, Dr. Wright“, sagte er in geradezu militärischer Haltung.
Ich versicherte im selben Moment, dass alles in Ordnung sei.
Damit war sie noch nicht zufrieden. „Was wollt ihr denn von ihr?“
Frosty grinste, ganz Unschuld. „Nur mal reden, was sonst?“
„Warum?“
Waren alle Direktorinnen so neugierig?
„Weil sie süß ist?“, entgegnete Frosty mehr Frage als Erklärung.
Wenn ich in diesem Augenblick flach auf meine Nase gefallen wäre, hätte es mir nicht peinlicher sein können.
Dr. Wright war noch immer nicht beschwichtigt, wie ich an ihren zusammengekniffenen Augen erkennen konnte, aber sie ließ uns trotzdem in Ruhe, ohne weiter nachzuhaken.
„Seht nur zu, dass ihr nicht ausfallend werdet, sonst sehe ich mich gezwungen, die Wachen zu rufen“, warf sie ihnen über die Schulter zu.
Frosty erschauerte übertrieben. Bronx salutierte.
„Woher kennst du Kat?“, wollte Frosty von mir wissen.
Entschlossen, wie er wirkte, würde er jetzt keine Unterbrechung mehr zulassen. Ich entspannte mich. Sie waren nicht wegen Cole hier oder weil sie mich einigermaßen attraktiv fanden - oder auch nicht.
„Wir sind uns in den Sommerferien begegnet.“ Ich hoffte, nichts Falsches zu sagen. So richtig kannte ich mich im Verhaltenskodex bei einem Gespräch mit Exfreunden nicht aus.
„Wo denn?“, bohrte er weiter und versuchte locker zu klingen, was der Ausdruck in seinen M&M-Augen jedoch ad absurdum führte.
„Also, na ja … hm.“ Wie sollte ich das beantworten, ohne zu viel über mich zu verraten?“
Die beiden Jungen „geleiteten“ mich um eine Ecke, indem sie jeder eine Schulter an meine pressten und mich so steuerten. Ich hätte in die andere Richtung zu meinem Schließfach gehen müssen. Was soll‘s! Damit kam ich klar. Ich hatte vielleicht was gegen Gewalt, aber ich konnte mich gut behaupten, selbst bei solchen Schlägertypen. Dafür hatte mein Vater gesorgt.
Tatsächlich hatte ich ihn einige Male zu Boden geworfen, ihn herumgewirbelt, ihm ein Veilchen verpasst und ihm sogar mal die Nase gebrochen. Jedes Mal, wenn ich einen Kampf gewonnen hatte, war er stolz auf mich gewesen und hatte das mit einem Grinsen quittiert.
Meine Augen brannten … mein Kinn zitterte leicht. Verdammt, es war wichtig, dass ich mich auf das Hier und Jetzt konzentrierte.
Was hatte Frosty gefragt? Ach ja. „Wenn du wissen willst, wo wir uns kennengelernt haben, musst du Kat fragen.“ Da. Eine Antwort, ohne zu antworten. Nächstes Mal, wenn ich sie sah, würde ich sie zur Seite nehmen und die Details mit ihr absprechen.
Frosty verhielt sich, als hätte er gerade einen Bauchstoß bekommen. „Grausam, Ali, sehr grausam. Gib mir wenigstens einen Hinweis. Ich sage auch ganz ergebenst Bitte!Bitte!“
Sehr charmant. Aber ich konnte nicht vergessen, dass er Kat betrogen hatte. Nach kurzem Nachdenken sagte ich: „Okay, hier ist ein Hinweis. Eine Menge Leute um uns. Einige schreien, andere winden sich. Sehr viele Berührungen.“ Ärzte suchten ja ständig Körperkontakt.
Im nächsten Augenblick erhielt ich einen Eindruck von Frostys Der-Kriminelle-der-ich-mal-werde-Charakter. Die Maske der Freundlichkeit fiel, zum Vorschein kamen ein düsterer Blick und wütend zusammengepresste Lippen.
