3
Mit donnerndem Getöse fiel der riesige Baum um, seine dicken Äste zerbrachen unter dem Gewicht des Stammes wie Streichhölzchen. So oft ich das nun schon gesehen hatte, erschrak ich doch jedesmal wieder über das Geräusch, mit dem das einherging. Diesmal so sehr, daß ich aus dem Schlaf hochfuhr.
Ich versuchte die Augen zu öffnen, aber meine Lider waren steif und verquollen. Blind tastete ich um mich herum und fand über meinem Kopf eine Kordel, an der ich zog. Ein Vorhang öffnete sich, und gleißendes Morgenlicht fiel ins Zimmer. Blinzelnd schaute ich mich um. Auf einem Stuhl neben meinem Bett lag ein Stoß niederländischer Zeitungen. Langsam dämmerte mir, daß ich mich in einem Hotelzimmer in Amsterdam befinden mußte. Ich schaute auf meine Armbanduhr, es war halb acht. Plötzlich klopfte es an der Tür.
Obwohl, plötzlich... Wahrscheinlich hatte mich das Klopfen geweckt. Ich tauchte unter die Bettdecke zurück und fragte: »Ja?«
Die Stimme einer älteren Frau antwortete unterwürfig: »Ihr Frühstück, Mijnheer. Ich kann nicht rein, die Tür ist abgeschlossen.«
»Stellen Sie es einfach auf dem Flur ab, ich hole es mir dann schon selbst.« Ich konnte doch einer Wildfremden nicht den Anblick meines nackten Körpers zumuten. Ich hörte, wie etwas vorsichtig auf dem Boden abgestellt wurde, wie jemand davonschlurfte und wie der Aufzug ächzend wieder nach unten fuhr. Alles und jeder in diesem Hotel war alt, das stand fest.
Ich schlug die Decke zurück und schaute aus dem Fenster. Über der Gracht hing ein zarter Nebelschleier. Die Sonne stand noch hinter den gegenüberliegenden Häusern, wie Pfeile schossen ihre grünlichen Strahlen über die Dächer. Mein Frühstück stand auf einem Tablett auf dem Fußboden, neben meinen von kundiger Hand spiegelblank geputzten Holzhackerschuhen. Ich frühstückte im Bett, ein Luxus, den ich mir seit Jahren nicht mehr hatte erlauben können. Der Kaffee war glühend heiß und pechschwarz, der Orangensaft herrlich kalt. Die Eier waren genau richtig und vom Speck schön gesalzen, der Toast war fast so perfekt wie in England. Es hätte mich nicht gewundert, wenn der alte Sherryexperte persönlich das Frühstück zubereitet hatte. Nachdem ich sechs Tassen Kaffee getrunken, die Eier vertilgt und auch das Glas Orangensaft geleert hatte, griff ich zum Telefonhörer.
»Ja?« fragte die knarrende Stimme des alten Herrn, der bereits wieder auf seinem Posten war. Ich gab ihm Annettes Telefonnummer, die eigentlich meine eigene war, und er verband. Es klickte kurz, dann hörte ich den Klingelton am anderen Ende der Leitung. Komischerweise war ich ein bißchen nervös und mußte ein paarmal schlucken. Es dauerte ziemlich lange, bis jemand ranging, erst nach achtmal Läuten oder so.
»Hallo?« sagte eine träge, verschlafene Stimme.
»Annette?«
»Ja?« Sie tat, als wüßte sie nicht, mit wem sie sprach, aber ich war mir sicher, daß sie meine Stimme sofort erkannt hatte. »Hier Sid.«
»...Oh...Sid, du bist wieder da? Wie schön...«
Was sollte sie auch sonst sagen? Ich beschloß, ihr weitere Mühen zu ersparen. »Hast du noch geschlafen?«
»Nein, nein.«
Ich hörte ihrer Stimme an, daß sie log. Es war von jeher so gewesen, daß sie als energiegeladener Mensch gelten wollte und daher nach außen hin so tat, als würde sie immer früh aufstehen. Aber ich wußte es besser. »Hör zu, ich komme gleich bei dir vorbei, um meine Klamotten zu holen.«
Kurze Pause. »Oh, gut, Schatz. Wann genau?«
»In einer halben Stunde.«
»Fein. Kaffee oder Tee?«
»Gern Sherry.« Ich legte grinsend auf. Ihrer Stimme nach zu urteilen, war sie noch nervöser gewesen als ich.
