15
Eine Stunde später wurde der Himmel plötzlich dunkelbraun, und unversehens fiel ein Sturm über den Park her. Dicke Wolken aus roten und gelben Blättern wirbelten mit Staub und Abfällen vermischt über die Wege, und auf den schlammigen Teichen tanzten Schaumkronen. Ich stand am Fenster, sog ungeduldig an meiner Zigarette und trank mehr oder weniger gedankenlos mein drittes Glas Sliwowitz. Die Flasche stand vor mir auf der Fensterbank, neben einem Aschenbecher, in dem sich die Reste eines Viertelpäckchens Zigaretten häuften.
Endlich läutete das Telefon. Ich hatte so gespannt auf das erlösende Signal gewartet, daß ich erschrak, als es endlich ertönte.
»Ja?«
»Sid, hier Enzo.«
»Ja?«
»Es ist genauso gelaufen, wie du gesagt hast. Wir sind überall gewesen, und jetzt werden wir verfolgt.«
»Sehr gut. Erzähl mal genau, was passiert ist.«
»Wir sind also in die Espressobar gegangen, die du uns genannt hast. Da waren tatsächlich lauter Landsleute, und wir haben das Mädchen an der Theke gefragt, ob sie vielleicht einen Carlo Voltini kennt. Sie sagte nein und fragte einen Gast, ob er uns vielleicht weiterhelfen könne. Der sagte, er kenne ihn auch nicht, und darauf haben wir noch jemanden gefragt, und binnen einer Minute wußte das ganze Café, daß wir Carlo Voltini suchten. Aber keiner konnte uns weiterhelfen. Anschließend sind wir in die Espressobar gegenüber gegangen und haben genau das gleiche gemacht, und als auch da niemand Carlo kannte, haben wir gefragt, ob sie dann vielleicht Romeo kannten und wüßten, wo er wohnt. Auch dort konnte uns keiner weiterhelfen. Da sind wir in das dritte Café gegangen, um die Ecke, genau wie du es beschrieben hattest. Aber inzwischen wurden wir schon verfolgt.«
»Von wem?«
»Erzähl’ ich dir gleich. Als wir in dem zweiten Café waren, kam ein Anruf aus dem ersten, unsertwegen. Das vermuten wir zumindest, denn der Mann, der ans Telefon ging, schaute ganz komisch zu uns rüber, als er wieder auflegte. Im dritten Café fragten wir wieder nach Carlo und Romeo, und als uns niemand weiterhelfen konnte, fragte Bruno nach Enrico Pisicini. Keiner wußte etwas und keiner sagte etwas. Allmählich wurde es uns unheimlich, daß sie uns immer nur alle stumm anstarrten, und da sind wir in den Imbiß gegangen, den du uns genannt hattest, auf dem großen Platz.«
»Wer hat euch verfolgt?«
»Zwei kleine, breite, bullige Kerle. Sahen aus wie Affen. Italiener.«
»Ah, die. Das dürften dieselben gewesen sein, mit denen ich es zu tun hatte. Hör zu, steht euer Wagen da, wo ich gesagt habe?«
»Ja.«
»Dann geht jetzt ganz langsam dorthin. Gebt ihnen reichlich Gelegenheit, euch zu folgen. Wenn ihr beim Wagen seid, studiert erst mal ausführlich den Stadtplan, so daß sie genügend Zeit haben, sich ein Taxi zu nehmen oder ihren eigenen Wagen zu holen, und kommt dann mit dem Wagen hierher. Ich stehe bis dahin mit meinem VW draußen bereit. Geht nach oben und schaut durchs Schlafzimmerfenster auf die Straße runter. Wenn ihr seht, daß ich wegfahre, kommt ihr so schnell wie möglich runter und folgt mir mit dem Alfa. Aber haltet einen Sicherheitsabstand ein, denn sie dürfen nichts wittern. Solange der VW nicht fährt, verhaltet ihr euch da oben auch ruhig.«
»Sorgt dafür, daß sie euch nicht verlieren.«
»Bis gleich.«
Ich ging sofort nach unten, parkte den Käfer strategisch hinter einem großen amerikanischen Schlitten, so daß ich nicht allzu sichtbar war, und wartete. Es hatte unterdessen angefangen zu regnen. Dicke Tropfen klatschten aus der Wolkensuppe herab. Heftige Böen pfiffen durch die Straßen und peitschten das Wasser der Pfützen auf. Herbst in Amsterdam. Zugegeben, die Stadt ist dann schön. Schöner denn je. Aber so trübselig. Alle beklagen sich darüber, daß es einfach nicht Sommer werden wollte und jetzt schon wieder der Winter naht, der im Gegensatz zum Sommer nie ausbleibt. Alle hasten schlechtgelaunt durch die Straßen, in ihren viel zu dicken, lästigen Mänteln und Pullovern und Unterhemden und langen Unterhosen, mit ihren zwei Paar Socken an den Füßen, ihren Ohrenwärmern, Wollkrawatten und Mützen.
