14

Völlig unerwartet tauchte die Spitfire aus der blendenden Sonne herab. Ich war total überrascht. Ich befand mich mitten auf einer weiten Heide, ohne irgendeine mögliche Deckung um mich herum, und ich tat das einzige, was mir zu tun blieb: Ich ließ mich auf den Boden fallen und richtete die Beretta auf das sich blitzschnell nähernde Flugzeug. Noch hatte es keinen Sinn zu schießen. Ich mußte warten, bis die Spitfire nur noch höchstens vierzig Meter entfernt war und ich das Gesicht des Piloten sehen konnte. Ob ich dann noch leben würde, war natürlich die Frage. Gelbe Funken sprühten aus den Bordwaffen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Das unaufhörliche Knattern des Maschinengewehrfeuers übertönte noch das Brüllen und Röhren der Motoren des im Sturzflug herabschießenden Flugzeugs. Ich öffnete die Augen und starrte an eine Zimmerdecke. Das Flugzeug war nicht mehr zu sehen. Wie hatte der Pilot es so schnell wieder hochgekriegt? Aber das Maschinengewehrfeuer ging weiter, ja kam sogar näher. Vorsichtig drehte ich mich um und sah auf einem Stuhl neben dem Sofa, auf dem ich lag, vier rasselnde Wecker. Die Zeiger standen auf halb vier. Ich streckte die Hand aus und stellte einen Wecker nach dem anderen ab. Es wurde still, so still, daß ich nur noch das Ticken der vier Uhrwerke hörte.

Eine Zeitlang blieb ich so liegen und versuchte das Zimmer zu identifizieren, in dem ich mich befand. Es stand voller Sessel und Sofas, und überall lagen Felle und Häute auf dem Boden. Es roch nach Kaffee. Da endlich dämmerte mir, daß ich mich in Paulines Dachgeschoßwohnung befinden könnte. Ich richtete mich auf und rief: »Pauline?«

Zur Antwort läutete ein Telefon, das neben dem Sofa auf dem Boden stand. Ich nahm den Hörer ab, und noch bevor ich etwas hatte sagen können, hörte ich Paulines Stimme: »Sid.«

»Ja?«

»Bist du wach?«

»Scheint so. Wie lange habe ich geschlafen?«

»Etwa vier Stunden. Du bist heute morgen um elf Uhr plötzlich hereingeschneit.«

»Bin ich zusammengeklappt oder so?«

»Total. Weißt du das denn nicht mehr?«

»Vage. Wo bist du jetzt?«

»Weißt du noch, was du zu mir gesagt hast?«

»Nicht mehr genau, nein.«

»Du hast mich doch gebeten, dich um halb vier zu wecken!« Ich war sofort hellwach. »Wo bist du jetzt?« fragte ich erneut, während ich mich aufsetzte.

»In London.« Der Intonation ihrer Stimme konnte ich nicht entnehmen, ob sie log. »Hör zu, Sid.«

»Ja?«

Sie zögerte kurz. »In der Küche steht Kaffee, du brauchst nur das Gas anzumachen. Und im Kühlschrank ist Orangensaft, und Joghurt. Wie fühlst du dich jetzt?«

»Prima, glaube ich. Ich bin noch nicht aufgestanden. Wann kommst du wieder?«

»Heute abend.«

Vielleicht sagte sie ja tatsächlich die Wahrheit. Auf den Stuhl hatte sie neben die Wecker meine Zigaretten gelegt, mit einer Schachtel Streichhölzer. Ich zündete mir eine an.

Der unangenehme Geschmack, den ich den ganzen Vormittag im Mund gehabt hatte, war weg.

