8
Mein erster Gedanke war vermutlich gewesen, daß ich durch sie das eine oder andere über Jeanette und King erfahren könnte, aber später war eine weit egoistischere Intention dazugekommen.
Auf der Terrasse des Americain saßen lauter frühere Bekannte. Alles Leute, denen ich eigentlich kurz guten Tag hätte sagen und mit denen ich ein paar Worte hätte wechseln müssen, wie es denn so gehe und so. Aber dazu hatte ich keine Lust. Ich tat, als würde ich niemanden sehen, und natürlich kam auch niemand von sich aus auf mich zu. Du mußt immer erst zu ihnen gehen, und tust du das nicht, lassen sie dich sofort fallen.
Sie hatte sich neben eine stark geschminkte ältere Dame gesetzt, und ein Stuhl an ihrem Tisch war noch frei. Ich beschloß, unverzüglich zur Tat zu schreiten, und besetzte den noch verbliebenen Stuhl. Die alte Dame saß zwischen uns. Sie hatte auf keinen von uns beiden reagiert, sondern beobachtete angstvoll das Verhalten eines undefinierbaren, langhaarigen Hündchens, das von einem weißen Pudel beschnüffelt wurde. Mein Verfolger war noch ein Stück weitergelaufen, blieb jetzt aber stehen. Ich konnte an seinem Rücken ablesen, daß er sich unschlüssig war, ob er sich auch auf die Terrasse setzen sollte, aber dann entschied er sich, fünfzig Meter weiter auf der Brücke über die Leidsekade Posten zu beziehen und eine Zigarette zu rauchen. Recht hatte er, fand ich, denn was hatte er in dem vollen, teuren Straßencafé verloren, und außerdem konnten wir einander so besser im Auge behalten. Meine Stewardess hatte sich derweil mit geschlossenen Augen und der Sonne entgegengerecktem Gesicht auf ihrem Stuhl zurückgelehnt und tat, als hätte sie meine Anwesenheit noch gar nicht bemerkt. Ich finde es immer ziemlich unanständig, wenn sich eine Frau in einem Straßencafé vor aller Augen in stummer, ekstatischer Anbetung mit erhobenem Gesicht der Sonne hingibt. Aber ich gab mir Mühe, meine Abneigung dieses Mal zu ignorieren, zündete mir eine Zigarette an und studierte ihr Gesicht. Dazu war ich im Flugzeug eigentlich nicht gekommen. Das komische Hündchen machte unterdessen Anstalten, den Pudel zu besteigen, und wurde von seinem Frauchen scharf zurechtgewiesen. Der Pudel gehörte, wie sich nun herausstellte, einem leicht gepuderten Herrn, der das Tier tröstend auf den Schoß nahm und ihm aus seinem Gläschen Eierlikör zu trinken gab.
Sie trug ihr glänzendes, kastanienrotes Haar in einer eng anliegenden Kurzhaarfrisur, ihr Gesicht darunter war schmal, ja fast spitz. Sie hatte einen kleinen Mund und eine wunderbar reine, zarte Haut. Wenn ich es nicht besser gewußt hätte, hätte ich sie für eine Engländerin gehalten. Sie trug einen grünen Rock und eine hellgelbe Flanellbluse, die beide sehr gut zu ihren roten Haaren und ihrem blassen Teint paßten. Ich war nicht der einzige auf der Terrasse, der sie anschaute.
Das langhaarige Hündchen war an unseren Tisch zurückgekehrt und hatte sich reuig mit gesenktem Kopf vor den Füßen seines Frauchens hingehockt. Bemerkenswert, wie sich die beiden ähnelten. Um uns herum plätscherte das übliche Geplapper. Nach einigen Minuten öffnete sie fast unmerklich die Augen und linste unter den noch halb geschlossenen Lidern zu mir herüber. Ich ging sofort zum Angriff über.
»Entschuldigen Sie, aber kann es sein, daß wir uns aus dem Flugzeug kennen?«
Sie riß die Augen sperrangelweit auf und sah mich erstaunt und zugleich erschrocken an. Wieso geben sich Frauen, die genau wissen, daß sich ein Flirt entspinnt, bloß immer so keusch und begriffsstutzig? Das ist doch reine Zeitverschwendung. Aber gut, ich wollte das Spielchen mitspielen.
