16

Ich legte das Ohr an die Tür, hielt die Luft an und horchte. Nach einigen Sekunden hörte ich Pauline drinnen lachen. Ganz vorsichtig steckte ich den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn lautlos um und öffnete die Tür einen winzigen Spalt. In der Mitte des Zimmers saß Schlüffer, mit dem Rücken zur Tür, tief in das Sofa gesunken, auf dem ich am Nachmittag Enzo und Bruno hatte Platz nehmen lassen. King in seinem Sessel sah ich im Profil und Pauline frontal. Behagliche Wärme schlug mir entgegen, Pauline hatte offenbar den Ofen angemacht. Im Hintergrund spielte der Plattenspieler eine Jazznummer, die Art von Schmusejazz, die auch für Nichtkenner akzeptabel ist.

Pauline bemerkte, daß sich die Tür öffnete, erhob sich sofort und kam mit einem halbvollen Cocktailglas in der Hand auf mich zu. Sie trug ein tief ausgeschnittenes schwarzes Kleid mit weißem Spitzenbeffchen am Dekolleté. Ihr Haar war hochgesteckt und wurde von einer Spange oben auf dem Kopf gehalten, die mit glitzernden, womöglich sogar echten Steinchen besetzt war. Sie hatte einen andersfarbigen Lippenstift aufgetragen, hellrot mit einem Stich ins Bräunliche (in der Werbung läuft das unter »tawny«), und gegen das Schwarz des Cocktailkleids bildeten ihr blasser Teint und ihr rotes Haar einen schon fast schrillen Kontrast. Sie öffnete die Tür ganz, faßte meine Hand und zog mich sanft herein. Ich leistete ihr unwillig Folge.

»Hallo, Sid«, sagte sie, als ich im Zimmer stand, in eigenartigem Tonfall (vielleicht sollte es sexy klingen?), stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte mir ihre Lippen auf den Mund. Sie waren warm und weich und schmeckten nach Alkohol, Martini vielleicht. Sie hatte den rechten Arm um meinen Hals gelegt und strich mir mit der Hand am Kragen entlang über die Schultern. Ich bekam eine Gänsehaut. Zugleich versetzte sie mit dem Fuß der Tür einen kleinen Schubs, so daß diese mit einem Knall ins Schloß fiel. Der Schlüssel steckte noch von außen.

Als Pauline aufgestanden war, hatten sich die beiden Männer zu mir hingedreht und schauten jetzt zu, wie sie mich küßte. Schlüffer grinsend, King scheinbar ungerührt. Ich löste mich sanft aus Paulines Umarmung. Sie trat einen Schritt zurück, ohne mich loszulassen, und sagte, wieder in dem eigenartigen Tonfall: »Wie schön, Sid, wie schön, daß du da bist.«

Dann zog sie mich weiter ins Zimmer hinein und sagte auf englisch: »Darf ich vorstellen, meine Herren, Sid Stefan. Mr. King, Herr Schlüffer.«

»Mister Schlüffer bitte, Miss Cormick«, verbesserte Schlüffer, während er und King sich erhoben.

»Natürlich, ich weiß auch nicht, warum ich mich immer wieder vertue«, sagte Pauline mit strahlendem Lächeln und fuhr an mich gewandt fort: »Du siehst, ich habe Besuch.«

 

Eine Stunde zuvor hatte ich auf dem Rückweg vom Hafen bei einer Kneipe Ecke Lastageweg/Oude Waal gehalten und Enzo und Bruno dort bei einem Pils erzählt, was ich von Ettore erfahren hatte. Sie hatten auch keine Ahnung, welcher Art von Organisation »die Jungs aus Rom« angehören könnten. Ettores Geschichte nach hatte es wohl was mit Drogen zu tun, aber wie das Ganze zusammenhing, begriff ich genausowenig wie er. Die unteren Chargen der Amsterdamer Mafia – Enzo und Bruno mußten zum ersten Mal lachen, als ich den Ausdruck gebrauchte – würden jetzt jedenfalls auf schnellstem Wege das Land verlassen. Eine große Erleichterung für uns und eine ganze Reihe anständiger, friedliebender Italiener. Aber damit waren noch längst nicht alle Probleme aus der Welt.

Es war inzwischen halb acht. Ich fragte die Brüder, ob sie Hunger hätten. Sie behaupteten nein, senkten dabei aber so betreten den Blick, daß ich zu der Überzeugung gelangte, sie könnten sehr wohl eine Stärkung brauchen. Ich lud sie ein, im Hilton mit mir zu Abend zu essen. Nach leichtem Zögern willigten sie grinsend ein. Ich hoffte, daß wir dort Henderson begegnen würden. Die Chance war zwar gering, das war mir klar, aber wir waren in eine Sackgasse geraten und mußten jede Möglichkeit ausschöpfen.

Im Foyer des Hilton fragte Bruno, ob er sich vor dem Essengehen bei mir im Zimmer rasieren könne. Sie rasierten sich immer zweimal am Tag, sagte er, und tatsächlich war ihre Kinnpartie reichlich dunkel überschattet. Natürlich stellte ich ihnen gerne meinen Rasierapparat zur Verfügung. Wir gingen also zur Rezeption, um meinen Zimmerschlüssel zu holen. Mit dem Schlüssel reichte man mir einen Briefumschlag.

Er enthielt die Nachricht: »Nehmen Sie bitte dringend Kontakt zu meiner Sekretärin auf. Henderson«, geschrieben mit rotem Kugelschreiber in großer, runder Schrift.

Henderson hatte also bereits erfahren, daß ich im Hilton wohnte. Was nicht verwunderlich war, da ich ja morgens in seinem Zimmer mehrere Gespräche entgegengenommen hatte.

»Ist Mr. Henderson, Zimmer 444, im Haus?« fragte ich den Rezeptionisten. Er warf einen flüchtigen Blick auf das Schlüsselbrett. »Nein, Mijnheer.«

»Und Miss Callock?«

Ein weiterer Blick nach hinten. »Ja, Mijnheer.«

Im Fahrstuhl erzählte ich Bruno und Enzo von der Nachricht, die ich erhalten hatte, und beschloß, Daisy zuerst anzurufen und ihr dann, während die Brüder sich frisch machten, einen kleinen Besuch abzustatten.