Ich ging unter die Dusche, erst glühend heiß, dann eiskalt. Welcher Luxus! Dann rasierte ich mich und zog mich an. Die Holzhackerkluft konnte ich nicht mehr sehen. Als ich schon die Zimmertür hinter mir abschließen wollte, fiel mir zum erstenmal wieder mein ungelegener Besuch bei Jeanette ein. Ich dachte daran, wie herausfordernd sie in ihrem weißen Bademantel vor mir gestanden hatte, die Hände in den Seiten, dieses betrübte Lächeln um den Mund und diesen kalten Blick in den Augen, und es tat mir augenblicklich leid, daß ich mich mit ihr gestritten hatte. Was mischte ich mich denn auch ein? Was ging mich ihr Leben an? Welches Recht hatte ich dazu, wie ein eifersüchtiger Verehrer Rechenschaft von ihr zu verlangen? Schließlich hatte sie mir einen gemütlichen Abend versprochen und mich dabei äußerst verführerisch angesehen. Es wäre doch ein Jammer, wenn ich mir das durch mein mangelndes Feingefühl verscherzt hätte. Ich ging zum Telefon zurück, bat um die Verbindung mit ihrer Nummer und ließ es zehnmal läuten, bevor ich wieder auflegte. Ich beschloß, es später noch einmal zu versuchen.
An der Rezeption saß der vornehme alte Herr und las Zeitung. Ich konnte nicht sehen, welche, aber es hätte mich nicht gewundert, wenn es das Times Literary Supplement gewesen wäre. Vor ihm stand ein volles Glas Sherry. Wir grüßten einander respektvoll. Die ersten Sonnenstrahlen drangen von draußen herein. Im Vestibül tanzten kleine Staubteilchen in den scharf gebündelten Strahlen auf und ab.
Sie hatten mein Namensschild neben der Klingel drangelassen, darüber aber ein zweites angebracht: Peter Badier. Ich klingelte, und Madame Badier ließ die Tür aufspringen. Ich ging die vertrauten vier Treppen hinauf; Annette war in der Küche.
»Ich bin in der Küche, Sid«, rief sie. Sie goß gerade den Sherry ein. Sie trug eine weiße Leinenhose, einen roten Pullover mit hohem Rollkragen und eine Art Cowboyweste aus gelbem Leder darüber. Ihr kastanienbraunes Haar war glatt nach hinten gekämmt und fiel ihr bis auf die Schultern. Stand ihr nicht schlecht. Sie war braungebrannt, bestimmt gerade aus dem Urlaub zurück.
»Du bist wohl gerade aus dem Urlaub zurück, was?«
Sie nickte. »Vor zwei Wochen. Du siehst aber auch nicht übel aus.«
Sie war noch immer erstaunlich hübsch, aber sie hatte dunkle Schatten um die Augen – vom frühen Aufstehen womöglich? –, und ihr Mund war älter geworden. Ich drückte flüchtig die Lippen auf ihre Wange.
»Peter ist zu einer Besprechung in Düsseldorf«, sagte sie gleichzeitig. »Er kommt heute nachmittag zurück.«
Wir gingen in das riesige Wohnzimmer (mein riesiges Wohnzimmer). Obwohl jetzt viel Gerümpel drinstand, das nicht mir gehörte, und obwohl sie alles umgestellt hatten, falsch, war es für mich das gemütlichste Zimmer, das ich kannte. Die weißgekalkten Wände waren noch original aus den dreihundert Jahre alten Backsteinen, mit denen das ganze Haus gebaut worden war. Dicke, schwarzgeteerte Balken zogen sich über die Decke, die ich zur Hälfte aufgebrochen hatte, so daß der eine Teil des Raumes bis zur Dachschräge hinaufreichte. Den verbliebenen Teil des Dachbodens hatte ich zu einem offenen Schlafraum gestaltet, den man über eine breite Treppe erreichen konnte.
Die Eichendielen der weiten Fußbodenfläche waren mattgelb gebeizt. Ich hatte nur wenige Möbel darauf platziert, ein paar große Sofas, einige Sessel und einen großen Arbeitstisch. Im hinteren Teil befanden sich eine kleine Eßküche und daneben das Badezimmer.
