13. KAPITEL

Klopf, klopf, macht das Böse

Zu meinem Erstaunen schliefen meine Großeltern wie versprochen friedlich, als ich am späten Sonntagmorgen nach Hause kam. (Es war kein Kaninchen am Himmel. Ich hatte es überprüft. Und ja, inzwischen wusste ich, dass diese Wolke etwas mit den Zombies, nichts mit dem Autofahren zu tun hatte, aber ein Mädchen konnte nicht vorsichtig genug sein.) Cole setzte mich mit einem kurzen „Ich hole dich morgen zur Schule ab, Viertel nach sieben, halt dich bereit!“, vor unserer Haustür ab.

Ich erklärte ihm, er solle sich keine Umstände machen, ich werde den Bus nehmen. Irgendwann musste ich die Dinge mit Justin klarstellen, besser früher als später. Der Blick, den Cole mir daraufhin zuwarf, hätte den Pazifik zu Eis erstarren lassen können. Ich gab nicht nach.

Ich würde nicht springen, wenn er das sagte. Mir war eher danach, ihm den Stinkefinger zu zeigen. Er hatte mit mir Schluss gemacht, mich beleidigt und zugelassen, dass sein Vater mich in die Zange nahm. Ich würde ihn im Kampf gegen die Zombies unterstützen, ganz klar. Ich würde mit ihm trainieren, das wollte ich auch, ich wollte lernen, besser zu kämpfen. Ich wollte etwas in dieser neuen Welt verändern, wollte Leuten helfen, aber ich würde ihm auf diesem Weg nicht wie eine Sklavin folgen.

Er fuhr ohne ein weiteres Wort los. Irgendwie hatte ich das Gefühl, er würde am Morgen trotz meines Protests vor dem Haus auf mich warten. Offensichtlich wollte er seinerseits nicht nach meiner Pfeife tanzen.

Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, das Grundstück abzulaufen und nach Anzeichen für die Blutlinien zu suchen, die so ein wirksamer Schutz gegen die Zombies waren. Ich fand nichts, auch den Geruch, der die Kreaturen abschreckte, konnte ich nicht wahrnehmen.

Als ich fertig war, tat mir alles noch tausendmal mehr weh als vorher. Seufzend schlich ich in mein Zimmer und legte mich ins Bett, um kurz ein stärkendes Schläfchen zu halten, bevor ich mich für den Kirchenbesuch zurechtmachen musste.

Vier „kurze“ Stunden später wurde ich durch Gelächter geweckt, das einem Quietschen glich. Die Nachbarskinder spielten draußen. Meine Großeltern hatten offensichtlich beschlossen, zu Hause zu bleiben. Ich löste mich widerwillig aus dem warmen kuscheligen Kokon meiner Decken, wusch mich so ausgiebig wie möglich, ohne die Wundnähte nass zu machen, und zog mir ein langärmeliges Shirt und eine Jogginghose an, um die Verletzungen zu verbergen. Die Klamotten hätten eigentlich besser zu Winterwetter gepasst, es war jedoch sommerlich heiß, aber was sollte ich sonst machen?

Endlich verstand ich Mackenzies Kleiderwahl.

Mein Blick fiel auf das Tagebuch, das auf dem Schreibtisch lag. Irgendwann musste ich Cole davon erzählen. Außerdem war er vielleicht in der Lage, den Code zu entschlüsseln. Ich ging hinüber, schlug das Buch an der Stelle auf, die ich markiert hatte … und blinzelte erstaunt.

Die Schrift erschien nicht mehr codiert.

Verwirrt ließ ich mich auf den Stuhl sinken und begann zu lesen.

Was die Fähigkeiten betrifft, die ich erwähnt habe: Manche Jäger können die Zukunft vorausahnen. Manche sind in der Lage, die Blutlinien zu erkennen und unsere Rückzugsorte auszumachen. Manche können die Zombies einen nach dem anderen ausschalten, dann mehrere gleichzeitig, nachdem sie einmal gebissen wurden. Etwas in ihrem Geist infiziert die Zombies und verbreitet sich unter ihnen wie eine ansteckende Krankheit, ohne dass der Jäger etwas unternehmen muss.

Während manche sogar alle diese Fähigkeiten entwickeln, haben andere wiederum keine davon.Ich habe mich vollkommen entwickelt und alle erworben.

Deshalb habe ich vom bevorstehenden Krieg erfahren und weiß, dass kein einziger Jäger - oder Mensch - überleben wird, wenn nichts dagegen unternommen wird.

Ich weiß auch, was getan werden muss.

Ich muss sterben.

Der Rest war wie vorher wieder in Codeschrift. Ich schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass mein Laptop wackelte. Warum, warum, warum? Normale Schrift, codiert, normale Schrift, dann wieder codiert. Warum hatte die Schrift sich verändert? Wodurch hatte sie sich verändert?

Was ich wusste: Cole und ich hatten mit unseren Visionen einen Blick in die Zukunft geworfen. Ich konnte die Blutlinien sehen, hatte jedoch keine Ahnung, ob mein Geist für die Zombies Gift war, und war mir auch nicht sicher, ob ich das herausfinden wollte. Alles zusammengenommen waren das mehr Informationen, als ich vorher jemals gehabt hatte - aber es reichte noch immer nicht aus. Wie hatte ich meine Fähigkeiten erworben? Wie konnte ich weitere entwickeln?

Ich rieb mir die Augen und legte das Tagebuch zur Seite. Ich würde es morgen wieder probieren. Vielleicht öffnete sich mir dann ein neuer Absatz, vielleicht auch nicht. Bis dahin musste ich mich mit meinen Großeltern auseinandersetzen.

Es gab zwei Dinge, die sie womöglich tun würden, wenn sie mich sahen: Mir abgesehen vom Atmen ab sofort alles verbieten. Mir inklusive derAtmung alles verbieten.

Ich war überrascht, dass sie noch nicht in mein Zimmer gestürzt waren, um mich zur Rede zu stellen.

Ich ging nach unten in die Küche. Nana stand am Tresen und machte Sandwiches. In ihrer gelben Bluse hübsch und frisch, lächelte sie mich entspannt an.

„Es muss was in der Luft liegen. Pops und ich haben auch verschlafen, deshalb dachte ich, wir gehen stattdessen zum Abendgottesdienst.“

„Ich komme mit.“

„Das ist schön. Hast du Hunger?“

Das musste eine Fangfrage sein. Wenn ich Ja sagte, würde sie womöglich antworten: Okay, ab jetzt bekommst du nichts mehr zu essen! „Äh … ja?“, versuchte ich es trotzdem.

„Käse-Schinken-Sandwich?“

„Ja?“ Wieder dieses Fragezeichen in meinem Tonfall. Ich schluckte und kämpfte gegen meine Nervosität an. „Also wegen gestern Abend …“

Die Vorhänge am Fenster hinter ihr waren aufgezogen und ließen die Morgensonne herein. Die Töpfe und Pfannen im Regal über ihr warfen Schatten auf ihr Gesicht. Sie legte den Kopf etwas zur Seite und seufzte.

„Wir haben gehört, wie du reingekommen bist. Zehn Minuten zu spät, das ist nicht allzu schlimm. Aber ich hoffe, du rufst uns das nächste Mal an, um Bescheid zu sagen, wenn du es nicht rechtzeitig schaffst. Pops macht sich immer Sorgen.“

Danke, Frosty!„Natürlich, mach ich“, sagte ich schnell. „Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich hatte völlig die Zeit vergessen. Tut mir echt leid“, wiederholte ich.

„Ist schon vergeben.“ Sie klemmte sich eine Haarlocke hinters Ohr. „Jetzt habe ich zwei Fragen an dich. Warum hast du dich so angezogen, und wie war dein Date?“

„Neuer Stil.“ Ich konnte ihr schlecht sagen, dass mir heute Morgen kalt war, da mir Schweißperlen auf der Stirn standen, sonst würde sie noch denken, ich hätte Fieber und müsste von Kopf bis Fuß untersucht werden.

Sie hob irritiert die Augenbrauen, während sie das Brot auspackte. „Meine Liebe, das ist der schlimmste Modetrend seit Langem. Wir haben ja hier im Haus praktisch über dreißig Grad. Und selbst mir, der Frau mit Eis in den Venen, ist es schon zu warm. Das ist es wirklich nicht wert, dass man dafür so leidet.“

Manches eben doch. „Was deine zweite Frage betrifft, ich hatte ja wie gesagt kein Date mit Justin. Wir sind beide nicht an einer Beziehung interessiert.“

„Na ja, das kann ja nur gut sein. Jeder Junge, der nicht erkennt, was für eine wunderbare Freundin du wärst, ist ein Dummkopf.“ Sie schnitt den Schinken und legte die Scheiben auf den unteren Teil des Sandwichs. „Du bist hübsch und schlau, keine Idiotin.“

„Hat Mom dir eigentlich jemals was von ihrer Romanze mit Dad erzählt?“, sagte ich, um sie abzulenken.

