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Der Regen peitschte den Bürgersteig, und der Wind blies mir derart durch den dünnen Kammgarnanzug, daß ich nach wenigen Minuten bis auf die Haut durchnäßt war. Aber das machte mir nichts aus, ja, ich merkte es nicht mal. Ich war noch nicht ganz bei mir.

So was passiert einem nur einmal im Leben. Nein, stimmt nicht. Ich hatte so was schon mal erlebt. Als ich vierzehn war und in die zweite Klasse des Gymnasiums ging. Ich hatte zu Weihnachten ein schlechtes Halbjahreszeugnis bekommen. So schlecht, daß alle Lehrer sagten, ich würde garantiert sitzenbleiben, wenn ich mich nicht schleunigst an die Arbeit machte – was mich sofort dazu veranlaßte, keinen Finger mehr zu rühren. Ich machte keine Hausaufgaben mehr und guckte nicht mehr in meine Lehrbücher, denn ich würde ja ohnehin sitzenbleiben.

Kaum zu fassen also, als der Rektor mich im Juli, als die Versetzungszeugnisse verteilt wurden, zu meinen fabelhaften Fortschritten beglückwünschte. Da hatte ich genau das gleiche empfunden. Als löste sich alles um einen herum auf und man schwebte sanft wie auf Watte.

Und das jetzt also zum zweiten Mal. Aber wenn du neunundzwanzig bist, erwartest du so was eigentlich nicht mehr, und deshalb brauchte ich eine Weile, um mich davon zu erholen.

Eine Stunde lang hatte Henderson Fragen auf mich abgefeuert, kurze, präzise Fragen, und ich hatte versucht, ihm kurze, präzise Antworten zu geben. Er sah mir dabei die ganze Zeit in die Augen, und Daisy schrieb jedes Wort mit. Nach meiner Kindheit erkundigte er sich, meiner Schulzeit, meiner Arbeit. Nach den verschiedenen Kampagnen, die ich gemacht hatte, nach den Leuten, mit denen ich gearbeitet hatte, und Daisy schrieb und schrieb.

Nach dieser einen Stunde hatte er sich endlich erhoben, eigenhändig drei weitere Whiskeys eingeschenkt – Daisy durfte sitzen bleiben –, uns die Gläser gereicht, einen Fuß auf einen Stuhl gestellt, zur Decke geblickt und gesagt: »Es handelt sich nämlich um Folgendes.«

 

Er wollte ein neues amerikanisches Produkt auf den europäischen Markt bringen und suchte dafür einen Publicity Manager, jemanden, der fähig war, einen europaweiten Werbefeldzug auf die Beine zu stellen, am Laufen zu halten und zu beaufsichtigen. Sein Hauptstandort sollte Paris sein, aber er würde auch sehr viel reisen müssen, um den ständigen Kontakt mit den beteiligten Werbebüros zu pflegen. Ob mich das eventuell reizen würde?

Was sagt man dazu? Ich meine, ich war zwar nicht mehr irgendwer, ich hatte schon eine Karriere hinter mir und reichlich Erfahrungen gesammelt und so, aber in dem Moment blieb mir doch fast die Spucke weg. Ja, und ob mich das reizte.

 

Und dann wurde ich noch gefragt, ob ich gegebenenfalls auch bereit wäre, eine Art vorbereitendes, dreimonatiges Praktikum im Hauptquartier in New York zu machen. Danach würde man beurteilen können, ob ich tatsächlich der richtige Mann am richtigen Ort war. Es gab nämlich zwei weitere Kandidaten, einen Engländer und einen Schweden, älter als ich und weniger vielversprechend.

Wieso sie eigentlich keinen Amerikaner für den Job nahmen, wagte ich darauf zu fragen.