Wir setzten uns. Annette schob mir mein Glas Sherry hin. Während wir anstießen, wich sie meinem Blick aus. Der Sherry war knochentrocken.
Ich schaute auf meine Armbanduhr, es war Viertel nach neun. Ich fragte mich, ob Annette wohl schon gefrühstückt hatte, denn auf nüchternen Magen würde ihr so ein Glas Sherry nicht gut bekommen.
»Kannst du uns zwei Wochen Zeit geben, bis wir etwas anderes gefunden haben?« fragte sie.
Warum nicht auch das? Sie hatten ja nur drei Jahre Zeit gehabt, sich eine andere Bleibe zu suchen.
»Okay. Zwei Wochen.« Ich kam mir vor wie ein trotteliger Onkel, der der lieben Verwandtschaft zum x-tenmal sein Wochenendhaus zur Verfügung stellte und selbst den Urlaub in der Stadt verbringen mußte.
Sie nickte sachlich. »Ich hab’ dir deine Sachen schon hingestellt.« Sie zeigte auf die beiden großen Koffer, in denen ich meine Klamotten verstaut hatte. Ich war gespannt, ob noch alles drin war. Oder ob Peter womöglich auch noch meine Oberhemden trug.
»Hast du das von Japie schon gehört?« Japie war auch einer aus der Werbewelt, aber ein Schlaffi, der es nie richtig geschafft hatte. Jetzt hatte er Selbstmord begangen, wie sie mir erzählte, weil seine Frau ihn verlassen hatte.
Ich nickte und bemerkte ironisch: »Auch eine Lösung.«
Da erst ging ihr auf, daß es vielleicht nicht so opportun war, mir mit derartigen Neuigkeiten zu kommen. Sie wurde rot, nahm einen zu großen Schluck Sherry, verschluckte sich und mußte husten. Als sie sich gefangen hatte, bot ich ihr eine Zigarette an – immer galant bleiben! –, die sie mit zittrigen Fingern zwischen ihre Lippen schob.
Mann, war die nervös! Wir quatschten ein bißchen über dies und jenes, und ich erkundigte mich nach Bekannten und Kollegen. Nicht, daß die mich noch im Geringsten interessiert hätten, aber ich wollte Annette ein bißchen beruhigen. Sie erzählte unzusammenhängend von diversen Hochzeiten und Sterbefällen in ihrem Umfeld, und sog dabei wie wild an ihrer Zigarette.
Wie es Peter gehe, fragte ich. Oh, Peter gehe es so gut, er sei heute in Düsseldorf, oh, das habe sie ja schon erzählt. Ja, er habe Aufträge noch und nöcher und verdiene Geld wie Heu, er sei zwar ein bißchen überarbeitet gewesen, aber der Urlaub habe ihm gutgetan. Ja, zum Glück. Endlich kam sie auf die Idee, auch mal zu fragen, wie es denn mir gehe. Blendend. Fein, du siehst auch gut aus. Danke. Wirklich. Ja, danke. Wann bist du zurückgekommen? Gestern. Blablabla. Sie schenkte noch einmal nach, beugte sich zu mir herüber – mir fiel auf, daß ihre Augen die gleiche Farbe hatten wie der Sherry, den wir tranken – und sah mich ernst an.
»Hör mal, Sid, ich finde, daß wir in der Lage sein müssen, diese Situation wie erwachsene Menschen zu handhaben.« »Da bin ich ganz deiner Meinung, Annette.«
»Findest du nicht auch, daß es möglich sein muß, daß wir drei genauso miteinander umgehen wie, na ja, sagen wir mal wie früher?«
Ob ich überhaupt Lust hatte, mit jemandem umzugehen wie, na ja, sagen wir mal wie früher, wurde ich gar nicht erst gefragt.
»Ja, das finde ich auch.« Der trottelige Onkel erfaßte, daß die liebe Verwandtschaft ihn bequatschte, sein Wochenendhaus endgültig abzutreten, traute sich aber noch nicht, das abzulehnen.
»Würdest du dann heute abend zum Essen zu uns kommen? Dann können wir das Ganze mal in aller Ruhe zu dritt besprechen.«
Was hieß hier »das Ganze«? Und was »in aller Ruhe«?