Nana lächelte stolz, die Freude auf ihrem Gesicht verschwand jedoch schnell wieder, als die Erinnerung an meinen Vater kam. „Anfangs schon. Sie hat ihn in der Schule kennengelernt. Sie waren beide in der Oberstufe, hatten aber keinen gemeinsamen Unterricht.“ Sie wickelte den Käse aus. „Wenn ich mich richtig erinnere, sind sie sich auf dem Schulflur begegnet. Er hat sie umgerannt, und ihre Bücher flogen durch die Gegend. Das hat ihn so verlegen gemacht, dass er sich ständig entschuldigte, während er ihr dabei half, alles wieder aufzuheben. Sie haben sich angesehen, und das war es dann. Sie war hin und weg.“

Ich hörte einen leicht bedauernden Tonfall in ihrer Stimme, aber auch die Liebe zu ihrer angebeteten Tochter. „Sie haben sich also in die Augen gesehen, aha. Sozusagen Liebe auf den ersten Blick, was?“ Vielleicht noch mehr. Vielleicht hatten sie ja eine Vision von ihrem gemeinsamen Leben.

„Ich denke schon. Sie haben sich seitdem getroffen; der Rest ist dir ja bekannt.“ Nana verteilte orangerote Soße auf der zweiten Brothälfte. „Na ja, vielleicht nicht der ganze Rest. Sie sind ein paar Wochen nach ihrem Schulabschluss durchgebrannt.“

Das erklärte, wieso sie keine Fotos von ihrer Hochzeit hatten. „Ich möchte sie gern besuchen“, sagte ich unvermittelt, ohne groß darüber nachgedacht zu haben. „Ich vermisse sie.“ Nana und Pops waren schon mehrere Male beim Grab gewesen, ich hatte mich immer geweigert.

Nana mahlte Pfeffer und lächelte mir zu. „Ich denke, das ist eine sehr schöne Idee.“

Wir aßen unsere Sandwiches in angenehmem Schweigen, und als sie Pops weckte und mit ihm sprach, packte ich schnell ein Tanktop und Shorts in meine Tasche, mein Handy, außerdem ein Messer und eine Sonnenblende. Dann schickte ich Justin eine SMS, erkundigte mich, ob es ihm gut ging, und kündigte an, dass wir reden mussten. Ich wollte wissen, warum er sich mit solchen gefährlichen Leuten zusammengetan hatte, und wollte ihm klarmachen, dass ich niemals dabei helfen würde, Zombies am Leben zu erhalten, und natürlich interessierte mich seine Version der Geschichte. Nach zehn Minuten hatte ich immer noch keine Antwort und irgendwie machte sich der Verdacht bei mir breit, dass auch nie eine kommen würde.

Ich schickte Kat eine SMS, fragte, wie es bei ihr aussah, und bekam sofort eine Reaktion.

Mir geht es so gut, es ist kaum auszuhalten! Wie steht es mit dir?

Gut.

Frosty meinte, Cole kam zur Party zurück, um dich zu holen. Er soll dich mit nach Hause genommen haben.

Ja. Kein Grund, das abzustreiten.

In Rekordzeit kam ihre nächste Nachricht.Seid ihr wieder zusammen?

Nein! Na ja, doch. Vielleicht. Nein. Seufz, ich weiß nicht. Im Moment war ich nicht gerade gut auf Cole zu sprechen. Ich hatte auch keine Ahnung, was er für Mackenzie empfand.

Das heißt JA, JA, 1000xJA, schrieb Kat.

Cole und ich würden eine Menge Zeit nach der Schule miteinander verbringen, also wäre es wohl besser, wenn alle glaubten, wir seien ein Paar. Außerdem hätte das den Vorteil, dass die Jungen mich, die angebliche Schlampe, in Ruhe ließen. Niemand würde sich Cole zum Feind machen wollen, indem er seine Freundin anmachte.

Eine weitere SMS kam. Absenderin:Miau: Übrigens, Frosty steht wieder auf meiner Liste der Todeskandidaten.

Nachdem du ihm das Gesicht abgeleckt hast? Wieso das?

Ist wie immer abgehauen, um Cole zu folgen.

Leichte Schuldgefühle machten sich bei mir breit, denn das war nicht der Grund gewesen. Ich wusste, was er tatsächlich getan hatte, aber ich konnte es ihr nicht sagen, damit sie sich besser fühlte.

Miau schrieb weiter: Außer meiner Zunge in seinem Mund hat er nichts bekommen. Wollte mal in Erinnerung rufen, was ihm entgeht.

Gut für dich. PS: Bin sicher, dass Mackenzie die Gerüchte über mich verbreitet hat.

Denkst du, was ich denke? Dunkle Gasse, Schlagring und Knastregeln.

Oder so ähnlich. Kat war die beste Freundin, die ich je gehabt hatte. Sie unterstützte mich, glaubte an mich, egal was passierte. Und ich wollte ihre beste Freundin sein, für immer.

Ich muss los, wir reden morgen, okay?

„Ali!“, rief Nana herauf. „Bist du fertig?“

Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigte mir, dass mein Haar zwar inzwischen trocken, aber völlig zerzaust war. Meine Wangen waren rot und meine Klamotten wirkten ziemlich lächerlich. Na gut. Ich lief nach unten.

„Du musst wirklich den Führerschein machen“, bemerkte Pops, während er den Wagen auf den Highway lenkte. „Nicht dass ich was dagegen habe, dich zu fahren, doch dann müsstest du nicht laufen, falls du den Bus verpasst.“

Es war kein Kaninchen am Himmel, also konnte ich mich entspannen. „Ich weiß“, erwiderte ich und versuchte mir vorzustellen, wie er mir das Fahren beibrachte. Wie er sich ans Herz fasste, weil ich aus Versehen vor einem rasenden LKW ausscherte. Wie er auf dem Beifahrersitz starb, bevor ich ihn in die Notaufnahme bringen konnte. „Würde es euch was ausmachen, wenn ich nach der Schule Fahrstunden nehme?“Ich äußerte mich nicht dazu, wer der Fahrlehrer sein würde. Cole oder einer seiner Freunde musste es nach dem Zombie-Kampftraining übernehmen. Darauf würde ich bestehen.

„Das wäre gut für dich“, sagte Nana, drehte sich um und tätschelte mir die Hand. „Ich bin so stolz auf dich, weil du dich für Neues interessierst und Freundschaften schließt, so wie mit Kathryn.“

Ich wollte gerade etwas erwidern, sah aber aus dem Augenwinkel den Friedhof. Kalter Schweiß brach mir aus, als ich darauf wartete, dass wir an besagter Stelle vorbeikamen. Und da war sie. Es gab keine Bremsspuren, keine Druckstellen im Gras. Nichts. Die Zeit war vergangen, und die Natur hatte sich wieder ausgebreitet und die Beweise des widerlichen Geschehens zugedeckt.

Pops parkte auf dem Kiesweg. „Ich bin froh, dass du dich dazu entschlossen hast.“

Ich auch. „Wäre es okay, wenn ich hier ein bisschen alleine bleibe? Ich will nur etwas Zeit bei ihnen verbringen und … äh, mit ihnen reden.“

Nana wollte gerade ihren Sicherheitsgurt lösen, nun zögerte sie kurz, dann nickte sie und schloss den Gurt wieder. „Natürlich. Hast du dein Handy dabei?“

„Ja.“

„Ruf uns an, wenn wir dich abholen sollen.“

„Danke“, sagte ich und tat etwas, das ich vorher nie getan hatte. Ich lehnte mich vor und gab beiden einen Kuss auf die Wange.

Nana kamen die Tränen, und Pops brummelte was von vorsichtig sein. „Nana macht sich doch Sorgen“, erklärte er.

Eine Weile lief ich auf dem Friedhof umher, während die Sonne mich in meinen Klamotten grillte. Als ich eine versteckte kleine Ecke hinter einem Busch fand, zog ich schnell das Tanktop und die Shorts an. Viel besser! Der Schweiß trocknete in der Brise, und mir wurde etwas kühler. Abgesehen von den toten Menschen war der Friedhof ein wunderschönes Fleckchen mit glänzenden Grabsteinen. Es gab sogar ein paar Marmorengel. Vor einem dieser Engel kniete ein Mann und schluchzte leise.

Ich ging weiter, las die Namen und fragte mich, ob einige dieser Personen Zombies gewesen waren - oder es immer noch waren. Ich lief bergauf und bergab, umrundete Laubhaufen. Schließlich erreichte ich mein Ziel.

Zitternd setzte ich mich vor den Grabstein meines Vaters und zeichnete mit den Fingerspitzen den Schriftzug seines Namens nach. Silbriger Stein glitzerte in der Sonne. Geliebter Ehemann und Vater.

Zum ersten Mal seit seinem Tod erlaubte ich mir über die letzten Minuten seines Lebens nachzudenken - wirklich nachzudenken. Er war durch die Windschutzscheibe geflogen. Wenn er auch nur ein paar Sekunden danach noch gelebt hatte, hätte er in den Wagen sehen können, wo seine drei Mädchen verletzt und blutend lagen. Hatte er die Zombies kommen gesehen? Hatte er gewusst, dass er genauso sterben würde wie sein Vater?

Ob er jetzt auf mich heruntersah?

