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Im dunklen, niedrigen, nach Bohnerwachs riechenden Vestibül war es überraschend kühl. Der alte Herr an der Rezeption trug einen sogenannten Vatermörder. Vor ihm stand ein halbvolles Glas Sherry, auf einem Beistelltisch in Reichweite eine volle Flasche und auf dem Boden daneben zwei leere. Mit Füllfederhalter trug er zittrig meinen Namen in ein Register ein, gab mir dann die Schlüssel und fragte, was ich zum Frühstück wollte. Da ich gerade Hunger bekam, gab ich eine umfangreiche Bestellung auf, Spiegeleier mit Speck, eine Kanne Kaffee, ein Glas Orangensaft, Toast und Marmelade.
Er notierte alles umständlich und sagte: »Ein englisches Frühstück, Mijnheer, sehr gesund und schmackhaft, wenn ich das sagen darf. Und den Orangensaft frisch gepreßt, wenn’s recht ist?«
Ja, das war mir sehr recht. Weitere Fragen hatte er nicht. Wo mein Gepäck war oder wie lange ich zu bleiben gedachte, kümmerte ihn nicht, ihm lag lediglich die Qualität meines Frühstücks am Herzen. Hinaufbegleiten wollte er mich auch noch, aber das wimmelte ich ab. Ich würde es schon finden, beruhigte ich ihn. Als ich den vorsintflutlichen Fahrstuhl betrat, sah ich, daß seine Hand zum wartenden Sherryglas glitt, und da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, wieder zu Hause zu sein.
Mein Zimmer war im zweiten Stock, nicht groß, aber mit einem komfortablen Bett, Blick auf die Gracht und Dusche – wenn auch mit kaum vorhandenem Wasserdruck. Ich blieb zwanzig Minuten unter dem spärlichen Strahl stehen und legte mich dann aufs Bett, um die Zeitungen zu lesen.
Um sieben Uhr trieb mich mein knurrender Magen aus dem Zimmer. Da meine Anzüge und alle anderen Klamotten noch bei Annette waren, mußte meine Holzfällerkluft wohl oder übel für einen weiteren Abend herhalten.
Der alte Herr unten nickte mir verträumt zu. Er spielte mit einem Zigarrenetui, und vor ihm lag die Abendzeitung. Sein Sherryglas war gut gefüllt. Draußen wurde es schon langsam dunkel. Die Leute saßen noch im Freien oder an den geöffneten Fenstern der vornehmen Grachtenhäuser. Neben dem Hotel auf dem Gehsteig hockte ein nackter kleiner Junge in einer Waschschüssel und spielte mit seinen Bötchen. Die Eltern saßen schmunzelnd daneben.
Es war schwülwarm, ein Gewitter hing in der Luft.
Ich ging automatisch Richtung Hoppe. Das Hoppe am Spui ist eines der zwanglosesten alten Lokale Amsterdams. Am gleichen Ort hat es seit Jahrhunderten immer schon eine Gastwirtschaft gegeben. Und ich finde es irgendwie beruhigend zu wissen, daß Generationen von Menschen sich hier haben volllaufen lassen und die Welt sich trotzdem weiterdreht, wie immer man auch darüber denken mag. Früher hatte ich direkt beim Hoppe um die Ecke gewohnt und war hier Stammgast gewesen. Ich hatte eine Dachgeschoßwohnung am Singel ergattert und sie mit allem Komfort, Badezimmer, Dachterrasse und so, ausbauen lassen. Drei Jahre hatte ich dort gewohnt, zwei davon mit meiner Frau Annette. Ich arbeitete damals hart und verdiente viel. Wir fuhren einen DS, und Annette besaß noch einen 2CV. Ich arbeitete freiberuflich und konnte mir die Zeit nach eigenem Belieben einteilen. Wir lebten gut und verreisten oft. Immer mal wieder gönnten wir uns zwei Wochen Auszeit am Lago Maggiore oder auf Mallorca oder im Winter beim Skilaufen.