»Ich würde ja schon gern, aber ich weiß noch nicht, ob ich
kann. Ich bin nämlich heute abend schon bei Jeanette eingela–
den. Aber daraus wird vielleicht nichts.«
Sie fuhr hoch und sah mich ungläubig an. »Hast du Jeanette denn schon gesehen?« Sie meinte: Bist du etwa zuerst zu Jeanette gegangen und dann erst zu mir?
»Ja. Sie war Stewardess in dem Flugzeug, mit dem ich gekommen bin.«
»Ach so.« Sie entspannte sich wieder. »Und warum sollte nichts daraus werden?«
»Ich weiß nicht. Ich habe heute morgen schon einmal bei ihr angerufen, aber sie war nicht zu Hause. Darf ich noch mal von hier anrufen?«
»Bitte.«
Darf ich noch mal von hier anrufen! Es war mein eigenes Telefon!
Ich ließ es jetzt zwanzigmal bei Jeanette läuten, aber sie nahm nicht ab.
»Ja, wann weißt du denn dann, ob du kommen kannst oder nicht?« fragte Annette, als ich auflegte, und blätterte dabei unwirsch in einer Zeitung.
»Ich ruf’ dich heute nachmittag kurz an, in Ordnung?« »Aber nicht zu spät, ich muß noch einkaufen.«
»Ich werde daran denken.«
»Noch einen Sherry?«
»Nein, danke, ich geh’ dann jetzt mal. Ich ruf mir noch schnell ein Taxi.«
Während ich der Taxizentrale die Adresse durchgab, sah ich mir Annette noch einmal genau an. Sie war eine schöne Frau, und wie jede schöne Frau hatte sie einen schwierigen Charakter. Aber schöne Frauen haben es auf dieser Welt ja auch nicht leicht. Ich wäre auch nicht gern der Honigtopf, um den die Fliegen schwärmen.
Endlich hatte ich nun meine Klamotten wieder. Vor sechs Jahren, als meine Karriere allmählich in Gang gekommen war, hatte ich fünf Hobbys gehabt: Bücher, Klamotten, Frauen, Autos und Alkohol. In genau der Reihenfolge. Drei Jahre später, als meine Karriere gefestigt und ich verheiratet war, waren nur noch drei davon übrig gewesen: Bücher, Klamotten und Autos. Und jetzt waren es nur noch zwei: Bücher und Klamotten. Autos interessierten mich nicht mehr, und Frauen und Alkohol waren kein Hobby mehr, sondern bittere Notwendigkeit.
Klamotten. Ich glaube, behaupten zu dürfen, daß ich zu den zehn bestgekleideten Männern Amsterdams gehört habe. Nun ist natürlich im Land der Blinden der Einäugige sehr schnell König, zugegeben, aber ich glaube, ich hatte zwei scharfe Augen für Mode. Nicht, weil ich ein Geck war oder gar weibisch, sondern weil ich einfach perfekt geschnittene Anzüge liebte und Stoffe, deren Qualität man zwischen den Fingern fühlen konnte. Ich liebte Farben und Dessins. Ich liebte Oberhemden, Kragen und Manschetten. Und Krawatten. Über Krawatten hätte ich stundenlang reden können. Ich liebte auch Schuhe und Socken. Nur Hüte, Mäntel und Pyjamas liebte ich nicht.
Auf dem Weg zum Hotel ließ ich das Taxi kurz halten und kaufte in einer Parfümerie Seife, Lotion, Aftershave, Talkumpuder und Zahnpasta. Im Hotel ging ich gleich noch einmal unter die Dusche und wählte dann einen Anzug aus.
Nur wer zwei Jahre im Gefängnis gesessen, sich dann sechs Monate lang an einem nahezu ausgetrockneten Brunnen in Südspanien und danach sechs Monate in einem eiskalten schwedischen Gebirgsbach gewaschen hat, kann sich das Gefühl höchsten Luxus vorstellen, das ich empfand, als ich mich unter dem warmen Wasserstrahl einseifte und anschließend puderte wie ein Mädchen, das zu seiner ersten Party geht.
Ich entschied mich natürlich für den am wenigsten zerknitterten Anzug, einen aus hellgrauem Flanell, den ich mit einem hellblauen amerikanischen Oberhemd (Saks, Fifth Avenue), einer dunkelblauen Seidenkrawatte (San Marco, Venedig), blauen Socken und schwarzen, in London (Old Bondstreet) gekauften Loafers kombinierte.
