12
Gleich darauf erstarrte sein Gesicht wieder, und er wartete mit zusammengekniffenen Augen auf meine Reaktion. Doch in dem Moment ging die Tür auf – in solchen Momenten gehen immer irgendwelche Türen auf –, und die Frau, die ich in der Küche gesehen hatte, kam mit einem Kaffeetablett herein, so daß ich an einer Antwort gehindert wurde. Was mir gerade recht war. Sie drückte die Tür mit dem Ellbogen hinter sich zu und kam zu uns herüber, wobei sie das Tablett behutsam vor sich hertrug. Schlüffer erhob sich und sagte mit liebenswürdigem Lächeln: »Ha, Kaffee.«
Ich erhob mich ebenfalls, obwohl ich eine derartige Höflichkeitsgeste unter den gegebenen Umständen für leicht übertrieben hielt. Ich schätzte die Frau auf etwa vierzig. Sie war vielleicht nicht unhübsch, hatte aber offensichtlich soviel geweint, daß ihr Gesicht völlig verquollen war. Ohne uns anzusehen, stellte sie das Tablett auf einen Tisch und schenkte den Kaffee ein. Herr van den Broek, der die ganze Zeit abwesend in seinem Sessel gehockt hatte, bemerkte plötzlich, daß jemand hereingekommen war und wir uns erhoben hatten, und folgte unserem Beispiel.
»Darf ich kurz vorstellen?« sagte Schlüffer. »Sid Stefan, Frau van den Broek.« Er machte eine schwungvolle Handbewegung zu ihr hin, aber sie stand mit dem Rücken zu uns und schaute sich nicht um.
»Ich dachte, es sei Kaffee für vier bestellt worden«, sagte sie.
»Das stimmt, Romeo ist kurz weg. Schenken Sie ihm ruhig schon ein, er kommt sicher gleich wieder.« Schlüffers Stimme klang honigsüß und übertrieben höflich. »Habt ihr euch eigentlich schon miteinander bekannt gemacht?« fragte er, sich wieder mir zuwendend, und deutete auf van den Broek, der mit weit aufgerissenen Augen seine Frau ansah. »Nein, nicht wahr? Sid Stefan, Karel van den Broek.«
Van den Broek ergriff meine Hand, schüttelte sie wie wild und rief begeistert, als hätte er mich noch gar nicht gesehen: »Hallo, wie geht es Ihnen?«
»Ausgezeichnet«, sagte ich, und mir brach der kalte Schweiß aus.
»Karel und ich sind alte Freunde«, vertraute Schlüffer mir an, und Karel rief: »O ja.«
»Alle Milch und Zucker?« fragte seine Frau.
»Gern«, riefen Schlüffer und Karel wie aus einem Mund, und ich sagte lieber nichts Gegenteiliges, obwohl ich meinen Kaffee immer schwarz und ohne Zucker trinke. Mir schien, ich durfte die Frau nicht enttäuschen.
Sie reichte jedem von uns eine Tasse und drehte sich darauf wortlos um und ging zur Tür zurück. Wir machten weiterhin auf gepflegten Kaffeebesuch, setzten uns alle gleichzeitig und rührten alle gleichzeitig in unseren Tassen. Van den Broek verfiel sofort wieder in seine düsteren Überlegungen, und ich schaute seiner Frau nach.
Was war zwischen diesen Menschen? Wo lag die Verbindung zwischen diesem Karel van den Broek, Ex-Jagdflieger und heute Prototyp des braven, hausbackenen Bewohners einer ländlichen Gemeinde, und Schlüffer, Paradebeispiel für den durchtriebenen mitteleuropäischen Schurken?
Warum tat Schlüffer dieser Frau gegenüber so höflich, oder war das echte Höflichkeit? Und weswegen hatte sie so geweint?
Sie hatte sich für ihr Alter hervorragend gehalten, war schlank, hatte eine gute Figur, und ihre Beine waren auch nicht übel, aber ihr Kostüm störte mich. Es war aus Goldlamé und mochte farblich vielleicht gut zu den Glastieren mit Likör und der Kupferpfannenuhr passen, aber mir war es ein Dorn im Auge.