„Ich liebe dich, Daddy. Ich wünschte, ich hätte Verständnis für dich gehabt und dir geglaubt. Es tut mir leid für alles Schreckliche, das ich je hinter deinem Rücken gesagt habe. Und ich bin dir so dankbar für das, was du mir beigebracht hast. Ich werde so viele Zombies vernichten wie möglich. Eines Tages wird niemand mehr Angst vor ihnen haben müssen, das verspreche ich dir.“

Ich hätte gern behauptet, dass mich eine Welle von Frieden überkam, aber nein, ich fühlte mich genauso wie vorher. Nach einer Weile drehte ich mich zum Grab meiner Mutter um. Das gleiche silbrige Glitzern. Diesmal konnte ich kaum etwas durch den plötzlich aufkommenden Tränenschleier erkennen. Geliebte Ehefrau und Mutter.

„Ich liebe dich, Mom. Ich hätte nie so mit dir reden dürfen, wie ich das an diesem grässlichen Tag in der Küche getan habe.“ Mein Geburtstag. Ich hatte meine Familie an meinem Geburtstag verloren. Aus irgendeinem Grund war mir das bisher nie so bewusst gewesen.

Von jetzt an würde dieser Tag für den Rest meines Lebens immer von der Trauer über meinen Verlust überschattet sein. Das war in jeder Beziehung eine schreckliche Vorstellung, aber wisst ihr was? Das hatte ich verdient, ich würde es als die Abgeltung meiner Schuld ansehen. Nie würde ich vergessen, meine Familie zu schätzen.

„Du hast für uns das Beste getan, was du konntest. Trotz allem, was passiert ist, weiß ich, dass du mich geliebt hast. Und du hattest recht. Es ist viel besser zu lieben, als zu hassen.“ Ich schwieg nachdenklich. „Manchmal, wenn ich die Augen schließe, kann ich dich vor mir sehen, wie du lächelst. Oder wie du versuchst, nicht böse zu gucken. Ich erinnere mich daran, wie du mir bei meinen Hausaufgaben helfen wolltest und dabei noch weniger kapiert hast als ich. Oder wie du dich immer abgewendet hast, wenn wir ein Foto von dir machen wollten.“ Die Erinnerungen kamen nicht chronologisch. Eine Geschichte nach der anderen ging mir durch den Kopf, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte.

„Ich denke oft an den Tag, als du in diesem schwarzen Kleid zu mir in die Schule gekommen bist, um mit meinen Lehrern zu reden. Du wolltest, dass ich stolz auf dich bin und mich nicht schäme. Ich war stolz, allerdings, und wie! Und ich hätte schwören können, dass die Welt sich auf einmal langsamer drehte und Gott ein bisschen Backgroundmusik spielen ließ, um deinen Auftritt zu untermalen. Selbst der Wind war perfekt und hatte dein Haar um deine Schultern geweht. An dem Tag sackte so mancher Kiefer nach unten, und alle Mädchen, die dich sahen, wollten so sein wie du.“

Schließlich blieben mir die Worte im Hals stecken. Eine warme Träne tropfte mir auf die Wange. Ich holte tief Luft … wartete … wartete … dann atmete ich lange aus. Langsam drehte ich mich nach links, wo sich das letzte Grab befand.

Emmaline Lily Bell. Geliebte Tochter und Schwester.

Mein Kinn zitterte, und die Tränen strömten richtig. Ihr Grabstein war kleiner als der meiner Eltern, aber auch aus Silberstein gehauen. Sie hatten in der Mitte sogar ihr Porträt eingraviert.

„Seit deinem Tod habe ich dich bei zwei verschiedenen Gelegenheiten gesehen“, flüsterte ich. „Im Garten bei Nana und Pops und dann wieder vor dem Haus meiner Schulfreundin Reeve. Beim ersten Mal hast du mich gewarnt und gesagt, ich solle hineingehen. Beim zweiten Mal war es dasGleiche. Warst das wirklich … du?“

Warum eigentlich nicht? Da draußen gab es eine Welt, von der ich nichts gewusst hatte.

In der Ferne zirpte eine Grille, eine Heuschrecke stimmte ein. Blätter raschelten an den sich wiegenden Ästen. Ein wundervoller Chor, aber kein Zeichen von Emma. Die Enttäuschung klirrte mir in den Ohren.

Ich beugte mich hinunter und weinte leise. Ich hatte gehofft … ach, egal. „Es tut mir so leid, dass ich dich nicht beschützen konnte, Em. Ich liebe dich so, du wirst immer meine liebste Person auf der ganzen Welt sein. Das habe ich dir nie so richtig gesagt. Mit dir in der Nähe waren alle glücklicher, und du hättest es verdient, jede Nacht eine Pyjamaparty mitzumachen. Wenn du älter geworden wärst, hätte ich dir das Autofahren beigebracht. In der Hoffnung, dass ich es bis dahin gelernt hätte“, fügte ich leise und zittrig lachend hinzu. „Du hättest Dates gehabt, und ich wäre dir gefolgt, um sicherzugehen, dass der Typ sich auch benimmt.“

„Uhuhu. Das ist ja so süß!“

Ich riss den Kopf hoch. Die grinsende Emma saß auf ihrem Grabstein, die Beine übergeschlagen und baumelnd, Ballettschuhe an ihren Füßen. Ihr Haar war zu Rattenschwänzen gebunden, ihre goldenen Augen funkelten vor Ausgelassenheit und Übermut, an beides erinnerte ich mich so gern.

„Tut mir leid, dass ich mich nicht vorher gemeldet habe“, sagte sie, „aber ich wollte deine Rede hören.“

„Ich … ich …“

„Wie wär‘s, wenn ich dir helfe? Du … du … bist so happy, dass ich hier bin, und fragst dich, ob das jetzt echt passiert. Ja, tut es! Deine Gebete wurden erhört.“

„Ich …“

„… bin so glücklich, ich weiß.“

Hoffnung überkam mich, ein Licht in der fürchterlichen Dunkelheit. „Bist du … ein Geist?“

Sie zog an ihren Rattenschwänzen. „Geister gibt es nicht. Außerdem wäre Engel wohl die bessere Beschreibung, obwohl das auch nicht richtig ist, aber es passt, oder?“

Das war eine typische Emma-Antwort, die ich mir nicht selber hätte ausdenken können. Sie war hier. Sie war real. „Warum hast du dich nicht öfter gezeigt? Sind Mom und Dad wie du?“

Ihr Lächeln und ihr übermütiger Ausdruck verschwanden. „Ich bin eine Zeugin, und ich habe nicht viel Zeit. Alice, du musst mir zuhören, okay?“

Zeugin?„Na klar, immer.“ Ich griff nach ihrer Hand, aber meine Finger glitten durch sie hindurch und ich berührte den kalten Stein. „Ich wünschte, ich könnte dich anfassen.“

„Eines Tages wirst du das auch. Jetzt hör zu. Es gibt das Gute und das Böse, nichts in der Mitte, egal was irgendjemand denkt. Was du machst, ist gefährlich und wird nicht gut enden - was so nervt, weil das Ende nahe ist.“

„Woher willst du …?“

„Pst. Emma redet. Ich habe versucht, dich zu warnen, dir gesagt, du sollst im Haus bleiben. Ich habe mich an die Kaninchenwolke erinnert, die du mir an dem Abend gezeigt hast. Die habe ich jedes Mal geformt, wenn ich wusste, dass die Monster dich holen wollten, aber in letzter Zeit achtest du gar nicht mehr auf sie und gehst trotzdem raus.“

Du warst das?“

„Ja. Ein netter kleiner Trick, den ich gelernt habe“, sagte sie und zwirbelte ihre Rattenschwänze. „Was soll‘s! Ich will nicht, dass du dich in Gefahr begibst. Alice. Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch“, flüsterte ich.

„Ich will nicht, dass du gegen die Zombies kämpfst. Ich will, dass du dich von ihnen fernhältst.“

„Em …“

„Nein, hör mir zu.“ Sie bewegte sich nicht, und die Sonnenstrahlen, die auf sie fielen, ließen ihren Umriss flimmern. „Wenn du das tust, wirst du verletzt werden. Mehr, als du dir vorstellen kannst.“

„Wenn ich im Kampf gegen die Zombies sterbe, dann sterbe ich.“ Ich hatte bereits beschlossen, dass diese Sache das alles wert wäre, und ich würde meine Meinung nicht ändern.

Sie schüttelte den Kopf so heftig, dass die Enden der Rattenschwänze gegen ihre Wangen schlugen. „Ich rede nicht vom Tod, ich rede von Schmerzen.“

„Ich kann Schmerz aushalten.“ Wie ich ja bereits bewiesen hatte.

„Du verstehst einfach nicht“, rief Em.

Sie sprang vom Stein, ihr pinkfarbenes Tutu war so nah, dass ich nur den Arm auszustrecken brauchte, um mit den Fingern darüberzustreichen. Also tat ich es. Ich hob die Hand. Wieder berührte ich nur Luft, traurig zog ich den Arm zurück.

Ihr Bild flackerte immer mehr, wie ein Nebelhauch, der von einer Brise verdrängt wird. „Die Zombies … wollen dich und werden alles tun, um dich zu bekommen.“

„Warum?“, wollte ich wissen. „Und woher weißt du das?“

Sie sah mich verärgert an. „Bitte, Alice. Es ist schon fast zu spät. Deine Zeit läuft ab. Bitte. Sie jagen dich, doch ich will nicht, dass sie dich kriegen.“

„Du redest über sie, als wären sie schlau und organisiert und hätten ein Ziel.“Als würdest du sie kennen.