»Sid?«

»Hm?«

»Ich hab’ getan, um was du mich gebeten hast.«

»Um was hab’ ich dich denn gebeten?«

»Weißt du das wirklich nicht mehr?« fragte sie hilflos. »Doch, doch...«

»Henderson..., ich habe ihn nicht angerufen.«

»Ach, Bob? Wie geht’s denn dem alten Jungen?«

»Sid...« Es hörte sich an, als würde sie gleich weinen. »Ja?«

»Hör auf.«

»Womit?«

»Sei um Himmels willen vorsichtig.«

»Womit?«

»Ich bin heute abend um zehn wieder zu Hause. Rufst du mich dann kurz an?«

»Damit du weißt, daß ich noch lebe?«

Plötzlich war sie böse. »Du hast schon einmal im Gefängnis gesessen, werter Herr Stefan, sieh zu, daß dir das nicht wieder passiert. Ich meine es ernst.«

Ich hatte ihr nicht erzählt, daß ich im Knast gewesen war, das wußte sie von Henderson. Ganz schön gerissen, der Mann, ich hatte ihm in meinem Karrierefieber mein ganzes Sündenregister gebeichtet.

Ich lachte. »Gut, Pauline, du hast ihn nicht angerufen. Ich werde versuchen, dir zu glauben. Möchtest du mir wirklich helfen?«

»Das hat nichts mit Helfen zu tun, weißt du. Ich möchte nur, daß du vorsichtig bist.«

»Kennst du einen Piloten, der van den Broek heißt?«

»Das ist zufällig der Kapitän des Flugzeugs, mit dem ich heute hin- und zurückfliege.«

»Ein großer, dünner, nervöser Mann?«

»Ja.«

»Weißt du vielleicht auch, wo er wohnt?«

»Irgendwo im Gooi, aber wo genau, weiß ich nicht.« »Vielen Dank. Vielleicht rufe ich dich heute nacht noch an.« »Sid, was immer du jetzt auch denken magst...«

»Ja?«

»Ich mag dich wirklich.«

»Be good now, baby.«

»Leb wohl.«

»Leb wohl.«

Leb wohl. Das war ja wie die Balkonszene aus Romeo und Julia! In modernisierter Kurzfassung für fortgeschrittene Fernsehzuschauer natürlich.

 

Tatsächlich stand in der Küche Kaffee auf dem Herd, im Kühlschrank waren Orangensaft und Joghurt, und ich fand auch noch eine Morgenzeitung. Während ich abwechselnd heißen Kaffee und kalten Orangensaft in mich hineinschüttete, durchblätterte ich rasch die Zeitung. Es stand nichts über unsere Schießerei in Laren drin, nichts über einen ermordeten Mann in der Geuzenkade, nichts über eine vermißte Stewardess. Wie war es nur möglich, daß in einem derart dicht besiedelten Land, wo man nicht mal auf die Straße spucken kann, ohne daß irgendwer sich darüber beschwert, und wo man schon in die Zeitung kommt, wenn man sich nur den Fuß verstaucht hat, wie war es da nur möglich, daß eine Gangsterbande ihr Unwesen treiben konnte, ohne daß irgend jemand etwas davon zu bemerken schien? Nicht, daß es mich störte, Polizei und Presse sollten mir bloß vom Leib bleiben. Aber eigenartig war es schon.

 

Um vier Uhr läutete das Telefon. Eine zögerliche Stimme fragte: »Signor Stefan?«

»Ja. Wo sind Sie jetzt?«

Sie hatten sich in einem Hotel einquartiert, das nicht weit entfernt war. Ich erklärte ihnen, wie sie zur van Eeghenstraat kamen, und erteilte ihnen die Anweisung, dreimal lange zu hupen, wenn sie unten vor der Tür standen. Dann würde ich kommen und sie holen.

Danach bereitete ich mich auf eine eventuelle Schlacht vor. In einer Küchenschublade fand ich einige große, scharfe Messer, die ich an strategischen Orten im Zimmer unter Kissen und Polstern versteckte. Auf die vielen Tischchen und Schränkchen stellte ich leere Flaschen, die im Falle eines Kampfes von Nutzen sein konnten. Der einzige Nachteil war, daß beide Parteien Gebrauch von ihnen machen konnten, aber ich hatte wiederum den psychologischen Vorteil, daß ich darauf vorbereitet war. Im Schlafzimmer, neben Paulines Bett fand ich zum Schluß noch eine schwere Eisenstange, die hinter dem Nachtkästchen versteckt war. Ich wäre nicht gern der Einbrecher gewesen, dem damit nächtens über den Kopf gestreichelt wurde. Die Stange legte ich unter den Sessel, in dem ich während des anstehenden Gesprächs zu sitzen gedachte. Zu guter Letzt kontrollierte ich das Magazin der Beretta. Es waren noch fünf Patronen darin. Eine hatte Carlo abgeschossen, und eine hatte ich auf Schlüffer verwendet. Ich mußte schleunigst sehen, daß ich an neue Munition kam, denn fünf Kugeln waren im Notfall nicht gerade viel. Ich schob das Magazin wieder an seinen Platz und steckte die Pistole ins Schulterholster.