Nach zwei Wochen stetigem Regen sind die Gesichter wieder blaß und die Nasen rot, die Augen tränen, und die Küsse schmecken nach Lebertran. Aus den Häusern dünstet der durchdringende Geruch von Sauerkraut mit Speck, Grünkohl mit Grützwurst, Eintopf mit Kochfleisch, kurz, fettem, schwerem Essen, denn jetzt wird nicht gekleckert, sondern geklotzt. Ein ganzes Volk schwingt sich zu sechs Monaten Verdauungsstörungen und Übergewicht auf, sechs trägen Monaten in zu stark geheizten Räumen, sechs Monaten mit Grippe- und Erkältungsepidemien.
Während ich im Käfer wartete, dachte ich an meinen Winter in Spanien. An die Steinhütte am Meer, in der ich gewohnt hatte, an das Holzfeuer im offenen Kamin, für das ich jeden Tag am Strand Treibholz sammelte. An den Glühwein, den ich abends trank, und an jenen ersten Morgen im Februar, als ich wieder im Meer baden konnte. Und ich dachte an all die anderen Länder rund ums Mittelmeer, wo der Winter nur ein kurzfristiges Übel ist, das die Menschen fluchend und improvisiert durchstehen, und wo noch nie einer von geheizten Schlafzimmern oder gar elektrischen Heizdecken gehört hat.
Nach zehn Minuten kam der Alfa um die Ecke und hielt auf der anderen Straßenseite. Enzo und Bruno stiegen aus, klappten die Kragen ihrer makellos weißen Regenmäntel hoch und zeigten mit großen Gebärden auf das Haus. DAS MUSS DAS HAUS SEIN, spielten sie. Fünfzig Meter weiter hielt ein alter, grauer Opel. Enzo und Bruno trödelten noch ein bißchen herum, verglichen die Adresse mit dem, was sie vermeintlich auf einem Zettel notiert hatten, und gingen dann hinein. Fünf Minuten lang tat sich nichts. Ich sah nur Bruno oben vorsichtig aus dem Fenster spähen. Dann stieg ein Mann aus dem Opel. Es war tatsächlich einer dieser Gorillas, die ich in der Espressobar gesehen hatte. Er zögerte kurz vor dem Eingang, schaute sich um und ging hinein.
Ich wartete. Nach einer Minute kam er wieder heraus. Bestimmt hatte ihn das International Trade N.V. verwirrt. Er ging zum Opel zurück, beugte sich durch das geöffnete Seitenfenster hinein und besprach sich mit dem Mann am Steuer. Danach stellte er sich in den Eingang eines der Nachbarhäuser. Er zündete sich eine Zigarette an, vergrub die Hände in den Taschen und schaute mit finsterem Blick zum Himmel auf, als hätte er sich vor dem Regen untergestellt und befürchtete noch heftigere Schauer. Mich hatte er noch immer nicht gesehen, was dumm von ihm war, denn mein Wagen stand keine zehn Meter von ihm entfernt. Eine halbe Minute später fuhr der Opel langsam weg. Der Mann am Steuer grüßte seinen Komplizen mit lascher Gebärde. Als er zirka fünfzig Meter vor mir war, startete ich meinen Käfer und fuhr ihm nach.
Ich hatte Glück, er fuhr die Van Eeghenstraat hinunter, ohne in eine Seitenstraße abzubiegen, und als er die Van Baerlestraat erreichte, sah ich schon den Alfa in meinem Rückspiegel.