Henderson hatte den Kopf geschüttelt, an seinem Whiskey genippt und sich eine Zigarette angezündet. »Wir wollen keine Amerikaner, sondern einen europäischen Stab aus allen beteiligten Ländern zusammenstellen, und nur ich selbst werde als Supervisor auftreten. Unser Produkt soll einen europäischen Charakter haben.«

»Um was für ein Produkt handelt es sich denn eigentlich?« fragte ich, denn er hatte mich zwar schon eine ganze Menge gefragt, aber selbst so gut wie nichts rausgelassen. Er schwieg einen Moment und warf einen kurzen Seitenblick zu Daisy. Sie hatte ihren Notizblock beiseite gelegt, sich auf dem Sofa zusammengekringelt und schaute zu mir herüber. Eigentlich sah sie doch ganz nett aus. Sie fing den Seitenblick ihres Chefs auf und schmunzelte leicht. Henderson wandte sich wieder mir zu.

»Wir haben schon gemerkt, daß hier in Europa jeder lacht, wenn er hört, was für ein Produkt wir herstellen. Es wird denn auch Ihre erste Aufgabe sein, Mr. Stefan, das offenbar Komische daran aus der Welt zu schaffen und dem Produkt ein anderes Image zu geben. Versprechen Sie mir, daß Sie nicht lachen werden.«

Ach herrje, was konnte denn das sein?

Wegwerfanzüge aus Papier, die man nach einmaligem Tragen im Klo runterspült? Oder Lebensmittelnachbildungen aus Plastik für Dicke, die sich das zum Trost auf den Tisch stellen und anschauen können, wenn sie schon nichts essen dürfen?

»Bier in Pulverform. Instantbier.«

Ich mußte nicht lachen. Ich erschrak.

Die machen auch vor nichts mehr halt, war mein erster Gedanke. Aber wer tut das denn heute überhaupt noch?, dachte ich dann. Du doch auch nicht! Kann dir doch egal sein, was du verkaufst, Zahnpasta oder Schuhwichse oder Instantbier. Hauptsache, der Umsatz steigt und der Kunde ist zufrieden. Stimmt’s? Über Geld redeten wir nicht.

»Ich bin überzeugt, daß das zu seiner Zeit zur allseitigen Zufriedenheit geregelt wird«, sagte Henderson, und ich war ganz seiner Meinung. Danach besprachen wir noch ein paar Details. Ich erkundigte mich nach dem Umsatz in den USA, nach der Struktur des Unternehmens und seinen Erweiterungskapazitäten, und er beantwortete meine Fragen, wenn auch nicht ausführlich. Es sei nämlich so, daß er erst freie Hand habe, wenn noch einige weitere Besprechungen absolviert seien.

Zum Schluß hatten wir verabredet, am nächsten Tag zusammen zu Abend zu essen, um einander besser kennenzulernen, und ich hatte ihnen die Adresse meines Motels gegeben, wo sie jederzeit eine Nachricht hinterlassen könnten, wenn irgend etwas sein sollte.

»Würden Sie dann bitte gleich morgen früh aufs Konsulat gehen und ein Visum beantragen? Ich werde dem Konsul Ihr Kommen avisieren.«

»Wann werde ich denn in die Staaten müssen?«

»In fünf Tagen.«

»In fünf Tagen schon?«

»Das geht doch hoffentlich, oder? Oder haben Sie noch anderweitige Verpflichtungen?«

»Nein, das nicht.«

 

Deshalb also ließ ich mich eine halbe Stunde lang naß regnen und durchwehen, bis meine Finger zu feuchten, weißen Stöckchen geworden waren und ich nichts mehr sehen konnte, weil mir das Wasser über die Stirn in die Augen rann. Wenn du neunundzwanzig bist, haben keine Wunder mehr zu geschehen, und tun sie es doch, steht es dir zu, mal kurz zu vergessen, daß du neunundzwanzig bist, und so zu tun, als wärst du zwölf oder noch jünger. Dann darfst du dich vom Regen durchnässen lassen und Luftsprünge machen und denken, du wärst allein auf der Welt.

In einer Woche würde ich in New York sein. Den blauen Sonnenuntergang über Manhattan sehen, nicht mehr nur auf Fotos, sondern in echt. In der Madison Avenue den Executive spielen. Und danach Paris. Das stand für mich außer Zweifel.