Aber es war gar nicht nötig, Daisy anzurufen. Sie lag, an Händen und Füßen gefesselt, auf meinem Bett. Ihr Rock war zerrissen und ihre Bluse halb aufgezerrt, und man hatte ihr den Mund mit einem Tuch zugebunden. Darunter war auch noch ein Watteknebel, wie sich herausstellte, als ich ihr das Tuch abnahm. Ihr Gesicht und ihre Arme waren voller Blut. Als ich den Knebel entfernte, schnappte sie pfeifend nach Luft. Die Augen behielt sie zu. Während Enzo und Bruno nervös und ungeschickt die Stricke lösten, mit denen man sie gefesselt hatte, schenkte ich aus der Flasche, die Jeanette mir vermacht hatte, etwas Cognac in ein Wasserglas, hob Daisys Kopf an und flößte ihr ein wenig davon ein. Nachdem ich ihr dreimal das Glas an die Lippen gesetzt hatte, begann sie von sich aus zu trinken, und nach einigen weiteren Schlucken öffnete sie die Augen. »Danke«, flüsterte sie.

Ich ließ ihren Kopf wieder aufs Kissen sinken. »Was ist passiert?« fragte ich und fuhr an die Brüder gewandt fort: »Das ist die Sekretärin von Mr. Henderson, die ich gerade anrufen wollte. Sie erspart mir damit zumindest die Mühe, sie aufzusuchen.« Enzo und Bruno sahen mich vorwurfsvoll an. Ihrer Meinung nach scherzte man wohl nicht in einer solchen Situation. »Was ist passiert?« wiederholte ich und schüttelte Daisy. Sie spuckte ein paar Wattefasern aus. »Noch einen Moment bitte«, flüsterte sie und schloß die Augen wieder. Dreißig Sekunden lang schwiegen wir alle vier.

Das dauerte mir zu lange. »Verdammt noch mal, Daisy, erzählen Sie«, blaffte ich sie unvermittelt an.

Sie erschrak, öffnete die Augen und setzte sich auf. »Wo ist meine Handtasche?« fragte sie beunruhigt.

Die lag neben dem Bett auf dem Boden. Ich hob sie auf und gab sie ihr. Sie öffnete sie, nahm ihre Puderdose und einen Kamm heraus, und fing an, ihr Gesicht zurechtzumachen.

Jetzt langte es mir. Ich riß ihr die Tasche aus den Händen und schleuderte sie ans andere Ende des Zimmers. »Erzählen Sie, los, oder ich werde handgreiflich. Was ist passiert?«

Sie sah mich zu Tode erschrocken an. Mir fiel auf, daß sie ihre Brille nicht aufhatte. »Ich wollte Ihr Zimmer durchsuchen. Mr. Henderson hatte entdeckt, daß Sie sich hier im Hotel ein Zimmer genommen haben, und als er heute Morgen wegging, hat er an der Rezeption eine Nachricht für Sie hinterlassen.« Sie verstummte und schaute hilfesuchend zu Enzo und Bruno, die jedoch kein Wort von ihrer Geschichte verstanden.

»Weiter.«

»Ich sollte aufpassen, wann Sie zurückkommen, und ein Treffen zwischen Ihnen und Mr. Henderson arrangieren.« »Was will er denn von mir?«

»Ich glaube, daß er Ihnen Geld geben will«, sagte sie verlegen.

»Warum?«

»Damit Sie sich nicht länger in seine Angelegenheiten einmischen.«

»Wo ist er jetzt?«

»Ich weiß es nicht. Er hält zwar ständig telefonischen Kontakt zu mir, aber ich liege ja jetzt schon seit über einer Stunde hier, und da...«

»Wie sind Sie hierhergekommen?«

»Es dauerte so lange, bis Sie kamen, und da dachte ich, daß ich in Ihrem Zimmer vielleicht etwas über Sie in Erfahrung bringen könnte. Also bin ich hergegangen und habe ihr Gepäck durchsucht...«

»Wie sind Sie reingekommen?«

»Oh, ich hatte mir vorher einen Schlüssel besorgt ...«, antwortete sie mit vagem Lächeln.

»Und dann?«

»Plötzlich standen zwei Männer mit großen Pistolen im Zimmer.«

»Was für Männer?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe sie noch nie gesehen. Der eine hatte einen deutschen Akzent.«

»Hatte der andere schwarze Lederhandschuhe an?«

»Woher wissen Sie das?« rief sie überrascht. »Sie haben Sie gesucht. Kennen Sie sie?«

»Ich denke schon. Und dann?«

»Ich sagte, daß ich nicht wüßte, wo Sie sind, und da haben sie mich geschlagen. Sie sagten, ich wüßte es sehr wohl, und sie würden mich zwingen, es ihnen zu verraten. Sie haben mir sehr wehgetan, und ich habe geweint, aber sie haben trotzdem nicht aufgehört. Da hab’ ich dann einfach irgendwas gesagt. Darauf haben sie mich gefesselt und geknebelt.«

»Was haben Sie ihnen denn gesagt?«

Sie schaute zu Boden. »Kann ich noch einen Schluck Cognac haben?« bat sie.

Ich goß ihr Glas noch einmal voll. »Was haben Sie ihnen gesagt?« wiederholte ich, während sie mit großen Schlucken trank.

»Ich habe gesagt, daß Pauline Sie heute abend erwartet.« Sie hickste plötzlich und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.

»Was?« Ich sprang auf und schlug ihr das Glas aus der Hand. »Haben Sie ihnen Paulines Adresse gegeben?«

Sie fing an zu weinen. Mein Gott, was für eine dumme Kuh. »Ich mußte ja. Sonst hätten sie mich vielleicht totgeschlagen«, schluchzte sie.

»Also sind sie jetzt bei Pauline?«

»Ich denke schon.«

Ich erklärte Enzo und Bruno rasch, was sie erzählt hatte. »Was machen wir jetzt?« fragte ich anschließend.

»Hinfahren«, sagten sie wie aus einem Mund.

»Okay. Aber laßt uns die Tussi hier erst wieder fesseln und gut verstauen. Sonst gibt sie alles brühwarm an Henderson weiter, und wir haben den auch noch auf dem Hals.«

»Bene.«

Daisy, die unser Italienisch offensichtlich nicht verstanden hatte, sah mich mit liebem Lächeln an. Sie hatte aufgehört zu weinen und sich die Tränen abgewischt.

Ich hob die Stricke vom Boden auf und beugte mich über sie. »Schön brav sein, Schatz, es ist gleich vorbei«, sagte ich. Aber als ich sie rücklings aufs Kissen drückte, begann sie zu zappeln. »Kusch, oder es gibt Schläge«, versuchte ich es noch mal, aber sie wehrte sich aus Leibeskräften. Da hielten Enzo und Bruno sie an Armen und Beinen fest, so daß ich sie wieder fesseln konnte. Mit dem Knebel hatte ich meine liebe Mühe, und beinahe hätte sie mir den Daumen abgebissen, aber schließlich war auch der wieder an Ort und Stelle. Daisys Augen sprühten Gift und Feuer, als wir fertig waren.