Bis zu jenem Abend. Ich saß zu Hause und arbeitete. Annette war irgendwen besuchen gegangen und mußte jeden Moment wieder zu Hause sein. Ich wartete eigentlich auf sie, denn ich wollte noch auf ein Glas ins Hoppe. Es war ein schwüler Sommerabend, das Fenster stand offen, draußen war es still. Plötzlich hörte ich Annette schreien. Ich rannte ans Fenster und sah, wie sie von einem Kerl niedergeschlagen wurde. Dann warf er sich auf sie und traktierte sie mit seinen Fäusten. Ich hörte ihr Wimmern.
Ich weiß nicht mehr, wie ich die vier steilen Treppen runtergekommen bin, aber mit einem Mal stand ich unten auf der Straße. Annette lag einige Meter weiter weg regungslos auf dem Boden, ein paar Gaffer guckten aus sicherer Entfernung zu, der Mann war schon fast an der nächsten Ecke.
Ich weiß auch nicht mehr, warum ich nicht zuerst zu Annette gegangen bin, das hat man mir später vor Gericht angekreidet, ich weiß nur noch, daß ich dem Typ unter heiserem Geschrei hinterher bin. Die Gaffer haben später erklärt, ich hätte in einem fort tot, tot, tot gebrüllt, aber ich habe keine Ahnung, was ich damit meinte.
Auf einer Brücke holte ich ihn ein, packte ihn in vollem Lauf bei der Schulter und riß ihn herum. Sein Gesicht war kreideweiß, wie vermutlich auch meines und das von Annette, und seine Stirn schweißnaß. Während er nein, nein, nein stammelte, traf ihn mein erster Schlag auf den Mund. Er flog gegen das Brückengeländer und sackte dort jaulend in sich zusammen. Ich schlug erneut zu und schlug weiter, bis er keinen Mucks mehr von sich gab und ich von anderen festgehalten und zu Boden gedrückt wurde.
Er war tot. Annette mußte mit schweren inneren Verletzungen ins Krankenhaus. Und ich wanderte in Untersuchungshaft.
Es folgte ein Prozeß, der die Gemüter erregte. Der Mann, den ich erschlagen hatte, war nach Aussagen seiner Angehörigen und seines gesamten Bekanntenkreises ein unbescholtener Lebensmittelhändler gewesen, und niemand konnte sich vorstellen, was ihn dazu hätte veranlassen sollen, Annette erst durch die halbe Stadt zu verfolgen und dann an der dunklen Gracht über sie herzufallen. Seine Witwe erklärte weinend, daß er niemals zu so etwas imstande gewesen wäre, und schrie mich an, daß ich ein Mörder sei – was ich nicht leugnen konnte. Zum Glück gab es genügend Zeugen, die gesehen hatten, wie er Annette attackiert hatte. Geholfen hatte ihr natürlich keiner, denn alle waren, wie sie dem Richter beteuerten, davon ausgegangen, daß es sich um einen »normalen Ehekrach« handelte. Offenbar war es für diese Leute völlig normal, daß ein Mann seine Frau niederschlägt und vertrimmt! Es kam zu einem zähen Tauziehen zwischen dem Staatsanwalt und meinem Verteidiger, und am Ende wurde ich zu zweieinhalb Jahren Gefängnis wegen Totschlags verurteilt. Der Richter erklärte noch, daß ich mir mit meiner gleichgültigen Haltung während des Prozesses sämtliche Sympathien verscherzt hätte, worauf ich erklärte, daß mir sein Geschiß herzlich egal sei.
Ich hatte mich vom ersten Tag der Untersuchungshaft an stark verändert. Für nichts hatte ich mehr Interesse. Alles, was einen Menschen normalerweise antreibt, Selbstachtung, Selbstbeherrschung, Egoismus, Haß, Melancholie und so weiter, kam mir abhanden. Bis mir schließlich der ganze Joris, alias Sid, Stefan schnuppe war. Ich verfolgte zwar aufmerksam, wie er im Untersuchungsgefängnis malträtiert wurde und wie man ihn vor Gericht wie einen Spielstein hin und her schob, aber es tangierte mich nicht. Es war, als beträfe das alles jemand anders. Ich konnte mich zwar aufregen, wenn der Staatsanwalt wieder mal mit gewiefter Miene meinen wüsten Lebenswandel und mein aufbrausendes Temperament anführte, die der Anpassung an unsere zivilisierte Gesellschaft bedürften, aber ich tat das, weil jemand anderem, einem Dritten, Unrecht getan wurde, nicht mir selbst.