Ich spürte, daß Schlüffer mich ansah, und als ich mich zu ihm umwandte, zwinkerte er mir so heftig zu, daß dabei wieder sein ganzes Gesicht in Wallung geriet. Ich lächelte schwach und wußte selbst nicht, warum. Frau van den Broek hatte unterdessen die Tür erreicht und schlug sie laut hinter sich zu.
Eine Sekunde darauf ertönte auf dem Flur ein Schuß, gefolgt von einem durchdringenden Schrei. Van den Broek sprang auf und ließ seine Tasse fallen, so daß der Kaffee langsam zu einem beigen Fleck auf dem grauen Teppich auslief. Schlüffer stellte seine Tasse vor sich auf den Tisch und griff in seine Tasche, doch bevor er seine Pistole herausziehen konnte, wurde die Tür aufgestoßen, und King kam herein.
Mit der linken Hand schob er Frau van den Broek als Schutzschild vor sich her. Sie war kreidebleich und hielt sich in höchstem Entsetzen beide Hände vor den Mund. Kings rechte Hand umschloß den Colt, dessen Lauf auf Schlüffer gerichtet war.
»Keine Bewegung«, sagte er, und zu van den Broek: »Setz dich.«
Schlüffer legte die Hände demonstrativ auf seine Knie, und van den Broek ließ sich wieder in seinen Sessel fallen.
»Ich flehe dich an, King, tu ihr nichts, sie ist schon völlig mit den Nerven runter«, sagte er. Seine Stimme war plötzlich fester geworden, und er wirkte auch sicherer.
»Das hängt ganz von euch ab«, erwiderte King.
Durch die geöffnete Tür sah ich im Flur hinter ihm den Fahrer in dem weißen Regenmantel auf dem Boden liegen.
»Soso, Herr Oberst, lange nicht gesehen«, sagte King, nachdem wir alle eine Weile geschwiegen hatten.
Schlüffer nickte. »Das habe ich auch schon zu deinem Stellvertreter hier gesagt.« Er zeigte auf mich.
King lachte. »Bist du wirklich darauf reingefallen?«
»Mein Kompliment«, sagte King und nickte mir zu.
»Es ging ganz leicht«, erwiderte ich. »Ich dachte nur, du hättest uns unterwegs verloren.«
»Hatte ich auch, aber als wir in Laren waren, dachte ich mir schon, daß Jürgen sich hier einquartiert hat. Und wie geht’s dir, Karel?«
»Schlecht. Laß sie los, Alfred. Sie ist krank«, sagte van den Broek.
Seine Frau lehnte mit geschlossenen Augen rücklings an King, der seinerseits an der Wand neben der Tür lehnte. Er hatte den linken Arm um ihre Taille gelegt, und seine rechte Hand ruhte direkt unterhalb ihres Busens. Sie sahen aus wie ein Ehepaar in intimer Stellung. Der Colt verlieh dem Ganzen einen leicht sinistren Anstrich, als wären sie Revolverfetischisten oder so.
»Tut mir leid, Karel, aber solange ich nicht weiß, was Schlüffer vorhat...«
»Keine Bange, ich habe die allerbesten Absichten. Nur deswegen bin ich in die Niederlande gekommen. Laß sie los, King, sie hat in den letzten Tagen schon genug mitgemacht und ist mit den Nerven runter«, sagte Schlüffer, der immer noch kerzengerade und die Hände brav auf den Knien in seinem Sessel saß.