»Kein Grund, böse zu sein. Wenn Pauline tot ist, blüht dir noch was ganz anderes. Schlaf gut.« Ich hob sie hoch und verfrachtete sie in den Kleiderschrank. »Und daß du mir ja nicht an meine schönen Anzüge kommst«, warnte ich sie noch, bevor ich die Schranktür zuschloß.

Aus dem Schrank drangen wütende Knurrgeräusche, über die Enzo und Bruno noch lachen mußten, als wir mit dem Fahrstuhl nach unten fuhren. Aber mir war nicht zum Lachen zumute. Meine Gedanken waren bei Pauline.

 

Ihr Wohnungsschlüssel passe auch für die Haustür, hatte Pauline gesagt, und so war es auch. Wir schlichen die Treppen hinauf. Es war völlig still im Haus, die Büroräume von International Trade N.V. waren seit Stunden geschlossen. Wir hatten unterwegs im Alfa – meinen VW hatten wir beim Hilton stehen lassen – abgesprochen, daß ich zu Pauline reingehen und den Schlüssel von außen stecken lassen würde. Enzo und Bruno würden ein Stockwerk tiefer warten und nur eingreifen, wenn sie Lärm, Schüsse, Schreie oder sonst irgendwelche Kampfgeräusche hörten. Ich hatte ihnen die Beretta gegeben. Sie kannten die Waffe von ihrem Wehrdienst, und ich brauchte ihnen nicht zu erklären, wie man mit diesem Ding schoß.

Im vierten Stock, eine Etage unter Paulines Dachgeschoßwohnung, blieben sie stehen. Durch die Bleiglasfenster dort fiel ein wenig Laternenlicht von der Van Eeghenstraat herein. Draußen regnete es nicht mehr, aber der steife Wind war zum Sturm angeschwollen.

»Viel Erfolg«, flüsterte Enzo, und Bruno hielt aufmunternd die Beretta hoch. Ich schlich weiter nach oben. Unter Paulines Tür war ein Streifen Licht zu sehen. Ich ging darauf zu.

 

»Wir kennen uns bereits«, sagte Schlüffer. »Es ist mir ein großes Vergnügen, Sie wiederzusehen, Mr. Stefan.«

»Ganz meinerseits, werter Herr Schlüffer, und ich freue mich auch, Captain King begrüßen zu dürfen.«

King zeigte keinerlei Regung. Ich hatte mir vorgenommen, ganz dreist aufzutreten und Schlüffer direkt zu einem Disput zu provozieren. Welche Rolle die lächelnde Pauline in dieser Runde spielte, verstand ich noch nicht so recht.

»Ich dachte eigentlich, du wärst noch in London«, sagte ich zu ihr.

»Ach, du Dummerchen«, erwiderte sie und tätschelte meine Wange. »Das war doch nur ein Scherz. Bist du wirklich darauf hereingefallen? Was möchtest du trinken?«

»Einen Grappa.«

Sie zwinkerte mir zu. »Schenkst du ihn dir selbst ein?«

Während ich zur Getränkevitrine ging, setzte sie sich wieder. »Ihr kennt euch also schon alle? Ich kenne Captain King noch von früher, Sid, er ist der Verlobte von Jeanette. Das hab’ ich dir doch erzählt, nicht? Er sucht Jeanette und ist mit Mr. Schlüffer zu mir gekommen, um zu fragen, ob ich vielleicht weiß, wo sie ist. Aber ich kann den Herren leider auch nicht weiterhelfen.« Sie nippte an ihrem Glas und ließ ein perlendes Lachen erklingen.

Ich bekam eine Gänsehaut. Diesmal allerdings nicht, weil mich Paulines Gegenwart erregte, sondern weil sie mir allmählich unheimlich wurde.

»Es macht nichts, daß Sie es nicht wissen. Ihr Freund Stefan genügt uns vollkommen«, erwiderte Schlüffer.

Ich ging in die Mitte des Raums zurück und setzte mich in den Sessel, in dem ich auch nachmittags schon gesessen hatte. »Dann schießt mal los«, sagte ich munter. »Womit kann ich euch dienen?«

Schlüffer legte die Hand auf meine Schulter. »Erzähl du dem lieben Onkel mal alles, was du weißt, und dann macht dich der liebe Onkel tot.«

Ich schlug seine Hand weg. »Finger weg, du Schwein. Faß mich ja nicht an, oder ich polier’ dir die Fresse«, sagte ich auf niederländisch.

Pauline mußte lachen. »Sid, Sid, deine Ausdrucksweise läßt schwer zu wünschen übrig«, sagte sie vorwurfsvoll.

Unterdessen hatte King sich erhoben und kam langsam auf mich zu. Schlüffer setzte sich in einen Sessel mir gegenüber, als er das sah. King blieb etwa einen Meter vor mir stehen und begann mit leiser Stimme zu sprechen. »Es wird Stunden dauern, bis du tot bist, Stefan. Ich werde dich hübsch langsam mit Kugeln spicken, da, wo du besonders empfindlich bist. Du wirst mich anflehen, dem ein Ende zu machen, aber ich werde das Schauspiel genießen und dabei an Jeanette denken.« Ein leises, fast zärtliches Lächeln spielte um seinen Mund, aber seine Augen verrieten keinerlei Regung.

»Wenn du früher an Jeanette gedacht hättest, hättest du dir die Mühe sparen können, King«, sagte ich.

Er trat noch einen Schritt näher und zog den rechten Arm an, um mir einen Punch zu verpassen. Ich war mit einer blitzschnellen Bewegung aus dem Sessel hoch und trat einen Schritt nach vorn, so daß ich direkt vor ihm stand. »Das ist jetzt nicht der Moment, sich zu schlagen, King. Wir sollten versuchen, die Sache in Ruhe zu besprechen. Das könnte durchaus auch in deinem Sinne sein.« Ich konnte riechen, daß er getrunken hatte, Campari wahrscheinlich, seinem Atem nach. Er sah auch anders aus als beim ersten Mal in der Geuzenkade. Sein Gesicht war jetzt aschfahl, und sein linkes Augenlid zitterte vor Ermüdung. Er antwortete nicht, sah mich aber unverwandt an. Sein Blick hatte immer noch diese ungeheure Kälte, die mir auch beim ersten Mal schon aufgefallen war.

»Möchte vielleicht jemand etwas essen?« fragte Pauline plötzlich munter und erhob sich.

»Setz dich, Stefan, und Sie auch, Miss, wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte Schlüffer.