Gleich darauf wurde unten auf der Straße dreimal lange und nachdrücklich gehupt.

 

»Dort hinauf bitte.« Ich ließ sie auf der Treppe vorangehen. Sie waren schweigend aus ihrem Wagen gestiegen und hatten mir ohne ein Wort die Hand geschüttelt. Ihre schwarzen Augen waren ausdruckslos, und sie sahen noch blasser aus als vorher. Sie hatten sich umgezogen und trugen jetzt beide einen schwarzen Anzug. Merkwürdigerweise nicht von italienischem, sondern von englischem Zuschnitt, mit sorgfältig ausgewählten Klubkrawatten und gestärkten weißen Oberhemden. Während wir so hinaufgingen, erkannte ich zum ersten Mal Übereinstimmungen der beiden mit ihrem Bruder. Sie hatten den gleichen schlanken Körperbau und die gleichen geschmeidigen, katzenhaften Bewegungen, die bei ihnen jedoch nicht weibisch wirkten, sondern eher vermuten ließen, daß sie gut trainierte Sportler waren, Fechter vielleicht oder Slalomläufer. Oben angekommen zeigte ich auf ein Sofa, das ich mir eigens für sie ausgeguckt hatte, und forderte sie auf, nebeneinander dort Platz zu nehmen. Ich selbst blieb stehen. Sie schauten sich kurz um, ohne Erstaunen zu zeigen – gesagt hatten sie noch immer kein Wort –, und folgten meiner Aufforderung. Daraufhin ging ich um das Sofa herum, stellte mich hinter sie und zog die Beretta heraus.

»Hände in den Nacken, vorbeugen und keine weitere Bewegung«, sagte ich. Sie erstarrten kurz, machten eine Vierteldrehung zueinander hin und sahen sich ernst an.

»Wird’s bald«, blaffte ich und versuchte, meine Stimme möglichst unsympathisch klingen zu lassen.

Enzo zuckte die Achseln, und sie beugten sich vor, bis ihr Kinn die Knie berührte.

»Ich werde euch jetzt durchsuchen. Bei der kleinsten Bewegung schieße ich, also rührt euch ja nicht.« Ich beugte mich über die Rückenlehne des Sofas, drückte Bruno die Pistole an den Hals und begann mit der linken Hand seine Taschen auszuleeren. Er trug weder Schulter- noch Hüftholster und hatte auch keine Pistole in einer seiner Taschen oder Socken – den Trick kannte ich ja jetzt. Danach untersuchte ich Enzo. Er war ebenfalls unbewaffnet. Sie hatten nicht einmal ein Messer bei sich. Der Tisch lag jetzt voll von dem Zeug, das ich in ihren Taschen gefunden hatte. Brieftaschen, Schlüsselbunde, Geld, Taschentücher (stark nach Lavendel duftend), Füllfederhalter, Feuerzeuge. Enzo hatte sogar eine Schachtel Gummis bei sich gehabt. Ich ging wieder um das Sofa herum, setzte mich auf den Sessel ihnen gegenüber, den Sessel, unter dem die Eisenstange lag, und sagte, daß sie sich wieder aufrichten könnten, aber ja keine verdächtigen Bewegungen machen sollten. Sie taten, was ich sagte, verschränkten die Arme vor der Brust und sahen mich mit aufeinandergepreßten Lippen, aber ansonsten ungerührt an. Ich zog die Papiere aus ihren Brieftaschen, legte die Beretta auf meinen Schoß und studierte ihre Pässe.