Nicht mehr als Tourist in Paris rumlaufen, sondern als dort wohnender und arbeitender Mensch. Morgens erwache ich in meiner Luxuswohnung mit Blick auf die Seine und Notre-Dame.

Ein kurzer Blick auf den Terminkalender. Ah, heute London. Anderthalb Stunden später stehe ich auf dem Flughafen Orly. Zwei Stunden später am Piccadilly. Eine Konferenz, Mittagessen in Soho. Mit dem Flugzeug zurück. Abendessen in meinem Lieblingsrestaurant an der Ecke. Noch ein Martini auf der Terrasse des Les Deux Magots. Dann nach Hause. Anruf von einer Freundin, Verabredung pour le weekend. Am nächsten Tag nach Lissabon oder Mailand oder Zürich. Sid Stefan hat es geschafft. Er verkauft Bier in Pulverform. Instantbier. Schiffe voller Bierpulver aus Amerika löschen ihre Ladung an großen Silos. Züge voller Instantbier fahren kreuz und quer durch Europa. Geh doch bitte kurz ein Kilo Bier kaufen. Neu: Bierpudding. Und für echte Liebhaber: Bierbrötchen.

Als ich schließlich zu meinem Wagen zurückging, der am Fuße des Hilton auf mich wartete, fand ich schon, daß das mit dem Bierpulver doch eigentlich gar keine so schlechte Idee war. Wenn ich jetzt zum Beispiel ein Glas dabei gehabt hätte, hätte ich es mit Regen vollaufen lassen können und gar nicht mehr in eine Kneipe zu gehen brauchen.

 

Aber ich ging in eine Kneipe, und nicht nur in eine, und war am Ende stockbesoffen. Erfolg macht schwach. Vielleicht. Normalerweise kann ich eine Menge vertragen, aber an diesem Abend kam jeder Tropfen Alkohol einem Tropfen Benzin ins Feuer gleich.

Ich weiß nicht mehr, wie viele Kneipen ich an diesem Abend abgeklappert, wie viele Gläser ich geleert und mit wie vielen Leuten ich wie lange gequatscht habe, denn ich hatte einen totalen Blackout. Irgendwann kam ich in einem kleinen Lokal, in dem ich noch nie gewesen war, wieder zu mir, schwarzen Kaffee trinkend. Der Wirt saß auf der anderen Seite des Tresens und sah mich freundlich an. Sonst war niemand da.

»Geht’s wieder etwas besser?« fragte er.

»Wie komme ich hierher?«

»Wer weiß? Sie sind hier hereingeschneit. Halb bewußtlos gesoffen. Ich konnte Sie nicht mal verstehen.«

»Die wievielte Tasse Kaffee ist das jetzt?«

»Ihre sechste.«

Ich schüttelte den Kopf. Er fühlte sich bleischwer an, aber ich war wieder nüchtern. Im Spiegel hinter der Theke sah ich, wie ich dahockte. Mein schwarzer Anzug sah aus, als hätte ich lange darin gewohnt. Meine Krawatte war mir irgendwie abhanden gekommen.

Verdammt, die war teuer gewesen. Wie gut, daß Pauline mir eine aus Paris mitbrachte. Scheiße, Pauline!

»Wie spät ist es?«

»Viertel nach zwölf.«

Keine Ahnung, wieso ich das fragte, ich hätte es genauso gut von meiner Armbanduhr ablesen können.

»Haben Sie ein Telefon?«

»Da in der Ecke.«

 

»Oh, Sid, bin ich froh, daß du anrufst. Ich fürchtete schon, daß du... was hast du heute gemacht?«

Diese Pauline fragte mich ein bißchen zu oft, was ich machte. Das hatte sie am Vormittag auch schon die ganze Zeit getan. Eh man sich’s versieht, wird man von so einer Frau völlig vereinnahmt.