King rührte sich nicht. »Du wolltest mich sprechen? Dann schieß los.«
»Ich sage nichts, solange du sie nicht losgelassen hast.«
»Wo zum Teufel ist Jeanette?« King nahm Frau van den Broek noch fester in die Zange und stieß den Colt in Schlüffers Richtung. Frau van den Broek gab einen Laut von sich, der dem Piepsen einer Maus glich. In dem Moment tauchte Romeo auf dem Flur auf. Er stieg behutsam über den am Boden liegenden Mann hinweg und pirschte sich an der Wand entlang zur Zimmertür vor. Auf seinem Oberhemd war immer noch etwas Blut. Er flennte lautlos, mit hochgezogener Oberlippe, wodurch seine Schneidezähne entblößt waren und er wie ein Filmvampir aussah, der gleich auf sein Opfer springen würde. In der erhobenen rechten Hand hielt er eine kleine schwarze Pistole.
Schlüffer und ich sahen ihn gleichzeitig.
»Achtung, King«, rief Schlüffer, kurz bevor Romeo die Tür erreicht hatte.
Romeo blieb stehen und sah ihn einen Moment lang völlig perplex an. Dann knurrte er wie ein Hund, richtete die Pistole auf Schlüffer und schoß. Schlüffer warf sich im selben Augenblick auf den Boden. Die Kugel zersplitterte das kleine Flugzeug, das über dem Flügel hing, prallte dann, während das restliche Rumpfstück des Modellflugzeugs wie wahnsinnig an dem unsichtbaren Faden hin und her schwang, von der Steinwand über dem offenen Kamin ab und blieb schließlich in einem hinter mir hängenden Bild stecken, das daraufhin mit lautem Schaben von der Wand rutschte.
Unterdessen hatte sich King mit Frau van den Broek als Schutzschild blitzschnell umgedreht und schoß blindlings in die Richtung, aus der der Schuß gekommen war. Romeo stand aber noch draußen auf dem Flur und King halb hinter der Tür, so daß sie einander nicht mal sehen konnten. Die Kugel prallte ab und schlug in den langen grauen Vorhängen auf der linken Seite des Raums ein. Ich hörte hinter dem heftig hin und her wallenden Stoff Glas klirren.
Dann schoß Schlüffer, am Boden liegend, zweimal schnell hintereinander. Seine Kugeln trafen Romeo in die Brust. Der schlug wie ein Klotz hintenüber und fiel quer über den Mann in dem weißen Regenmantel. Seine Pistole flog durch die Luft und landete direkt vor den Füßen von Frau van den Broek, die inzwischen ohnmächtig geworden war und schlaff in Kings Arm hing. Das Ganze spielte sich in weniger als fünf Sekunden ab.
Schlüffer erhob sich und steckte die Pistole wieder in seine Tasche, während King Frau van den Broek vorsichtig auf den Boden niederließ.
»Okay, King«, sagte Schlüffer. »Jetzt können wir in Ruhe reden.«
Er schien ein gutes Händchen für die Ausnutzung dramatischer Situationen zu haben. Doch als er auf King zugehen wollte, streckte ihn die große Vase mit Rosen nieder, die Karel van den Broek vom Boden hochgehoben hatte und mit voller Wucht auf seinem Kopf zertrümmerte. Schlüffer sackte mit dumpfem Aufprall zu Boden, während sich mehrere Liter Wasser, vermischt mit Rosenstielen, Rosenblüten und Scherben, über ihn ergossen.
»Mörder«, schrie Karel und trat Schlüffer in den dicken, nassen Arsch.
»Keine Sorge«, sagte King, »sie ist nur ohnmächtig.«
Während van den Broek zu ihm hinüberrannte, zog ich die Beretta aus meiner Socke und stand auf. Mir schien, daß es an der Zeit war, mich von hier zu entfernen. Keiner achtete auf mich. King und Karel bemühten sich um die ohnmächtige Frau van den Broek, Schlüffer war ausgeschaltet, und Romeo lag als Leiche im Flur.