„Das sind sie“, flüsterte sie, und ich hörte die Angst in ihrer Stimme, das Entsetzen. „So viele.“

„Woher weißt du das? Gehörst du zu ihnen?“ Bei diesem Gedanken wurde mir übel. „Emma, folge ihnen nicht. Es ist mir egal, ob du eine Zeugin bist, was immer das auch bedeuten mag, und dass sie dich nicht berühren können. Oder können sie das?“

„Nein.“

Die Panik ließ etwas nach. „Gut, aber ich will trotzdem nicht, dass du dich in ihrer Nähe aufhältst.“

„Alice, ich könnte es nicht ertragen, wenn du leidest wie …“ Sie riss die Augen auf und presste die Lippen zusammen. „Egal.“

Ich sprang auf. „Sprich jetzt auf der Stelle den Satz zu Ende, Emmaline Lily!“

Geflimmer. Sie warf einen Blick über ihre Schulter und stöhnte auf. „Na großartig, man hat mich entdeckt. Hör einfach … hör auf meinen ausgezeichneten Rat“, sagte sie und sah mich an. „Eines Tages wirst du mir dankbar dafür sein.“

Bei diesen Worten verschwand sie vollständig.

Wie angekündigt, holte mich Cole am Montagmorgen um Viertel nach sieben ab. Ich beschloss, in diesem Fall (spring, spring!) nachzugeben, aber nur wegen unserer Visionen. Ich wollte nicht noch einmal eine in der Schule haben. Als er in die Auffahrt kam und mich auf der Terrasse stehen sah, den Blick von ihm abgewandt, parkte er den Wagen, stieg aus und kam auf mich zu.

Der Himmel war klar und hellblau, keine Wolken in Sicht. Emmas Art, mir zu signalisieren, dass keine Zombies unterwegs waren.

Emma. Die ganze Nacht hatte ich versucht, mit ihr zu sprechen, aber sie war nicht erschienen.

Ob sie mir nun zugehört hatte oder nicht, ich hatte ihr gesagt, dass ich den Zombies nicht ausweichen konnte. Es ging einfach nicht. Endlich war ich auf der richtigen Fährte. Ich wollte dabei helfen, diese Stadt sicherer zu machen. Niemand sollte zusehen müssen, wie die geliebten Menschen starben, nur weil irgendein böses untotes Ding sich einen Mitternachtssnack wünschte. Ich hoffte, dass sie das verstand.

„Geht es dir gut?“, erkundigte sich Cole. Diesmal trug er eine schwarze Kappe, die Blende ließ sein Gesicht in Schatten baden. „Du siehst müde aus.“

„Vielen Dank“, erwiderte ich. Wie immer duftete er so appetitlich, dass mir das Wasser im Mund zusammenlief. „So was hört jedes Mädchen morgens gern als Erstes.“

Er hatte natürlich recht. Ich war unausgeschlafen.

„Ich habe nicht gesagt, dass du schlecht aussiehst, einfach nur müde.“ Er reichte mir eine Spritze, eingepackt in einem schmalen schwarzen Etui. „Das ist dein Antiserumstick.“

Mein Zombiegiftgegenmittel. „Danke.“ Sorgfältig verstaute ich es in meiner Tasche.

„Gab es irgendwelche Probleme mit Zombies gestern Nacht?“

„Nein.“

„Gut. Das bedeutet, dass keiner aus meinen Fallen rausgekommen ist.“

Sicher meinte er doch nicht, dass er gegen sie gekämpft hatte? Ich hatte das Kaninchen nicht gesehen. „Willst du sagen, dass …“

„Jawohl. Wir haben eine Horde verfolgt, die unterwegs zu euerm Haus war.“

Emma hatte recht. Sie jagten mich tatsächlich. Aber warum? Und wieso hatte sie die Wolke nicht geformt?

„Wir haben die meisten unschädlich gemacht“, fügte er hinzu. „Diejenigen, die an uns vorbeikamen, müssen in den Fallen gelandet sein.“

Ich hatte sie nicht gesehen, hatte gar nicht gewusst, dass irgendjemand draußen war. Entweder sie versteckten sich immer besser, oder ich war zu abgelenkt gewesen. Beides bedeutete nichts Gutes.

„Wann schlaft ihr denn eigentlich?“, fragte ich, griff nach einem der Knöpfe an seinem Hemd und spielte daran, bevor ich mich zurückhalten konnte. Du solltest ihn nicht berühren. Das täuscht eine Nähe vor, die bei euch nicht vorhanden ist. Ich biss die Zähne zusammen und ließ die Hände sinken.

„Hast du das nicht mitbekommen?“

Sein warmer Atem strich über meine Stirn, und ich stellte wieder einmal fest, wie wundervoll groß er war.

„Wir schlafen im Unterricht.“

Ich hörte keinen Sarkasmus in seiner Stimme. „Großartig. Das ist einfach großartig. Als Nächstes rätst du mir, ein Zelt im Büro der Direktorin aufzuschlagen, weil ich ziemlich viel Zeit da verbringen werde.“

„Das wirst du vermutlich tatsächlich.“

Wundervoll.

„Die gute Nachricht, Dr. Wright ist eine von uns, deshalb wird sie dich vom Haken lassen, wenn es möglich ist.“ Eine unangenehme Pause entstand. „Ja, also.“ Er räusperte sich. „Wir schlafen in Schichten. Daran wirst du dich gewöhnen. Gestern Nacht sind wir alle wach geblieben, weil wir annahmen, dass die Zombies dir folgen würden und wir mehr zu bekämpfen hätten als sonst.“

„Und das war der Fall.“

„Genau.“

„Meine Großeltern …“ Ich griff mir an die Kehle. Ich wollte ihn ansehen, seinen Gesichtsausdruck einschätzen, aber ich konnte mich immer noch nicht überwinden.

„Sie werden in Gefahr sein, wenn sie das Haus nachts verlassen, ja. Wir tun mit den Fallen, was wir können, aber es wäre besser, du würdest zu jemand anders ziehen.“

Ich versuchte mir mein Entsetzen nicht anmerken zu lassen, war jedoch sicher, dass es mir misslang. „Zu wem denn?“

„Zu mir.“

Auf keinen Fall. Nicht nur, weil er mit Mackenzie Schluss gemacht hatte, als sie zu ihm gezogen war, sondern weil … na ja, deswegen eben. „Wie kannst du so was auch nur vorschlagen?“

„Weil ich dich beschützen will.“

„Nein.“ Ich konnte meinen Großeltern nicht so wehtun. Allerdings durfte ich nicht zulassen, dass die Zombies ihnen was antaten, oder?

Mit jeder Minute wurde mein Vorhaben, Menschen vor solchen Situationen zu bewahren, immer komplizierter. Doch ich würde mir etwas einfallen lassen. Das musste ich. Bis dahin würde ich Nana und Pops mit meinem Leben verteidigen.

„Du könntest eine oder zwei Wachen hier aufstellen“, sagte ich. „Ich werde dafür sorgen, dass Nana und Pops das Haus nicht verlassen, und ich bleibe bei ihnen.“

„Das würde Jäger von ihren Aufgaben abziehen, aber okay“, sagte er. „Für den Anfang.“

„Danke.“

„Übrigens siehst du sehr schön aus“, sagte er zu meiner Überraschung.

Schöne Worte, um das „Für den Anfang“ nicht ganz so abweisend klingen zu lassen, da war ich mir sicher. „Ich dachte, ich sehe müde aus.“

„Schön müde.“

„In diesem weißen zugeknöpften Hemd? Das bezweifle ich.“

„Ich rede nicht von deinen Klamotten. Dich meine ich.“

Als er ein paar Strähnen meines Haars durch seine Finger gleiten ließ, lief mir eine Gänsehaut über den Rücken.

„Du hast irgendwas an dir. Irgendwas, das dich von anderen unterscheidet.“

Ich zog mein Haar zurück, um den Kontakt zu unterbrechen, und versuchte, nicht dahinzuschmelzen. „Du kannst mich nicht leiden, du magst mich, dann wieder nicht, dann doch. Vielleicht kannst du dich mal entscheiden.“

Er stöhnte auf. „Sei nicht so. Ich hab‘s vermasselt, okay? Mir ist klar, dass du sauer auf mich bist. Tut mir leid, was ich auf der Party zu dir gesagt habe. Die anderen haben mich wegen deiner Motive gelöchert, und du tauchst ausgerechnet mit Justin auf. Er hat mich angemacht, ich habe reagiert.“

„Und das ist meine Erwiderung: Das ändert für mich nichts.“

„Wirklich?“, sagte er leise.

„Ja.“

„Obwohl ich versucht habe, dich zu beschützen?“

„Genau.“

„Ali!“

„Cole!“ Er kam mir vor wie der Bär im Käfig, und ich war das kleine Mädchen mit dem Stock. Vielleicht hatte man ihn hinter Schloss und Riegel gebracht, aber er würde sich nicht bändigen lassen. Er war ein Krieger. Zu jung für die Armee, trotzdem bereits der Anführer seiner eigenen Truppe. Er kämpfte, und er tötete. Und hier kam ich und provozierte ihn absichtlich.