Aber was hatte ich eigentlich gemacht? Ach ja. Das Motel. Das Hilton. »Alles Mögliche.«

»Wo bist du jetzt?«

»In einer Kneipe.«

»Was ist mit dir? Deine Stimme klingt so komisch.« »Nichts.«

Pause.

»Sehe ich dich noch... heute nacht?

»Gut. Aber ich geh mich erst umziehen.«

»Fein. Hör mal, Sid, ist das kein Zufall? Gestern haben wir doch noch von King gesprochen, und heute abend habe ich ihn gesehen.«

»King? Wo?«

»Na, auf dem Flughafen, in Schiphol. Wir sind zur gleichen Zeit gelandet. Er hat mich nicht mal gegrüßt, obwohl er mich sehr wohl gesehen hat. Ist schnurstracks durch den Zoll und in ein Auto gestiegen. Ich schätze, er will Jeanette besuchen. Meinst du nicht auch?«

»Suchen« wäre zutreffender gewesen.

»War er allein?«

»Ja, sicher. Wann kommst du, Sid?«

»Das kann ich nicht genau sagen. Vielleicht wird es noch sehr spät. Geh lieber schon schlafen. Ich ruf dich morgen an.«

»Nein, ich bin nicht müde. Ich warte auf dich. Du wolltest dich doch nur kurz umziehen, oder?«

»Ja.«

»Na, das dauert doch nicht so lange?«

»Nein.«

»Wie spät wird es denn ungefähr?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sid...«

Ich legte auf. »Hätten Sie ein Glas Milch für mich?«

Der Wirt schaute leicht verwundert, schlurfte dann aber doch nach hinten.

King war also gekommen, um Jeanette zu suchen. Sie hatte bestimmt eine Verabredung nicht eingehalten, und er hatte bei ihr angerufen, sie nicht erreicht und sich Sorgen gemacht.

Ich war der einzige, der wußte, was mit Jeanette passiert war. Ich mußte ihn darüber informieren und ihn zugleich vor Carlo warnen.

 

Ich stellte meinen Wagen, den ich erst nach langem Suchen gefunden hatte, wieder um die nächste Ecke, in der Willem de Zwijgerlaan ab und ging zur Geuzenkade zurück. Die Vorhänge im ersten Stock waren zugezogen, aber man sah kein Licht hindurchschimmern. Während ich auf den Hauseingang zulief, zog ich die Beretta aus dem Schulterholster und steckte sie in die rechte Tasche meines Jacketts. Dann klingelte ich. Einmal kurz und unaufdringlich, wie es einer tut, der sagen will: Ich bin’s, machen Sie mal eben auf. Ich sah in meinem zerknitterten Anzug zwar nicht sonderlich vertrauenerweckend aus, hoffte aber, daß King mir trotzdem Glauben schenken würde. Daß er in die Geuzenkade gehen würde, wenn er Jeanette nicht in ihrer Wohnung antraf, lag für mich auf der Hand. Er dürfte von Frau Effimandi erfahren haben, daß sie für einige Tage verreist sei, ohne eine Adresse zu hinterlassen, und daß ihr Schwager, Carlo, Kleidung für sie geholt habe. Also konnte er davon ausgehen, daß Carlo wußte, wo Jeanette steckte, und die Wohnung hier hatte er ja schließlich selbst an Carlo untervermietet.