Ich wandte mich ihm zu. Er hatte die große Pistole, mit der ich ihn schon mal hatte hantieren sehen, in der rechten Hand und wedelte ungeduldig damit hin und her. Ich zuckte die Achseln und ließ mich in meinen Sessel zurückfallen, und auch Pauline setzte sich wieder. Ihr Gesicht nahm zum erstenmal einen besorgten Ausdruck an. Auch King ging zu seinem Sessel zurück. Ich trank einen Schluck Grappa, der runterlief wie Feuer. »Schlüffer behauptet, ich hätte sie ermordet, stimmt’s?« sagte ich zu King.

Er antwortete nicht.

»Wenn ich mal kurz resümieren darf«, fuhr ich fort. »Ich habe mit ihr zusammengelebt, bevor sie dich kennenlernte, und danach war ich zwei Jahre im Knast. Als ich sie vor ein paar Tagen zufällig im Flugzeug wiedertraf, wollte ich mich mit ihr verabreden, aber sie lehnte ab. Da bin ich mitten in der Nacht zu ihr hin, und als sie mich zurückwies, habe ich sie umgebracht. Ich verliere nämlich schnell die Beherrschung, und wenn mich die Wut packt, weiß ich nicht mehr, was ich tue. Im Knast bin ich ja schließlich auch gewesen, weil ich in einem Anfall von Raserei jemanden erschlagen habe. Am nächsten Tag entdeckten Schlüffers Leute Jeanettes Leiche, und neben ihrer Leiche einen Strauß Rosen. Ihre Hauswirtin erzählte, daß ich der letzte gewesen sei, der sie besucht hat. So ungefähr lautet deine Geschichte, nicht wahr, Schlüffer?«

»Das ist keine Geschichte, Stefan, das ist die Wahrheit.«

Ich zündete mir eine Zigarette aus einer auf dem Tisch liegenden Schachtel an und nahm noch einen Schluck Grappa. Wieder begann ich zu glühen. Vermutlich sah ich jetzt aus wie ein errötender Jüngling.

»Mr. King, der Schein spricht natürlich gegen mich, und ich verstehe Ihre Rachegelüste vollkommen, aber ich hoffe, sie können mit deren Umsetzung noch ein ganz klein wenig warten, so daß ich Ihrem Freund Schlüffer einige Fragen stellen kann.«

»Schlüffer ist nicht mein Freund«, sagte King leise. »Geben Sie mir noch ein wenig Zeit?«

»Wieviel Zeit?«

»Zehn Minuten, eine Viertelstunde.«

»Bitte.«

»Wer sagt, daß ich ihm antworten werde?« sagte Schlüffer. »Ich«, sagte King wieder mit dieser leisen, verhaltenen Stimme.

»Erstens, Herr Schlüffer, können Sie mir sagen, was ich mit Jeanettes Leiche gemacht habe? Wie habe ich die aus dem Haus geschafft?«

»Das ist eine Frage, die du selbst beantworten mußt, junger Mann. Auch deswegen sind wir hier. Captain King möchte seiner Verlobten nämlich ein ordentliches Begräbnis geben.« Schlüffer grinste, aber sein Grinsen verriet schon ein wenig Angst, schien mir.

»Am Montag vor fünf Tagen bin ich aus Stockholm in Amsterdam gelandet. Wann sind Sie hier angekommen, Herr Schlüffer?«

»Mittwoch, im Laufe des Mittwoch.«

»Auch mit dem Flugzeug?«

»Nein, mit meinem Wagen, und mit der Fähre nach Hoek van Holland natürlich.«

»Mit Ihrem Jaguar?«

»Einen anderen Wagen habe ich nicht.«

»Ein toller Wagen übrigens. Steht er noch immer in der Geuzenkade?«

Schlüffer antwortete nicht, sondern starrte mich brütend an. Die Pistole lag auf seinem Schoß.

»Mittwoch also«, fuhr ich fort. »Wie kann es denn da sein, daß Ihr Wagen schon am Dienstag vor dem Haus von Karel van den Broek stand? Vertun Sie sich auch nicht? Sind Sie nicht vielleicht am Dienstag oder womöglich sogar schon am Montag angekommen?«

Schlüffer zählte schweigend an seinen Fingern ab: »Dienstag, ja, tatsächlich, ich bin am Dienstag angekommen.« Er lachte schuldbewußt.

»Und warum haben Sie zu Captain King gesagt, Sie seien am Mittwoch angekommen?«

»Ich habe mich vertan.«

»Warum sind Sie denn überhaupt in die Niederlande gekommen, Herr Schlüffer?«

»Weil Carlo mich am Dienstagmorgen anrief, nachdem er Jeanette gefunden hatte.«

»Warum hat Carlo denn Captain King nicht informiert? Das wäre doch logischer gewesen?«

»Weil er mir persönlich unterstellt war.«

Ich drückte meine Zigarette aus, stand auf und ging zur Getränkevitrine, um mir noch einen Grappa einzugießen. Pauline saß still in ihrem Sessel, starrte vor sich hin und reagierte nicht, als ich an ihr vorüberkam.

»King, ich habe keine Lust, mir das noch länger anzuhören«, sagte Schlüffer.

»Ruhe«, brummte King nur.

Ich drehte mich wieder um. »Jetzt werde ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Captain King. Sie brauchen mir nicht zu antworten, aber es würde schon dazu beitragen, die Situation zu erhellen.« Ich begann mich wohlzufühlen in der Rolle des allwissenden Kriminalkommissars. Der Grappa wärmte mich angenehm, und die beruhigende Gewißheit, daß Enzo und Bruno mir mit der Beretta den Rücken deckten, machte mich schon fast ein bißchen übermütig. Ich setzte mich wieder.

»Fahren Sie fort«, sagte King.

»Haben Sie Jeanette sehr geliebt?«

Er saß regungslos in seinem Sessel. Die stahlblauen Augen in dem grauen, ledrigen Gesicht sahen mich unverwandt an. »Ja«, sagte er schließlich.

»Haben Sie sie in letzter Zeit oft gesehen?«

»Ziemlich oft.«

»Das heißt?«

»Zwei-, dreimal im Monat.«

»Warum haben Sie sie nicht mit nach Japan genommen, als Sie entlassen wurden?«

Zum ersten Mal verlor er kurz die Selbstbeherrschung und zeigte Erstaunen. Auch Schlüffer rutschte unruhig in seinem Sessel herum.

»Warum nicht?« bohrte ich noch einmal nach.

»Weil ich es nicht wollte, Stefan«, antwortete Schlüffer an seiner Stelle. »Sie sind beide, pardon, Jeanette jetzt natürlich nicht mehr, in meinen Diensten. Jeanette war in Amsterdam äußerst wichtig für mich, zumal als King entlassen wurde. Ich habe ihnen daher klargemacht, daß sie besser dort auf ihrem Posten blieb. Sie haben zusammen soviel verdient, daß sie bald für den Rest ihres Lebens ausgesorgt hatten. Und im übrigen brauchte Jeanette nicht mehr lange zu arbeiten, weil ihr Vertrag auslief.«

»Stimmt, nur noch ein Jahr«, sagte ich.