„Hat sie jemanden berührt? Ist ihr jemand zu nahe gekommen?“
Du Widerling. Hast sie den ganzen Sommer allein gelassen. „Es war nett, mit dir zu plaudern und so, aber jetzt muss ich wirklich zu …“
Wir hatten eine weitere Ecke umrundet, und ich rannte in etwas Hartes, vergaß das Ende meines Satzes und stolperte rückwärts. Bronx fing mich auf und ließ mich sofort wieder los, als hätte er sich an mir Verbrennungen dritten Grades geholt.
„Entschuldigung“, sagte ich automatisch und richtete den Blick auf die Person, die ich gerammt hatte.
Ein Mädchen, mehrere Zentimeter kleiner als ich. Seidiges dunkles Haar, das in Locken ein Gesicht umrahmte, das Gott wahrscheinlich als Vorlage für seinen liebsten Engel genommen hatte. Ihr Make-up war perfekt. Der Teint leicht sonnenverbrannt, trotzdem noch vorbildlich. Die Kleidung teuer und sexy, irgendwie von Eleganz … und Vollkommenheit. Sie trug einen pinkfarbenen Kaschmirpullover und einen knappen weißen Rock und wirkte wie ein Diamant in einem Meer aus Glas.
Ich stand nicht auf Mädchen, aber … wow! Diese hier könnte wahrscheinlich jede vom Glauben abbringen. Nicht mal Kat mit ihren Magazin-Freundinnen konnte da mithalten.
„Ist das dein neuer Anhang?“, fragte sie Frosty.
Ihr Ton ein einziges Du-stehst-unter-mir, unterschwellig direkt an mich adressiert. Vielleicht brachte sie mich doch nicht vom Glauben ab, ich stand nicht auf Gehässigkeit.
„Verzieh dich, Mackenzie“, sagte Frosty.
Mackenzie. Mackenzie Love. Das war die Ex von Cole?
Natürlich ist sie das, war mein nächster Gedanke; ein hysterisches Lachen steckte mir in der Kehle. Umwerfende Typen gingen mit umwerfenden Mädchen. So funktionierte das im Leben. Und ja, nach diesen Regeln war ich dazu vorgesehen, mit einem schlaksigen Einzelgänger mit tragischer Vergangenheit zu gehen. Hervorragend.
„Cole will mit euch reden“, zischte sie den Jungen zu. „Eure kleine Mission muss wohl noch ein bisschen verschoben werden.“
Das Stichwort für meinen Abgang. Ich hatte mich bereits verabschiedet, deshalb schob ich mich an Mackenzie vorbei zur … Cafeteria. Dahin hatten sie mich also verfrachten wollen. Zeit fürs Mittagessen. Kein Wunder, dass mein Magen geknurrt hatte. Der Geruch von Essen gepaart mit tausend anderen Gelüsten hätte ein Model in eine Wilde verwandeln können.
Es hatten sich Schlangen in alle Richtungen gebildet. Ich wusste nicht, wo welche hinführte, daher sah ich mich erst mal um, bis ich ein bekanntes Gesicht entdeckte.
Kat winkte mich zu sich. Hinter mir rief Frosty mir was nach, während Mackenzie ihn lautstark als Idioten bezeichnete. Ohne auf die beiden zu achten, marschierte ich vorwärts. Je weiter ich in den Saal vordrang, desto intensiver spürte ich den Fettgehalt in der Luft. Genauso drangen Düfte von Zuckrigem, Parfüm und Aftershave in meine Nase und ballten sich zu süßlichem Gestank. Tschüs Appetit.
„Was hast du denn mit Frosty zu tun?“, fragte Kat, als ich mich neben sie setzte.
Keine Feindseligkeit im Ton. Gut.„Er und sein Kumpel Bronx haben mich nach dem Unterricht abgefangen. Frosty wollte wissen, wie wir beide uns kennengelernt haben.“
Die Farbe wich aus ihren Wangen. „Und was hast du ihm gesagt?“
Ich wiederholte meine Antwort wortwörtlich und hoffte, dass ich es richtig gemacht hatte.