Doch es wurde nicht aufgemacht. Entweder war King noch nicht da, oder er war schon wieder weg. Eigentlich hatte ich auch nichts anderes erwartet. Irgendwie mußte ich ihn aber unbedingt erreichen. Ich beschloß, ihm einen Zettel zu hinterlassen, auf dem ich ihn bat, am nächsten Morgen um elf Uhr die und die Telefonnummer anzurufen – die Nummer vom Pieper. Ich würde dafür sorgen, daß ich dann im Pieper war, so daß ich den Anruf entgegennehmen und ein Treffen mit ihm vereinbaren konnte. Es bestand natürlich das Risiko, daß der Zettel in die falschen Hände geriet, aber das Risiko mußte ich in Kauf nehmen. Schließlich hatten sie dann auch nicht mehr als die Telefonnummer einer Kneipe. Egal wie, ich mußte den Zettel so deponieren, daß er ins Auge fiel und King ihn auch fand. Wozu hatte ich Carlos Hausschlüssel? Ich öffnete die Eingangstür. Es war stockfinster, und da ich keinen Lichtschalter finden konnte, tastete ich mich im Dunkeln die Treppe hinauf. Es roch immer noch nach Lysol und Schmierseife. Im selben Moment, als ich im oberen Flur einen Lichtschalter fand, hörte ich ein Geräusch. Ein kurzes, leises, hohes Fiepen wie von einem jungen Hund. Es kam aus dem hinteren Zimmer, dem Zimmer, in dem ich meine Koffer wiedergefunden hatte. Ich hielt die Luft an und horchte, ohne mich zu rühren. Aber ich hörte nichts mehr. Vielleicht hatte ich es mir nur eingebildet.

Doch als meine Hand zum zweiten Mal den Lichtschalter berührte, hörte ich es erneut. Es war natürlich purer Zufall, aber man hätte meinen können, das Geräusch entstünde durch die Berührung des Schalters. Als fiepte der Schalter. Ich zog die Beretta hervor, entsicherte sie und schlich auf Zehenspitzen zur Zimmertür.

Himmelherrgott, wieso mach ich denn das jetzt wieder? dachte ich, ich will nicht mehr Detektiv spielen. Ich kann jetzt nichts mehr riskieren, denn ich muß nach Amerika.

Mit größter Behutsamkeit drückte ich die Klinke runter, stieß dann die Tür weit auf und machte im selben Moment das Licht an.

Ein Mann saß, auf einem Stuhl festgebunden, in einer Ecke des Raums. Seine Füße waren an die Stuhlbeine gefesselt und seine Hände hinter der Rückenlehne zusammengebunden, so daß er den Oberkörper nicht nach vorn fallen lassen konnte. Er schien bewußtlos zu sein. Da sein Kopf runterhing und sein Kinn auf seiner Brust ruhte, konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Seine Kleidung, besonders sein Oberhemd und sein Jackett, war blutverschmiert. Auch auf dem Fußboden und an der Wand hinter ihm waren Blutspritzer. Ich ging zu ihm hin und hob vorsichtig seinen Kopf an. Sein Gesicht war völlig entstellt. Nase und Lippen ein einziger blutiger Brei. Die Augen zugeschwollen. Überall in seinem Gesicht, in der Stirn, den Wangen, dem Kinn, waren offene Wunden. Bei jedem Herzschlag wurde ein wenig Blut durch sie herausgepumpt.

Mir drehte sich der Magen um und mir wurde schwarz vor Augen. Behutsamst ließ ich sein Kinn wieder auf seine Brust sinken, aber er fiepte dennoch. Ich konnte gerade noch das Waschbecken erreichen, da kam mir alles, was ich in blindwütiger Sauflust in mich hineingeschüttet hatte, wieder hoch. Ich kotzte, bis ich dem Flennen nahe war.

O Gott, warum passiert so was auf dieser Welt? Wir könnten doch alle Bierpulver verkaufen und in Frieden leben und arbeiten. Aber nein, wir bringen einander um. Das heißt, die einen bringen um. Die anderen werden umgebracht. Einzelne werden von mehreren getötet. Dieses Leben ist mir zu gefährlich.

Ich wusch mir das Gesicht und richtete mich wieder auf. Vor den Füßen des Mannes lag eine aufgerissene Brieftasche. Ich hob sie vom Fußboden auf und schaute nach, was drin war. Eine Arbeitserlaubnis, ausgestellt auf den Namen Enrico Pisicini, Schiffsmakler. Weiter einige Zettel, etwas Geld, Fotos. Enrico mit Mädchen in Italien. Enrico mit Mädchen in den Niederlanden. Und ein Foto von mir.

