5
Irgendwer hatte das Bett gemacht und die Vorhänge aufgezogen. Und meine Rosen waren weg. Hinter mir hörte ich jemanden die Treppe heraufpoltern. Es war Frau Effimandi. Sie hatte eine giftig bunt geblümte Plastikschürze um und eine rosa Duschhaube auf und schleppte ein großes Aufgebot an Eimern, Putzmitteln, Besen, Wischtüchern und sonstiger Ausrüstung an.
Es war mir egal, daß sie mich in Jeanettes Apartment erwischte, denn ich hatte sie das eine und andere zu fragen. Aber ehe ich dazu kam, legte sie los. »Heißen Sie Stefan?« fragte sie keuchend und ächzend, während sie mühsam die letzten Stufen nahm.
Ich war nicht mal erstaunt. »So ist es.«
»Jeanettes Schwager fragte, ob Sie noch einmal hier gewesen seien. Jeanette ist weg.«
»Das sehe ich.« Ich war mir nicht sicher, welche Jeanette sie meinte, die tote oder die lebende.
Sie setzte ihre Siebensachen ab und zog ohne Kommentar den Wohnungsschlüssel aus dem Schloß, um ihn in ihrer Schürzentasche verschwinden zu lassen.
»Es scheint, daß es ihr nicht gutgeht, deshalb ist sie heute in aller Frühe weggefahren. Sie bleibt eine Woche irgendwo draußen in einer Pension. Ihr Schwager hat Kleidung und ein paar andere Dinge geholt.«
»War er allein?«
»Nein, sein Freund war dabei.« Sie betrat das Apartment und brachte die Eimer in die Kochnische im hinteren Zimmer. Ich folgte ihr mit dem Rest ihrer Ausrüstung.
»Dann haben sie wohl einen großen Koffer mitgenommen, was?« fragte ich und bemühte mich, meine Stimme möglichst unschuldig klingen zu lassen.
»Ich weiß nicht, ich war einkaufen. Als ich zurückkam, fuhr sein Freund gerade weg.« Sie drehte den Wasserhahn auf und ließ einen der Eimer vollaufen.
»Mit was für einem Auto?«
»So einem grauen Lieferwagen, Sie wissen schon.«
»Ist sein Freund denn allein weggefahren?«
»Ja. Ihr Schwager war mit seinem eigenen Wagen hier, so einem modernen, und wir haben uns noch kurz unterhalten. Er wollte ein paar Dinge wissen.«
»Über mich?«
»Er fragte, ob ein Herr Stefan für Jeanette da gewesen sei. Ich sagte nein. Dann hat er Sie beschrieben.«
»Wie?«
»Na, Sie sind aber eitel! Groß und blond, dunkle Augen, gutaussehend.«
»Was haben Sie darauf geantwortet?«
»Daß Sie hier gewesen sind natürlich.« Sie antwortete mir zwar, aber ihre Stimme hatte einen unwilligen Unterton, und sie wich ständig meinem Blick aus.
Jeanette war also tatsächlich in der Nacht noch weggegangen, um diesen Italiener zu benachrichtigen. Sie hatte ihm sogar meinen Namen gesagt, was nicht sehr nett von ihr war, wo wir doch so gute alte Freunde gewesen waren. Andererseits hatte ich natürlich keine Ahnung, unter welchem Druck sie womöglich gestanden und mit was für Typen sie zu tun gehabt hatte. Unangenehmen offenbar. Und die wußten nun durch Frau Effimandi und meine Rosen, daß ich Jeanettes Leiche gesehen hatte.
»Er bat mich, ihr Apartment zu putzen. Sie hat sich Gedanken gemacht, weil sie vor ihrer Abreise nicht mehr richtig aufräumen konnte. Und da will er sie damit überraschen, wenn sie wiederkommt.«
»Er liebt sie wohl sehr, was?«
»Kann sein.«
»Ob er ihr Liebhaber ist?«
»Bestimmt nicht.«
Das erinnerte mich wieder an das zerdepperte Porträtfoto. Ich schaute mich um, sah es aber nirgendwo mehr. Offenbar hatten sie das auch mitgenommen.
»Wer ist denn eigentlich dieser verbannte König, von dem Sie sprachen?« fragte ich.
Sie blickte sofort auf das Regal über dem Bett, zeigte aber keinerlei Reaktion, als sie bemerkte, daß das Bild verschwunden war. Ihre Eimer waren unterdessen gefüllt. Sie tat Putzmittel hinein und begann, die Küche aufzuwischen.