Was diese Veränderung ausgelöst hatte und was da ablief, könnte ich nicht erklären, vielleicht geht es jedem so, der entdeckt, daß man als Mensch nicht lebt, sondern gelebt wird.
Sieben Monate lang hatte ich Speichen in Fahrradreifen gesetzt und Plastikspielzeug sortiert, und alle vierzehn Tage hatte Annette mich besucht. Als sie zum fünfzehnten Mal kam, bat sie mich, in die Scheidung einzuwilligen. Sie habe seit einiger Zeit ein Verhältnis mit Peter, gestand sie, und sie hätten keine Lust mehr auf die ewige Heimlichtuerei.
Peter war ein Freund von mir und wie ich Texter, kein so guter, aber immerhin passabel. Wir hatten früher, in unserer Junggesellenzeit, oft zusammen Urlaub gemacht und beruflich bei mehreren Werbeprojekten zusammengearbeitet. Er ging bei uns ein und aus – offensichtlich auch noch, als ich im Gefängnis saß.
Natürlich willigte ich ein, was blieb mir auch anderes übrig. Ich mußte noch fast zwei Jahre absitzen, und Hörner hatten sie mir ja sowieso schon aufgesetzt.
Wegen guter Führung kam ich ein halbes Jahr früher raus und setzte mich, obwohl ich das Land eigentlich noch nicht verlassen durfte, gleich am nächsten Tag nach Südspanien ab, wo ich den Winter in einem kleinen Ort am Meer verbrachte. Ich versuchte, ein Buch über meine Zeit im Knast zu schreiben, aber ich brachte nur larmoyanten Käse zustande, was ich wenigstens rechtzeitig einsah. Als meine Ersparnisse erschöpft waren, trampte ich ans entgegengesetzte Ende von Europa, nach Schweden. Der Rest ist bekannt. Als Holzfäller hatte ich ganz gut verdient, zumal man in den Wäldern dort kaum was ausgeben konnte. Fast mein ganzes Geld war auf ein Bankkonto in Stockholm gewandert, so daß ich jetzt über zehntausend Kronen verfügte.
Man sagt ja, daß ein Verbrecher immer an den Ort seines Verbrechens zurückkehrt, und daran könnte durchaus etwas Wahres sein. Ich schaute zu meiner Dachgeschoßwohnung hinauf und sah, daß dort Licht brannte.
Annette und Peter saßen wahrscheinlich beim Abendessen oder gönnten sich einen guten Schluck, während sie meine Platten hörten.
Wir hatten vereinbart, daß sie hier wohnen bleiben konnten, bis ich zurück war. Jetzt würden sie schleunigst ausziehen müssen, so leid mir das tat. Ein komisches Gefühl, wenn man sozusagen als Außenstehender auf sein eigenes Heim blickt. Schön ist das nicht. Ich ging schnell weiter, um die nächste Ecke, am Hoppe vorbei. Rein wollte ich nicht, denn da waren immer irgendwelche Leute, die ich kannte, und ich wollte noch niemanden sehen. Über Spui und Rokin und dann an der Amstel entlang ging ich zum Rembrandtsplein, wo ich mich schließlich in einem Straßencafé niederließ. Die Stadt wirkte viel belebter als vor drei Jahren, die Leute kleideten sich endlich etwas besser und sahen fröhlicher aus, die Stimmung war schon fast frivol. An den Straßencafés vorbei promenierte ein stetiger Menschenstrom, manche Leute sah ich mindestens zehnmal vorüberkommen. Seltsamerweise flaniert man in Amsterdam nicht wie im Süden, um gesehen zu werden, sondern um zu sehen, wer denn so im Straßencafé sitzt, und wer im Straßencafé sitzt, will gesehen werden.
Ich bestellte ein großes Pils, das erste seit ich weiß nicht wie lange. Es war der reinste Nektar. So saß ich denn wie ein schwedischer Holzfäller mit einem Pils in der Hand und einer Zigarette zwischen den Lippen in einem Amsterdamer Straßencafé. Ein Fremder in meiner eigenen Stadt. Außer Jeanette wußte kein Mensch, daß ich wieder da war. Ich paffte meine Zigarette, betrachtete die Mädchen, die vorüberspazierten und herüberschielten, und dachte darüber nach, was ich jetzt eigentlich machen wollte.
