9

Um neun Uhr morgens saß ich geduscht, rasiert, duftend und angezogen mit dumpfem Schädel vor drei Spiegeleiern und einer Kanne Kaffee. Ich hätte gern noch geschlafen, denn daraus war in der Nacht nicht viel geworden, aber Pauline hatte einen Flug nach Paris, und mußte früh los.

Ich hatte mich zum Wachwerden in ein Schaumbad gelegt und mich dann mit einem stumpfen Rasiermesser, das sie aus irgendeiner Schublade gefischt hatte, mehr schlecht als recht rasiert. Pauline verfügte, wie ich entdeckte, nicht nur über ein internationales Spirituosensortiment, sondern auch über eine riesige Parfümsammlung. Unter Dutzenden Flakons im Badezimmer fand ich ein ungeöffnetes Lanvin pour Hommes, was meine Laune merklich hob.

Das Wetter war umgeschlagen. Durch den Park fegte ein kräftiger Sturm. Von dem tiefen Sofa im Erker aus, wo ich mich zum Frühstücken niedergelassen hatte, sah ich oberhalb der Fensterbank gelbe und rote Baumwipfel, die heftig den grauen Wolken winkten. Die Scheiben klapperten in ihren Rahmen, und unten im Haus schlug eine Tür stetig auf und zu. Nach der letzten Tasse Kaffee folgte die erste Zigarette.

»Sid«, rief Pauline aus dem Schlafzimmer.

Ich ging zur offenstehenden Tür. »Ja?«

Sie hatte schon ihre kokette Uniform an und saß vor dem Spiegel, um sich zu schminken. Das Schlafzimmer war im Gegensatz zum vollgestopften Wohnzimmer nüchtern und spartanisch eingerichtet, mit Stahlstühlen auf dem nackten Holzfußboden und einem großen, niedrigen, harten Bett.

»Was machst du gerade?« Sie sah mich mit schräg erhobenem Kopf und halb geschlossenen Augen im Spiegel an. Das noch ungekämmte Haar fiel über ihre Bluse, und sie war gerade dabei, sich mit einem rosa Stift die Lippen anzumalen. Ich betrachtete sie sinnierend. Komischer Gedanke eigentlich, daß eine Frau, die du im Grunde noch gar nicht kennst, auf diesem Gebiet keine Geheimnisse mehr vor dir hat. »Ich hab’ aus dem Fenster geguckt.«

»Was hast du heute vor?«

Ich hatte ihr erzählt, daß ich Werbetexter sei und an einem großen Auftrag arbeiten müsse. Sie hatte mir angeboten, daß ich in ihrer Wohnung arbeiten könne. Sie sei ja ohnehin fast immer weg. Tja, aber was hatte ich denn eigentlich vor? Eine Nacht lang hatte ich nicht mehr an Carlo und an Jeanettes verschwundene Leiche gedacht. Das hatte plötzlich so was Irreales. Was hatte ich denn im Grunde mit diesen italienischen Gangstern zu schaffen? Und sie mit mir? Existierten sie überhaupt? Oder war das alles nur eine Fiktion, die meiner arbeitslosen Phantasie entsprungen war?

Neben Paulines Frisiertisch war ein Fenster mit Blick auf die Straße. Ich trat an die Fensterbank und strich, während ich nach draußen schaute, mit dem Zeigefinger über Paulines Nackenwirbel.

»Was sagtest du?«

»Ich fragte, was du heute vorhast.«

»Entschuldige, ich bin noch nicht ganz wach. Ich denke, ich werde etwas arbeiten.«

»Hier?«

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand mein Leihwagen. Nasse gelbe Blätter klebten auf dem schwarzen Dach. In dem Haus direkt dahinter war ein Kindergarten. Gerade gingen einige Mütter mit ihren farbenfroh eingemummelten Stöpseln an der Hand hinein. Zwei Knirpse, vier oder fünf Jahre alt, kamen quer über die stille Straße und blieben juchzend vor meinem Auto stehen. Wie Hampelmänner hüpften sie auf und ab, die roten Gesichter belustigt verzogen. Aus dem Kindergarten kam eine junge Frau auf die beiden Witzbolde zu, nahm sie bei der Hand und wollte sie mit hineinnehmen, doch sie zeigten protestierend auf mein Auto. Als die junge Frau stehengeblieben war, in die gezeigte Richtung geschaut und brav gelacht hatte, war das Interesse der beiden Kleinen auf der Stelle verflogen, und sie hüpften mit ins Haus.