»Ich bin vorgestern von Schweden nach Amsterdam geflogen und bilde mir ein, daß Sie Stewardess in dem Flugzeug waren. Da war noch eine andere Stewardess an Bord, mit der ich befreundet bin. Sie heißt ...« ich zögerte kurz, »Jeanette van Waveren.«
»Oh, Jeanette. Ja, ich bin vorgestern mit ihr geflogen, das stimmt. Ich glaube, jetzt erinnere ich mich auch wieder, haben Sie sich nicht in der Pantry mit ihr unterhalten?«
»Genau.«
Solche Gespräche verlaufen immer nach einem festen Schema. Sie tut so, als erinnerte sie sich nur vage, er, als freute er sich, daß sie sich überhaupt erinnert, und dabei wissen beide ganz genau voneinander, daß sie nur so tun als ob.
»Na, so ein Zufall«, sagte sie lachend. Sie hatte ein Lachen, wie es in antiquierten Mädchenbüchern immer als glockenhell beschrieben wird. Mir rieselte es kalt den Rücken hinunter, und das Alarmsystem in meinem Bauch begann Notsignale auszusenden.
»Zufall? Was?« fragte ich.
»Daß wir einander hier begegnen. Man hat mir im Büro übrigens gerade gesagt, daß ich einige Flüge für Jeanette übernehmen muß. Sie scheint einen Unfall gehabt zu haben.«
»Ja? Doch nichts Ernstes?«
»Ich hoffe nicht. Ein Autounfall, sagten sie im Büro. Sie liegt in einem Krankenhaus in Südlimburg, glaube ich.«
Carlo und seine Kollegen hatten wirklich an alles gedacht. Es war natürlich einer von ihnen gewesen, der im KLM-Büro angerufen hatte. Je länger sie Jeanettes Verschwinden vertuschen konnten, desto besser. In dem Moment kam der Ober.
»Darf ich Sie zu etwas einladen?« fragte ich sie.
Sie lächelte und bestellte eine Wiener Melange. Ich nahm ein Pils und bot ihr eine Zigarette an. Ihre Hände waren sehr gepflegt. Alles an ihr war sehr gepflegt. Der Italiener auf der Brücke zündete sich seine zweite Zigarette an.
Sie verstand auch was vom Rauchen. Die meisten Frauen paffen so komisch und machen, wenn sie den Rauch ausblasen, ein Froschmaul, als wollten sie nach Fliegen schnappen, aber sie sog den Rauch ein und ließ ihn dann ganz normal, langsam und stetig und ohne Nebengeräusche ausströmen. Solche Sachen gefallen mir. Sie gefiel mir überhaupt sehr. Wir plauderten ein wenig und tasteten einander vorsichtig nach einem Gesprächsthema ab, auf das wir tiefer eingehen konnten. Dabei wich sie ständig meinem Blick aus, und ich selbst hatte auch die Neigung wegzuschauen, wenn sie mich dann doch mal kurz ansah. Ihre Augen waren so blau, daß es mich jedesmal wieder kurz erschreckte. Im Flugzeug war mir das nicht aufgefallen, aber da hatte ich auch mehr auf ihre Figur geachtet.
Seit dem Moment, da ich sie angesprochen hatte, war die alte Dame, die übrigens mehr alt als Dame war, auf uns aufmerksam geworden. Sie wandte ihren blondierten Kopf mal ihr und mal mir zu und nickte dabei ermunternd. Ich versuchte, sie zu ignorieren, aber das war gar nicht so einfach, da sie ja zwischen uns saß. Auch meine schöne Stewardess ärgerte sich offensichtlich über sie. Unterdessen brachte der Ober unsere Bestellungen. Ich fragte, wie ihr die Fliegerei gefalle. Am Himmel herrschte durchaus nicht nur eitel Sonnenschein, erfuhr ich. Sie sei viel weg und bleibe nirgendwo lange genug, um etwas gut kennenzulernen. Und weil sie viel weg sei, kenne sie auch in Amsterdam eigentlich nicht viele Leute. Sie sei überall allein, und immer allein in der Fremde zu sein, sei auch nicht das Wahre. Ständig Männer hinter einem her und so. Zu letzterem gab ich lieber keinen Kommentar ab.