Es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich jemanden mit dem Auto verfolgte, und es erwies sich als gar nicht so leicht. Zweimal verlor ich ihn aus den Augen, fand ihn aber beide Male gerade noch rechtzeitig wieder. Hinzu kam aber noch, daß er mich nicht bemerken durfte, und das war weit schwieriger. Ich ließ mich hin und wieder von anderen VW Käfern überholen – die zum Glück reichlich vertreten waren –, was mich hoffentlich ein wenig tarnte. Es regnete inzwischen auch stärker, was mir Deckung verschaffte, aber auch meine Sicht behinderte.
Wir fuhren quer durch die Innenstadt. Da der Feierabendverkehr gerade seinen Höhepunkt erreicht hatte, ging es nicht sonderlich schnell voran. Schließlich kamen wir beim Hauptbahnhof heraus. Der Opel fuhr rechts davon unter der Eisenbahnbrücke hindurch und bog dann nach rechts ab, so daß wir jetzt die Gleise zur Rechten hatten und zur Linken das Hafenbecken. Auf unserer Seite war der Hafen für die Binnenschiffe, auf der anderen lagen die Ozeanriesen in den Docks und an den Kais. Dahinter erhob sich ein dichter, grauer Wald aus Kränen.
Die braunen Wolken hingen tief über den großen Schiffen, und der Wind trieb Schaumkronen über das Wasser des IJsselmeers. Erneut bogen wir nach rechts ab, wieder unter einer Eisenbahnbrücke hindurch, und danach gleich wieder nach links. »Dijksgracht« besagte ein Straßenschild. Der Gleisdamm lag jetzt links von uns, darüber ragten hoch die Spitzen der Hafenkräne hinaus. Rechter Hand erstreckte sich ein Kanal voller Hausboote. Am anderen Ufer lagen zwei plumpe, graue Marineschiffe wie tote Fische im Regen. Das eine war ein abgedanktes Kanonenboot mit zweifellos ruhmreicher Vergangenheit, das andere ein merkwürdig rundliches Schiff aus noch früherer Zeit, das nicht sonderlich seetüchtig aussah. Unnützerweise standen auf beiden Schiffen Matrosen an Bord und hielten Wache. Der Opel fuhr jetzt viel schneller, denn hier war nur wenig Verkehr. Ich hatte mich hinter einen LKW geklemmt, und es genügte, hin und wieder kurz nach links rüberzuschwenken, um den Opel im Auge zu behalten. Enzo und Bruno fuhren hinter mir und zwinkerten mir ab und zu mit ihrer Lichthupe zu. Am Ende der Dijksgracht fuhr der Opel ein weiteres Mal unter einer Eisenbahnbrücke hindurch und bog dann nach rechts in die Piet Heinkade ein.
Hier war der richtige Hafen. Hier befanden sich die großen Lagerschuppen und Umschlagplätze der Reedereien. Links der Straße stand ein großes Kühlhaus, völlig fensterlos und auch äußerlich sehr kühl, und ein Stück weiter weg war eine Gastwirtschaft mit einem Parkplatz davor, auf dem riesige Lastwagen standen. Fleischtransporter wahrscheinlich, die ins Ausland fuhren. Hinter der Gastwirtschaft war ein Lagerschuppen, hinter dem ein großes Frachtschiff liegen mußte, denn man sah über dem Dach des Schuppens gelbgestrichene Bordkräne in die trüben Wolken aufragen.
Der Opel bremste ab und bog auf den Parkplatz ein. Ich nahm sofort den Fuß vom Gas, fuhr aber zunächst noch langsam ein Stückchen weiter. Der Opel parkte neben einem großen Lastwagen, und der Mann stieg aus und ging auf die Gastwirtschaft zu. »Am Binnenhafen« stand über dem Eingang des quadratischen Baus, der sich inmitten all der fensterlosen Gebäude trist und deplaziert ausnahm.
Neben dem Lokal war eine Tankstelle, bei der ich wendete. Dabei fiel mein Blick auf ein Türmchen ein paar hundert Meter weiter, das mir bekannt vorkam. Es erhob sich auf dem Dach eines monströsen Gebäudes, das ich zwar nur zweimal in meinem Leben gesehen hatte, aber wohl nie mehr vergessen würde. Es war die Dachkuppel des Lloyd Hotel, früher ein Hotel der gleichnamigen Reederei, inzwischen Strafanstalt. Und in dieser Funktion hatte ich es kennengelernt. Ich hätte nicht erwartet, es je im Leben wiedersehen zu müssen, aber der Zufall hatte es, wie man so schön sagt, anders gewollt.