Während er jeden anderen wahrscheinlich dafür verprügelt hätte, wusste ich, dass er mir nichts antun würde. Er verbot sogar seinen Freunden, mich anzuschreien. Schmerzen spürte man aber nicht nur körperlich, ich war mir nicht sicher, ob er das wusste. Er hatte mir mit seiner Zurückweisung wehgetan, gerade als meine Wunden heilten - ob es nun zu meinem Wohl sein sollte oder nicht.

„Zu meiner Verteidigung, ich habe eine Menge Freunde dabei verloren, und du siehst so zerbrechlich aus. So … verletzlich. Vergib mir.“ Seine Stimme wurde leiser, fast nur noch ein heiseres Flüstern. „Bitte. Ich mag es, wenn du mir tausend Fragen am Tag stellst, und ich wüsste nicht, was ich tun sollte, wenn du nicht mehr da bist.“

Schmelz … „Ich …“ War so ein Riesen-Schwächling. Aber er hatte Bitte gesagt, und dagegen hatte ich keine Widerstandskräfte. „Okay. Es sei dir vergeben. Wir sind Freunde. Allerdings unter der Bedingung, dass du mich nie wieder zu meinem eigenen Wohl wegschickst.“

„Das werde ich nicht“, versprach er. „Und du musst mir versprechen, dass du weiterhin versuchst, mich besser kennenzulernen.“

Mit ihm gehen? Nein, das konnte nicht sein. Nach allem, was passiert war, sollten wir nur Freunde sein, Kumpel. „Abgemacht.“

„Gut. Willst du wissen, was ich bisher über dich festgestellt habe?“

„Ja“, rutschte es mir heraus. Blöde Neugierde.

„Ich weiß, dass du störrisch bist, große Willenskraft hast, humorvoll bist und …“

Ich schlug ihm mit der Faust gegen die Brust. „He!“

„Also gut.“ Er umfasste meine Hand, um einen zweiten Schlag zu verhindern. „Und du bist rachsüchtig.“

„Warum solltest du mehr über so eine Person wissen wollen?“, schnappte ich.

„Vielleicht weil das die Eigenschaften sind, die ich am liebsten habe.“

Wohl kaum. „Dann solltest du dich wieder mit Mackenzie zusammentun.“ Für die er womöglich immer noch Gefühle hatte, wie ich mir ins Gedächtnis rief.

„Autsch. Da war sie, die rachsüchtige Seite. Du bist süß. Du lächelst nicht oft, aber wenn doch …“ Er neigte den Kopf, bis sich unsere Nasen berührten. „… dann kommen mir sehr unanständige Gedanken.“

Ich schluckte. Das war nicht gerade kumpelhaft. „Was denn … zum Beispiel?“

„Kann ich nicht sagen, ohne jede Menge Gesetze zu übertreten.“ Er strich mit einem Finger über meinen Handrücken. „Warum hast du vorher nie geküsst? Wie ist so was möglich?“

Ich betrachtete seine Stiefel, den getrockneten Schlamm an den Sohlen, die nagelneuen Schnürsenkel. „Mein Vater hat uns nie erlaubt, abends wegzugehen. Das bedeutete keine Kinobesuche, keine Dates bei Dunkelheit. Ich wollte nicht, dass mich jemand von zu Hause abholt und dabei meinen Vater kennenlernt und feststellt, wie verrückt er ist. Wie verrückt ich glaubte, dass er es sei.“

„Na ja, ich weiß ja bereits alles über dein verrücktes Leben, das ist also kein Problem.“

„Richtig.“ Moment. Wollte er mir sagen, er war jetzt bereit, sich mit mir zu einem Date zu verabreden? „Das heißt noch lange nicht, dass du gut für mich bist. Ich dachte, ich käme mit dir klar, aber ich habe schnell festgestellt, dass ich mich geirrt habe.“

„Ich bitte dich! Den Typen, mit dem du nicht klarkommst, würde ich gern kennenlernen. Der bekommt von mir einen Orden“, erwiderte er leise. „Bist du nun bereit für die Vision oder nicht?“

Die Vision. Richtig. Im Moment war alles andere unwichtig. Ich drückte die Schultern durch, versuchte mich zu sammeln und alle beunruhigenden Gedanken zu verdrängen. „Okay, ich bin bereit.“

Ich sah ihn an. Er schob seine Kappe zurück. Sofort waren die Schatten weg. Unsere Blicke trafen sich. Und … nichts passierte.

Ich blinzelte, schüttelte den Kopf. Immer noch nichts. Stirnrunzelnd umfasste ich sein Gesicht mit beiden Händen und bewegte seinen Kopf heftiger hin und her als notwendig. Nichts.

„Das verstehe ich nicht“, sagte er ebenso verwundert. „Auch als du vergiftet und vollgepumpt mit Medikamenten warst, habe ich was gesehen.“

Ja. Wie wir uns geküsst hatten. „Das ist merkwürdig.“ Niemals hätte ich angenommen, dass es sonderbar sein könnte, keine Vision zu haben. Ich ließ die Arme sinken und klatschte auf meine Schenkel. „Es sei denn … Vielleicht gibt es heute einfach nichts, dem wir aus dem Weg gehen sollten.“

Er blickte mich finster an. „Darauf musstest du jetzt herumreiten, was?“

„Ich wollte nicht …“ Na ja, verdammt. Ich wollte doch, oder nicht? „Das hast du dir selbst zu verdanken. Angeblich magst du ja meine rachsüchtige Seite.“

Die Haustür wurde geöffnet, und Nana schaute heraus. Sie erblickte Cole und musterte ihn von oben bis unten. „Ich dachte, ich hätte Stimmen gehört.“

Ich sprang von ihm weg, als hätte mir jemand ein Lasso um den Bauch gebunden und daran gezogen. „Ach, hallo, Nana. Das ist Cole.“

„Noch ein Freund?“

„Ja. Er ist von meiner Schule. Er fährt mich.“

„Nicht ohne vorher mit deinem Großvater und mir gesprochen zu haben.“

Uh, oh. Jetzt hatte sie dengleichen strengen Tonfall drauf wie bei Justin.

„Aber rein, ihr beiden, schnell.“

Die Tür schloss mit einem Knall, der in meinem Kopf widerhallte. Cole wollte ihr folgen, doch ich packte ihn am Handgelenk.

„Tut mir leid“, sagte ich und war mir nicht sicher, ob ich mich für das entschuldigte, was kommen würde, oder für das, was bereits passiert war.

Er befreite sich, legte mir einen Arm um die Schultern und zog mich an sich. „Ist schon okay. Das habe ich verdient. Und nur zur Erinnerung, ich glaube nicht, dass die Visionen das zeigen, was wir vermeiden sollten.“

Ich dachte an das Tagebuch. „Ich bleibe dabei, dass es Blicke in die Zukunft sind.“

„Vielleicht. Wahrscheinlich.“

Irgendwie hörte ich raus, was er nicht gesagt hatte: dass wir heute keine Zukunft hatten. Ich drückte ihm die Finger in die Brust und sah ihn mit großen Augen an.

„Keine Sorge. Es ist alles okay. Du bist immer noch dabei, dich zu erholen. Ich bin sicher, das ist das einzige Problem.“

„Na gut.“ Ich würde ihm das glauben.

Er gab mir einen Kuss auf die Schläfe, wie zum Trost, bevor er mir die Hände auf die Schultern legte und mich umdrehte. „Lass uns da reingehen, sonst kommen deine Großeltern raus, zerren mich rein und schließen dich zu deiner eigenen Sicherheit in dein Zimmer ein.“

Ich sandte heimliche Gebete zum Himmel, dass meine Großeltern keine merkwürdigen Ausdrücke gebrauchten, dass keine Vorwürfe wegen Alkoholkonsum und vorehelichem Sex kamen, dass alles friedlich und harmonisch ablief.

Nana und Pops warteten im Wohnzimmer. Sie hatten ihre Sessel vor die Couch geschoben, der einzige Sitzplatz für mich und Cole. In dem Moment, als wir saßen, begann die Fragestunde.

Pops: „Pläne für die Zukunft?“

Stöhnend ließ ich den Kopf in die Hände sinken. Es würde genauso fürchterlich werden wie mit Justin.

Cole: „Uni, Polizeidienst.“

Nana: „Ach, ich mag ihn jetzt schon mehr als den anderen Jungen.“

Pops: „Gut, das ist gut. Nun beende mal den folgenden Satz für mich. Wenn ein Mädchen Nein sagt, dann meint es …“

Ja, genau dasgleiche Programm.

Cole: „Nein. Und das war‘s. Keine weiteren Versuche.“

Nana: „Wieder eine vorzügliche Antwort. Hier ist noch ein etwas schwierigerer Satz zum Beenden. Vorehelicher Sex ist …“

Ich hätte mich den Zombies zum Fraß überlassen sollen.

Cole: „Das ist Entscheidung des Paars. Was zwischen ihnen geschieht, geht niemanden was an. Tut mir leid, aber auch Sie nicht.“

Beide schimpften sie eine Minute lang, dann beruhigten sie sich wieder. Ich hatte inzwischen die schreckliche Färbung eines gekochten Krebses angenommen. (Das schätzte ich jedenfalls.) Egal, ich fand Coles Antwort außergewöhnlich.