Die Alte zwischen uns hielt jetzt den Moment für gekommen, sich in unser Gespräch einzumischen.
»Kennen Sie Brüssel?« fragte sie mit meckernder Stimme. »Nein«, sagte ich.
»Ich meine nur, weil Sie doch so oft im Ausland sind. Im Gulden Vlies kann man wunderbar essen.«
Ich beugte mich unvermittelt zu ihr hinüber, bis mein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt war, und streckte die Zunge raus. Um uns herum wurde unterdrückt gekichert. Sie wurde trotz der dicken Schminkschicht sichtlich puterrot. Meine schöne Stewardess sah mich zuerst völlig perplex an, mußte sich dann aber auf die Lippe beißen, weil sie sonst losgelacht hätte. Das Hündchen war aufgesprungen, sträubte das Zottelfell und knurrte mich drohend an, was mich positiv an ihm überraschte. Ich legte Geld auf den Tisch und wandte mich wieder der Dame zu.
»Verzeihen Sie, aber wären Sie bitte so freundlich für mich zu bezahlen, wenn der Ober kommt?« Dann erhob ich mich, zog die Stewardess von ihrem Stuhl hoch, und ging ohne ein weiteres Wort, Hand in Hand mit ihr zum Leidseplein. Im Bogengang des Theaters blieb sie stehen und lachte sich aus. Ich wartete geduldig. So leid es mir für die alte Dame tat und so kindisch ich es von mir selbst fand, wie ich ihr mitgespielt hatte, aber konnten einen die Leute denn nicht in Ruhe lassen? Als sie sich beruhigt hatte, stellte ich mich ihr vor und lud sie ein, was mit mir trinken zu gehen. Es war schließlich fünf Uhr.
Sie hieß Pauline McCormick. Ihr Vater war Engländer gewesen und schon vor vielen Jahren in Indonesien gestorben, worauf ihre Mutter mit ihr in die Niederlande zurückgekehrt war. Während wir durch die Leidsestraat zu meinem Wagen liefen, den ich an der Prinsengracht abgestellt hatte, betrachtete ich sie von der Seite. Nach ihrem Lachanfall hatte ihre anfängliche Reserviertheit einer Art begeisterter Kameradschaftlichkeit Platz gemacht, die auch noch geknackt werden mußte. Sie erzählte mir von ihrer Kindheit in Indonesien und ging so in ihrer Geschichte auf, daß ich eine Weile nicht zuzuhören brauchte und auf den Italiener achten konnte, der auf der anderen Straßenseite mitging. Ich versuchte mir sein Gesicht einzuprägen, aber das war nicht so einfach, denn er war klein und dunkel und trug einen kurzen Regenmantel und spitze Schuhe wie ein paar Millionen anderer Italiener.
Ich sah fürs erste von meinem ursprünglichen Vorhaben, mit Carlos Organisation in Kontakt zu kommen, ab, da ich Pauline für den weitaus interessanteren Zeitvertreib hielt. Also wollte ich meinen lästigen Begleiter jetzt so schnell wie möglich los sein. Während wir ins Auto stiegen, sah ich im Seitenspiegel, wie er sich mit enttäuschter Miene das Kennzeichen notierte. Er hatte offenbar nicht genügend Geld bei sich, um uns mit einem Taxi zu folgen.
Der nächste Schritt in meiner Strategie führte uns in das Drie Flesjes. Das war eine sogenannte Probierstube in der Nähe vom Dam. Holzfußboden, Holzfässer längs der Wände, verraucht, belebt, gemütlich, ein Ort, an dem kultivierte Menschen nach einem kultivierten Tag ein Glas trinken. Aber stehen mußte man dabei.