Als ich dort eingesperrt gewesen war, hatte ich nichts von der Umgebung zu sehen bekommen und nicht genau gewußt, in welcher Ecke der Stadt ich mich eigentlich befand. Aber die Geräusche, die ich dort hörte, würde ich nie vergessen. Das scharfe Rattern der Züge auf dem Bahndamm, das melancholische nächtliche Tuten der Schiffe im Hafen, das Ächzen der Lastwagen am Kai, das Kreischen von Kränen – das war die Konzertmusik, die nach wie vor meine Alpträume begleitete.
Ich fuhr zu dem Parkplatz zurück und stellte den Wagen hinter einem Laster ab. Neben mir kam der Alfa geräuschlos zum Stehen. Bruno öffnete das Seitenfenster. »Was jetzt?«
»Bleibt ihr im Wagen, ich schau mich mal um.«
Ich stieg aus und ging um den Lastwagen herum. Die Gastwirtschaft war hell erleuchtet, so daß ich gut hineinschauen konnte. Es war proppenvoll. So wie man sich in der Innenstadt nach der Arbeit noch auf ein Gläschen Wein traf, trank man hier im Hafen sein Bier. Hafenarbeiter sind Biertrinker. Meinen Italiener sah ich nicht gleich, bis er plötzlich aus einer Telefonkabine kam und auf den einzigen noch freien Tisch zuging. Er machte ein besorgtes Gesicht. Ein Ober brachte ihm eine Flasche Bier.
Ich ging zum Alfa zurück. »Er hat jemanden angerufen, auf den er jetzt wohl wartet. Sobald der da ist, geh’ ich rein und rede mit ihnen. Wenn ihr euch dort hinter den LKW stellt, könnt ihr uns drinnen sehen. Wenn ihr seht, daß irgendwas schiefläuft, kommt ihr natürlich sofort rein, aber wenn sie sich ruhig verhalten, wartet ihr noch fünf Minuten. Geht dann an die Theke und trinkt ein Bier. Das soll nur dazu dienen, sie einzuschüchtern, versteht ihr, sie sollen merken, daß wir schlauer sind als sie.«
»Okay.« Sie stiegen aus, und wir gingen zu dem Lastwagen. Durch die Lücke zwischen Zugmaschine und Aufleger konnten wir geradewegs ins Lokal hineinschauen, während wir selbst in Deckung blieben.
Ich hatte keinen Mantel an und fröstelte. Die Brüder hatten sich fest in ihre Regenmäntel gehüllt und spähten zum Lokal hinüber. Ihre schwarzen Augen fixierten den Mann aus dem Opel. Ich fragte mich, was sie wohl dachten. Der steife Wind blies uns den Regen ins Gesicht. Er schmeckte nach Öl und Holz. Der Lastwagen, hinter den wir uns duckten, kam, wie ich sah, aus Wien. »Wien 1, Fleischmarkt«, stand darauf. Komisch, daß die eigentlichen Zentren des Lebens einer Stadt immer an deren Peripherie liegen. Die Häfen, die Im- und Exportunternehmen, die Bahngleise, Flughäfen – sie sind das Herz und die Nieren, die Leber und die Blase der Großstädte. Die City, die Innenstadt, ist das Gehirn. Aber gerade das macht eine Stadt so verletzlich. Man brenne die Außenbezirke nieder, und die Stadt wird zur gestrandeten Qualle.
Nach einigen Minuten näherten sich zwei Männer auf Fahrrädern. Sie trugen Overalls und Gummistiefel. Sie stiegen ab, stellten ihre Fahrräder in einen Ständer vor der Gastwirtschaft und gingen hinein. Wir sahen sie direkt auf den Mann aus dem Opel zulaufen. Er schaute auf und nickte ihnen zu. Sie setzten sich und fingen gleich an zu reden.