Daß ich es war, erkannte ich gar nicht gleich. Mir kam der Typ auf dem Foto nur ziemlich bekannt vor. Ich blickte nachdenklich in Richtung Kamera. Hinter meinem Kopf war eine Ecke von einem Gemälde zu sehen. Es schien eine ganz neue Aufnahme zu sein, aber ich konnte mich nicht erinnern, daß in letzter Zeit ein Foto von mir gemacht worden war.

Da läutete das Telefon.

Was für eine Situation! Da saß ich mit einem halbtoten, auf einen Stuhl gefesselten Mann, der ein Foto von mir in der Tasche hatte, in einem fremden Haus, und das Telefon hörte nicht auf zu läuten.

Ich steckte das Foto in meine Brieftasche, zog mein Taschentuch heraus, wickelte es um meine Hand und nahm damit den Hörer ab.

Eine nasale Stimme sagte: »King?«

»Hm.«

»Okay, King, wir wußten, daß du da bist. Er will mit dir reden«, sagte jemand in gebrochenem Englisch.

»Hm.«

»Du willst wissen, was mit Signorina van Waveren ist?«

Es wurde allmählich interessant. Ich beschloß zu antworten. »Klar.«

»Du wirst sie sehen. Aber zuerst will er mit dir reden. Dann geht alles klar.«

»Wer will mit mir reden?«

Das hätte ich nicht sagen sollen. Es blieb einen Augenblick still, dann sagte er, leicht verwundert: »Schlüffer natürlich.« »Ach so.«

»Wer sonst?«

»Du sagst es.«

»Na schön. Wir klingeln in ein paar Minuten. Komm dann runter. Der Wagen steht vor der Tür.«

»Hm.«

Es war wieder einen Moment still. »Wenn du nicht kommst, kommen wir rauf. Das solltest du besser nicht riskieren. Aber warte, bis wir klingeln. Keine Tricks, das Haus wird bewacht.«

Das schien er aus irgendeinem Grund witzig zu finden, denn er fing an zu lachen.

»Gut.«

»Und, King...«

»Hm?«

»... unbewaffnet natürlich.«

»Aber selbstverständlich ...« Für mich war alles selbstverständlich.

Er legte auf, ich legte auf.

Da sagte eine Stimme hinter mir: »Und, was hatten sie zu erzählen?«

Ich drehte mich um. King stand in der geöffneten Tür.

Ich erkannte ihn sofort, er war nur größer, als ich erwartet hatte. Fast genauso groß wie ich. Er trug einen dunkelblauen Gabardine-Regenmantel, hatte eine Pilotenmütze auf und schwarze Lederhandschuhe an. Ein schwerer, silberner Colt in seiner rechten Hand wies unheilverkündend in meine Richtung. Meine eigene Pistole steckte wieder allzu weit entfernt in meiner Jackettasche. Ich war und blieb ein Amateur.

Auf den Ärmeln seines Mantels waren nasse Stellen. Er war natürlich in der Küche gewesen und hatte sich das Blut vom Mantel abgewaschen, als ich klingelte. Und als er meine Schritte auf der Treppe hörte, hatte er rasch die Lichter ausgemacht und in aller Ruhe abgewartet, was passieren würde.

Blitzschnell überlegte ich, was ich ihm antworten sollte. Sollte ich den Unschuldigen spielen oder alles zugeben? Er würde mir nach diesem Telefongespräch ohnehin nicht mehr glauben, daß ich nichts mit der Sache zu tun hatte, also entschied ich mich dafür mitzuspielen.

»Er will dich sprechen, King.«

Der Colt ging wachsam in die Höhe. »Wer?«

»Jemand, der Schlüffer heißt.«

Er rührte sich nicht, stand absolut regungslos da, klapperte nicht mal mit den Lidern. Seine mausgrauen Augen starrten mich an, schienen mich aber gar nicht zu sehen. Es wurde totenstill im Raum. Der Verletzte auf dem Stuhl neben mir atmete ganz schwach und unregelmäßig. Draußen hörte ich ein Auto langsam vorüberfahren und am Ende der Straße wenden.