Sie hießen tatsächlich Enzo und Bruno Molinari. Enzo war ein Jahr älter und gerade einundzwanzig geworden, sie waren in Como geboren, wohnten jetzt in Mailand in der Via Monte Napoleone im schicksten Viertel der Stadt und studierten beide Jura.

Darüber hinaus fand ich nicht viel Besonderes. Ihre Führerscheine, die noch einmal bestätigten, was schon in ihren Pässen stand, Fahrzeugschein, der Alfa lief auf Enzos Namen. Sie hatten beide ein Foto von einem Mädchen in der Brieftasche, beides hellblonde norditalienische Schönheiten, die beide gleichermaßen überheblich blickten.

In Brunos Brieftasche entdeckte ich ein Foto, das mir etwas mehr brachte. Es war eine Gruppenaufnahme von Menschen an einem Strand, im Hintergrund erstreckte sich das Mittelmeer. In der Mitte saß ein älteres Paar in Liegestühlen. Der ältere Herr links, mit Habichtsnase und eingezogenem Bauch, hatte den gleichen reservierten Gesichtsausdruck wie Enzo und Bruno. Im Sand vor seinen Füßen saßen Enzo und Bruno und ihre beiden hochmütigen Freundinnen. Die Jungs starrten düster in die Kamera, nur den Hauch eines Lächelns um den schmalen Mund. Beide hielten die Hand ihrer Blondinen, die wirklich ausnehmend hübsch waren und in ihren Badeanzügen eine atemberaubend gute Figur machten. Die Dame neben dem alten Herrn war zweifellos die Mutter von Enzo und Bruno. Sie hatte einen Bademantel an, vielleicht um inmitten solch makelloser Jugend ihre Figur zu verhüllen, aber ihre Gesichtszüge waren ungeheuer ebenmäßig und – das Wort war in diesem Fall wohl nicht unangebracht – aristokratisch. Sie mußte in ihrer Jugend eine ausgesprochene Schönheit gewesen sein. Ihre großen, hellen Augen blickten mit spöttischem Lächeln in die Kamera. Vor ihr im Sand saß Romeo, etwas abseits von den anderen. Sein gutes Aussehen hatte er von ihr geerbt, nicht aber ihre vornehme Würde. Er hielt den Kopf leicht nach hinten geneigt und blickte unter halbgeschlossenen Lidern hervor in die Linse. Im Gegensatz zu seinen Brüdern, deren Körper zwar auch schlank, dabei aber gut gebaut und muskulös waren, hatte er eine Hühnerbrust und schmächtige Schultern. Kein Wunder, daß er einen Schlagring benutzt hatte. Unter dem Foto stand in runden Tintenlettern: LA BIODOLA, ELBA.

Ich hatte mich schwer getäuscht, als ich verächtlich gedacht hatte, Romeo stamme aus irgendeinem Kuhdorf. Das hier war unverkennbar eine reiche, vornehme norditalienische Patrizierfamilie, die sich während eines Sommerurlaubs auf dem beschaulichen Elba versammelt hatte. Das Foto rief bei mir sofort Bilder von einem großen, dunklen Haus wach, in dem es immer kühl und während der Woche sehr still ist, in dem sich am Sonntag aber die Flure mit schnatternden Kindern füllen und die Zimmer mit kichernden und schwatzenden Frauen und jungen Mädchen, während die Männer in dunklen Maßanzügen auf der Terrasse im Garten Campari schlürfen und die Börsenkurse besprechen. Zwischen den Kindern, die auf den Marmorfluren Fangen spielen, geht ein bleicher junger Pater umher, der mit frommem Gesicht sein Brevier liest. Es ist Cousin Renaldo, mit dem früher was Komisches war, worüber nicht mehr gesprochen wird. Jetzt hat er seinen Intellekt in den Dienst der Kirche gestellt, und alle sind stolz auf ihn. Enzo und Bruno, um die zehn Jahre alt, sitzen in einem Zimmer ganz oben im Haus und spielen Schach, und ihr Bruder Romeo, ein paar Jahre älter als sie, liegt auf dem Dach und schießt mit einem Katapult auf die Katzen der Umgebung.