»Dann geh ich jetzt mal«, sagte ich zu den Brüdern. »Denkt dran, genau fünf Minuten, dann kann ich das timen.«
»Viel Erfolg.«
Ich ging auf das Lokal zu, holte tief Luft und öffnete die Tür. Drinnen roch es nach Männern und Zigarren, und es wurde totenstill, als ich eintrat. Alle verstummten und sahen mich an. In meinem sandfarbenen Kordanzug und meinem braunen Kaschmirpullover wirkte ich natürlich auch völlig fehl am Platz. Alle anderen waren Hafenarbeiter und LKW-Fahrer, die den Freitagabend begossen. Direkt neben der Tür saß ein Grüppchen Surinamer, die ihre Unterhaltung mittendrin abbrachen und mich aus ihren gelben Augen verdutzt anstarrten. Nicht anders die hinter ihnen sitzenden LKW-Fahrer mit ihren verwitterten Gesichtern, zusammengekniffenen Augen und großen Nasen.
»He, Lulatsch!« schrie einer von ihnen, als er mich sah. Ich ignorierte ihn, schloß die Tür hinter mir und ging zu dem Mann aus dem Opel. Ein Stuhl an seinem Tisch war noch frei, und ich setzte mich. Er hatte sich halb erhoben und stützte sich mit seinen Pranken auf dem Tisch ab. Seine kleinen Augen waren blutunterlaufen, als hätte er ein paar Nächte lang durchgesoffen oder eine kaputte Leber. Seine Nase war groß und rot wie eine Tomate, was in die gleiche Richtung deutete. Er trug einen zerknitterten grauen Anzug, der an den massigen Schultern spannte, und seine violette Krawatte war schlampig geknotet. Die beiden anderen waren unscheinbare Hansel mit alten, verfrorenen Gesichtern und leerem Blick. »Verzieh dich«, sagte der Gorilla.
»Setz dich«, erwiderte ich, »ich will nur mit dir reden.«
»Ich gebe dir zehn Sekunden, wenn du dann nicht weg bist, hau ich dir den Stuhl über den Kopf.«
»Das würde ich an deiner Stelle nicht tun, denn ich habe noch fünf Kugeln in meiner Pistole, und die puste ich dir allesamt in den dicken Wanst, wenn du Mätzchen machst. Das garantiere ich dir. Also setz dich.« Ich legte die rechte Hand auf die Brust, dort, wo die Beretta steckte.
Wir hatten beide leise, mit verhaltener Stimme gesprochen, als befänden wir uns in einem Krankenhaus. Die beiden anderen schwiegen und rührten sich nicht. Der Gorilla blieb stehen. Seine Pranken umklammerten die Tischplatte, als wollte er ein Stück davon abbrechen. Ich fing an zu zählen: »Eins, zwei, drei, vier...«
Er setzte sich. Der Geräuschpegel um uns herum stieg wieder an. Ich gehörte offenbar zu den Italienern, also wurde ich akzeptiert.
»Hör mal, Dicker, wieso habt ihr die beiden Jungs verfolgt, du und dein Kumpan?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Und wieso fährst du danach in den Hafen und besprichst dich mit denen hier?«
»Ich kann reden, mit wem ich will.«
»Wovor hast du Angst, Dicker?« Ich sah ihn grinsend an.
Er bemühte sich, das mit einem höhnischen Gesichtsaus–
druck zu parieren. In seinen Mundwinkeln war Bierschaum. Ein mürrischer, stoppelbärtiger Typ, der den Kellner machte,
kam zu uns an den Tisch. »Ja?« fragte er.
»Ein Pils.«
Er schlurfte wieder weg. Das Stimmengewirr um uns herum schwoll zu allgemeinem Geschrei an. An mehreren Tischen wurde Skat gespielt und entsprechend laut gestritten.
»Ich habe keine Angst.«
»Und ob du Angst hast. Du fürchtest, daß nach Carlo und Romeo und Pisicini jetzt du dran bist. Und dabei habe ich noch zwei andere Jungs ausgelassen, deren Namen ich nicht kenne.«
»Den mit dem Geschwür über dem Auge und seinen Begleiter.«
Er sah mich nur düster an.
»Wer ist das, Ettore?« fragte einer der beiden Hansel.
»Ich weiß es nicht. Kommst du aus Rom oder was?« fuhr er an mich gewandt fort.
»Hör zu, Ettore«, sagte ich ungeduldig, »du kommst hier nicht mehr raus, denn das Gebäude ist umstellt. Mich anzugreifen hat auch keinen Sinn, denn dann knall’ ich dich ab. Ich will dich nur ein paar Dinge fragen, und danach darfst du mir auch ein paar Fragen stellen. In Ordnung?«
Er zuckte die Achseln. »Schieß los.«
»Du und die da«, ich zeigte auf die beiden anderen, »und Pisicini und die ganzen Toten, ihr habt alle für Carlo gearbeitet, stimmt’s?«
»Scheint so.«
»Und danach für Romeo.«
»Romeo...«, sagte er mit spöttischem Lachen und zog wieder die Schultern hoch.