Okay, ich war ein Snob.
Ich rief noch einmal bei Jeanette an und ließ ihr Telefon endlos läuten. Komisch, aber vielleicht wollte sie an diesem Vormittag einfach nicht ans Telefon gehen, dachte ich.
Danach führte ich meine ersten geschäftlichen Gespräche. Alle waren erstaunt, wenn sie meinen Namen hörten, sowohl die Telefonistinnen, soweit sie mich gekannt hatten, als auch ihre Chefs, die Direktoren der wichtigsten Werbefirmen in der Stadt. Die Telefonistinnen, die sich noch an mich erinnerten, klangen samt und sonders erfreut, daß ich wieder da war, aber nicht alle Chefs dachten genauso, das war ihren Stimmen deutlich anzuhören. Ich hatte in diesem Business viele Feinde, das merkte ich sofort wieder. Warum? Vielleicht, weil ich ihnen zuviel Geld abgeknöpft hatte. Auf jeden Fall war ich ihnen wohl zu dreist. Ich scherte mich um nichts und niemanden und machte den Job nur, weil er gut bezahlt war. Und das ging vielen gegen den Strich. Werbung verlange Ernsthaftigkeit, fanden sie. Und sie hatten vermutlich recht, nur war mir das völlig schnurz. Ich textete, weil ich das zufällig gut konnte und mir das viel Geld einbrachte. Und was hätte ich sonst tun sollen? In irgendeinem Büro hocken?
Ich traf zwei Verabredungen. Mit einem Direktor würde ich um halb eins im Americain zu Mittag essen, der zweite erwartete mich nachmittags zum Tee. Sie waren die Einzigen, die mich schon vermißt hatten und mich brauchten – das sagten sie jedenfalls.
Es war halb elf. Ich beschloß, Blumen zu kaufen und zu Jeanette zu gehen. Wenn sie nicht da war, konnte ich die Blumen vielleicht mit einer kleinen Nachricht bei ihrer Hauswirtin hinterlassen.
Auf der Suche nach einem Taxi kam ich am Pieper an der Prinsengracht vorüber. Ich fand, daß ich es wagen konnte, einen ersten Schritt zurück ins Kneipenleben zu tun, und ging hinein. Das Pieper war ein uraltes Trinklokal, in dem ein hervorragendes Pils gezapft wurde. Entsprechend groß war die Stammkundschaft. Zu meinem Erstaunen hatte der Besitzer gewechselt. Evert, der gallige, querköpfige, aber liebenswerte frühere Wirt, der hier an die fünfundzwanzig Jahre lang geherrscht hatte, war weg. Aber nach wie vor war der Fußboden mit Sand bestreut, die Wände waren braun gestrichen, und es gab keine Musikbox. Die allerelementarste Umgebung, die ein Mensch braucht, um sich ein gutes Glas Bier oder Genever zuzuführen. Ich stellte mich dem neuen Wirt vor. Er hatte schon von mir gehört, auch, daß ich im Knast gewesen war, wie sich daraus schließen ließ, daß er das Gespräch so lenkte, daß ich nicht zu erzählen brauchte, wo ich die ganze Zeit gewesen war. Und er zapfte ein exzellentes Pils.
Ich rief von hier aus noch einmal bei Jeanette an. Wieder keine Antwort. Als ich an den Tresen zurückkam, waren einige Stammgäste hereingekommen. Sie blinzelten bei meinem Anblick kurz, als trauten sie ihren Augen nicht, ließen sich aber nichts weiter anmerken. Etwas später begrüßten sie mich dann mit Handschlag und sagten irgendwas Neutrales wie »na, auch mal wieder da« oder »lange nicht gesehen«. Ich grinste blöd und gab eine Runde aus. Sie fragten nicht, wo ich gewesen war oder was ich gemacht hatte, das kümmerte sie einfach nicht. Eine Kneipenbekanntschaft geht nicht über ein Schulterklopfen und eine Runde Schnaps oder Bier hinaus, und das ist auch gut so. Wenn man am Tresen steht, will man ungebunden sein, da geht es keinen etwas an, welchen Scheiß man gerade am Hals hat.
Wir knobelten eine Runde. Ich hatte mein glückliches Händchen – mein goldenes Händchen nannten sie es – noch nicht verloren und gewann genauso wie früher. Die Wiedereingliederung lief doch ganz gut, fand ich.