Ich tat die Fotos zusammen mit den anderen Papieren und ihren Dokumenten in die Brieftaschen zurück, schob ihnen ihre Habseligkeiten wieder hin und ließ die Beretta im Schulterholster verschwinden.

»Verzeihen Sie, aber mit Ihrem Bruder habe ich leider unangenehme Erfahrungen gemacht.«

Sie fixierten mich mit leicht hochgezogenen Augenbrauen, und Enzo fragte: »Welche denn?«

Ich schüttelte den Kopf. »Erzählen Sie mir lieber erst, warum Sie Romeo suchen. Dann erzähle ich Ihnen, was ich weiß.«

Enzos Augen wurden schwärzer und schwärzer, und er zuckte nicht mit der Wimper, als er mit leiser, verhaltener Stimme sagte: »Warum sollten wir Ihnen etwas erzählen? Wir wissen ja nicht mal, wer Sie sind.«

Ich schob ihnen meine Zigaretten hin und fragte: »Rauchen Sie?«

»Nein, danke, nur meine eigene Marke.« Er steckte sich eine Kent zwischen die Lippen, und Bruno gab ihm mit seinem Feuerzeug, einem goldenen Dupont, Feuer. Ich hatte mir unterdessen auch eine Zigarette in den Mund gesteckt, und nach kurzem Zögern beugte er sich zu mir herüber und gab mir ebenfalls Feuer. Da sieht man doch mal, was eine gute Erziehung ausmacht. Ich sog den Rauch ein und sagte: »Gut, dann rede ich. Aber Sie müssen mich verbessern, wenn ich mich irre.« Sie blickten erstaunt. Ich schlug die Beine übereinander und lehnte mich im Sessel zurück.

»Ihr Vater ist vielleicht Arzt oder Anwalt oder besitzt eine Fabrik.«

»Eine Fabrik«, sagte Enzo mit schmalem Lächeln.

»Ihre Mutter ist wahrscheinlich adliger Herkunft.« Er nickte.

»Ihr älterer Bruder Romeo hat sich in der Schule von Anfang an schwergetan. Im Gegensatz zu Ihnen beiden, die immer zu den Klassenbesten gehörten. Außerdem war Romeo faul, bequem und frech. Ihr Vater war daher oft sehr streng zu ihm, aber Ihre Mutter hat ihn gewöhnlich in Schutz genommen. Als er um die sechzehn war, geriet er in schlechte Gesellschaft. Ihr Vater strafte ihn immer häufiger und immer härter. Was zur Folge hatte, daß Romeo kaum noch nach Hause kam.«

Enzos Lächeln wurde breiter, während Bruno, der auf mich sowieso einen – soweit überhaupt möglich – noch ernsteren Eindruck machte als sein Bruder, bis auf ein gelegentliches Blinzeln keinerlei Reaktion zeigte. Mein Italienisch, das mir zunächst, vor allem morgens bei Frau Effimandi, noch mühsam und stockend über die Lippen gekommen war, hatte sich inzwischen wieder zurückgemeldet, und ich konnte bei der Formulierung meiner Sätze aus dem vollen schöpfen. Ich spürte, daß ich ihre Aufmerksamkeit hatte und ihr anfängliches Mißtrauen und ihre durchaus verständlichen Vorbehalte abnahmen.

»Und dann kam der schwerste Schlag«, fuhr ich fort. »Er wurde beim Militär nicht in die Elitetruppe, zu den Fallschirmspringern, aufgenommen, und selbst die Marine, der einzige andere Truppenteil, in dem ein junger Mann aus gutem Hause noch seinen Dienst ableisten könnte, wollte ihn nicht haben. Er wurde schlicht und einfach der Infanterie zugeteilt. Von Offiziersausbildung war schon gar keine Rede, und das führte zum definitiven Bruch zwischen Romeo und Ihrem Vater. Oder liege ich völlig falsch?«

Enzo schüttelte den Kopf. »Sie sind in der Tat nicht so sehr weit von der Wahrheit entfernt. Eigentlich haben Sie nur ein einziges Detail ausgelassen, das auch noch von Bedeutung war.«

»Erzählen Sie.«

»Er war kurze Zeit auf einem Priesterseminar, aber auch dort wurde er hinausgeworfen. Wegen schlechten Benehmens.«