Pops: „Das ist nur fair, schätze ich. Und wie denkst du über Alkohol und Autofahren?“

Cole: „Ich halte das für dumm. Darüber müssen Sie sich, was Ali und mich betrifft, keine Sorgen machen. Ich trinke nie, und wenn sie es täte, würde ich es nie ausnutzen. Dann würde ich sie nach Hause bringen. Ich werde sie immer beschützen, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.

„Ich werde auch nicht trinken“, sagte ich. „Niemals.“

Nana: „Ist das nicht ein erfrischender junger Mann?“

Pops: „Ja, das ist er tatsächlich.“

Ich glaube, ich war genauso beeindruckt wie meine Großeltern. Unter den Muskeln, Narben und Tattoos (die meine Großeltern nicht sehen konnten, da er ein langärmeliges Hemd trug), war er ein wirklich guter Typ. Und weil sie so beeindruckt waren, ließen sie uns ohne weiteres Mosern abziehen!

Wir hielten unterwegs an, um einen Kaffee zu trinken, der mich wach machen sollte, und kamen trotzdem noch rechtzeitig in der Schule an. Nachdem Cole in derselben Lücke geparkt hatte wie immer - ich nehme an, diesen Platz wollte ihm keiner streitig machen -, warf er seine Kappe auf den Rücksitz, zog sein langärmeliges Hemd aus, unter dem er ein kurzärmeliges trug, und half mir beim Aussteigen.

Meine Wundnähte fühlten sich heute zu straff an, jede Bewegung tat an den Stellen weh. „Ich kann es kaum glauben, dass wir das überlebt haben.“

„Deine Großeltern lieben dich bedingungslos. Ich hätte mir eher Sorgen gemacht, wenn sie nicht so streng gewesen wären.“

Seine Worte verwirrten mich, und auf dem Weg zum Schulgebäude stolperte ich über die Bordsteinkante. Natürlich war ich davon ausgegangen, dass sie mich liebten, immerhin hatten sie es mir gesagt, aber dass ihre Liebe vorbehaltlos sein sollte, hatte ich so nie gesehen. Tief im Inneren nahm ich immer noch an, dass sie fanden, ich sei meinem Vater zu ähnlich. Vielleicht hatte Cole recht. Sie hatten so viel für mich getan, und sie hatten ihn ziemlich hart angefasst.

„Was ist?“, sagte er. „Wusstest du das nicht?“

„Nein. Ich bin so … anders als sie. Ich bin nicht so weich, wie meine Schwester gewesen ist, oder so happy und so ein Sonnenschein wie meine Mutter. Ich bin eher wie mein Vater, den sie gehasst haben.“

„Glaub mir, sie hassen dich nicht. Und nur damit du es weißt, du bist großartig, so wie du bist.“

Es blieb keine Zeit, um darauf einzugehen - nicht dass ich gewusst hätte, wie ich hätte reagieren sollen. Die Gespräche verstummten abrupt in jeder Schülergruppe, an der wir vorbeigingen. Alle starrten uns an.

Sie hatten gesehen, wie Cole und ich auf der Party getanzt hatten, also weshalb … aha. Ich verstand. Das war die Bestätigung, dass ich mit ihm ins Bett ging. Nach allem, was gestern Nacht und heute Morgen passiert war, hatte ich das Gerede über meinen Schlampenstatus völlig vergessen. Wut überkam mich, und Sterne schienen vor meinen Augen zu tanzen.

„Bist du immer noch der Meinung, dass Mackenzie unschuldig ist?“, wollte ich wissen.

„Ja. Ich habe sie wegen der Gerüchte zur Rede gestellt. Sie streitet ab, irgendwas in der Art über dich erzählt zu haben.“

Konnte er so ahnungslos sein? „Ach so. Dann muss es ja wohl stimmen.“

Er warf mir einen bösen Blick zu, der mich an den ersten Schultag und an unsere erste Vision erinnerte. „Ich finde heraus, wer das in die Welt gesetzt hat, glaub mir. Ich brauche nur etwas Zeit.“ Er legte mir beschützend einen Arm um die Schultern. „In der Zwischenzeit, wenn jemand eine Bemerkung dir gegenüber macht, sag mir Bescheid. Ich sorge dafür, dass derjenige es bereut.“

Das würde mich nicht davor bewahren, verspottet zu werden. Denn ehrlich, es braucht nicht immer Worte, um einen Standpunkt rüberzubringen. Gesten wirkten genauso gut.

Als wir um die Ecke bogen, bemerkten uns Frosty, Bronx und Coles andere Kumpel und kamen uns entgegen. Sie begrüßten ihn grinsend und mit freundschaftlichen Schlägen auf den Rücken, sahen mich jedoch stirnrunzelnd an. Was soll‘s!

Ich wand mich aus Coles Umarmung und stellte mich neben Mackenzie. „Lass uns mal nach der Schule reden, okay?“

„Das ist nicht nötig“, rief Cole herüber.

„Aber gern doch“, sagte Mackenzie und warf mir ein blitzendes Lächeln zu, das lediglich ihre perlweißen Zähne präsentieren sollte.

Ich wollte gerade etwas darauf antworten, als ich bemerkte, wie ruhig es hinter mir geworden war. Die Jungs hörten unserem Wortwechsel genau zu. Also würde das warten müssen. Ohne noch ein Wort zu sagen, marschierte ich los. Cole versuchte nicht, mich aufzuhalten. Von Kat oder den anderen Mädchen war nirgends ein Zeichen zu sehen, deshalb ging ich gleich in meinen Unterrichtsraum. Justin sah mich nicht an, aber ich setzte mich trotzdem neben ihn. Er hatte zwei blaue Augen, eine geschwollene Nase und eine aufgeschürfte Oberlippe.

„Erzähl mir nach der Schule was über deinen Job““, platzte ich heraus, weil ich ständig daran denken musste.

Schweigen. Dann erwiderte er zögernd: „Sicher hast du doch von Cole schon alles erfahren.“

„Ich würde es gern von dir hören.“

Er warf mir einen wütenden Blick zu. „In früheren Zeiten hätte ich mit Vergnügen mit dir darüber geredet. Jetzt hast du dir dein Bett bei Cole eingerichtet und kannst drin liegen bleiben. Ich frage mich nur, ob dir klar ist, dass es voller Flöhe ist.“

Diese Phrase hatte er extra gewählt, um mich zu ärgern. „Wenn du mit Flöhen Zombieleichen meinst, könntest du recht haben“, flüsterte ich ihm so zu, dass nur er mich verstand. „Keine Ahnung, ob du davon gehört hast, aber ich mag Zombieleichen.“

Der Bleistift, den er in der Hand hielt, zerbrach in zwei Teile. „Aha, jetzt weiß ich es. Ich dachte mir schon, dass das der Grund ist, weshalb er sich für dich interessiert.“

Natürlich, weil es ansonsten keinen Jungen gab, der was mit mir zu tun haben wollte. Sehr nett. Wie konnte ich jemals denken, dieser Typ sei süß? „Was habt ihr vor? Was ist euer Ziel? Überzeuge mich doch, dass du auf der richtigen Seite stehst.“

Er schnaufte. „Ich muss dich von gar nichts überzeugen. Du kannst deinem Freund bestellen, dass uns seine Aktion ‚Schutzanzüge aufschlitzen‘ überhaupt nicht gefallen hat. Mein Boss hat ihm am Morgen danach einen kleinen Besuch abgestattet und selbst eine Nachricht hinterlegt. Ich bin mir aber nicht sicher, dass Cole seine Lektion gelernt hat.“

Das musste der Morgen gewesen sein, als Cole mich nach Hause hätte fahren sollen, der Morgen, als Frosty so schlecht auf mich zu sprechen gewesen war. Cole hatte behauptet, die Blutlinie um unser Grundstück verstärkt zu haben. Sicher hatte das gestimmt, doch wahrscheinlich war es nur ein Teil der Wahrheit gewesen. Das wiederum zeigte mir, wie gut er im Weglassen von Informationen war. Darüber mussten wir uns unterhalten. Von jetzt an war absolute Offenheit notwendig.

„Was hat dein Boss mit ihm gemacht?“, wollte ich wissen.

„Warum fragst du nicht meine Zwillingsschwester Jaclyn?“, sagte er breit grinsend. „Hast du sie inzwischen kennengelernt? Sie hat mich nach der Party nach Hause gebracht. Du weißt schon, nachdem du mich einfach stehen gelassen hast.“

„Jetzt mal langsam, ich …“ Die Worte erstarben auf meinen Lippen, als ich kapierte. Die Brünette mit dem Ich-wünschte-du-wärst-tot-Ausdruck im Gesicht, die ihn reanimiert hatte. Das Mädchen, das mir im Bus mörderische Blicke zuwarf, hatte die gleichen Gesichtszüge wie Justin. Sie musste seine Zwillingsschwester sein.

„Sie war noch nie ein Fan von Cole, und genau dasgleiche Gefühl hat sie dich betreffend. Sie meint, du bringst nur Ärger. Ich wollte nicht auf sie hören.“

Nicht etwa, weil er mich mochte, sondern weil er wissen wollte, was ich für - oder gegen - die Zombies tun konnte. „Tut mir leid, dir diese Nachricht zu überbringen, aber alle Mädchen sind Fans von Cole. Wer was anderes behauptet, lügt.“ Obwohl ich sauer auf Cole war, fuhr ich auf ihn ab.