Irgendwie würde ich mich doch wieder eingliedern müssen, wahrscheinlich wollte ich auch wieder an mein früheres Leben anknüpfen, aus dem Grund war ich ja wohl nach Amsterdam zurückgekehrt.
Aber wie? Indem ich wieder arbeitete? Werbetexte für Zahnpasta schrieb? Zum Zigarettenabsatz beitrug? Socken anpries? Etwas anderes hatte ich ja nicht gelernt. Vielleicht kein besonders ehrenwerter Beruf, aber wenigstens etwas, was Geld einbrachte. Ich beschloß, am nächsten Morgen erste geschäftliche Kontakte aufzunehmen. Nach einem zweiten Pils ging ich in einen Imbiß im Halvemaansteeg um die Ecke und aß eine Kleinigkeit. Gegen halb zehn stand ich wieder draußen, gesättigt, aber jetzt mit einem anderen, ungezügelten, jugendlichen Hunger im Bauch. Es wurde Zeit, daß ich auch den endlich stillte. Nach anfänglichem Zögern entschied ich mich, meinen Besuch bei Jeanette um einen Tag vorzuverlegen. Mehr als nein sagen konnte sie schließlich nicht.
Sogar das piekfeine Apollo-Viertel hatte an diesem schwülen Septemberabend etwas Geselliges. Auch hier flanierten viele Menschen auf den Straßen, vor allem halbe Kinder zwischen fünfzehn und zwanzig, die sich, symbolträchtig an Eislollis leckend, in großen Gruppen aneinander vorbeischoben und ganz offensichtlich genau wie ich mit dem Ruf der Natur zu kämpfen hatten. Dem Aussehen nach mußten manche von ihnen mit Leuten verwandt sein, die ich früher gekannt hatte. Vielleicht Geschwister oder sogar Kinder früherer Klassenkameraden.
Ich war in diesem Viertel aufgewachsen und zur Schule gegangen. Jede Straße war mit Erinnerungen verbunden. Dort wohnte mein alter Zahnarzt, dort war die Kirche, in der meine Schwester zum Konfirmandenunterricht gegangen war, von dem Tabakhändler da hatte ich immer die leeren Zigarrenkistchen bekommen. Er stand gerade vor seinem Ladeneingang und rauchte. Alt war er geworden. Wir sahen einander einige Sekunden lang eindringlich an, vielleicht erkannte er mich ja, aber er grüßte nicht.
Was mag die vermögenden Amsterdamer in den dreißiger Jahren nur dazu veranlaßt haben, sich in so eine grausige Gegend zu verkriechen? Wer zog denn freiwillig in solche Pfefferkuchenhäuschen, und welcher Architekt hatte bloß diese monströsen, tristen, grauen Wohnblocks auf dem Gewissen?
Dennoch hatte auch diese Ausgeburt bürgerlichen Einfallsreichtums auf die Dauer ihren eigenen Charakter entwickelt, und das vor allem dank der Zusammensetzung der Bewohner. Hier gab es ein einträchtiges Nebeneinander von jüdischen Immigranten und alten Nazis. Das Straßenbild beherrschten Stewardessen, Mannequins und Sekretärinnen, während die Häuser in erster Linie von Neurologen und Hautärzten bewohnt zu sein schienen.
Ich sah mich selbst wieder durch diese Straßen laufen, als kleiner Junge, ungeheuer blond, mit grimmigen schwarzen Augen, still und zurückgenommen – und hitzköpfig. Von allen alten Damen vergöttert und geherzt, aber ohne Freunde, denn die anderen Kinder hatten Angst vor mir. Und dann, einige Jahre später, als ich aufs Gymnasium ging: ein übermütiger Großkotz, der bei den Mädchen ankam und das zu früh auszunutzen wußte, zum Schrecken ihrer Eltern – und der Mädchen selbst. Ich war der Kapitän der Hockeymannschaft, der beste Tennisspieler, schnellste Schwimmer und beste Schüler der Klasse und ein unheimlicher Rüpel, der keine Hemmungen hatte, jedem gleich auf die Fresse zu hauen. Wieder ohne Freunde.