Endlich sagte er: »Und wer bist du?«

Was immer auch passieren würde, ich wollte fürs erste lieber anonym bleiben, und stellte daher eine Gegenfrage statt zu antworten.

»Hast du das gemacht?« Ich deutete auf den bewußtlosen Pisicini.

»Natürlich.«

»Warum?«

Er warf einen kurzen, ungerührten Blick auf das blutende Resultat seines blutigen Werks und wandte sich wieder mir zu. »Das gefällt dir nicht, was?«

»Nicht besonders. Das dürfte wohl niemandem gefallen.« »Sagen wir mal, ich hatte einen triftigen Grund dafür.« »Und der wäre?«

»Er wollte mir etwas nicht sagen. Etwas sehr Wichtiges. Etwas, was ich wissen muß.«

»Vielleicht wußte er es ja nicht.«

Er zuckte die Achseln. »Den Eindruck habe ich inzwischen auch gewonnen. Jedenfalls hat er für Rom gearbeitet, das hab’ ich zumindest aus ihm rausgekriegt. Schlüffer wird sich wundern, daß Rom schon Leute in seine Organisation eingeschleust hat.« Er kam ein paar Schritte näher. »Und wer bist du? Was suchst du hier? Woher weißt du, wer ich bin? Arbeitest du für Schlüffer oder für Rom? Besser, du erzählst es mir gleich, sonst muß ich dich auch so behandeln.«

»Ich sag’ nichts. Aber ich arbeite für niemanden, weder für Rom noch für Schlüffer, und du hast keine Zeit, mich so zu behandeln, denn sie kommen dich gleich holen.«

»Ach ja?« Er sah mich grübelnd an. »Du gehörst also nicht zu Schlüffer?«

»Ganz gewiß nicht.«

»Du kennst ihn auch gar nicht.«

»Genau.«

»Und er dich auch nicht.«

»So ist es.«

»Was machst du dann hier?«

»Sagen wir mal so, mich hat eine zufällige Verkettung von Umständen hierhergeführt.«

»Vielleicht lügst du, vielleicht hab’ ich auch mal Glück. Hier.«

Er warf mir seine Uniformmütze zu. »Setz auf.« Und während er mich sorgsam in Schach hielt, zog er den Mantel aus.

»Zieh an.«

Ich gehorchte.

Danach zog er eine Sonnenbrille hervor. »Setz auf.« Nur seine schwarzen Handschuhe behielt er an. Beifällig betrachtete er das Resultat. »Gar nicht schlecht. Du hast zwar keinen Schnäuzer, aber den kannst du dir ja inzwischen abrasiert haben. Hör zu, du gehst an meiner Stelle mit ihnen. Ich habe nicht vor, in eine so durchsichtige Falle zu tappen. Wenn Schlüffer hier ist, kann das nur bedeuten, daß die Kacke am Dampfen ist. Ich will ihn auch sprechen, aber unter anderen Umständen, als er sie sich vorstellt. Was Schlüffer mit dir macht, wenn er merkt, daß du nicht ich bist, muß er selbst wissen. Die Typen, die dich gleich abholen, werden es im Dunkeln nicht merken, und vermutlich haben sie mich auch noch nie gesehen. Wenn du dich ruhig verhältst und dafür sorgst, daß sie dir auf den Leim gehen, hast du sogar gute Chancen, die Sache zu überleben, denn ich fahre hinter euch her. Ich hab’ nämlich keine Ahnung, wo Schlüffer steckt, verstehst du.«

»Ich verstehe.« Ich verstand in der Tat, wenn ich auch nicht gerade begeistert war über seinen Plan. »Eines noch, King.« »Ja?«

»Ich bin bewaffnet. Der Typ, der vorhin anrief, hat mich gemahnt, ja unbewaffnet zu kommen. Kann ich meine Pistole hierlassen? Sie ist in meiner Jackettasche.«