Frauen sind, wenn man sie zum ersten Mal dorthin mitnimmt, immer schwer beeindruckt von der urigen Ausstattung, aber nach einer halben Stunde und drei Sherry, möchten sie sich gerne mal hinsetzen, und dann gehen sie meist sofort auf das Angebot ein, noch irgendwo was essen zu gehen, obwohl sie wissen, daß das unter Umständen Konsequenzen haben könnte.
Sie trank natürlich Sherry, ich einen alten Genever. Über unsere Gläser hinweg nickten wir einander zu, wobei ihre Augen wieder beunruhigend blau waren. Sie sagte, wie nett sie das Lokal finde, ich stimmte zu, Prost, der Genever tat gut, ich fing sofort an zu glühen. Sie schaute jetzt nicht mehr die ganze Zeit von mir weg, sondern hielt den Blick ganz im Gegenteil fest auf mich gerichtet und las mir die Worte von den Lippen ab. Der Sherry tat wohl auch bei ihr seine Wirkung. Umwerfend. Ich brachte das Gespräch wieder aufs Fliegen und fragte, ob sie oft mit Jeanette zusammen fliege.
Sie zögerte kurz mit ihrer Antwort. »Manchmal.« Anscheinend wollte sie nicht so gern darüber reden, vielleicht wegen Jeanettes angeblichem Unfall, und so ging ich nicht weiter darauf ein und wechselte das Thema. Sie erwies sich als sehr belesen. Ich hatte bisher noch keine Frau kennengelernt, die sowohl Thomas Mann als auch Ernst von Salomon gelesen hatte, aber Heinrich Mann doch besser fand, obgleich Tender is the Night von Scott Fitzgerald in ihrem Leben eine genauso große Rolle gespielt hatte wie in meinem. Sie war früher in Dick Diver verliebt gewesen, ich in Nicole. Wir tauschten uns über den rätselhaften Tommy aus, den Nicole am Ende heiratet; sie hatte eine höchst interessante Theorie zu ihm. Eine Stunde später nahm sie ohne Zögern meine Einladung an, zusammen essen zu gehen, und das nicht, wie ich jetzt hoffte, weil sie gern mal sitzen, sondern weil sie wirklich noch gerne mit mir zusammensein wollte.
Als Restaurant hatte ich das Hofje für uns ausgewählt. Es gehörte damals zu der Handvoll Restaurants in Amsterdam, die auch im Ausland aufgefallen wären. Es war klein und intim und dank einer raffinierten indirekten Beleuchtung und vielen Kerzen in funkelnden Lichterglanz getaucht. Ein prachtvoller alter Fliesenboden und unverputztes Mauerwerk sorgten trotz der engen Räumlichkeiten für relative Kühle. Aus einer unsichtbaren Anlage strömte leise Barockmusik in den Raum, was ich hier komischerweise nicht als störend empfand, obwohl ich derlei Beschallung normalerweise auf den Tod nicht leiden kann. Der Weinkeller des Hofje gehörte zu den fünf besten in Amsterdam, die Bedienung war schnell und unaufdringlich, und die Küche war nicht schlecht. Ein perfektes Ambiente, um eine Verführung in die Wege zu leiten.
Pauline war entzückt. Wir bekamen einen Tisch in einer ruhigen Ecke. Sie bat mich, das Menü zusammenzustellen, da sie die Küche nicht kenne, und ich fühlte mich durch ihr Vertrauen in meinen kulinarischen Geschmack sehr geschmeichelt. Ich hoffte nur, daß die Qualität der Küche in den letzten drei Jahren nicht nachgelassen hatte.
Wir begannen mit zwei knochentrockenen Martinis. Eine Weile nippten wir schweigend an unseren Gläsern. Während ich mir eine Zigarette anzündete, sah ich, daß die vielen Kerzen im Restaurant ebenso viele Sternchen in ihren Augen bildeten, und schon war da wieder dieses nervöse Gefühl im Bauch. Ein Gefühl, das ich nur zu gut kannte und das ich möglichst bald beheben mußte. Aber zuerst hatte ich noch einige geschäftliche Dinge mit ihr zu besprechen.