»Woher wissen Sie das?« fragte King.

»Das hat sie mir selbst erzählt. Und jetzt eine sehr persönliche Frage, Captain. Hat sie Sie in der Zeit, in der Sie mit ihr zusammen waren, einmal betrogen?«

Er knirschte mit den Zähnen. Es fiel ihm offensichtlich sehr schwer, mir darauf zu antworten. »Ich glaube nicht.«

»Aber Sie sind sich nicht sicher?«

Er zog die Schultern hoch.

»Ich kann Ihnen verraten, daß Jeanette in der Zeit, in der ich mit ihr zusammen war, sehr oft fremdgegangen ist.«

Er lächelte ironisch.

»Ich erzähle Ihnen das, Captain, weil ich nicht glaube, daß Jeanette diese sporadischen Treffen zwei-, dreimal im Monat genügten.«

Sein Lächeln war blitzartig verschwunden, und sein Gesicht verfinsterte sich womöglich noch mehr. Er krampfte die Hände um die Sessellehnen.

»Sie werden mir leider abnehmen müssen, daß Jeanette nicht nur Ihnen ihre Gunst schenkte, sondern auch anderen. Mir hatte sie zum Beispiel im Flugzeug schon so halb eine gemeinsame Nacht versprochen. Das hatte aber nicht viel zu bedeuten. Ich bin davon überzeugt, daß sie Sie wirklich geliebt hat.«

King stand auf und schob die Hand in die Innentasche seiner blauen Uniformjacke. Einen Moment lang fürchtete ich, daß ich zu hoch gepokert hatte und er jetzt nicht mehr an sich halten konnte.

»Halt, King. Es ist nichts zwischen uns gewesen. Sie hatte mich zum Essen eingeladen, und ich habe mich nicht an die Einladung gehalten. Und weil ich mich nicht an die Einladung gehalten habe, habe ich zufällig entdeckt, daß sie in der Nacht, in der sie ermordet wurde, Besuch hatte.«

King setzte sich wieder, aber seine Hand blieb in der Innentasche. »Ich kann Ihnen nicht folgen, erklären Sie das genauer«, sagte er tonlos.

Ich wandte mich wieder an Schlüffer. Sein rechter Zeigefinger befand sich unangenehm nah am Abzug seiner Pistole, die jetzt auf seinem Knie ruhte. Er sah mich aus leicht vorgebeugter Haltung an, so daß sein Gesicht seltsam verzerrt wirkte. Sein Schädel glänzte fettig im gemütlichen gelben Lampenlicht. Pauline saß immer noch wie versteinert zu meiner Rechten, direkt neben King. Ich hatte den Eindruck, daß sie sich möglichst still verhielt, damit wir sie vergaßen.

»Herr Schlüffer, bei dieser Séance im Haus der van den Broeks sagten Sie doch, daß Jeanette Romeo zufolge von Carlo – ich zitiere Ihre eigenen Worte – eliminiert wurde, nicht?«

Schlüffers Augen machten eine kleine Bewegung zu King. »So ist es«, sagte er dann langsam, »aber da wußte ich auch noch nicht, wie es sich wirklich zugetragen hat.«

»Nämlich?«

»Du bist in jener Nacht bei ihr gewesen. Du hast sie erwürgt.«

Ich lachte auf. »Komischerweise hat Carlo gedacht, Romeo hätte das getan. Das hat er selbst gesagt, als er mich in der Geuzenkade fragte, wo ich das Adreßbuch gelassen hätte. Er wußte nämlich, daß Jeanette in der betreffenden Nacht ein Rendezvous mit Romeo hatte.« Mir fiel auf, daß Schlüffer schwitzte. Ein Schweißtropfen rann ihm die Nase hinab. Ich wandte mich wieder an King. »Hat Schlüffer Ihnen eigentlich je erzählt, daß Carlo im selben Flugzeug war, in dem ich Jeanette zufällig wiedergetroffen habe?«

»Nein«, murmelte er zwischen den Zähnen. Er blickte Schlüffer unverwandt an, und jeder Muskel in seinem Körper war gespannt.

»Sie haben Captain King aber viele Details verschwiegen, Herr Schlüffer, finden Sie nicht auch?«

»Ich hielt es nicht für wichtig, daß Carlo auch in dem Flugzeug war«, sagte Schlüffer. Er sprach immer leiser.

»Und daß ich ihn am Montagabend zufällig aus Jeanettes Haus kommen sah, auch nicht?«

»Nein.«

»Woher wissen Sie übrigens, daß ich ihn gesehen habe, Herr Schlüffer?« Aus dem Augenwinkel sah ich, daß King seinen Colt aus der Innentasche gezogen hatte. Schlüffer erstarrte. Sein Blick schoß zwischen King und mir hin und her.

»Von Carlo.«

»Aber Sie haben Carlo doch gar nicht mehr gesprochen, Herr Schlüffer. Ich habe Carlo doch Dienstagnacht getötet, und Sie sind erst im Laufe des Mittwoch angekommen.«

»Ich sagte doch schon, daß ich mich vertan habe.« Seine Stimme klang belegt.

Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann flüsterte King: »Du hast mir nichts davon gesagt, daß du Carlo noch gesprochen hast, Schlüffer.«

»Das ging dich ja auch nichts an. Ich führe meine Organisation, wie ich es für richtig halte.«

Die beiden Männer saßen sich starr gegenüber und ließen sich keine Sekunde aus den Augen. Beide hielten ihre Waffen auf dem Schoß. Ich spürte, daß meine Beine zu zittern angefangen hatten, und wenn ich mich nicht zusammenriß, würden mir sogar die Zähne klappern. Ich nahm schnell noch einen Schluck Grappa und zündete mir eine neue Zigarette an. Die Jazzplatte war endlich verstummt, aber der Plattenteller drehte sich noch mit leisem Summen weiter. Das war in diesem Moment das einzige Geräusch im Raum. Draußen rauschte der Wind in den Bäumen des Parks. Von Enzo und Bruno kein Mucks.

Ich nahm den Faden wieder auf. »Ich saß also am Montag in diesem Flugzeug, in dem Jeanette zufällig Stewardess war. Wir hatten einander seit drei Jahren nicht gesehen und waren beide ziemlich überrascht und ich glaube auch erfreut, als wir uns sahen. Ich saß neben einem kleinen Italiener, der mir besonders auffiel, weil er die ganze Zeit schmatzte. Das war Carlo, wie sich später herausstellte.