Kurz vor dem Abitur war ich meine Rolle als Klassenprimus plötzlich so leid, daß ich der Schule den Rücken kehrte. Ich zog durch die Kneipen im Stadtzentrum, und es dauerte nicht lange, bis ich mir auch dort meinen Platz erobert hatte, diesmal ohne daß ich es wollte. Mit nicht mal achtzehn ging ich auf wilde Partys, wo mich die Männer als Maskottchen und die Frauen als interessantes Verführungsobjekt betrachteten.
Als ich die große Brücke am Apollo-Pavillon erreicht hatte, auf die auf der einen Seite die Bernard Zweerskade mündet und auf der anderen der Herman Heijermansweg, blieb ich verblüfft stehen. Hier hatte es sich in den vier oder fünf Jahren, die ich nicht mehr da gewesen war, total verändert. In diesem Viertel hatten zwar schon immer sehr reiche Leute in riesigen Villen gewohnt, aber früher, in meiner Kindheit, war das hier noch richtiger Stadtrand gewesen, mit grasüberwucherten Brachen zwischen den Häusern und wilden Müllabladeplätzen da und dort. Jetzt erhoben sich im Hintergrund, jenseits des Beatrixparks, die schwarzen Schemen aus dem Boden gestampfter Hochhäuser vor dem violetten Gewitterhimmel.
Parallel zum Herman Heijermansweg (warum muß eigentlich ausgerechnet diese protzige Villenstraße an den alten Sozi erinnern?) verlief eine Fahrrinne, die Boerenwetering, die inzwischen nicht mehr benutzt zu werden schien. Der Damm, der sie durchschnitt (auf seiner einen Seite stand das Wasser auf Amsterdamer Pegel, also Normalnull, auf der anderen auf dem Pegel des umliegenden Polderlands), lag als Ruine aus Schrott und morschem Holz in dem verdreckten, trüben Wasser, das von Entengrütze und Schilf starrte. Einst hatte man hier die Boote der Gemüsebauern herübergezogen, und als Kinder hatten wir den Damm geliebt, weil man von dort so gut angeln konnte – nur beim Schlittschuhlaufen war er ein echtes Hindernis. Am anderen Ufer der Boerenwetering verlief die Haringvlietstraat, wo man kapitale Villen aus Glas und Beton in die Lücken zwischen den älteren Häusern gesetzt hatte, allerdings mit winzigen Gärten drum herum, denn in den Niederlanden herrscht nun mal Platzmangel.
Hier war Totenstille auf der Straße, Reiche-Leute-Stille. Hinter den geöffneten Fenstern eines Glashauses sah ich einen Mann und eine Frau wie stumme Fische in einem riesigen Aquarium dasitzen. Sie hatten jeder ein überdimensionales Cocktailglas in der Hand, das sie langsam schwenkten. Ich hörte das Eis in den Gläsern klimpern. Mir lief ein kalter Schauder den Rücken hinunter, und erneut hatte ich das eigenartige Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Mit »zu Hause« meine ich das Klima, in dem ich aufgewachsen bin. Diese beiden stummen Menschen in ihrem Glaskasten, der Griff des alten Mannes zu seinem Sherryglas, das waren für mich Symbole für eine Welt, die ich zwar längst und für immer verlassen hatte, die aber dennoch unauslöschlich in meiner Erinnerung weiterleben würde.
Das Haus, in dem Jeanette wohnte, war ein Doppelhaus, aber eines von der ganz großen Sorte. Links und rechts waren die Garagen und daneben und darüber die beiden Wohneinheiten mit mehreren Terrassen und Balkons. Jede erstreckte sich über drei Etagen und hatte mindestens acht Zimmer. Links war alles dunkel und in den ersten beiden Etagen rechts auch, aber darüber brannte Licht, das durch Vorhänge mit einer Art buntem Schottenkaro fiel. Ich ging automatisch davon aus, daß hier Jeanette wohnte.
In der Tat war neben die obere der beiden Klingeln an der gläsernen Haustür ein gedrucktes Kärtchen gepinnt, auf dem Jeanette van Waveren stand. Mit Kugelschreiber hatte sie darunter vermerkt: wg. Post bitte nicht klingeln!