Ich schob den Vorhang beiseite. Dahinter befanden sich große Terrassentüren. In der Scheibe der einen Tür war ein sternförmiger Sprung von Kings Querschläger. Ich öffnete die Tür und trat nach draußen. Es war kalt. Mit tiefen Zügen atmete ich die frische Luft ein. Ich stand im Garten. Im Mondlicht sah ich zwischen den Bäumen einen Teich schimmern. Ich ging mit großen, ruhigen Schritten um das Haus herum, bis ich zur Eingangstür gelangte, wo der Mercedes geparkt war. Zwischen dem Wagen und der Eingangstür lag der Mann, der hinter mir gesessen hatte, reglos auf dem Kies. Ein weiteres Opfer Kings.
Mit einem Mal bekam ich es mit der Angst zu tun und mein Herzschlag beschleunigte sich zum Trommelwirbel. Ich rannte zum Wagen, riß die Tür auf und schob mich hinters Lenkrad. Aber leider steckte kein Schlüssel im Zündschloß.
Halb fluchend, halb flennend sprang ich wieder raus und rannte zu der Garage neben dem Haus, wo noch ein Cadillac und ein offener Jaguar E standen. Ich hatte Glück, beim Jaguar steckte der Schlüssel im Zündschloß. Der Wagen hatte ein englisches Nummernschild, gehörte also bestimmt Schlüffer. Als ich ihn aus der Garage fuhr, schrammte ich mit dem Kotflügel an der Wand entlang. Pech, Berufsrisiko, dachte ich.
Ich spürte, daß ich schon etwas ruhiger wurde. Aber da ging die Eingangstür auf und Schlüffer trat aus dem Haus. Er sah aus, als wäre er gerade aus einem Graben aufgetaucht.
Er feuerte drei Schüsse auf mich ab. Zwei Kugeln blieben in der Karosserie stecken, die dritte direkt hinter mir im roten Lederpolster meines Sitzes. Ich bugsierte den Jaguar am Mercedes vorbei, der die Ausfahrt versperrte, und griff zur Beretta, die ich auf den Beifahrersitz gelegt hatte.
Während ich auf die Straße hinausfuhr, schoß ich. Natürlich traf ich ihn nicht, denn ich war kein geübter Schütze, aber man kann ja mal Glück haben. Und irgendwie hatte ich das auch, denn ich traf die Lampe über seinem Kopf, so daß er plötzlich im Dunkeln stand. Das war zumindest eine hübsche Abschiedsgeste. Ich schaltete in den zweiten und Sekunden später in den dritten Gang, und der Jaguar schoß röhrend durch die Nacht. Während ich durch den Lichttunnel steuerte, den die Scheinwerfer zwischen die Bäume warfen, versuchte ich das Getöse der sich aufbäumenden zweihundertfünfundsechzig Pferdestärken zu überschreien, aber ich konnte meine eigene Stimme kaum verstehen.
»Kriegt mich doch, kriegt mich doch!« rief ich.
Als ich Amsterdam erreichte, war ich völlig alle. Das Pervitin war verbrannt, und da ich in der Nacht zuvor auch schon kaum geschlafen hatte, waren meine Akkus leer. Langsam fuhr ich durch die schlafende Stadt zur Geuzenkade, denn obwohl ich nur noch an Schlafen denken konnte, war mir klar, daß ich zuerst meinen Käfer zurückhaben und den Jaguar loswerden mußte. Überall zog ich eine Spur von Leichen hinter mir her, ich konnte mir nicht auch noch eine Spur nicht zurückgebrachter Leihwagen erlauben. Einer stand schon bei Pauline vor der Tür, noch dazu mit zerschnittenen Reifen, was mehr als lästig war. Ich nahm mir vor, gleich am nächsten Morgen die Werkstatt in Bergen anzurufen, wo ich den Wagen gemietet hatte.
Daß es womöglich gefährlich sein konnte, in die Geuzenkade zurückzukehren, kam mir bei meinem schweren Kopf gar nicht in den Sinn. Schließlich hätte schon die Polizei da sein können oder Leute von Schlüffer, die zur Observierung hergeschickt worden waren.