Jeanette lud mich ein, am nächsten Abend, Dienstagabend, zu ihr zum Essen zu kommen. Mit Carlo sprach sie nicht, und auch sonst ließ sich keiner von beiden anmerken, daß sie sich kannten. Am gleichen Abend, Montagabend, bin ich ein wenig durch die Stadt gebummelt, und weil ich nichts Besseres vorhatte, beschloß ich, zu Jeanette zu gehen, einen Tag früher als verabredet. Als ich gerade bei ihr klingeln wollte, kam jemand die Treppe herunter. Der Jemand war Carlo. Ich versteckte mich, bis er weg war, ging dann zu Jeanette nach oben und fragte sie, was sie mit Carlo habe. Sie wurde verständlicherweise ziemlich wütend und warnte mich, meine Nase nicht in Angelegenheiten zu stecken, die ich sowieso nicht verstehen würde. Und dann sagte sie noch so etwas wie: »Verzieh dich, bevor es zu spät ist.«

Ich verstand tatsächlich nichts und ging weg. Aber am nächsten Morgen, Dienstagmorgen, tat mir unser Streit leid. Ich versuchte Jeanette telefonisch zu erreichen, aber sie nahm nicht ab, und deshalb fuhr ich zu ihr raus. Als sie nicht aufmachte, klingelte ich bei ihrer Hauswirtin, die mir einiges erzählte. Jeanette war am Abend vorher, wie ich ihren Angaben entnehmen konnte, direkt nach meinem Besuch mit einem Taxi weggefahren. Ich nahm sofort an, daß sie zu Carlo gefahren war, um ihn zu informieren. Diese Annahme hat sich später bestätigt. Die Hauswirtin erzählte mir auch, daß Jeanette einen Wohnungsschlüssel unter ihrer Fußmatte liegen hatte. Von dem machte ich Gebrauch, weil ich einen Strauß Rosen für Jeanette hinterlassen wollte. So habe ich sie gefunden.

Ergänzend möchte ich noch hinzufügen, daß mir schon am Montagabend zwei Champagnergläser auf ihrem Tisch aufgefallen waren. Sie standen am Dienstagmorgen immer noch da, und im Kühlschrank entdeckte ich eine unangebrochene Flasche Champagner und Lachs und Kaviar. Ich schloß daraus, daß Jeanette Montagnacht noch Besuch erwartet hatte.

Fassen wir zusammen: Nachdem ich gegangen war, ist Jeanette mit einem Taxi zu Carlo gefahren, um ihn über mich zu informieren. Ihre Wirtin hat gehört, daß sie später in der Nacht von irgendwem nach Hause gebracht wurde, der sie nach oben begleitete und erst eine halbe Stunde später wieder ging, und daß sie dann frühmorgens das Haus verließ. Aber wir wissen ja, daß sie das Haus nicht mehr auf eigenen Beinen verlassen konnte, also ...« – ich ließ eine dramatische Pause eintreten – »also sind zwei Personen im Spiel: Die eine hat Jeanette nachts nach Hause gebracht, ist oben gewesen und wieder gegangen, die andere ist später gekommen und oben gewesen und wurde, als sie wieder ging, von der Wirtin für Jeanette gehalten. Eine der beiden Personen hat Jeanette ermordet.

Carlo dachte, Romeo wäre der Täter, denn er wußte, daß der die Nacht bei Jeanette verbringen wollte. Tut mir leid, King, aber sie hatte ein Verhältnis mit Romeo. Er hat sie sogar seinen Eltern in Mailand vorgestellt. In der darauffolgenden Nacht ist Carlo selbst umgebracht worden. Er hatte mich kidnappen lassen, weil er dachte, daß ich Jeanettes Adreßbuch an mich genommen hätte. Als er mich foltern wollte, konnte ich ihn aber überwältigen. Ich ließ ihn bewußtlos und an Händen und Füßen gefesselt zurück.

Später fand Romeo ihn tot, mit einer Kugel im Kopf, und er dachte natürlich, das wäre mein Werk gewesen, so wie ich meinerseits annahm, er hätte es getan, weil ich ja von Carlo wußte, daß er nachts bei Jeanette gewesen war.

Doch auch hier kann wieder ein Dritter im Spiel gewesen sein, nämlich der, der in der bewußten Nacht auch bei Jeanette gewesen ist. Dieser Person war vielleicht sehr damit gedient, daß Carlo ausgeschaltet war.«

Ich wollte aufstehen, um mein Glas noch einmal zu füllen, aber King sagte: »Bleib sitzen.«

Ich blieb sitzen.

»Weiter«, sagte King.

Ich erzählte weiter. »Aber von alldem wußte ich noch nichts, als ich hörte, King sei wieder im Land.«

»Von wem hast du das gehört?« fragte King.

»Von ihr.« Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf Pauline, die immer noch mucksmäuschenstill in ihrem Sessel saß.

»Ich dachte mir natürlich gleich, daß Sie gekommen waren, um Jeanette zu suchen, und ich nahm an, daß Sie in die Geuzenkade gehen würden, um mit Carlo zu sprechen. Deshalb bin ich dorthin, um Sie vor Carlo zu warnen.

Der Rest ist Ihnen beiden bekannt. Sie, King, schickten mich an Ihrer Stelle nach Laren. Sie, Schlüffer, wußten, daß King sich würde rächen wollen, und da kam ich Ihnen gerade recht. Ich paßte genau in Ihren Plan, und deshalb schalteten Sie bei der erstbesten Gelegenheit den einzigen Zeugen aus, der Ihnen noch Schwierigkeiten machen konnte: Romeo.

Denn, Schlüffer, Sie sind schon am Montag gekommen, und Sie haben Jeanette montags nachts nach Hause gebracht. Sie waren bei Carlo in der Geuzenkade, als Jeanette dort mitten in der Nacht plötzlich auftauchte. Sie haben sie in Ihrem Jaguar nach Hause gebracht, und Sie sind mit ihr nach oben gegangen.

Was dort passiert ist, müssen Sie selbst erzählen. Vielleicht wollten Sie ihr ja an die Wäsche, und sie hat sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Und dann hat sie gesagt, daß sie noch Besuch erwarte, daß Romeo jeden Augenblick kommen könne, daß der Champagner für ihn bestimmt sei. Und da haben Sie sie erwürgt und ausgezogen und ins Bett gelegt und das Foto von King zertrümmert, damit es so aussah, als hätte Romeo sie in einem Anfall von Eifersucht umgebracht.

Später kam Romeo, er war der letzte Besucher in der bewußten Nacht. Seine leichten Schritte auf der Treppe haben Frau Effimandi getäuscht. Sie hat sie für die Jeanettes gehalten.