Erleichtert atmete sie auf, die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück. „Wow! Das hast du ja beinahe so gut wie ich hingekriegt.“
Diese Versicherung hatte ich gebraucht. „Danke.“
„Verrate bloß niemandem, wo wir uns wirklich getroffen haben, okay?“, sagte sie, ihr Blick war flehend.
Kein Problem. Aber warum wollte sie nicht, dass andere das erfuhren?
Bevor ich sie danach fragen konnte, traf der Rest ihrer Truppe ein. Ich begrüßte alle mit einem angedeuteten Lächeln, zu mehr war ich im Moment nicht in der Lage.
Während die Mädchen auszubreiten begannen, was sie über irgendwelche Leute erfahren hatten, die ich nicht kannte, spürte ich, wie sich meine Nackenhaare aufstellten. Das Gefühl hatte ich eine ganze Weile, bis ich mich in meinem Sitz hin und her drehte, auf der Suche nach der Ursache für mein Unwohlsein.
Cole und seine Gang saßen ein paar Tische weiter. Cole … starrte mich an. Starren, so ein harmloses Wort für diesen schlitzäugigen Blick, der auf mich gerichtet war. Wenn seine Augen Dolche werfen könnten, hätten bereits einige in meiner Brust gesteckt. (Nicht dass er auf diese Stelle glotzte, aber bitte.)
Ich nahm meinen Mut zusammen und sah ihn direkt an, wartete ab. Nur dass diesmal die Vision ausblieb. Keine mentale Knutschszene. Das musste wohl eine einmalige Angelegenheit gewesen sein. Ein Zufallstreffer.
Darüber war ich erleichtert. Ich war nicht enttäuscht. Außerdem war es besser so. Weil: Die engelsgleiche Mackenzie hatte sich neben ihn geklemmt, den Arm um seine Schultern gelegt und so ihr Claim abgesteckt. Eine Warnung, mich zurückzuhalten. Sie starrte mich ebenfalls an, dann flüsterte sie ihm etwas ins Ohr. Ich musste keine Hellseherin sein, um zu wissen, dass sie soeben meinen sozialen Mord geplant hatte. Was soll‘s! Beliebtheit interessierte mich nicht.
„Was ist los?“, formte ich mit den Lippen in ihre Richtung, eine berechtigte Frage. Was hatte ich ihr getan? Nichts, das war es.
Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Zähne, bevor sie Cole etwas zuzischte, das sich wie „Ich werd‘s ihr zeigen“ anhörte. „Nur eine kleine Lehre erteilen. Bitte.“
Ich hörte nicht, was er darauf antwortete.
Kat tätschelte meine Hand. „Hörst du mir zu? Was ich dir hier zuwerfe, ist Gold wert! Wenn du nämlich die Oberhand haben willst, musst du die regierende Königin vom Thron stoßen. Fußtritte wirken, Boxhiebe auch.“
„Ich hab nicht zugehört, tut mir leid.“ Meine Wangen röteten sich, während ich mich zu ihr umdrehte. „Wer ist die regierende Königin?“
„Die Ex von dem Typ, den du in Gedanken gerade ausgezogen hast“, sagte Reeve. „Wenn ich dran denke, dass ich in der ersten Reihe zusehen durfte, als die Schlacht zwischen Mackenzie Love und Ali … irgendwie entbrannte …“
„Bell“, sagte ich. „Ali Bell.“
Gleichzeitig bemerkte Kat: „Ali würde auf jeden Fall gewinnen, aber sie will sicher, dass ich auf den Thron komme, ganz bestimmt.“
Der Gedanke, dass irgendjemand denken könnte, ich wäre der Typ, der sich auf solche Kämpfe einlässt, ließ mich erschauern. „Ich will den Thron nicht.“
Kat hob erfreut das Kinn. „Siehst du?“
Wren sah von Cole zu mir. „Mackenzie wird dich wahrscheinlich zu killen versuchen, bevor die Woche um ist“, bemerkte sie. „Wenn du meine Meinung hören willst, er ist den Ärger nicht wert. Der wird dich nur runterziehen, dein Leben ruinieren.“
Poppy zwirbelte eine Strähne ihres wunderschönen roten Haars zwischen den Fingern. „Das letzte Mädchen, das er so angestarrt hat, lag ein Jahr im Ganzkörpergips.“
„Welches Mädchen?“, hörte ich mich fragen.