Eine Sekunde bevor mein Finger den Klingelknopf berührt hätte, ging im Hausflur das Licht an. Ich brach die Bewegung ab, um zunächst abzuwarten, was passieren würde, vielleicht kam Jeanette ja gerade runter oder so. Durch die Gardine, die auf der Innenseite der Tür angebracht war, konnte ich einen weitläufigen, weiß getünchten und mit Parkett ausgelegten Eingangsbereich erkennen, von dem mehrere Türen abgingen. Rechts führte eine breite Treppe nach oben, die mit einem dicken, cremegelben Läufer bekleidet war.
Wenige Sekunden später sah ich im äußersten Winkel meines Blickfelds ein Paar schwarzer Schuhe die Treppe herunterkommen, gefolgt von einem Paar Beinen, einem bläulichen Anzug und schließlich einem Gesicht darüber. Einem Gesicht, das ich irgendwoher kannte, aber nicht gleich unterbringen konnte, bis mir schockartig aufging, daß es mein italienischer Sitznachbar aus dem Flugzeug war. Eilig nahm er die letzten Stufen und kam auf die Haustür zu.
Mit einem großen Satz war ich von der Eingangstreppe runter und mit einem zweiten um die Hausecke, wo ich ein schützendes Mäuerchen fand. Kurz darauf hörte ich, wie die Eingangstür zuschlug und sich jemand mit energischen kleinen Schritten vom Haus entfernte. Eine Autotür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen, zwei Scheinwerferlichter bohrten sich in die dunkle Straße, ein Motor sprang an, und kurz darauf schnurrte ein DS schnell auf und davon. Ich hatte gerade noch den Italiener am Steuer sitzen sehen können, mit den blinkenden Goldzähnen im halbgeöffneten Mund.
Was hatte der Typ hier verloren? Wie zum Teufel war er in Jeanettes Haus gelangt? Ich war aufgebracht und zugleich ein bißchen beunruhigt. Das gefiel mir ganz und gar nicht. Solche häßlichen Zwerge hatte Jeanette doch wohl nicht nötig!
Ich wartete noch fünf Minuten in meinem Versteck. Es stank süßlich nach Hundescheiße, und ich hoffte, daß ich nichts davon an den Schuhen hatte. Als sich nach zwei Zigaretten noch nichts getan hatte – weder war das Auto wiedergekommen, noch hatte jemand das Haus verlassen –, fand ich, daß genügend Zeit verstrichen war, um klingeln und ganz unschuldig nach oben gehen zu können. Es dauerte ziemlich lange, bis Jeanette die Tür aufspringen ließ.
»Wer ist da?« rief sie von oben.
Ich zog die Tür hinter mir zu und ging unverdrossen weiter. Auf halber Treppe sagte ich: »Ich.«
Sie fiel aus allen Wolken. »Was machst du denn hier?«
Ich lächelte charmant. »Freust du dich nicht, mich zu sehen?«
»Ich lag schon im Bett.« Sie sagte offenbar die Wahrheit, denn sie hatte sich einen weißen Bademantel übergestreift, den sie sorgsam mit beiden Händen zuhielt.
»Hast du schon geschlafen?«
»Mehr oder weniger.«
Während ich weiter die Treppe hinaufging, fragte ich: »Aber ein Gläschen in Ehren wirst du mir doch nicht verwehren?« »Ich hatte dich für morgen eingeladen.«
Es reizte mich, sie ein bißchen zu ärgern, so wie ich es auch mit den Bullen am Flughafen getan hatte. »Ach, komm. Ich war zufällig in der Gegend.«
»Ja, ja«, lästerte sie mürrisch und gab sich alle Mühe, möglichst schläfrig aus den Augen zu schauen. Ich schob sie sanft in ihr Apartment, in dessen geöffneter Tür sie gestanden hatte.