Unterdessen sind Sie, Schlüffer, nach Laren gefahren, wo Sie in aller Seelenruhe auf Carlos erschrockenen Anruf gewartet haben. Der kam aber erst mal nicht, denn als Carlo von Romeo hörte, daß Jeanette tot sei, dachte er zuallererst an das Büchlein mit den Kontaktadressen, das ich aber inzwischen aus Jeanettes Wohnung mitgenommen hatte. Er traute sich nicht, Ihnen zu beichten, was passiert war, denn das Adreßbuch konnte Ihre ganze Organisation auffliegen lassen. Also haben er und Romeo Jeanettes Leiche im Koffer aus dem Haus gebracht und sie dann mit dem Boot von van den Broek aufs IJsselmeer rausgefahren und dort versenkt. Derweil hatte Carlo seine Leute auf mich angesetzt. Aber genau wie im Sport siegt ein totaler Anfänger oft über einen alten Hasen, und ich konnte immer wieder meinen Hals aus der Schlinge ziehen. Was mir letztlich aber doch nicht viel geholfen hat, denn jetzt sitze ich hier.

Als Carlo einfach nicht anrief, wurden Sie, Schlüffer, unruhig und sind schließlich nachts zu ihm in die Geuzenkade gefahren, wo Sie ihn gefesselt am Boden fanden. Das kam Ihnen gerade recht. Sie haben ihm eine Kugel durch den Kopf gejagt und sich wieder verdrückt. Am nächsten Tag schlug Romeo dann bei Ihnen Alarm, sagte aber nichts von dem Adreßbuch.

Das ist meine Geschichte. Und wenn sie nicht gestorben sind...« Nie den Humor vergessen, ist die Lage auch noch so brenzlig. Humor ist die sichere Grundlage für gesellschaftlichen Erfolg.

Es war lange Zeit sehr still. Dann begann Schlüffer zu sprechen. Er wirkte gefaßt und entspannt. »King, ich weiß, daß du mich nicht magst, aber du hast mir eine Menge zu verdanken und ich dir. Dieser junge Mann hier, der über eine blühende Phantasie zu verfügen scheint, hat uns eine Schilderung der Ereignisse der letzten Tage geliefert, die dem Anschein nach hieb- und stichfest ist. Und dabei beschuldigt er doch wahrhaftig mich des Mordes an deiner Verlobten, mich, für dessen Organisation sie von unschätzbarem Wert war. Das einzige, was ich seiner Geschichte im Moment entgegensetzen kann, ist mein Ehrenwort. Mein Ehrenwort als Gentleman.« Mit seinem deutschen Akzent klang es wie Dschäntelmän. »Wir sitzen uns jetzt mit geladener Pistole gegenüber. Wenn wir schießen, schießen wir gleichzeitig und sind vermutlich beide gleichzeitig tot. Ich bestreite, daß ich Jeanette ermordet habe, und ich werde dir auch beweisen, daß ich es nicht getan habe. Aber in der Zwischenzeit sollten wir die Spuren verwischen, die wir hier in Amsterdam hinterlassen haben. Rom ist uns dicht auf den Fersen, daran besteht kein Zweifel, und das kann weder dir noch mir recht sein. Daher schlage ich vor, daß wir zuallererst diesen jungen Mann hier ausschalten – das Mädchen muß im übrigen auch weg – und die Sache danach in aller Ruhe unter die Lupe nehmen.«

Wieder trat völlige Stille ein, sieht man mal von der blöden Platte ab, die sich immer noch weiterdrehte. Ich wagte mich jetzt auch nicht mehr zu rühren.

Nach einer Weile machte endlich King den Mund auf. Auch er wirkte entspannter als vorher. »Ich glaube dir genausowenig wie dem Jungen, Schlüffer. Ich glaube euch nicht, weil ich euch nicht glauben will. Jeanette ist tot, und damit ist für mich alles aus. Ich habe Jahre meines Lebens an deine Organisation verschwendet, weil ich hoffte, daß ich Jeanette und mir mit deinem Geld eine Zukunft kaufen könnte. Und das wäre mir auch beinahe gelungen. In einem Jahr hätten wir uns nach Jamaika zurückgezogen, wo wir nichts anderes mehr getan hätten, als die Sonne zu genießen und zu angeln und dabei zu vergessen, daß wir ein Leben in diesem blutigen Sumpf hinter uns haben.

Jetzt ist Jeanette tot, und mich interessiert das alles nicht mehr. Deine schleimigen Sprüche können mir genauso gestohlen bleiben wie deine ganze Organisation, und es ist mir auch egal, was aus mir wird. Ich ziehe jetzt einen Schlußstrich. Ich schie...«

Ehe er seinen Satz zu Ende bringen und den Revolver heben konnte, schlug Pauline ihm die volle Whiskeyflasche auf den Kopf. Sie tat es mit einer blitzschnellen Bewegung, so schnell, daß keiner überhaupt gesehen hatte, wie sie die Flasche vom Tisch nahm.

Man hörte etwas knacken. King saß noch einen Augenblick still in seinem Sessel, während ihm das Blut übers Gesicht zu strömen begann. Dann sackte er mit einem Seufzer in sich zusammen, sein Oberkörper knickte über seine Knie, und er glitt wie eine Stoffpuppe aus seinem Sessel. Der Revolver war ihm aus der Hand gefallen und lag vor seinen Füßen.

Es ging alles so schnell, daß ich gar keine Zeit hatte, darauf zu reagieren. Während King zu Boden glitt, stand Pauline noch hinter ihm. Sie war halb aus ihrem Sessel hochgefahren, als sie ihm die Flasche übergezogen hatte, und verharrte wie in einer Momentaufnahme mit hoch erhobener Whiskeyflasche in dieser halb aufrechten Position.

»Halt! Keine Bewegung!« schrie Schlüffer plötzlich, der aufgesprungen war und jetzt die Pistole auf sie richtete.

»Sie hat dir das Leben gerettet, Schlüffer, da solltest du gefälligst nett zu ihr sein«, sagte ich. Meine Stimme bebte und hörte sich in meinen Ohren viel zu hoch an. »Stell die Flasche hin, schnell«, zischte ich Pauline zu.

Sie ließ die Flasche blindlings in die Getränkevitrine fallen, wodurch einige andere Flaschen umkippten. Es machte einen solchen Krach, daß ich jeden Moment erwartete, die Tür würde aufgerissen und Enzo und Bruno würden mir zu Hilfe eilen. Ich machte mich so klein wie möglich und hoffte, daß mir die Kugeln über den Kopf hinwegpfeifen würden. Aber es geschah nichts. Pauline setzte sich wieder. Sie war leichenblaß und starr vor Schreck.