„Da gab es kein Mädchen“, sagte Kat und runzelte die Stirn. „An so was hätte ich mich erinnert.“
Wren seufzte traurig. „Sie hat recht. Es gab kein Mädchen. Wir wollten dich nur testen und deine Reaktion sehen. Nicht bestanden.“ Sie wandte sich an Kat. „Hast du ihr von deiner Verbindung mit Frosty erzählt? Wie er es fast geschafft hätte, dass du von der Schule fliegst?“
Jemand tippte mir auf die Schulter. Mein Kopf ruckte hoch, und ich fand mich praktisch Nase an Nase mit dem dunkelhaarigen Jungen aus Mr Buttholes Unterricht wieder. Derjenige, der die anderen zum Lachen gebracht und die Aufmerksamkeit von mir abgelenkt hatte.
An meinem Tisch wurde es still.
„Lass dich nicht von Mackenzie einschüchtern“, sagte er, was mir zeigte, dass niemandem in der Cafeteria ihr leiser Schwur, mich zu vernichten, entgangen war. „Sie kann ihre Fäuste gut gebrauchen, aber nur, wenn sie steht. Bring sie zu Boden, dann hast du schon gewonnen.“ Damit richtete er sich auf und ging.
Schockiert drehte ich mich zu den Mädchen um. Alle vier starrten mich an. Kat, Poppy und Reeve voller Ehrfurcht. Wren mit einem scharfen Blick, der mich verwunderte.
Ich breitete die Arme aus. „Was ist los?“
Die grinsende Kat sagte: „Das wird Cole aber ganz und gar nicht gefallen, dass er Konkurrenz hat. Das war Justin Silverstone, der redet, abgesehen von seiner Schwester, ansonsten mit niemandem. Und du bist definitiv nicht seine Schwester.“
Poppy nickte enthusiastisch. „Ich hab, ehrlich gesagt, gedacht, er sei schwul.“
Wren versetzte ihr einen Klaps auf den Arm. „Er ist nicht schwul!“
Reeve stützte ihre Ellenbogen auf die Tischplatte und beugte sich vor. „Wie hast du das gemacht, Ali?“
„Was gemacht?“, fragte ich verwirrt.
„Seine Aufmerksamkeit erregt“, sagte Wren mit dieser Schärfe im Ton, die sich in ihren karamellbraunen Augen widerspiegelte. „Er ist ein absoluter Musterschüler, versäumt nie eine Unterrichtsstunde und hat seine Zukunft bereits voll verplant. Der wird noch was. Nicht dass du nicht so einen Typen haben könntest, aber er ist echt zurückhaltend.“
Ich rutschte auf meinem Sitz herum. „Ich habe seine Aufmerksamkeit nicht erregt. Der einzige Typ, mit dem ich überhaupt gesprochen habe, ist Frosty. Und das auch nur, weil der mich dazu gezwungen hat.“
„Hm“, machte Kat amüsiert und voller Zweifel. „Na gut, mal sehen, ob Cole deinen unerwarteten Besucher bemerkt hat.“
Ich riss die Augen auf und wollte sie am Arm packen. „Lass das …“
Zu spät. Sie hatte sich bereits umgedreht, um sich zu überzeugen, im nächsten Moment klappte ihr der Unterkiefer herunter.
Ich konnte mich selbst auch nicht mehr beherrschen und drehte mich ebenfalls um. Was ich sah, erschütterte mich bis ins Mark. Ich war nicht die einzige Person, die heute einen tödlichen Blick erhalten hatte. Cole starrte Justin an, als wollte er ihn häuten und sich eine Bongo aus ihm basteln.
„Das hat nichts mit mir zu tun“, krächzte ich. Das war unmöglich.
Ein Teil von mir hoffte, dass es doch so war.