»Das dürfte vor allem Ihre Mutter schwer getroffen haben.«

»Er verlor dadurch ihre Unterstützung, auf die er immer hatte bauen können. Der endgültige Bruch mit meinem Vater kam tatsächlich, als Romeo seinen Militärdienst ableisten mußte, aber nicht, weil er – auch das stimmt – bei der Infanterie landete, denn das war meinem Vater egal, sondern weil er kurz vor der Einberufung das Land verlassen hat.«

»Aha. Kaffee?«

»Warum nicht?«

Ich erhob mich und ging in die Küche. Während ich mit der Kaffeekanne beschäftigt war, rief ich durch die offene Tür: »Und was ist dann passiert?«

Doch anstatt zu antworten, rief Enzo: »Woher haben Sie eigentlich all diese Informationen?«

»Nirgendwoher. Ich habe in meinem früheren Beruf gelernt, assoziativ zu denken. Das hilft. Zudem kenne ich Italien ziemlich gut, ich habe Romeo gesehen und jetzt Sie beide und seine Kleidung und Ihre Kleidung und das Foto von Ihren Eltern, und ich weiß, was Sie studieren und wo Sie wohnen, und aus all diesen Gegebenheiten reime ich mir eine Welt zusammen, die zu Ihnen paßt.«

»Was war denn Ihr früherer Beruf?«

»Werbetexter.«

»Und was machen Sie jetzt?« fragte Bruno.

Auf die Frage konnte ich keine Antwort geben, denn tja, was machte ich eigentlich? Ich tat also, als hätte ich ihn nicht gehört und wiederholte meine Frage: »Und was ist dann passiert?«

Enzo antwortete: »Einige Monate später schrieb er uns eine Karte aus England. Daraufhin hat mein Vater ihn über die Botschaft in London ausfindig machen lassen. Anfangs weigerte er sich zurückzukommen, aber dann war er urplötzlich doch wieder da. Er hatte in England unter schwerer Unterernährung gelitten und sich irgendeine Krankheit eingefangen. Nichts Dramatisches, er hatte sich nach ein, zwei Monaten wieder vollkommen erholt, aber es reichte, um ein für allemal ausgemustert zu werden.«

Ich ging ins Zimmer zurück. »Zucker?«

Sie nickten. »Ja, und dann ist er in die Niederlande gegangen, und so kommen wir hierher.«

»Was hatte er denn hier zu tun?«

»Geschäfte. Er hatte in England jemanden kennengelernt, der ihm einen guten Job in den Niederlanden anbot. Vater war anfangs skeptisch, aber es scheint bestens zu laufen. Er verdient gut, reist viel und kommt auch wieder regelmäßig zu uns nach Hause, weil er häufig nach Italien muß. Dadurch haben wir auch Signorina van Waveren kennengelernt. Er scheint hier überhaupt ziemlich viele Leute zu kennen.«

»Hat er sie mal mit nach Hause gebracht?«

»Sie war einmal zufällig in Mailand – sie ist Stewardess –, als er auch gerade da war, und da hat sie bei uns gegessen.«

»Ist er in sie verliebt?« Es kostete mich große Mühe, im Präsens über Romeo und Jeanette zu sprechen.

»Ach, verliebt... Er ist ziemlich flatterhaft«, sagte Bruno geringschätzig.

»Und sie? Machte sie den Eindruck, daß sie in ihn verliebt ist?«

Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte Enzo, wieder mit diesem schmalen Lächeln: »Wissen Sie, die Mädchen aus dem Norden sind anders als die Mädchen bei uns.« Damit war die Sache, Jeanette, für ihn erledigt.

»Hat er öfter jemanden mit nach Hause gebracht?« »Eigentlich nicht.«

»Doch«, unterbrach uns Bruno. »Diesen Journalisten, du weißt doch.«

»Carlo Voltini?« fragte ich.

»Genau«, riefen sie.

»Was halten Sie von dem?«

Enzo sagte nichts. Bruno machte nur angewidert: »Ugh...« »Und Romeo?« fragte ich.