»Hast du King eigentlich gekannt?« fragte ich unvermittelt.
Ihre Reaktion war eigenartig. Sie erstarrte kurz und sah mich durchdringend und nachdenklich an. Während sie mit Entschiedenheit ihre Zigarette im Aschenbecher ausdrückte, sagte sie: »Bist du in Jeanette verliebt?«
»Wieso?«
»Antworte mir einfach.« Ihre Stimme hatte einen scharfen Unterton bekommen, der mich verwunderte.
»Nein, ich bin nicht in sie verliebt. Wenn du es genau wissen willst, ich war früher mal mit ihr zusammen. Aber das ist schon Jahre her. Warum fragst du?«
Es dauerte lange, bis sie antwortete. Sie starrte auf ihren Teller, spielte mit ihrem Messer und lächelte vage. Schließlich hob sie den Kopf und sah mich fest an. »Because I don’t want to cut in.«
Mein erster Gedanke war, daß man ihrer Aussprache tatsächlich den englischen Vater anhören konnte. Dann erst drang die Bedeutung dessen, was sie gesagt hatte, zu mir durch. »Das tust du auch nicht.«
Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Ich erschrak, weil ich dachte, daß sie gehen wollte, aber sie sagte: »Ich kenne dich jetzt seit fast drei Stunden, Sid Stefan, und ich mag dich sehr.«
Auf so was fällt mir nie eine passende Antwort ein. Ich ließ den Blick über ihren Kopf hinweg schweifen und trank den letzten Tropfen aus meinem längst geleerten Glas. Sie schlug die Augen nieder, drehte ihr Glas zwischen den Fingern hin und her und lächelte nach wie vor dieses eigenartige Lächeln. Zum Glück wurde gerade die Vorspeise gebracht. Ich hatte einen großen Teller Antipasti bestellt, die, wie sich zeigte, alle meine Erwartungen erfüllten.
»Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Kanntest du King?«
»Ja, sehr gut. Tut mir leid, ich dachte, du fragst mich das, weil du eifersüchtig bist.«
»Auf wen?«
»Auf King. Du weißt doch sicher, daß sie mit ihm liiert war, oder?«
»Ich hab’ so was läuten hören. Ist er verheiratet?«
»Nicht, daß ich wüßte. Er hat bis zu seinem Weggang mit Jeanette zusammengelebt.«
»Wo?«
»Das weiß ich wirklich nicht. Irgendwo in Amsterdam-West.«
Ich nickte – Mr. und Mrs. King, Geuzenkade Nummer soundso – und fragte weiter. »Warum ist er weggegangen?«
»Keine Ahnung. Er war plötzlich verschwunden. Jeanette war anfangs total fertig. Sie wollte auch nicht mehr dort wohnen bleiben und ist in den Herman Heijermansweg gezogen. Aber sie treffen sich noch regelmäßig.«
»In Japan?«
Sie sah mich verblüfft an. »Woher weißt du, daß er in Japan lebt?«
»Ist doch jetzt nicht wichtig.«
Sie bekam wieder diesen durchdringenden Blick, legte Messer und Gabel auf ihren Teller und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. »Du weißt eine ganze Menge, Sid.«
»Wie meinst du das?«
»Du weißt zum Beispiel genau, in welche Art Lokal und in welche Art Restaurant du mich ausführen mußt.«
»Wieso? Warum?«
»Um mich auszuhorchen.«
»Entschuldige, Pauline, aber ich verstehe überhaupt nicht, wovon du sprichst.«
»Ich habe schon die ganze Zeit das Gefühl, daß du über mich irgend etwas in Erfahrung bringen willst. Es war überhaupt kein Zufall, daß du mich in dem Straßencafé wiedererkannt hast. Du bist mir gefolgt und hast dich mit Absicht neben mich gesetzt.«
Ich atmete erleichtert auf. Sie hatte wahrscheinlich mit demselben nervösen Kribbeln zu kämpfen wie ich, wollte dem aber nicht gleich nachgeben und ging daher erst noch zum Angriff über. Frauen wollen immer gern in Würde die Segel streichen.