»Putzfrauen sind heutzutage nicht mehr zu bezahlen«, sagte sie, anstatt meine Frage zu beantworten. Ich begriff, daß mir damit die Tür gewiesen wurde, aber ich versuchte es noch mit einer letzten Frage.
»Hat Jeanette eine Adresse hinterlassen?«
»Nein. Ihr Schwager kommt ihre Post holen.«
»Hat der denn eine Adresse? Wie heißt er eigentlich?« »Weiß ich nicht. Ich weiß gar nichts.«
»Also in einer Woche ist sie wieder zurück?«
»Hat er gesagt.« Sie machte sich wie wild daran, die in meinen Augen blitzblanke Spüle zu schrubben, und würdigte mich keines Blickes mehr. Ich murmelte noch so was wie »auf Wiedersehen«, aber darauf reagierte sie schon nicht mehr. Der Schwager hatte sie natürlich gebeten, das Apartment zu putzen, damit alle Spuren und Fingerabdrücke beseitigt wurden. Mir war das nur recht, denn so wurden auch die letzten Spuren von meiner Anwesenheit hier aus der Welt geschafft. Es war schon dumm genug, daß Frau Effimandi jetzt meinen Namen kannte und ihn mit Sicherheit auch der Polizei weitergeben würde. Aber ich konnte meinen Besuch ja leicht erklären.
Eines stand fest: Ich würde nicht zur Polizei gehen. Jeanette war tot, und ich hoffte, daß man ihren Mörder finden würde. Aber es mußte schon eine ganze Menge mehr passieren, bevor ich mich noch mal in den Dienst der Polizei stellte.
Der alte Herr an der Rezeption unterhielt sich gerade mit anderen Gästen und gab mir meinen Zimmerschlüssel, ohne sein Gespräch zu unterbrechen. Der Fahrstuhl ächzte und stöhnte wieder, als sei dies seine letzte Reise nach oben, und ich beschloß, von jetzt an lieber die Treppe zu nehmen. Ich öffnete die Tür zu meinem Zimmer.
Es sah aus wie ein Schlachtfeld. Alle meine Sachen waren aus den Schränken und Koffern gerissen und auf den Boden geworfen worden. Aus den Koffern hatte man das Futter herausgeschnitten, das Bett war verrückt, die Matratze lag auf dem Boden, und sogar den Teppich hatte man aufgerollt. Ich schloß die Tür hinter mir, setzte mich auf die Bettkante und zündete mir eine Zigarette an.
Sie, wer auch immer das sein mochte, hatten alles durchwühlt, ohne sich darum zu scheren, daß es für mich sichtbar war. Ja, es hatte sogar den Anschein, als sei diese Verwüstung Absicht. Eine Art Drohgebärde. Wenn das eine Kriegserklärung sein sollte, war sie ziemlich läppisch, aber sie verfehlte dennoch nicht ihre Wirkung, denn wer sich an meinen Sachen verging, verging sich an mir.
Das Telefon läutete, es war der alte Herr von der Rezeption. »Ah, Herr Stefan, ich hatte vergessen zu sagen, daß jemand für sie hier war.«
»So? Wer denn?«
»Ihr Freund aus Italien.«
»Haben Sie seine Nachricht nicht gefunden?«
»Nein.«
»Merkwürdig. Er fragte mich noch nach Ihrer Zimmernummer.«
»Ja, schon gut. Hat er seinen Namen hinterlassen?«
»Er hat sich hier ein Zimmer genommen, da muß er sich eingetragen haben, einen Moment bitte.« Als er sich einige Sekunden später wieder meldete, klang er verwundert. »Nein, er hat sich noch nicht eingetragen, wie ich sehe. Ach, jetzt fällt es mir wieder ein, es war gerade soviel los, und da wollte er lieber später noch einmal kommen. Er ist jetzt ausgegangen, aber heute abend wird er wohl wieder da sein.«
»Das denke ich auch. Vielen Dank.«
Grinsend legte ich auf. Mein Freund aus Italien! Eines mußte man ihnen lassen, sie waren nicht untätig und vergeudeten keine Zeit.
Ich fühlte mich immer noch ganz bleiern von dem schweren Mittagessen und dem vielen Wein und goß mir ein Wasserglas voll von dem Hennessy ein, den Jeanette mir im Flugzeug vermacht hatte. Mein italienischer Freund hatte die Flasche zum Glück unangerührt gelassen. Ich leerte das Glas in wenigen Zügen, und der Druck in meinem Kopf ließ sofort nach.