»Für wen noch?«
»Für niemanden.«
»Je von einem gehört, der Schlüffer heißt?«
»Nein.«
»Von einem King?«
»Wir haben nur für Carlo gearbeitet, kapiert.«
»Für wen arbeitest du denn dann jetzt?«
Er brauste auf. »Mann, denk doch mal nach. Für niemanden mehr. Es ist doch keiner mehr da.«
Das war es also. Der Kopf war tot, und die Gruppe war führungslos.
»Worin bestand denn eure Arbeit?«
»Ich dachte, du wüßtest soviel, du Grünschnabel.«
»Erzähl.«
»Na ja, Geld einkassieren. Kontrollieren, ob wer neu in der Stadt war. Auch mal wem ’ne Abreibung verpassen, der nicht bezahlen wollte. Aber das kam so gut wie nie vor. Sind alles anständige, vorsichtige Jungs hier in Amsterdam. Wir konnten eigentlich eine ruhige Kugel schieben, bis neulich...«
Er verstummte und zündete sich mit unwirscher Gebärde eine Zigarette an, hielt aber plötzlich inne und starrte zur Tür. Die beiden anderen folgten seinem Blick. Ich schaute auf die Uhr. Die fünf Minuten waren um, Enzo und Bruno waren hereingekommen.
Als er sich wieder mir zuwandte, klang seine Stimme fast kläglich. »Ich verstehe das einfach nicht mehr. Ich verstehe überhaupt nichts mehr.«
Der Kellner stellte derweil eine Flasche Bier vor mich hin. »Fünfzig Cent.«
Ich bezahlte, ohne ihn anzusehen. Ich hasse unhöfliche Kellner. »Ich erklär’ dir das dann schon alles, Ettore, erzähl einfach weiter. Was war neulich?« Ich winkte den Kellner zurück. »Bringen Sie noch drei Bier für die Herren hier.«
»Herren?« sagte der Typ, während er sich entfernte.
Ettore seufzte betrübt. »Carlo rief an. Wir sollten auf der Stelle zu ihm kommen. Mein Bruder – er wartet noch irgendwo in der Stadt auf die da«, er zeigte auf Enzo und Bruno – »...und ich. Gut. Wir sollten eine bleischwere Kiste für Carlo nach unten tragen. Die haben wir ins Auto gestellt und sind dann zu dritt aus der Stadt raus. Mein Bruder ist gefahren. Wir sind zu dem Haus...«
»Welchem Haus?« unterbrach ich ihn.
»Irgendwo im Wald. Mit dem Auto könnte ich hinfinden. Ein Mann kommt raus und steigt zu uns ein.«
»Ein großer, dünner Holländer?«
»Genau. Wir fahren ans Meer. Aber nicht richtig offenes Meer, eher so was wie ein riesiger See.«
»Das IJsselmeer.«
»Vielleicht. Dieser Holländer hatte da ein Motorboot. Wir haben die Kiste aufs Boot gebracht, er hat den Motor angeworfen und ist selbst wieder ausgestiegen. Carlo ist aufs Wasser rausgefahren, ganz weit, und wir haben die Kiste versenkt. Dann sind wir wieder zurück und haben den Mann nach Hause gebracht. Was das alles sollte, haben wir nicht gefragt, mein Bruder und ich, man stellt nun mal keine Fragen. Aber komisch fanden wir’s schon, und wir haben uns nicht gut dabei gefühlt.«
Der Kellner brachte das Bier, ich bezahlte, und wir prosteten einander zu. Die beiden Hansel nickten höflich und blickten besorgt auf Ettore.
»Weiter.«
Ettore starrte in Gedanken versunken auf den Tisch. Über seinen ungesund aussehenden Augen wucherten mächtige Augenbrauen, die nahtlos in sein Haupthaar überzugehen schienen. Das trug sehr zu seinem affenartigen Äußeren bei. Ein Affe, dem man das Sprechen beigebracht hatte.
»Weiter, Ettore«, drängte ich ihn noch einmal.