»Von mir aus.«

Ich zog die Beretta aus meiner Tasche, legte sie auf den Tisch und knöpfte dann den Regenmantel zu. Er nahm die Pistole. »Ist sie geladen?«

»Klar.«

»Dann steck sie dir in die Socke. Vielleicht kannst du sie noch gebrauchen. Wieso ich das tue, weiß ich auch nicht, es ist ganz gegen meine Gewohnheit. Aber ich gebe dir eine Chance, mißbrauch sie nicht.«

Ich tat, was er gesagt hatte. Der Stahl fühlte sich merkwürdig kühl an meinem Knöchel an. Ich bekam eine Gänsehaut davon. Dann klingelte es.

Er steckte den Colt in seine Tasche, ich konnte jetzt ohnehin nicht mehr abhauen. Obwohl ich nicht wußte, was mich draußen erwartete, war ich froh, den Raum verlassen zu dürfen, denn vom Gestank meiner Kotze wurde mir schon wieder übel. Wir gingen zusammen durch den Flur zur Tür.

»Viel Erfolg«, sagte er.

Ich nickte. Das war jetzt der geeignete Moment, den Satz auszusprechen, den ich die ganze Zeit vorbereitet hatte. Ich wollte absolut sicher sein, daß er mir folgen würde, und das konnte ich nur auf eine Weise erreichen.

Wir standen keinen halben Meter voneinander entfernt. Ich hätte ihn mit Leichtigkeit niederschlagen können, aber das hätte mir nichts gebracht. Seine Haut war ledrig. Die Falten und Furchen in seinem Gesicht sahen aus, als wären sie mit einem Messer hineingeritzt worden. Der Schnäuzer ein grauer Strich über der Oberlippe. Seine Augen waren silbergrau, von der gleichen Farbe wie sein Colt, und vollkommen ausdruckslos. Es waren die kältesten Augen, die ich je gesehen hatte.

Gnadenlos, dachte ich. Das ist ein Mann, der wirklich kein Erbarmen kennt. Kein schlaffer Sadist wie Carlo. Nein, der hier hat keinen Spaß daran, Menschen zu quälen. Für menschliche Qualen interessiert der sich nicht. Der steht über Schmerzen und Leid. Über den Menschen. Nicht teuflisch, sondern unmenschlich. Entmenschlicht.

»Du suchst Jeanette, King?«

»Ja.« Er sah mich ohne jedes Erstaunen an. Kalt. Wissenschaftlich.

»Du hast mich nicht gefragt. Aber ich weiß, wo sie ist.«

Seine rechte Hand fuhr zum Revolver in seiner Tasche, während er die linke Hand nach mir ausstreckte. Ich schlug seinen Arm weg, riß die Tür auf, gab ihm gleichzeitig einen Stoß gegen die Schulter, so daß er aus dem Gleichgewicht geriet, zwängte mich dann an ihm vorbei, schlug die Tür hinter mir zu und lief so schnell ich konnte die Treppe hinunter.

Unten, in der säuerlich stinkenden Eingangsnische glühten zwei Zigaretten im Dunkeln. Ich trat hinaus.

»Hier bin ich.«

»Captain King.«

»Ja.«

»Okay.« Zwei Schatten lösten sich von der Wand und nahmen mich in ihre Mitte.

»Sorry.« Einer von ihnen tastete meinen Körper ab. »Unbewaffnet, ja?«

»Ja.«

Aber er untersuchte mich trotzdem sorgfältig. »Okay. Komm.«

Sie nahmen mich fest zwischen sich und lotsten mich so zu einem Mercedes, der einige Meter weiter weg mit laufendem Motor bereitstand. Ich mußte mich nach vorn setzen, einer von den beiden schob sich hinter mir auf die Rückbank. Er hielt mir den kalten Lauf einer Pistole in den Nacken. »Keine Mätzchen.«

Als wir wegfuhren, schaute ich noch kurz nach oben und meinte eine Bewegung hinter den Vorhängen zu sehen. Aber ich konnte mich auch getäuscht haben.