Dann zog ich Jeanettes Adreßbuch aus meiner Innentasche und nahm es genauer unter die Lupe. Ich hatte nämlich so eine Ahnung, daß es ihnen um dieses Büchlein gegangen war. Es standen Adressen von Italienern in so gut wie jeder europäischen Großstadt, die einen Flughafen hatte, darin, ja sogar in einigen außereuropäischen Städten: Beirut, Singapur, Hongkong. Und in den USA: New York, Los Angeles, San Francisco. Ein paar Adressen waren durchgestrichen und dann meist durch neue ersetzt, andere waren mit einem Fragezeichen versehen. Die einzige Stadt, die gar nicht vorkam, war Amsterdam selbst.
Darum ging es also. Um ein in rotes Leder gebundenes kleines Adreßbuch mit Namen von Italienern, das einer Stewardess gehört hatte, die unterdessen ermordet worden war. Und deren Leiche verschwunden war. Aber zum Leidwesen ihres Mörders – oder ihrer Mörderin? – war auch ihr Adreßbuch verschwunden.
Ich hatte einen kardinalen Fehler gemacht, als ich die Blumen in ihrem Zimmer liegen gelassen hatte, aber sie hatten mindestens genauso sehr gepatzt, als sie dieses wichtige Büchlein nicht gleich an sich nahmen, nachdem sie Jeanette umgebracht hatten. Eins zu eins. Sie hatten mein ganzes Zimmer auf den Kopf gestellt und nichts gefunden. Keine Frage, daß sie nicht so schnell aufgeben und wiederkommen würden. Sie hatten den Vorteil, daß sie dank Jeanette wußten, wer ich war. Ich hatte keine Ahnung, wer sie waren, würde aber sicher bald die Gelegenheit erhalten, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich beschloß, auf der Hut zu sein und keine unnötigen Risiken einzugehen. Die Sache begann mir allmählich Spaß zu machen.
Nachdem ich wieder etwas Ordnung im Zimmer hergestellt hatte, rief ich Annette an, um ihr zu sagen, daß ich gerne zum Essen kommen würde. Sie klang verpennt, ich hatte sie wahrscheinlich aus ihrem Mittagsschlaf geläutet. Danach ging ich zu einer Bank in der Leidsestraat und eröffnete ein Konto. Bis jetzt hatte ich meine gesparten Kronen mit mir herumgetragen, aber das erschien mir jetzt, da ich die Adreßbuchsucher auf den Fersen hatte, nicht mehr ratsam.
Am Waterlooplein war ein Café, das als eine Art Telefon-und Nachrichtenzentrale für die Flohmarkthändler diente, die sich dort auch mit ihren Kunden und An- und Verkäufern trafen. Ich hatte im Knast eine Weile mit einem Schrott- und Lumpenhändler namens »Kahler Kees«, alias Bram Koudintvuur, die Zelle geteilt, der damals wegen Hehlerei einsaß. Wir entwickelten in der Zeit eine große Bewunderung füreinander, die um so größer wurde, je weiter sich unsere religiösen Standpunkte voneinander entfernten. Der Kahle Kees wurde nämlich im Gefängnis zum Theosophen, obwohl ich ihn mit glühenden Argumenten davor zu bewahren versuchte. Er hatte sich ein Foto von Krishnamurti über seine Pritsche gehängt, ich eines von Thelonious Monk. Wir wurden uns einig, daß Monk eher wie ein Prophet und Murti eher wie ein Jazzmusiker aussah, und so tauschten wir schließlich die Fotos aus und sprachen nur noch von Krishna Monk und Thelonius Murti. Abgesehen vom Debattieren bestand unser Hauptzeitvertreib im Knobeln mit Streichhölzern. Mit irgendwas mußte sich der Mensch doch schließlich beschäftigen.
Der Kahle Kees also hatte mir gesagt, daß ich ihn, falls ich ihn mal brauchen sollte, jederzeit in diesem Café am Waterlooplein erreichen könne. Und er war auch tatsächlich da. Er knobelte gerade, als ich zur Tür hereinkam. Ich hob schweigend vier Finger, er sagte »Vier« und gewann. Wir gaben uns die Hand, und er bestellte zwei Pils.