„Nach dem, was er mir angetan hat, möchte sie ihn vierteilen.“

„Dann weiß sie also, was du machst?“

„Wer meinst du denn, hat mich rekrutiert?“

Es klingelte zur Stunde, was mich davor bewahrte, noch mehr Fragen zu stellen. Alle schoben ihre Rucksäcke unter den Tisch vor sich, Stühle knarrten, während wir uns nach vorn richteten.

Es wurde eine Nachricht zum Footballspiel durchgegeben - unsere Schulmannschaft hatte gewonnen - und lauter Jubel setzte ein. Für den kommenden Freitag war eine Mobilisierungsparty geplant, woraufhin erneut Jubel ausbrach.

Mr Butthole brauchte gute zehn Minuten, um die Ruhe wiederherzustellen und mit dem Unterricht zu beginnen. (Wie war noch mal sein richtiger Name?) Mir ging einfach zu viel durch den Kopf, als dass ich aufpassen konnte. Ich wollte mehr über die Leute wissen, für die Justin und seine Schwester arbeiteten, über ihre Ziele. Es handelte sich jedenfalls nicht um die Ausschaltung der Zombies, wie sie nach Coles Aussage von sich behaupteten. Ansonsten würden sie nämlich mit Cole zusammenarbeiten.

Kurz bevor es zum Schluss der Stunde klingelte, wurde ich in Dr. Wrights Büro beordert. Ich wusste, warum sie mich sprechen wollte, und ich war nicht glücklich darüber. Langsam machte ich mich auf den Weg. Im Vorzimmer winkte mich die Sekretärin sofort durch.

Dr. Wright saß hinter ihrem Schreibtisch, formell und steif, wie immer in einem dunklen Hosenanzug, das Haar zu einem Knoten frisiert.

„Wie fühlst du dich?“, erkundigte sie sich, ihre Hände lagen auf einem Ordner.

„Viel besser, danke.“

„Wunderbar. Und du hast über das nachgedacht, was du erfahren hast?“

„Größtenteils.“

„Und du sprichst nicht mit anderen Kindern darüber?“

Ich bin kein Kind. „Nein.“

Die Rollen ihres Drehstuhls quietschten, als sie sich zurücklehnte. „Mich interessieren deine Fähigkeiten.“

Bingo. Genau, was ich befürchtet hatte.

„Hast du noch mal richtig darüber nachgedacht, wie es kam, dass du diese Lichtflächen sehen konntest?“

„Na ja, sicher.“ Wer hätte das nicht?

„Und?“

„Manche Leute haben diese Fähigkeit, andere nicht“, sagte ich.

Ein Ausdruck leichter Ungeduld erschien in ihrem Blick. „So viel weiß ich inzwischen selbst. Glaubst du, dass es bei dir angeboren ist?“

„Keine Ahnung.“

„Konnte dein Vater sie sehen?“

„Weiß ich nicht.“

Sie trommelte mit den Fingerspitzen auf den Armlehnen herum. „Meine Vermutung ist: Ja, du bist mit dieser Fähigkeit geboren. Andererseits frage ich mich, warum dir so etwas vorher nie passiert ist.“

Dieses Spekulationsspiel konnte man auch zu zweit spielen. „Warum entwickeln manche Leute einen Tumor im späteren Leben und nicht schon als Jugendliche? Warum werden alle Babys mit blauen Augen geboren, aber bei den meisten verändert sich die Farbe nach ein paar Monaten?“ Meine Ungeduld war nicht zu überhören. Entweder gehörte ich zur Gruppe oder nicht. Wenn die Erwachsenen mir weiter mit Misstrauen begegneten, würde sich das auf die Jugendlichen übertragen.

Sie rückte ihre Brille zurecht und überlegte wahrscheinlich, was sie mit mir anfangen sollte. „Du kannst mir vertrauen, Ali. Ich habe die Fähigkeit, Zombies zu sehen, mit zwölf entwickelt, genauso wie du nach einem Autounfall. Wie du dir vorstellen kannst, war ich schockiert, aber ich tat mein Bestes, um mein Leben weiterzuleben. Erst als ich hier die Leitung übernahm und mir das merkwürdige Verhalten von Cole und seiner Gruppe auffiel, wurde mir klar, dass es noch andere gibt, die sie sehen. Dann kam Coles Vater in der Hoffnung zu mir, jemanden zu finden, der ihm bei der Sache hilft, und ich war dabei. Vielleicht tröstet es dich zu erfahren, dass sie mich die meiste Zeit sehr distanziert behandelt haben, obwohl sie mich brauchten, und sieh, wo ich jetzt stehe.“

„Ich weiß, was Sie meinen.“ Es gefiel mir nicht, doch ja, ich hatte verstanden.

„In der Zwischenzeit kannst du dich mit deinen Problemen jederzeit an mich wenden. Ich bin hier, um dir zu helfen.“

„Das werde ich“, erwiderte ich. Sie war knallhart, aber sie meinte es gut. Und genauso wie ich war sie neugierig. Sie wollte Antworten.

„Na gut, dann sieh zu, dass du wieder zum Unterricht kommst.“

Erleichtert verließ ich das Büro. Die Gänge waren voller Schüler. Frosty wartete am Schließfach auf mich. Ich wollte an ihm vorbeigehen, doch wie schon einmal lief er neben mir her.

„Cole ist für den Tag suspendiert worden“, verkündete er.

Bei dieser Nachricht stolperte ich über meine eigenen Füße, als ich zu ihm aufsah. „Wieso?“ Und warum hatte Dr. Wright mir nichts davon gesagt?

Er zuckte die massigen Schultern. „Nichts Ungewöhnliches. Er hat ein paar Kids verprügelt, weil sie ihren Mund nicht halten konnten.“

Zweifellos hatten sie Bemerkungen über mich gemacht. „Dr. Wright hätte ihn vom Haken lassen sollen.“ Jetzt wusste ich, weshalb sie nichts erwähnt hatte. Ich hätte protestiert - laut.

„Wenn die Tat in einem Raum voller Leute passiert, kann sie das nicht. Jedenfalls lässt er dir ausrichten, dass er dich trotzdem nach der Schule abholt.“

Gut. Wir mussten trainieren. „Okay. Vielen Dank.“

„Was die Mittagspause betrifft …“

„Falls du jetzt sagen willst, dass ich nicht mehr mit meinen Freundinnen zusammensitzen kann, tu ich dir weh!“

„Kein Grund, dir so was zu sagen. Früher oder später werden sie dich sowieso aus ihrem engeren Umkreis verbannen. Das ist mit Kat passiert. Sie ist nur wieder mit ihnen zusammengekommen, weil wir uns getrennt haben.“

„Poppy, Wren und Reeve würden sie nicht fallen lassen.“ Ich nahm an, dass sie vorher andere Freundinnen gehabt hatte und dass die sie abserviert hatten.

„Reeve nicht, aber Poppy und Wren schon. Sie hing mit mir herum, und ich hab ihr Ärger eingebracht. Sie haben befürchtet, dass sie von ihr runtergezogen werden.“

Wie konnten sie es wagen, Kat so zu behandeln!

Uh, uh. Vielleicht musst du dich auch von ihr trennen.

Oh ja. Das Schuldgefühl fraß sich in mich wie ein nicht behandelter Krebs.

„Ali“, begann Frosty. „Hör zu, ich …“

„Nicht jetzt“, unterbrach ich ihn. Ich hatte keine Ahnung, was er sagen wollte, mir war nur klar, dass ich im Moment keinen weiteren Abtörner gebrauchen konnte.

„In Ordnung, aber später.“

„Bis dann.“ Wir trennten uns und gingen jeweils in die entgegengesetzte Richtung den Flur entlang.

Nachdem ich die zweite und dritte Stunde überlebt und Ms Meyers mit meiner vollen Aufmerksamkeit beglückt hatte, traf ich Kat in der Cafeteria an unserem Tisch. Die anderen waren noch nicht da. Sie spielte mit einem grünen Apfel, den sie auf der Tischplatte kreisen ließ. Heute trug sie ein Tanktop und enge Jeans. Ich hatte sie offenbar nie vorher in einem ärmellosen Top gesehen, denn zum ersten Mal bemerkte ich die gepunkteten Narben in ihrer Ellenbogenbeuge.

Narben, die mich an Einstichwunden erinnerten.

Auf keinen Fall nahm Kat Drogen. Einfach unmöglich. Das würde ich niemals glauben.

Ihre Haut war blasser als am Wochenende. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, ihre Lippen waren gesprungen. Ich ließ mich neben ihr auf den Stuhl fallen. „Hey. Wie geht‘s?“

Sie zuckte erschrocken zusammen und schlug sich eine Hand aufs Herz. Dann begrüßte sie mich mit diesem perfekten hintergründigen Lächeln, mit dem sie mich immer einnahm und beruhigte.

„Ein bisschen müde. Frosty muss mir wohl meine Energie ausgesaugt haben. Entweder das, oder er hat mich mit einem fleischfressenden Bakterium angesteckt.“

„Igitt!“

„Nein. Nur Spaß.“ Sie malte mit einem Finger ein Herz um den Apfel. „Er hat mir heute schon drei Nachrichten zukommen lassen, weil er an diesem Wochenende mit mir losziehen will. Er hat sogar geschworen, dass er sich meinen Namen auf den Hintern tätowieren lässt, wenn ich Ja sage.“

„Seid ihr jetzt offiziell wieder zusammen?“

„Wohl kaum. Er hat noch nicht genug gelitten.“

Ich hatte den Eindruck, sie war genauso wenig daran interessiert, dass er litt, wie daran, ihr Herz zu beschützen. „Wo sind denn die Mädels?“ Ich würde nett zu ihnen sein, beschloss ich. Sie hatten dazugelernt und waren in Kats Bannkreis zurückgekehrt. Das war alles, was zählte.