Schlüffer trat in die Mitte des Raums. Den Lauf seiner Pistole hielt er nach wie vor auf Pauline gerichtet, doch er wandte sich an mich. Er sprach stockend und zum ersten Mal rutschten ihm einige Brocken Deutsch heraus. »Verdammtes Arschloch! Hätte Carlo dir doch bloß gleich in die Rübe geschossen. Was interessiert mich dieses verdammte Adreßbuch. Ich brauche King und sonst niemanden!«

Ich harrte auf Enzo und Bruno, aber die kamen nicht.

»Ich hatte eine Organisation aufgebaut, die durch nichts zu erschüttern war, und dann kommst du, trampelst herum wie ein Elefant im Porzellanladen und machst alles kaputt, ohne überhaupt zu wissen, was du da kaputtmachst.« Ihm kamen wahrhaftig die Tränen, die er schnell mit der Hand wegwischte. »Okay, Stefan, ich puste dich um. Aber was bringt mir das jetzt noch? Was bringt mir das?« Er schrie diese letzten Sätze in hohem, hysterischem Ton und stampfte dabei sogar mit dem Fuß auf.

Plötzlich fiel sein Blick wieder auf Pauline, und er schlug ihr unvermittelt mit seiner Linken ins Gesicht. Sie krümmte sich vor Schmerzen. »Wer ist die da eigentlich?« fragte er. Seine Stimme klang jetzt wieder tiefer, wutschnaubend.

»Meine Verlobte!« schrie ich. Enzo, Bruno, wo bleibt ihr denn? »Hör auf, sie zu schlagen, sie hat nichts getan, sie hat dir nur geholfen. Reicht es dir denn nicht, daß du dich an dem Mädchen im Hilton vergriffen hast?«

Er sah mich verwundert an, ganz ruhig, er konnte offenbar von einem Extrem ins andere fallen, was ich schon an seiner Art zu lachen bemerkt hatte.

»Welches Mädchen im Hilton?« fragte er.

»Da... da...«, mein Mund war so ausgetrocknet, daß ich Mühe hatte, zu antworten. »Das Mädchen, von dem ihr erfahren habt, daß ich hier bin«, brachte ich schließlich heraus. Meine Stimme klang wie Sandpapier, das schon völlig verschlissen ist.

»Wir sind überhaupt nicht im Hilton gewesen. Frau Effimandi hat uns gesagt, daß du hier bist, und King kannte die hier.«

Was stimmte denn jetzt noch und was nicht? Träumte ich etwa? Hatte ich Daisy denn nicht in meinem Zimmer gefunden, und standen Enzo und Bruno nicht draußen auf dem Flur?

»Schlüffer, vor einer Stunde habe ich in meinem Zimmer im Hilton die Sekretärin von Henderson blutiggeschlagen und gefesselt auf meinem Bett vorgefunden, und sie hat mir erzählt, daß ihr das wart, daß ihr nach mir gesucht und sie gezwungen habt, euch zu sagen, wo ich bin. Und jetzt sag du mir mal, Schlüffer, wem ich glauben soll!«

Aber er hörte schon nicht mehr zu. Mit einer schnellen Bewegung war er bei Pauline und zog sie an den Haaren aus dem Sessel hoch und in die Mitte des Raums. Die Pistole hielt er unterdessen auf mich gerichtet. Offenbar hatte ihn ein erneuter Wutanfall gepackt. Mit heiserem Schrei riß er Pauline das Cocktailkleid vom Leib und schlug ihr noch einmal ins Gesicht. Sie schwankte kurz – sie war sehr schlank und zart in ihrem kurzen schwarzen Unterkleid –, fiel dann schlapp gegen ihn und sank zu Boden. Er mußte einen Schritt zurück machen, um ihr Gewicht aufzufangen. »Ein Fall ... ein Fall...«, sagte er dabei heiser.

Der Rest spielte sich in wenigen Sekunden ab, hat sich mir aber ins Gedächtnis eingegraben wie ein Film, der in extremer Zeitlupe vor mir abgespult wurde.

Während Pauline mit dem Gesicht zu Schlüffer an dessen Körper entlang zu Boden sank, sah ich, wie sie ihr linkes Knie und ihren linken Arm hochzog. Ihr Körper spannte sich wie ein Flitzbogen und schoß diese beiden Pfeile ab. Ihr Knie traf ihn in den Schritt und ihre Faust auf den Adamsapfel.

»Ein Fall...«, wollte er gerade noch einmal sagen, aber es kam nur noch ein »lllll« heraus. Er stürzte rücklings gegen die Wand, die rechte Hand mit der Pistole nach hinten gestreckt, um sich abzufangen. Pauline ließ sich zur Seite geduckt zu Boden fallen. Unterdessen fand meine rechte Hand die Eisenstange, die ich nachmittags unter dem Sessel versteckt hatte, und während Pauline noch fiel, sprang ich aus dem Sessel auf.

Ich kam mir vor wie eine gut geschmierte, rundlaufende Maschine. Es ging alles ohne mein Zutun.

Ich (er, der Sid Stefan da) schwenkte die Stange über meinem Kopf. Gerade noch hatte ich das Eisen im Lampenlicht aufblitzen sehen, da traf es schon Schlüffers Handgelenk, just als dieser den Arm hob, um zu schießen. Er brüllte wie ein Tier, ein Schuß löste sich, die Pistole schepperte zu Boden, und erneut stürzte er rücklings gegen die Wand, diesmal aber mit geschlossenen Augen und endgültig. Im selben Moment wurde auch ich meiner Körperspannung beraubt. Ich ließ die Stange los, strauchelte und fiel um wie ein nasser Sack. Ich lag auf dem Boden. Der Schuß, der schon seit einigen Sekunden verklungen war, dröhnte immer noch schwindelerregend hoch und laut in meinen Ohren. Überall um mich herum gingen Türen auf und Lichter an, überall wurden Stimmen laut.

Enzo und Bruno, endlich, dachte ich. Aber sie waren es nicht. Henderson stand in der Tür, und ich sah noch zwei Männer hinter ihm. Sie hatten große Pistolen in der Hand, und ihre Läufe waren auf mich gerichtet. Direkt vor mir lag Kings Colt. Ich nahm das schwere Ding in die Hand, und es fühlte sich federleicht an. Ich spürte, wie mein Kopf so kalt wurde wie das Metall in meiner Hand.

»Nein«, sagte meine Stimme, »nein, jetzt ist Schluß.« Ich hob den Revolver und zielte auf Henderson, doch bevor ich feuern konnte, traf mich die Whiskeyflasche am Hinterkopf, die sich Pauline unterdessen wieder geschnappt hatte, und alles um mich herum wurde schwarz und weich.