Nach ein paar Gläsern machte ich mich auf den Weg, kaufte am Leidseplein einen Strauß Rosen und nahm ein Taxi zu Jeanette.
Die Vorhänge waren immer noch geschlossen. Ich klingelte sechsmal lange und mit Nachdruck, aber es regte sich nichts. Auf dem Schildchen neben dem unteren Klingelknopf stand »Effimandi«. Ich nahm an, daß das der Name ihrer Hauswirtin war, und klingelte dort. Sofort sprang die Haustür auf. Ich trat in den Flur. Eine der Türen wurde geöffnet, und eine kleine Frau erschien im Rahmen.
Sie trug ein hellrosafarbenes enges Kleid mit tiefem Ausschnitt, der den Ansatz eines braun gefleckten Busens sehen ließ. Ihr pechschwarzes Haar war kurz wie ein Bubikopf. Die Nägel der Hand, die am Türknauf lag, waren lila lackiert, und um das Handgelenk baumelten an die zehn bunte Armreifen. Sie lächelte mich an und entblößte dabei ein gelbes Rauchergebiß. Ich schätzte sie auf etwa sechzig.
»Kommen Sie herein.«
Ich schloß die Haustür hinter mir und folgte ihrer Aufforderung. Der riesige Wohnraum, den ich betrat, war in gleißendes Sonnenlicht getaucht, das noch durch einen knallgelben Teppich verstärkt wurde, in dem ich bis zu den Knöcheln versank. Die Wände des Raums waren hellblau tapeziert. Eine große Fensterfront bot Ausblick auf die trostlose Boerenwetering, und ein kleines Fenster rechts auf den winzigen Garten. Unzählige Möbelstücke, viele Sessel, Sofas, Chaiselongues in den verschiedenartigsten Stilrichtungen von Rokoko bis Knoll standen kreuz und quer durcheinander und waren mit Stoffen in Schockfarben von Purpurrot über Giftgrün bis hin zu Azurblau bezogen. Die geballte Wirkung von Sonnenlicht und Farben tat meinen Augen im ersten Moment so weh, daß ich sie mit der Hand abschirmen mußte, um mich langsam daran zu gewöhnen.
Mit eleganter Handbewegung deutete die Frau auf ein orangefarbenes Sitzmöbel.
»Nehmen Sie Platz.«
»Darf ich mich erst einmal vorstellen, Frau...?« begann ich. Aber sie hob abwehrend die Hand.
»Nicht nötig, nicht nötig, Ihren Namen brauche ich doch nicht zu wissen. Sie kommen wegen Jeanette?« Sie zeigte auf die Rosen, die ich auf dem Schoß hielt.
»Stimmt.«
»Was wollen Sie von ihr?«
»Ich möchte gerne mit ihr sprechen.«
»Ah...«
Pause. Sie saß mir direkt gegenüber und hatte die Sonne im Rücken, so daß ich ihr Gesicht nicht richtig sehen konnte. Wir schwiegen.
Im Zimmer lag ein betäubender Duft, und ich entdeckte, daß von der Deckenmitte, wo normalerweise eine Lampe hängt, eine Kordel mit einem großen Bündel Duftkugeln herabhing. Lampen gab es überhaupt keine. Hier wurde offenbar nur bei Tageslicht gelebt.
»Sie kennen sie?« fragte die Frau unvermittelt und setzte sich in einen anderen Sessel, so daß ich sie nun besser sehen konnte.
»Sicher, wir sind alte Freunde. Ich bin gerade drei Jahre im Ausland gewesen, und gestern habe ich sie getroffen, und sie bat mich, sie anzurufen. Aber sie geht nicht ans Telefon, und da dachte ich mir, ich schau mal kurz vorbei.« Ich merkte, daß meine auf die Schnelle bedachte Ausflucht jeder Logik entbehrte, aber das schien ihr nicht aufzufallen.
»Ja... Ja...«, sagte sie und grinste mich, wie mir schien, schadenfroh an. Ich grinste zurück. Wieder schwiegen wir eine ganze Weile. Die Fenster waren allesamt geschlossen, es war erstickend heiß. Ich hatte schon schweißnasse Hände, und meine Ohren glühten. Eine Stunde in diesem Brutkasten, und ich wäre tot gewesen. Endlich begann sie mit monotoner Stimme zu sprechen, als sagte sie eine Lektion auf, die sie auswendig gelernt hatte.