»Natürlich bin ich dir gefolgt, und natürlich habe ich mich mit Absicht neben dich gesetzt, und natürlich wollte ich etwas über dich in Erfahrung bringen.«
»Ach ja, und was?« fragte sie feindselig.
»Wie du heißt und ob du mit mir essen gehen möchtest.« »Und weiter?« Sie wollte noch nicht gleich aufgeben. »Was willst du sonst noch wissen?«
Ich mußte lachen. »Das frage ich normalerweise nicht so direkt.«
Sie errötete, nahm Messer und Gabel und fing an zu essen. Der Ober kam mit dem Wein und schenkte ein Tröpfchen in mein Glas, das ich der Etikette nach kosten mußte. Ein Ritual, bei dem ich mir immer albern vorkomme. Ich nickte ihm zu, der Wein war wirklich vorzüglich. Als er weg war, fuhr ich fort: »Ich hab’ dich nur nach King gefragt, weil ich ihn nie gesehen habe. Weißt du, ich habe drei Jahre im Ausland gelebt und Jeanette die ganze Zeit nicht mehr gesehen.«
Sie schaute von ihrem Teller auf. »Entschuldige, Sid, so hatte ich das nicht gemeint.«
Was meinte sie denn jetzt wieder damit? Sie tat ja, als wären wir schon seit Jahren miteinander verlobt.
»Natürlich kann ich dir von King erzählen. Er war sehr charmant, weißt du. So ein rauher, amerikanischer Charme. Alle Mädchen bei uns waren ganz verrückt nach ihm. Aber Jeanette hat ihn sich schließlich geangelt. Er schien sie auch wirklich zu lieben, und soweit ich weiß, haben sie nie Probleme gehabt, obwohl er bestimmt nicht einfach war. Er hatte viel mitgemacht, und ich glaube, daß er im Grunde alle Menschen haßte. Er ist im Krieg Jagdflieger gewesen und ein paarmal abgeschossen worden, konnte aber jedesmal entkommen. Er wollte nie darüber reden, aber man erzählte sich die wildesten Geschichten über ihn.«
»Warum wurde er entlassen?«
»Das weiß niemand. Er war plötzlich weg, von einem Tag auf den andern. Jeanette hat auch nie darüber gesprochen.«
»Warum ist sie nicht mit ihm gegangen, wenn sie ihn so geliebt hat?«
»Das hat auch keiner verstanden, aber sie wollte partout nicht darüber reden.«
»Du sagtest vorhin, daß sie sich noch regelmäßig treffen. Wo?«
»Überall auf der Welt. Er fliegt für eine japanische Gesellschaft rund um den Globus und Jeanette natürlich auch, und ich nehme an, daß sie sich immer über ihre Flüge auf dem laufenden halten. Jedenfalls bin ich ihnen mal in New York und mal in Lissabon begegnet. Sie wirkten noch sehr verliebt.«
Das Stroganoff wurde serviert, butterzart und mit einer delikaten Ingwersoße. Ich brachte das Gespräch wieder auf Bücher und auf Pferde und auf Bücher über Pferde. Sie war nämlich passionierte Reiterin und hatte früher sogar ihr eigenes Pferd besessen. Dazu Vivaldis Oboenkonzert im Hintergrund, ein Glas schweren Chambertin in der Hand und ihre glänzenden blauen Augen mir gegenüber – die perfekte Kombination.
Wir bekamen noch Eis und Käse und Obst, und sie erzählte unterdessen, wobei sie ihre langen, schlanken Hände illustrierend hin und her bewegte und der Ausdruck ihrer Augen von Minute zu Minute variierte, mal schaute sie fragend, mal lachend oder betrübt oder böse, in getreuer Widerspiegelung dessen, was sie erzählte. Ich lehnte mich derweil auf meinem Stuhl zurück, nickte hin und wieder beipflichtend, paffte eine Zigarette nach der anderen und fühlte mich doch wahrhaftig ganz ruhig und zufrieden. King, Jeanette, Carlo, Romeo – wer war das eigentlich? Und Frau Effimandi – hatte die auch was damit zu tun? Und die zwei Gorillas in der Kneipe und der kleine Italiener, der mir gefolgt war... Sie alle waren für eine Weile vergessen.