Aber es war niemand da. Schlaftrunken taumelte ich aus dem Jaguar zur Eingangsnische des Hauses, um die Autoschlüssel durch den Briefschlitz zu werfen. Pisicini würde wohl inzwischen tot sein. Wenn die Polizei endlich eintraf, würde sie auch die Autoschlüssel finden, die zu dem angeschossenen Auto vor der Tür gehörten. Und damit würde sie wenigstens auch Schlüffer auf die Spur kommen. Und wenn die Polizei nicht kam, würde das Auto bestimmt nach ein paar Tagen auffallen, und man würde in der Gegend herumfragen, wem er gehörte, und überall klingeln, und wenn bei Carlo nicht aufgemacht würde, würden die Nachbarn sagen: »Da wohnt ein italienischer Journalist, ein komischer Typ, bekommt immer so merkwürdigen Besuch, wo steckt er eigentlich?« und man würde die Tür aufbrechen und die Schlüssel finden und Pisicini...
Auf dem Weg zum Motel schlief ich zweimal fast am Steuer ein, aber beide Male wurde ich gerade noch rechtzeitig wieder wach.
Schlafen kann man auf vielerlei Art. Wie ein Murmeltier, wie ein Stein, nur leicht schlummernd, unruhig und und und. Aber am allerliebsten ist mir das bewußte Schlafen. Da weißt du, während du schläfst, daß du schläfst. Und kannst es genießen. Du denkst, während du schläfst: noch drei Stunden!, drehst dich auf die andere Seite, kuschelst dich unter die warme Decke und bist dir bewußt, daß du noch drei Stunden lang völlig vergessen, sanft und selig und schlapp wie ein Baby auf dem Grund dieses stillen, dunklen Teichs liegen bleiben kannst. Nur eines kann diese Wonne beeinträchtigen: die Angst vorm Aufwachen.
Ich fällte Bäume. Der Vormann hatte die Richtung festgelegt, in die der Baum fallen sollte, und einen entsprechenden Keil geschlagen, und ich rückte dem Stamm mit der Motorsäge zu Leibe. Während sich der heiße Stahl durch den Baum fraß, stieg mir der scharfe Geruch seines Holzes in die Nase. Ein Strom dicken, braunen Harzes rann wie Sirup über die Rinde. Mit donnergleichem Krachen fiel der Baum um. Ein gefällter Baum ist wie ein toter Walfisch, finde ich. Ich gab der Leiche einen Namen. Fahrer nannte ich sie und drehte mich um, um meinen Kollegen Bescheid zu geben, daß sie mit dem Kappen der Äste beginnen konnten. Hinter mir führte eine lange Schneise aus von mir gefällten Bäumen den Berg hinauf. Gebräunte, halbnackte Männer waren mit schweren Äxten dabei, die Stämme vom störenden Geäst zu befreien und transportfertig zu machen.
Ich hatte allen meinen Opfern Namen gegeben. Jeanette hieß das erste, eine hohe, schlanke, noch junge Föhre. Carlo war der Name des zweiten, eines knorrig verwachsenen kleinen Bäumchens. Dann gab es noch Pisicini und Romeo, in deren Geäst viele Vogelnester gewesen waren, und jetzt also den Fahrer.
Carl, der Vormann, kam wieder zu mir, und wir gingen zusammen zu einem weiteren Baum. In dessen Rinde war ein Klingelknopf, daneben ein Namensschild. Effimandi stand darauf. Carl klingelte, aber es wurde nicht aufgemacht. »Sie ist nicht zu Hause«, sagte er, »leg sie ruhig um.«
Ich griff zur Motorsäge, und dabei fiel mein Blick auf eine Brieftasche, die auf dem Boden lag. Ich wußte, daß mein Foto darin sein würde, hob die Brieftasche auf und nahm das Foto heraus. Währenddessen schärfte ich mir selbst ein: »Nicht aufwachen! Bloß nicht aufwachen!«
Ich betrachtete das Foto lange Zeit und studierte jedes Detail. Und mit einem Mal ging mir auf, wo und wann das Foto gemacht worden war. Im selben Moment spürte ich, wie mir der Schlaf entglitt beziehungsweise wie ich dem Schlaf entglitt. Ich wankte und taumelte durch den Wald, während die Stämme um mich herum immer mehr verschwammen und die Stimmen meiner Freunde immer entfernter klangen.