»Ein Gläschen, dann bin ich wieder weg. Ich wollte nur mal gucken, wie du so wohnst.« Ich machte die Tür hinter mir zu und sah mich um. Sie bewohnte zwei große, ineinander übergehende Zimmer. Sehr geschmackvoll, sehr teuer. Die Einrichtung war überwiegend in den vier Farbtönen Weiß, Schwarz, Elfenbein und Meergrün gehalten. Auf der einen Seite war ein großer offener Kamin, und davor standen zwei tiefe, schwarze Ledersofas und ein niedriger, länglicher Steintisch, bedeckt mit Büchern und Zeitschriften, zwischen denen ein wenig verloren zwei antike, geschliffene Champagnergläser standen. Die Wände waren elfenbeinfarben gekalkt, und eine Wand wurde gänzlich von einer Konstruktion aus glänzend lackierten Eichenholzborden eingenommen, auf denen Bücher und eine kleine Antiquitätensammlung untergebracht waren. Davor stand ein Bett, das offenbar zwischen die Bücherregale geklappt werden konnte, denn der Platz dafür war ausgespart. Jetzt aber war das Bett heruntergelassen und die Bettdecke zurückgeschlagen. Neben dem Bett führte eine Tür in der Bücherwand, die halb geöffnet war, in ein Badezimmer. Das ganze Apartment war mit meergrünem Teppichboden ausgelegt. Im kleineren hinteren Zimmer, wo nur eine Stehlampe in einer Ecke brannte, war längs der Wand sehr trickreich eine Art Bar eingerichtet, die in eine Kochnische überging. Im vorderen Zimmer brannten einige mit Bedacht ausgewählte Lampen nebst einer indirekten Deckenbeleuchtung. Vor den Fenstern hingen die Vorhänge mit dem Schottenkaro, die ich schon von draußen gesehen hatte. Eine Wand schmückte ein abstraktes Gemälde – ich hatte jetzt keine Zeit, mich näher damit zu befassen –, die anderen Wände waren nackt. Aber mehrere mit großen Blumensträußen gefüllte Vasen verliehen dem Apartment dennoch eine warme Atmosphäre. Es war insgesamt spärlich möbliert, nirgendwo stand etwas Überflüssiges herum. Das hatte für niederländische Verhältnisse schon ungewöhnlich viel Chic, auch wenn es nicht mein Geschmack war.
»Sehr schön, Jeanette, sehr schön.«
Sie nickte, das hatte sie schon so oft gehört. »Was möchtest du trinken?« fragte sie, während sie an die Bar trat.
»Gern einen Bokma.«
»Genever hab’ ich nicht«, sagte sie schnippisch.
»Dann Whisky pur, ohne Eis.«
Sie schenkte mir einen Daumenbreit Johnny Walker ein, sie selbst nahm nichts. Ich setzte mich auf eines der beiden Ledersofas, zündete mir eine Zigarette an und streckte die Beine aus. Während sie mit dem Glas Whisky zu mir herüberkam, sagte sie: »Ich möchte bald schlafengehen, Sid, ich bin todmüde.«
Sie ließ sich auf dem Sofa mir gegenüber nieder, wobei sie ihren Bademantel nach wie vor prüde zuhielt, und gähnte.
Ich trank mein Glas in einem Zug leer, es war ja eh kaum der Mühe wert, drückte meine Zigarette wieder aus und sprang vom Sofa auf.
»Gut, Schatz«, sagte ich und guckte dabei freundlich ergeben, als verstünde ich sie nur zu gut. Ich ging zu ihr hinüber, sie hob den Kopf, und ich küßte sie auf den Mund. Ihre Lippen schmeckten nach Whisky, sie hatte schon getrunken. Jetzt, da sie wußte, daß ich ging, wurde sie ein bißchen netter. Sie hielt die Augen geschlossen und biß mich sanft in die Unterlippe.
»Bis morgen, Sid, da habe ich den ganzen Abend Zeit für dich.«
»Fein, Schatz«, erwiderte ich und fragte, sie liebevoll am Ohrläppchen zupfend, mit bühnenreifer Beiläufigkeit in der Stimme und einem seligen Lächeln auf dem Gesicht: »Wie heißt eigentlich dieser schmierige Italiener aus dem Flugzeug, der vorhin von hier weggegangen ist?« Ich war ihrem Gesicht so nah, daß ich die kleinste Reaktion von ihr studieren konnte. Sie erstarrte fast unmerklich und hielt die Luft an.
»Was hast du gesagt?« fragte sie, um Zeit zu gewinnen. Sie öffnete langsam und schläfrig die Augen und ließ erst dann den angehaltenen Atem geräuschvoll durch die Zähne entweichen.