Wir beschlossen, den Kaffee irgendwo anders zu trinken. Als wir uns auf den Ausgang zubewegten, sah ich, daß sie jemanden grüßte. Es war ein junger Amerikaner, ein geschniegelter Collegetyp.
Er nickte Pauline kühl zu und ließ den Blick gleichermaßen kühl über mich hinweg wandern. Ich gab ihm mit meinem Blick zu verstehen, daß ich ihn zum Kotzen fand, und er nahm rasch wieder die Unterhaltung mit einem dunkelhaarigen Mädchen in schwarzem Kleid mit weißem Dekolleté auf.
»Wer war das?« fragte ich sie, auf dem Weg zu meinem Wagen, sofort bereit, eifersüchtig zu sein.
»Ein Passagier«, antwortete sie, »er fliegt unheimlich oft, ich sehe ihn mehrmals im Monat. Und die meisten anderen Stewardessen kennen ihn auch, das will schon was heißen.«
»Wo möchtest du Kaffee trinken?« fragte ich, während ich den Motor anließ.
»Wie wär’s bei mir zu Hause?« antwortete sie lässig.
Das war natürlich genau das, worauf ich gehofft hatte, aber ich versuchte meinerseits möglichst beiläufig zu tun. »Gute Idee.«
Sie wohnte in der Van Eeghenstraat, in einem dieser zugigen alten Kästen am Vondelpark. Auf der Gummimatte vor der Haustür stand eine Flasche Milch, mit der Abendzeitung daneben. Ich bückte mich, um die Zeitung aufzuheben.
»Die Flasche kannst du auch gleich mitnehmen, ist alles für mich«, sagte Pauline. Während wir die Treppe hinaufgingen, erzählte sie, daß das Haus früher einem Onkel von ihr gehört habe, der es dann unter der Bedingung an eine Firma verkauft hatte, daß sie im Dachgeschoß wohnen bleiben durfte. Sie hatte also ihr Reich für sich, bekam die Leute von der Firma nie zu sehen und war nach Feierabend ganz allein im Haus. Als sie den Schlüssel ins Schloß der Wohnungstür steckte, entschuldigte sie sich noch, daß es nicht besonders groß sei.
Sie hatte im gesamten Dachgeschoß, das aus diversen Zimmerchen und Abstellkammern bestanden hatte, Zwischenwände herausreißen lassen, so daß ein eigenwilliger Raum voller Ecken und Nischen entstanden war, den sie mit bequemen Sofas und Sesseln vollgestellt hatte, die mit den verschiedensten Fellen und Häuten bedeckt waren. Hier lag ein Kapital an Pelzen. Ich sah Tiger- und Leopardenfelle und auf dem Fußboden Bärenfelle.
Sie sah meinen verblüfften Blick und sagte verlegen: »Mein Onkel war Großwildjäger, und die Felle hat er mir alle geschenkt, als er hier ausgezogen ist. Findest du es häßlich?«
Im Gegenteil, ich hatte selten einen so chaotisch eingerichteten und dabei so gemütlichen Raum gesehen. Er war überdies mit Tischchen und Schränkchen gespickt, auf denen wiederum allerlei Vasen und sonstige Sachen standen.
»Alles Souvenirs aus dem Ausland«, sagte sie mit einer achtlosen Gebärde, »das ist ein Vorteil meines Berufs. Meine ganze Sammlung und alle meine Kleider stammen aus dem Ausland. Ich bringe auch immer etwas zum Essen und Trinken mit, das man hier nicht bekommt. Apropos Trinken, möchtest du zuerst einen Kaffee?«
Zuerst, sagte sie. »Gern.«
Sie ging auf eine Tür zu. »Ich setze den Kaffee auf und lauf noch mal schnell nach unten, dem Milchmann einen Zettel hinlegen. Mach es dir bequem, ich bin gleich wieder da.«
Als sie weg war, schaute ich mich noch einmal genauer um und sah, daß das, was sie ihre Sammlung genannt hatte, eine ziemlich große Kollektion Jugendstilporzellan war. Und an den Wänden hingen eine Menge Lithografien, Zeichnungen und Drucke, unter anderem von Beardsley. Sie war mit Sicherheit eine Ausnahmeerscheinung unter ihren Kolleginnen.