Zuerst blieb ich noch geraume Zeit regungslos liegen. Mein Körper war bleischwer. Da mein Kopf auf meinem linken Arm ruhte, konnte ich auf meine Armbanduhr schauen, ohne mich bewegen zu müssen. Es war halb sieben. Ich hatte höchstens eine Stunde geschlafen. Vorsichtig richtete ich mich auf. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, draußen begann es hell zu werden, ein grauer Morgenhimmel hing über der Stadt am Horizont. Ich war völlig angezogen auf dem Bett eingeschlafen.
Ich versuchte, mich zu erinnern, was mich geweckt hatte, und nach großer Anstrengung dämmerte mir, daß es etwas mit dem Foto zu tun gehabt haben mußte. Etwa dem Foto von mir, das ich bei diesem Pisicini gefunden hatte? Ich zog meine Brieftasche aus meiner Innentasche und nahm das Foto heraus. Mit ihm kullerte noch ein Pervitin heraus. Ich steckte es automatisch in den Mund und spülte es mit einem Schluck Cognac aus der auf dem Nachttisch stehenden Flasche runter. Dann sah ich mir das Foto an und versuchte, mir meinen Traum zu vergegenwärtigen. Wodurch war mir noch gleich aufgegangen, wo, wann und von wem dieses Foto gemacht worden war?
Das Bild! Natürlich, die Ecke von dem Bild, das hinter meinem Kopf hing. Es war das Bild, das hinter mir gehangen hatte, als ich im Zimmer von Mr. Henderson im Hilton gewesen war.
Kaffee, schwarz. Cornflakes mit kalter Milch. Orangensaft, eiskalt. Toast, Marmelade. Obwohl ich keinen Hunger hatte – Pervitin ist ein Appetitzügler –, bestellte ich sicherheitshalber doch ein Frühstück. Nur ein Mr. Henderson hatte angerufen, ansonsten hatte der Portier keine Nachrichten für mich. Mr. Henderson hatte nichts für mich hinterlassen und würde wohl noch einmal anrufen.
Anschließend setzte ich mich in der Duschkabine auf den Boden und ließ mir eine Viertelstunde lang eiskaltes Wasser über den Rücken laufen, bis meine Haut fest und rot war und überall prickelte.
Als das Frühstück kam, war ich bereits angezogen und fühlte mich halbwegs neugeboren. Nichts wirkt auf mich so belebend wie saubere, schöne Kleider am Leib. Ein Liter Kaffee besorgte den Rest. Um acht Uhr konnte ich den Tag angehen. Ich war zwar noch ein bißchen blaß, meine Augen lagen etwas zu tief in den Höhlen, das Augenweiß war eine Spur zu gelb, meine Wangen waren eingefallen und mein Mund sah ziemlich verkniffen aus, aber ansonsten fühlte ich mich ganz gut. Und ich hatte Lust, mit ein paar Leuten zu reden. Höchste Zeit, daß ich mal die Initiative ergriff.
Zuerst rief ich Pauline an. Sie nahm nicht ab. Vielleicht war sie sauer, weil ich mich nicht hatte blicken lassen. Recht hatte sie. Vielleicht war sie aber auch tot, durchaus möglich. Dann rief ich im Hilton an und reservierte ein Zimmer im obersten Stock. Eine Etage über Mr. Henderson.
Ich packte meine Koffer, beglich in der Motelrezeption meine Rechnung und fuhr in die Stadt. In Scharen drängten Radfahrer durch die Straßen der Vororte Richtung Zentrum. Allesamt mit frisch rasierten Morgengesichtern. Allesamt auf dem Weg zur Arbeit. Ich hatte auch einen Job zu erledigen... unter meiner Achsel den befriedigenden Druck der Beretta.