»Du hast mich ganz genau verstanden.«
Völlig unerwartet schnellte sie hoch und stieß mich hart gegen die Brust, so daß ich ein paar Schritte zurück machen mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Arrogant zog sie eine Augenbraue hoch und stemmte die Hände in die Seite, was den schönen Nebeneffekt hatte, daß sich ihr Bademantel öffnete. In dieser Haltung sah sie mich kurz mit zusammengepreßten Lippen an und sagte dann langsam, mit unüberhörbarer Drohung in der Stimme:
»Was geht dich das an?«
»Ich sah ihn zufällig nach draußen kommen. Im Flugzeug schienst du ihn noch nicht zu kennen.«
»Was spionierst du hier herum?«
»Ich spioniere nicht, ich wollte dich besuchen.«
»Mein lieber Sid, ich möchte dir dringend raten, dich nicht in meine Angelegenheiten einzumischen! Das könnte böse für dich ausgehen.«
Ich lachte hämisch, das machte mich jetzt wirklich fuchsig. »Wieso, Jeanette? Muß ich mich etwa vor deinem Zuhälter in acht nehmen?«
Sie zog die Stirn kraus. »Wie soll ich das verstehen?«
»Du gehörst doch hoffentlich nicht zum Verein derer, die auf heimlich zugesteckte Angebote eingehen, Jeanette, oder? Läßt du dir diesen ganzen Luxus hier etwa von solchen schmierigen alten Knackern bezahlen? Von deinem Stewardessengehalt wirst du das ja wohl kaum können, oder?«
Sie biß sich auf die Unterlippe und sagte dann mit einem eigenartigen Lächeln: »Du kannst von mir aus denken, was du willst. Verstehen wirst du es sowieso nicht. Und jetzt geh bitte, Sid. Ich will dich nicht mehr sehen. Du brauchst auch morgen nicht mehr zu kommen.«
»Okay, Jeanette, ich gehe. Aber sag mir nur, warum?«
Sie drehte mir den Rücken zu und sagte noch einmal gleichgültig: »Du wirst es sowieso nicht verstehen.«
»Was werde ich nicht verstehen verdammt?« fuhr ich sie an. Ihr geringschätziger Ton machte mich rasend.
»Nichts. Und jetzt verzieh dich. Bevor es zu spät ist. Es geht dich nichts an.«
Ich trat einen Schritt vor, packte sie bei den Schultern und drehte sie zu mir um. »Zu spät für was?«
Sie riß sich los. »Je weniger du weißt, Sid, desto besser.« Wieder dieses eigenartige Lächeln, eine Mischung aus Kälte und Melancholie. Es war zwecklos. Ich machte kehrt, zog die Tür hinter mir zu und ging die Treppe hinunter. Auf halbem Weg meinte ich, sie weinen zu hören, und blieb stehen. Aber ich mußte mich getäuscht haben, es war totenstill. Wahrscheinlich horchte sie wie ich mit angehaltenem Atem, wann endlich die Haustür hinter mir zufallen würde. Ich ging weiter und knallte die Tür betont laut hinter mir ins Schloß.
In dem Glashaus schwenkten der Mann und die Frau immer noch ihre Cocktailgläser und blickten mit trüben Fischaugen nach draußen, ohne etwas zu sehen. Ich bog in die Apollolaan ein und ging Richtung Zentrum zurück.
Geh, bevor es zu spät ist... Zu spät für was?... Je weniger du weißt, desto besser... Je weniger von was? Wer war dieser häßliche Zwerg? Was war mit Jeanette los?
Offenbar hatte sich auch hier in den letzten drei Jahren das eine und andere verändert. Ich war müde. Das Gefühl in meinem Bauch, diese jugendliche Geilheit, war zwar nach wie vor da, aber wenn es denn sein mußte, würde ich schon noch eine weitere Nacht allein schlafen können. Mit einem Mal fielen einzelne dicke, große Regentropfen herab, die wie Murmeln auf dem staubigen Pflaster aufschlugen. Ich hielt ein Taxi an, das mich zum Hotel zurückbrachte. Als ich unter der Dusche stand, brach endlich das Gewitter los.