Er trank einen Schluck und wischte sich diesmal den Schaum aus den Mundwinkeln. »Als wir wieder in Amsterdam waren, haben wir uns mit Carlo vor dem kleinen Hotel an der Gracht postiert. Fünf Stunden lang haben wir da im Auto gehockt, wir hatten total steife Knochen. Mitten in der Nacht bist du dann endlich gekommen. Du warst betrunken, erinnerst du dich? Ich hab’ dir mit dem Totschläger eine übergezogen, und dann haben wir dich ins Auto verfrachtet und zu Carlo gebracht. Dort haben wir dich noch mit Handschellen gefesselt, und dann hat Carlo gesagt, daß wir abziehen könnten. Haben wir gemacht, aber ich hatte da schon so ein Vorgefühl, daß irgendwas nicht stimmte, denn mit Holländern hatten wir noch nie was am Hut gehabt.«
»Wieso?«
»Na ja, wir haben hier nur die Italiener im Auge zu behalten, sonst nichts. Wenn einer aufmuckt, verpassen wir ihm einen Denkzettel. Aber die Holländer gehen uns nichts an.«
Jetzt war mir alles klar. Er gehörte also zu einer Gangsterbande, die die italienische Kolonie in Amsterdam terrorisierte. Alle italienischen Gastarbeiter in Amsterdam, anständige, ruhige Jungs, wie er selbst gesagt hatte, mußten einen gewissen Betrag an Carlo und Konsorten abgeben. Eine Art Cosa Nostra im kleinen. Oder... war sie wirklich so klein?«
»Weiter.«
»Am nächsten Tag sitz ich mit meinem Bruder im Café, und wen sehen wir da? Dich, und du tust, als wenn überhaupt nichts wäre. Wir rufen bei Carlo an. Romeo ist am Apparat, und wir erzählen ihm, daß du im Café sitzt, und da sagt er: ›Laßt ihn nicht aus den Augen, er hat Carlo umgelegt.‹ Also hab’ ich Pietro angerufen«, er zeigte auf den einen der beiden Hansel, der bescheiden lächelte. »Ich wußte, daß er gerade in einem anderen Café in der Nähe war, und er ist dir dann gefolgt. Wir setzen lieber nicht zu viele Leute auf eine Sache an, das erregt nur Aufsehen. Pietro gab dann durch, daß du dich in ein Straßencafé gesetzt und mit ’ner Tussi unterhalten hast. Und dann bist du plötzlich aufgestanden und in ein Auto gestiegen, und Pietro hat dich verloren. Ich also wieder Romeo angerufen, der war natürlich stinksauer. Wir seien zu nichts zu gebrauchen, meinte er, und daß er lieber mit Augusto und Carlo Domini arbeite. Aber wir sollten Kontakt halten.«
»Wer sind die?«
»Augusto ist der mit dem Geschwür. Wir arbeiten immer zu zweit, weißt du. Ich zum Beispiel mit meinem Bruder. Pietro und Marcello hier, und so weiter. Na, Romeo war also zum Chef aufgestiegen, und wir taten, was er sagte, obwohl es uns nicht sonderlich behagte. Inzwischen wußte die ganze Stadt, daß Carlo tot war. Wer das rumposaunt hat, weiß der Teufel. Gut, gestern habe ich den ganzen Tag rumtelefoniert, aber keiner ging ran.«
»Wo rumtelefoniert?«
»Bei unseren Kontaktadressen natürlich. Als wir heute morgen immer noch niemanden erreicht hatten, sind wir zu dem Haus gegangen, in dem Carlo gewohnt hat.«
»War das eine der Kontaktadressen?«
»Was dachtest du denn? Na, und da stand dieses Auto vor der Tür...«
»Welches Auto?«
»Dieser Jaguar, den hatten wir auch schon bei dem Haus im Wald stehen gesehen, als wir die Kiste weggebracht haben. Das gefiel uns ganz und gar nicht. Wir gingen nach oben und fanden Pisicini. Mausetot und total zu Brei geschlagen. Schrecklich... «, er schauderte. »Sonst war kein Schwein da. Aber auf der Fußmatte fanden wir die Schlüssel vom Jaguar. Wir also hin zu dem Wagen, aber als wir die Einschußlöcher darin gesehen haben, sind wir schleunigst abgehauen. Daß irgendwas nicht koscher war, hatten wir längst begriffen, wir wußten nur noch nicht was. Wir sind dann zu dem Haus im Wald gefahren, vielleicht konnte uns da jemand sagen, was los war. Wir mußten ein bißchen suchen, aber wir haben es wiedergefunden. Nur war niemand da. Und es muß dort ganz schön hoch hergegangen sein.«