»Das ist schwer zu sagen. Er ist wohl geschäftlich wichtig für ihn, deshalb muß er nett zu ihm sein. Aber Vater traut ihm nicht und hat Romeo vor ihm gewarnt.«

»Es geht also in letzter Zeit wieder besser zwischen Romeo und Ihrem Vater?«

»Viel besser. Seit er Geld verdient.«

»Und warum wollen Sie ihn jetzt besuchen?«

Enzo antwortete: »Ich habe mein Examen bestanden, und für das Geld, das ich dafür von Vater bekommen habe, habe ich mir das Auto gekauft.« Er bemühte sich, nicht allzu stolz zu blicken. »Gebraucht natürlich. Wir haben beide noch Ferien, und da wir Nordeuropa noch überhaupt nicht kennen...«

Bruno nippte derweil mit angeekeltem Gesicht an seinem Kaffee. Es war nicht ganz eindeutig, was ihm so mißfiel, Nordeuropa oder mein Kaffee. Ich erhob mich, steckte die Hände in die Taschen und ging im Zimmer auf und ab. Die beiden schwiegen, und ich wußte nicht genau, wie ich es ihnen beibringen sollte.

Bis Bruno mit eigenartiger, belegter Stimme sagte: »Na los, sag’s schon.«

Ich blieb stehen, sah sie an und sagte: »Romeo wurde erschossen.«

Sie rührten sich nicht, sahen mich mit ihren schwarzen Augen nur unverwandt an. Schließlich sagte Enzo: »Das war nicht anders zu erwarten. Wie ist es passiert?« Seine Stimme war sehr beherrscht, klang aber dennoch anders als vorher.

Ich erzählte von Beginn an, seit ich vor fünf Tagen in Amsterdam angekommen war. Ich erzählte ihnen ausführlich von Carlo, Frau Effimandi, King, Schlüffer, Herrn und Frau van den Broek. Von Henderson, Daisy und Pauline. Und von Romeo. Sie hörten mir zu, ohne sich irgendeine innere Regung anmerken zu lassen, stellten nur hin und wieder scharfe Fragen, wenn ich den Faden verloren hatte oder sie nicht aus meinem Italienisch schlau wurden. Sie schienen wirklich für eine Karriere vor Gericht prädestiniert zu sein, diese verbissenen, scharfsinnigen, unfrohen Jungs.

»Das wär’s«, sagte ich zu guter Letzt und blieb stehen. Da erst merkte ich, daß ich beim Erzählen ununterbrochen auf und ab gegangen war. Ich setzte mich wieder. Zugleich erhob sich Bruno. Er trat ans Fenster und schaute nach draußen. Eine dicke Wolkendecke hing über der Stadt und dem Park. Es war naßkalt und trotzdem drückend. Bruno stand mit seinem schmalen Rücken zu uns und zeichnete mit der rechten Hand Männchen auf die Fensterscheibe, die von außen mit Regentropfen getüpfelt war. Nach einer langen Pause sagte er: »Romeo mag ein Mistkerl gewesen sein, aber er war unser Bruder. Daß er von einem hinterhältigen deutschen Schwein über den Haufen geschossen wird, ist sicher nicht das, was Vater mit seinem ältesten Sohn im Sinn hatte.« Er verstummte und malte weiter seine Männchen auf die Scheibe. Enzo rauchte und starrte an die Decke. Ich studierte meine Fingernägel und sagte beiläufig: »Wenn ihr wollt, kann ich euch zur Polizei bringen. Aber ich komme nicht mit rein.«

Abrupt drehte Bruno sich um und sagte, ohne mich anzusehen und ohne die Zähne auseinanderzunehmen, zu seinem Bruder: »Ich schlage vor, daß wir uns mal mit diesem Schlüffer unterhalten.« Er sprach den Namen komisch aus. Enzo löste den Blick von der Zimmerdecke, und unsere Blicke kreuzten sich.

Ich räusperte mich und schnippte unnötigerweise die Asche von meiner Zigarette. »Setz dich«, forderte ich Bruno auf. Meine Stimme schnappte fast über, so aufgeregt war ich auf einmal. »Setz dich. Ich habe einen Plan.«