„Ich schätze, Reeve ist mit Bronx zusammen.“ Sie machte eine Handbewegung in Richtung von Coles Tisch. „Er ist nicht in der Gruppe.“

„Vielleicht ist er mit Cole nach Hause gegangen.“ Ich bezweifelte ernsthaft, dass Reeves Vater das Date-Verbot mit seiner Tochter aufgehoben hatte. Ich lehnte mich zu Kat hinüber und flüsterte: „Sie haben sich auf der Party geküsst.“

„Was?“, quietschte sie und klatschte aufgeregt in die Hände. „Und das sagst du mir erst jetzt? Dafür muss ich dich auf ewig hassen!“

„Tut mir leid. Ich wollte es dir erzählen.“ Viel konnte ich ihr nicht verraten, aber etwas schon. „Cole hat mich abgelenkt.“

„Wir werden sie natürlich erbarmungslos aufziehen.“

„Ich habe sie bereits vorgewarnt.“

„Sah sie denn aus, als hätte sie ihren Spaß gehabt? Machte er den Eindruck, als wenn er wüsste, was er tut?“

„Ich hab nur einen kurzen Blick draufwerfen können.“

Kats Aufmerksamkeit war jetzt auf etwas oder jemanden hinter mir gerichtet. Sie knabberte an ihrer Unterlippe und wirkte plötzlich ziemlich aufgeregt. „Da kommt sie. Kein Bronx. Die anderen Mädchen sind bei ihr.“

Kaum dass die drei sich gesetzt, die Taschen auf den Boden fallen gelassen und ihr Mittagessen auf dem Tisch ausgebreitet hatten, wand sich Kat ungeduldig auf ihrem Sitz. Man sah ihr an, dass sie das Geheimnis nicht eine Sekunde länger für sich behalten konnte.

„Wo wart ihr denn?“, erkundigte ich mich.

Reeve wich meinem Blick aus. „Nirgends.“

„Wir sind Bronx hinterhergejagt“, erklärte Poppy und warf ihr rotes Haar über die Schultern zurück. Gleichzeitig sagte Wren: „Er hat ihr Herz in Stücke gerissen. Will mir jetzt mal jemand erklären, was an diesen Losern so Besonderes ist? Oder wieso meine Freundinnen denen hinterherjagen, im vollen Bewusstsein, dass sie sich ihre Zukunft vermasseln?“

„Kannst du mir mal erklären, warum du manchmal so nervst?“ Kats Aufregung ließ nach. „Was war denn los, Reeve?“

Wren zischte verächtlich.

„Er hat herausgefunden, dass ich mit John ausgegangen bin, bekam einen Anfall und hat mir gesagt, ich soll mich aus dem Staub machen, das hat er gemacht.“ Sie warf ihre Tasche auf den Tisch und wühlte darin herum, bis sie einen Schokoriegel gefunden hatte. „Ich verstehe ihn nicht.“

Wenigstens hatte er mit ihr gesprochen.

„Typen“, grummelte Poppy.

Hatte sie selbst auch Probleme? „Hast du dir schon einen Kandidaten herausgepickt?“, fragte ich sie, weil ich mich erinnerte, dass sie sich ein paar Wochen Zeit nehmen wollte, um das vorhandene Material zu sichten. Na also! Ich konnte doch nett sein.

Wren polierte ihre Nägel, sie war offensichtlich immer noch sauer auf Kat. „Hat sie, und sie wurde abgewiesen.“

„Wurde ich nicht! Ich hab gar niemandem die Chance gegeben, mich abzuweisen. Du bist diejenige, mit der man Schluss gemacht hat.“

„Zum letzten Mal: Ich habe mit ihm Schluss gemacht.“

Kat warf die Arme hoch. „Hält mich denn keiner auf dem Laufenden? Ich bin mehr als nur ein hübsches Gesicht, müsst ihr wissen. Ich habe auch Ohren. Ich höre gern. Ich weiß, es ist schwer vorstellbar, wenn man bedenkt, was ich von mir gebe, aber versucht es doch wenigstens mal.“

Wenn da nicht das Funkeln in ihren braunen Augen gewesen wäre, hätte ich glauben können, sie meinte es ernst. Die anderen Mädchen senkten beschämt den Kopf.

„Tut mir leid“, sagte Poppy. „Ich rufe dich nachher an und liefere dir die Details.“

„Ich auch“, sagte Wren.

Ich sollte Unterricht in Manipulation bei Mad Dog nehmen, sie war eine Meisterin. „Ich könnte ernsthaft glauben, euch zu lieben“, sagte ich.

Die Nase hocherhoben, strich sie sich übers Haar. „Ich muss aufhören, aus meinen Freundinnen Lesben zu machen, aber ich kann einfach nicht anders. Das ist meine animalische Ausstrahlung.“

Ich hielt mir eine Hand vor den Mund, um das Grinsen zu verbergen.

Wren warf mit einer Serviette nach ihr und traf sie an der Schulter. „Du solltest besser mal dein Ego überprüfen lassen.“

„Warum? Es ist vollkommen.“ Bevor Wren darauf antworten konnte, lehnte sich Kat zu mir herüber. „Ich hatte vergessen, es dir zu sagen. Ich habe mit dem Gerüchtebaum angefangen. Hier, sieh mal.“

Sie zog ein Blatt aus ihrer Tasche und reichte es mir. Ich musste nach Luft schnappen, als ich es auseinanderfaltete. Name auf Name, Pfeile hinter Pfeil, Kästen, Notizen - die ganze Seite war vollgeschrieben.

„Ich denke, du verdächtigst Mackenzie, das Gerede in die Welt gesetzt zu haben, aber ich weiß, wie loyal Cole und seine Truppe untereinander sind. Sie werden nicht glauben, dass die kleine Miss Love To Hate irgendwas Falsches getan hat, bevor es nicht bewiesen ist. Also habe ich beschlossen, ein bisschen zu recherchieren. Ich habe das Gerücht von Poppy gehört“, sagte sie und zeigte auf ihre Freundin.

Das rote Haar wippte, als Poppy eifrig nickte. „Ich hab‘s von Wren gehört.“

Wren stand auf und deutete auf einen Tisch vier Reihen von unserem entfernt. „Und ich habe es von Tiffany Chang gehört. Hey, Tiffany! Wink mal!“

Alle sahen zu ihr hinüber.

„Ich sagte:‚Wink mal!‘“

Ein dickliches Mädchen mit einem fragenden Gesichtsausdruck hob eine Hand, und Wren setzte sich wieder.

Kat nahm den Faden auf. „Ich habe Tiffany gefragt und so weiter. Ich weiß, ich weiß. Ich bin ein Genie und dafür bestimmt, Karriere als die beste investigative Reporterin der Welt zu machen. Zu dumm, dass ich eine Trophäen-Frau werden möchte. Egal, wer weiß, ob ich in der Lage bin, bis zur Quelle der Gerüchte vorzustoßen. Ich werde es aber versuchen.“

Ich war überwältigt von ihrer Entschlossenheit, mir zu helfen, und der Zeit und dem Aufwand, die sie dabei investiert hatte. „Danke“, sagte ich, auch wenn mir klar war, dass dieses eine Wort dem nicht gerecht wurde.

„Du würdest sicher dasGleiche für mich tun.“

Das würde ich, und ob! „Okay, um bei den Beichten zu bleiben, ich werde nach der Schule zu Cole gehen.“ Ich sagte das etwas zögernd und beobachtete die anderen. Kat nickte ermunternd. Poppy legte den Kopf schief, ihre Augen verdunkelten sich. Reeve seufzte wehmütig, und Wren lächelte in einer Mischung aus Erleichterung und … irgendetwas, das ich nicht deuten konnte.

Nicht die Reaktion, die ich erwartet hatte, nach dem, wie sie Kat behandelt hatten. „Mackenzie und ich werden uns unterhalten. Vielleicht bekomme ich ja ein Geständnis von ihr und spare dir den Aufwand der Nachforschungen.“

„Dann ist Justin für dich kein offizieller Kandidat fürs Dating?“, fragte Wren und zeichnete mit dem Zeigefinger den Wasserring nach, den Poppys Wasserflasche hinterlassen hatte.

„Er war nie ein Kandidat. Wir sind nur befreundet, das ist alles.“

„Aber das seid ihr doch jetzt nicht mehr, oder?“

„Nein.“ Offensichtlich befanden wir uns auf den jeweils gegnerischen Seiten des Krieges.

„Genug von Justin!“ Kat klatschte aufgeregt in die Hände. „Ich will mehr über Mackenzie hören. Sag mir, dass euer Gespräch auch mit den Fäusten ausgetragen wird. Sag mir, dass du den Boden mit ihrem Gesicht wischen wirst!“

„Na ja, ich werd‘s auf jeden Fall versuchen.“