»Gestern abend um neun bekam Jeanette Besuch. Ich weiß nicht, von wem, aber ich glaube, es war ihr Schwager. Er blieb bis elf Uhr. Kurz danach bekam sie noch einmal Besuch, der blieb nur kurz. Höchstens zehn Minuten. Jeanette bekommt oft Besuch. Anschließend ist sie mit einem Taxi weggefahren. Gegen zwei wurde sie nach Hause gebracht. Von wem, weiß ich nicht. Ihr Begleiter blieb ungefähr eine halbe Stunde oben. Heute früh ist sie gegen sechs Uhr wieder weggegangen. Sie schlich ganz leise die Treppe hinunter, um mich nicht zu stören. Ich habe sie trotzdem gehört, habe aber nicht aus dem Fenster geschaut. Ich war noch halb im Schlaf. Es kommt schon mal vor, daß ich schlafe, nicht oft, aber manchmal. Ich lag noch auf der Couch.« Sie zeigte auf einen lilafarbenen Diwan in einer Ecke am Fenster, offenbar hatte sie kein Bett. »Bis jetzt ist sie nicht zurückgekommen.« Sie verstummte, ihr Blick hatte plötzlich etwas Abwesendes.
Ich nickte und war froh, daß sie nicht meine Hauswirtin war. Mir fiel ein, daß Jeanette schon im Flugzeug gesagt hatte, ihre Hauswirtin hätte einen Spleen. Was das heißen sollte, hatte ich zu dem Zeitpunkt nicht verstanden, aber jetzt konnte ich ihr nur recht geben.
»Wer ist dieser Schwager?« hakte ich vorsichtig nach.
»Sind Sie wirklich ein Freund von Jeanette?« fragte sie plötzlich mißtrauisch.
»Ja, wirklich«, beteuerte ich etwas treudoof.
»Aus Rom?«
Wieso auch nicht? »Ja, genau, aus Rom.«
»Gut, ich glaube, ich kann Ihnen trauen. Ich werde Ihnen nicht die Karten legen und Ihnen auch nicht aus der Hand lesen, aber darf ich Ihnen sagen, wann Sie geboren sind?«
»Nur zu«, erwiderte ich und sah sie amüsiert an.
»Zwischen dem neunundzwanzigsten Dezember und dem zweiten Januar«, sagte sie prompt. Es stimmte, ich bin am einunddreißigsten Dezember geboren. Jetzt fand ich es schon nicht mehr so amüsant. Ich hasse solchen übernatürlichen Hokuspokus. Womöglich konnte sie auch noch Gedanken lesen.
»Das stimmt, ich bin am einunddreißigsten Dezember geboren. Sagenhaft, wie Sie das erraten haben!«
»Jeanettes Schwager«, fuhr sie ohne Überleitung fort, »hat auch Ende Dezember Geburtstag. Sie würden sicher gut mit ihm auskommen, wo sie beide Steinbock sind. Er ist italienischer Journalist. Er kommt sie oft besuchen, meistens, wenn sie gerade von einem Flug zurück ist. Hin und wieder ist sein Freund dabei, auch ein Italiener. Sehr gutaussehend, wahrscheinlich Fisch. Jeanette mag ihn sehr. Er kommt auch häufig allein, wann immer es ihm paßt. Schade, daß er was mit ihrem Schwager zu tun hat. Ihr Schwager ist sehr häßlich.« Sie verzog das Gesicht. »Haben Sie vielleicht eine Zigarette für mich?«
Ich bot ihr eine Zigarette an, gab ihr Feuer und zündete mir selbst auch eine an. Das Gespräch begann mich zu interessieren.
»Möchten Sie vielleicht etwas trinken? Campari schmeckt bei diesen Temperaturen besonders gut.«
»Gerne.«
Sie erhob sich und ging aus dem Zimmer. Ich schaute mich noch einmal um und entdeckte ein gerahmtes Foto an einer der Wände. Ich konnte meine Neugierde nicht unterdrücken und schaute es mir aus der Nähe an. Es war eine Aufnahme von einer jungen Frau in weißer Tropenkleidung und mit einem Tropenhelm auf dem Kopf. Sie hatte einen ihrer gestiefelten Füße auf den Kopf eines toten Tigers gestellt, und ihr linker Ellbogen ruhte auf dem Kolben einer doppelläufigen Jagdflinte, die mit dem Lauf in den Boden gespießt war. Eigenartigerweise weinte sie. Obwohl das Foto vor mindestens dreißig Jahren gemacht sein mußte, erkannte ich Frau Effimandi sofort. Sie war früher sehr schön gewesen.