Ein großes, geöffnetes Fenster auf der anderen Seite des Raums bot Ausblick auf den Vondelpark. Das Mondlicht lag wie Pulverschnee über dem stillen Park und ließ einen Ententeich wie einen beschlagenen Spiegel aussehen. Der Schein einer Fahrradlampe irrlichterte durch die Dunkelheit wie ein Glühwürmchen. Ich schauderte. Der Herbst wurde fühlbar. Ich schloß das Fenster, setzte mich und schlug die Zeitung auf. Im Knast hatte ich noch hin und wieder eine Zeitung in die Hände bekommen, aber in Spanien und Schweden hatte ich überhaupt nicht mehr Zeitung gelesen. Ich versuchte, dem politischen Kommentar zu folgen, begriff aber wenig. Sogar einige Politikernamen hatte ich noch nie gehört. Halb lesend, halb an Pauline denkend, träumte ich ein wenig vor mich hin, bis die Tür aufging und sie mit einem Tablett hereinkam. Sie hatte nicht nur Kaffee gekocht – in einem ConaKaffeebereiter aus Glas –, sondern sich auch umgezogen. In ihrem bis auf den Boden fallenden Hausmantel aus schimmerndem Samt, der mit ineinanderfließenden roten und ockerfarbenen Blumen bedruckt war, sah sie aus, als sei sie geradewegs einem von Beardsleys Schmachtfetzen entstiegen. Sie stellte das Tablett mit dem Cona vor mich auf den Tisch.
»Möchtest du vielleicht etwas Stärkeres dazu?« fragte sie, während sie den Kaffee einschenkte.
»Immer.«
»Ach, hol dir einfach selbst, was du magst.« Sie zeigte auf eine Holzvitrine, die eine Reihe feiner Tropfen enthielt, puertoricanischen Rum, irischen Whiskey, echten Sliwowitz, polnischen Kontuschowka, Grappa... Sie schien sich auszukennen.
»Du scheinst dich auszukennen«, sagte ich, während ich zur Grappaflasche griff und den Korken herauszog.
Sie hatte unterdessen den Kaffee eingeschenkt. »Zucker?« »Nein, danke.«
»Ich frage immer die Piloten nach der Spezialität des Landes, in dem wir gerade sind, und das kaufe ich dann. Trinken tue ich es nie.«
»Wieso kaufst du es dann?«
Sie fummelte erst noch am Cona herum, bevor sie antwortete, hob dann den Kopf und sah mich unschuldig an. »Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß eines Tages jemand kommt, der es zu schätzen weiß. Keine Milch?«
»Nein, danke.« Meine Stimme war heiser vor Erregung. Ich kippte das Glas Grappa in einem Zug hinunter. Es war wie kochendes Blei, aber köstliches Blei.
»Leg doch bitte eine Platte auf, Sid.«
»Was möchtest du hören?«
»Wozu du Lust hast.«
Der Plattenspieler stand auf einem Tischchen hinter dem Sofa, auf dem sie saß. Um richtig heranzukommen, mußte ich mich kurz auf ihre Schulter stützen – zumindest tat ich das. Die Berührung löste eine Art Stromstoß aus, der meinen Arm hinauffuhr und mich ganz schwindlig machte. Ich beugte mich über den Plattenspieler, und meine Hand wanderte ihren Rücken hinunter. Oben auf dem Plattenstapel lag eine Aufnahme von einem schottischen Dudelsackkorps. Mit zitternden Händen legte ich sie auf. Gleichzeitig ließ sich Pauline rücklings in meine Arme gleiten.
Die Dudelsäcke brachen in schrille Ekstase aus. Romantisch ist diese Musik wahrlich nicht, aber ich verstehe jetzt, warum sie früher oft bei Feldschlachten gespielt wurde.