Wir tauschten uns kurz aus, wie es uns so ging. Seine Frau war gestorben, und er war von der Theosophie zum Spiritismus übergegangen. Er habe schon interessante Ergebnisse erzielt, sagte er. Ich müsse ihm versprechen, mal mit zu einer Séance zu kommen.
Nach den Präliminarien wollte er wissen, ob mein Kommen einen bestimmten Grund habe. Ich gab ihm das Notizbuch, das ich zu einem kleinen Päckchen verschnürt hatte, und bat ihn, es in seinem Lager für mich aufzubewahren, bis ich es zurückverlangen würde. Bevor er das Päckchen in die Tasche steckte, ließ ich ihn noch versprechen, es niemals, unter keinen Umständen einem anderen als mir persönlich auszuhändigen. Auch nicht, wenn der es in meinem Namen abholen wollte. Nicht einmal, wenn er eine von mir unterschriebene Erklärung vorlegte. Und wenn ich nicht mehr auftauchen sollte, um es abzuholen, müsse er es eben bei der Polizei abliefern, sagte ich lachend. Er begriff, daß es nichts zu fragen gab, und sagte nur: »Wenn du in der Bredouille bist, sag mir Bescheid.«
Peter war dick geworden. Und während des Essens wurde mir auch klar, warum. Er aß für drei. Dabei schwitzte er wie blöd. Annette lief den ganzen Abend mit panischem Blick herum, zumal als er sie in meiner Gegenwart umarmte und küßte. Sie hatte ein köstliches Mahl zubereitet, aber das schwere Mittagessen und der Umstand, daß Peter unappetitlich schmatzte und dauernd aufstoßen mußte, verdarben mir den Appetit. Um nicht unhöflich zu sein, tat ich dennoch mein Bestes und würgte soviel wie möglich hinunter. Der Kaffee nach dem Essen verschaffte zwar ein wenig Erleichterung, aber erst nach ein paar Alka Seltzer konnte ich mich zögernd an den Whiskey wagen.
Wir saßen in meinen Sesseln und hörten meine Platten, und Peter führte das große Wort. Davon, wie erwachsene Menschen über die Situation zu sprechen, wie Annette vorgeschlagen hatte, konnte allerdings keine Rede sein. War auch schwer möglich, denn Peter war im Nu sternhagelvoll und prahlte lallend mit den großen Projekten, an denen er arbeitete. Gegen Mitternacht, nachdem Annette und ich den halben Abend stumm dagesessen hatten und ich keinen Whiskey mehr sehen konnte, hielt ich es für an der Zeit zu gehen. Peter blieb allein im Zimmer zurück – er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und brabbelte nur noch in sich hinein –, während Annette mich hinausbegleitete. Sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen.
Wenn ich jetzt irgendeine ironische Bemerkung gemacht hätte, so was wie »ihr paßt wirklich gut zusammen« oder »ihr scheint ja wirklich sehr glücklich zu sein«, wäre sie mit Sicherheit ausgerastet. Da tat ich lieber so, als hätte ich auch zuviel getrunken, ein bißchen beschwipst war ich ja auch, brummte was von sehr gemütlich, sehr lecker und wankte die Treppe hinunter.
Vielleicht hatte Annette ja erwartet, daß ich noch versuchen würde, sie zu küssen, aber ich lasse prinzipiell die Finger von den Frauen meiner Freunde, und außerdem interessierte sie mich nicht mehr. Ich hatte den ganzen Abend an Jeanette denken müssen.
Die frische Luft draußen haute mich um, ich war plötzlich völlig benebelt. Man merkt mir das zwar meistens nicht so an, ich kann noch einigermaßen geradeausgehen und so, aber meine Reaktionsfähigkeit ist dann verlangsamt, und ich rede immer laut mit mir selbst.
Nach einigen langen Monologen und einem kleinen Umweg gelangte ich endlich zur Leidsegracht. Es war ziemlich finster dort, denn ein Teil der Straßenbeleuchtung war ausgefallen. Plötzlich kam hinter mir ein Auto um die Ecke gefahren, das mit quietschenden Reifen direkt neben mir hielt. Ich erinnere mich noch genau, daß ich mich fluchend zur Seite drehte und den Fahrer anmachen wollte. Ich meine mich auch noch zu erinnern, daß mich irgendwas Hartes am Hinterkopf traf. Aber daß ich in den Wagen gezerrt wurde, hab’ ich schon nicht mehr mitbekommen.