Während ich mir noch das Foto anschaute, kam sie wieder herein. Ich fühlte mich ertappt. »Das sind Sie«, sagte ich geistlos.
»Der Tiger hatte eine Woche vorher meinen Mann gefressen«, entgegnete sie, während sie ein Tablett mit zwei Gläsern Campari auf ein Tischchen stellte. »Wasser? Eis?«
»Gern.« Ich wechselte schnell das Thema. »Jeanette bekommt also häufig Besuch?«
»O ja, Freunde und Freundinnen. Stewardessen, Piloten, nette junge Leute.« Sie reichte mir ein Glas. »Sie gibt oben oft Partys, mich lädt sie auch immer ein. Sie hat auch oft Übernachtungsbesuch, vor allem aus dem Ausland. Ich glaube, man lernt bei der Fliegerei viele Menschen kennen. Für ihre engsten Freunde liegt immer ein Schlüssel unter ihrer Fußmatte. Aber ihr Schwager weiß das nicht.«
Ich trank einen Schluck Campari. »Hat sie einen festen Freund?« fragte ich vorsichtig.
Sie nickte. »Sie wird manchmal schwach, wer nicht, aber
trotzdem bleibt sie auch ihrem verbannten König treu.« Ihr verbannter König, wer mochte das nun wieder sein?
Sie beugte sich zu mir herüber und fragte in vertraulichem
Ton: »Kennen Sie eigentlich ihre Schwester?«
Ich hatte Jeanette noch nie von einer Schwester sprechen hören, also konnte ich wahrheitsgetreu verneinen. »Nein.« »Sie hat auch keine.«
»Und woher dann dieser Schwager?« ging mir plötzlich auf. Sie erhob sich und machte eine Handbewegung im Sinne von »tja, wer weiß?«.
»Woher wissen Sie das alles?« Ich erhob mich ebenfalls, das Glas Campari hatte ich kaum angerührt.
Sie warf mir einen spöttischen Blick zu. »Woher weiß ich, wann Sie geboren sind?«
Sie öffnete die Zimmertür und ging mir voran zur Wohnungstür. »Würden Sie den Herren bitte sagen, daß ich auch gelegentlich schlafe und nicht alles wissen kann?« bat sie mich im Flur.
»Aber natürlich«, antwortete ich höflich. »Und vielen Dank für alles«, fügte ich hinzu. »Ich werde morgen noch einmal versuchen, Jeanette zu Hause zu erreichen.«
»Tun Sie das. Oh... äh..., warten Sie.« Sie hatte die Tür schon halb zugemacht und öffnete sie jetzt wieder.
Sie zögerte, ihr Blick verriet plötzlich Panik. »Ach nichts«, sagte sie dann und schlug mir die Tür vor der Nase zu.
Während ich zum Ausgang lief, stellte ich fest, daß ich vergessen hatte, die Rosen für Jeanette bei Frau Effimandi zu hinterlassen. Aber für gute Freunde hatte Jeanette ja immer einen Schlüssel unter ihrer Fußmatte liegen, bedachte ich und entschied, daß ich ein guter Freund war. Zuerst machte ich noch kurz die Haustür auf und zu, damit Frau Effimandi dachte, ich hätte das Haus verlassen, dann schlich ich mich die Treppe hinauf. Vor Jeanettes Tür lag eine Gummimatte, und darunter fand ich tatsächlich einen Sicherheitsschlüssel.
Ich öffnete die Tür. Drinnen war es stockfinster. Ich tastete nach einem Lichtschalter, konnte aber keinen finden und lief daher zum Fenster, um den Vorhang zurückzuziehen. Dann drehte ich mich um und blickte ins Zimmer.
Jeanette lag totenstill in dem Bett zwischen den Bücherregalen. Ich ging zu ihr hinüber, beugte mich über sie und korrigierte mich: Sie lag tot im Bett und daher still.