»Wieso?«
»Einschüsse in der Hauswand, kaputte Fensterscheiben, demolierte Möbel, Blut. Da war uns klar, daß Schluß ist. Wir hatten jedenfalls keinen Bock mehr. Wir sind dann nach Amsterdam zurückgefahren, um die anderen zu warnen, daß sie besser auch die Fliege machen, bevor die Polizei anrückt. Und da hören wir in der Espressobar, daß zwei Italiener nach Carlo suchen und jetzt im Café gegenüber sind. Wir hin, und tatsächlich erkundigen sie sich nach Carlo und Romeo. Wir trauten unseren Ohren nicht. Wir sind ihnen dann gefolgt. Im nächsten Café fragen sie nach Pisicini. Pisicini! Wir sind an ihnen drangeblieben, und ich habe meinen Bruder bei dem Haus zurückgelassen, in das sie zum Schluß reingegangen sind, um hierher zu fahren und den anderen Bescheid zu geben, und jetzt kommst erst du hier hereinspaziert und dann die beiden.« Während der letzten Sätze war seine Stimme immer empörter geworden, und jetzt beendete er seine Erzählung damit, daß er hilflos die Hände hob und sie mit dumpfem Schlag auf den Tisch fallen ließ.
Es wurde wieder einen Moment still im Lokal. Vielleicht dachte man, wir würden uns jetzt prügeln. Weit gefehlt. Ich klopfte Ettore freundschaftlich auf die Schulter. »Vielen Dank, Ettore, du hast mir sehr viel weitergeholfen. Und jetzt sag’ ich dir was: Pisicini war einer von den Jungs aus Rom.«
Er sah mich wie vom Donner gerührt an, schüttelte langsam und ungläubig seinen Quadratschädel und fragte die beiden Hansel: »Versteht ihr das? Hättet ihr das je für möglich gehalten? Der brave Pisicini, wer hätte das gedacht? Aber eines kapier’ ich nicht«, er beugte sich wieder zu mir hin, »wieso interessieren sich die Amerikaner so für uns? Wir haben doch gar nichts mit O und H zu tun! Ich weiß nicht mal, wie das Zeug aussieht!«
O war Opium und H Heroin, das war mir schon klar. »Tja...«, sagte ich kryptisch.
»Arbeitest du nun für Rom oder nicht?«
»Absolut nicht.«
»Was hast du denn dann mit der ganzen Sache zu schaffen?« »Eigentlich gar nichts. Ich habe mich nicht freiwillig eingemischt. Carlo hat mich da reingezogen.«
Ettore seufzte tief. »Ich verstehe gar nichts mehr! Aber es wird wohl so sein.«
»Laß dir einen Rat geben, Ettore: Sieh zu, daß du so schnell wie möglich das Land verläßt. Die Jungs aus Rom sind euch schon auf den Fersen.«
Er schaute auf seine Uhr und lächelte. In seinen Augen schimmerte schon fast so etwas wie Seligkeit, als er sagte: »In drei Stunden sind wir über die Grenze, in achtzehn in Italien, in anderthalb Tagen auf Sizilien. Bei Mama.«
Ich stand auf. »Und den Winter kann man in diesem Land ohnehin vergessen. Oder, Ettore?«
»Viel zu kalt und viel zu naß.« Er erhob sich ebenfalls, und die anderen beiden mit ihm. Er schüttelte mir die Hand und zerquetschte mir dabei fast die Finger.
»Grazie.«
»Arrivederci, Ettore.« Ich nickte den anderen zu und wandte mich ab. Am Tresen standen Enzo und Bruno und schauten an die Decke.
»Kommt, wir gehen.« Sie machten sofort einen Schwenk und folgten mir. An der Tür sah ich mich noch einmal um. Ettore hatte sich wieder gesetzt und winkte mir herzlich zu. Ich nickte und öffnete die Tür. Nach dem Mief und dem Rauch im Lokal traf uns der Regen draußen wie ein Faustschlag ins Gesicht.