Plötzlich sah ich, was los war. Alle vier Reifen waren platt. »Was sagst du?«

»He, Sid, ich fragte, ob du hier arbeiten möchtest.« »Vielleicht.«

Ob sie aufgeschlitzt worden waren? Es sah ganz so aus. Dann waren sie mir also doch gefolgt. Dann waren sie uns beiden gefolgt. Das hieß, daß Pauline jetzt auch in Gefahr war. Ich fluchte innerlich. Vor einer Minute hatte ich noch gehofft, daß alles nur ein Produkt meiner Phantasie gewesen war, und jetzt stellte sich heraus, daß nicht nur ich selbst in etwas hineingeraten war, sondern auch Pauline. Der Ritter ohne Furcht und Tadel entpuppte sich als der reinste Hornochse. Ich ging schnell ins Wohnzimmer zurück, wo das Telefon stand.

»Was machst du?« rief Pauline mir nach.

»Telefonieren.« Ich drückte die Tür hinter mir zu.

Annette nahm sofort ab.

»Ich bin’s.«

»Himmelherrgott, wo steckst du denn?« Ihre Stimme klang schrill vor Wut. »Den ganzen Tag läutet hier das Telefon für dich. Was denkst du dir eigentlich?«

Ich hatte keine Lust, ihr zu erzählen, was ich dachte. »Wer hat denn angerufen?«

»Vor einer Viertelstunde erst, ich bitte dich, Sid, es ist neun Uhr morgens, was fällt diesen Leuten eigentlich ein?, hat Kees angerufen und gefragt, ob ich wisse, wo du steckst. Und du hattest mir nicht mal gesagt, daß du dich bei denen einquartiert hast.«

»Und sonst?«

»Und gerade eben, vor kaum einer Minute, wieder dieser Amerikaner.«

»Wieder?«

»Ja, der hat gestern abend schon mal angerufen. Er...« »Wie heißt er?«

»Er hat sich nicht vorgestellt, aber er wird versuchen, dich bei Kees und Anneke zu erreichen.«

»Hast du ihm denn ihre Adresse gegeben?«

»Ja, natürlich, wenn der Mann dich so dringend braucht, warum nicht? Larings hat gestern abend auch noch angerufen. Er war einem Nervenzusammenbruch nahe, wenn du mich fragst.«

»Aber ich frage dich nicht.«

»Ich hab’ keinen Bock mehr, hier Telefonzentrale für dich zu spielen, Herr Stefan, schon gar nicht, wenn du mir am frühen Morgen auch noch so kommst.«

Sie hatte ja so recht, aber ich brauchte jemanden, an dem ich mich abreagieren konnte. »Habt ihr schon eine neue Wohnung gefunden?«

»Ach, laß mich doch in Ruhe.« Sie schmiß den Hörer auf.

Ich wählte die Nummer von Kees und Anneke in Bergen. Kees klang sarkastisch und mehr als frostig. »Dein Liebesleben geht uns natürlich nichts an, Sid, aber sag doch in Zukunft bitte kurz Bescheid, wenn du beabsichtigst, die Nacht nicht nach Hause zu kommen.«

»Entschuldige.«

»Deine Entschuldigungen kannst du dir sparen, Anneke hat Todesängste ausgestanden.«

Ich fragte ihn lieber nicht wieso, wo sie mein Liebesleben doch nichts anging. »Wirklich, es tut mir leid.«

»Sie hat kein Auge zugetan, weißt du.«

Ich hatte vor Jahren mal was mit ihr gehabt, lange bevor jeder mit jedem verheiratet war. Hoffentlich hatte sie seither wenigstens ab und zu mal gut geschlafen.

Ich holte tief Luft und versuchte, meine Stimme entspannt klingen zu lassen. »Ach, Kees, seid ihr heute zu Hause?«

»Nein, Sid, tut mir leid, aber wir sind den ganzen Tag in Amsterdam, wir wollen gerade aufbrechen.«

Besser ging’s nicht. »Und die Kinder, sind die in der Schule?« Es folgte eine lange Pause. Ich malte mir aus, wie er mit bleichem, verkniffenem Gesicht am Telefon stand.

»Ja, Sid, die Kinder sind in der Schule, was dachtest du denn. Und nach der Schule gehen sie zum Essen mit zu Freunden.« »Wann seid ihr wieder zurück?«

Es folgte eine noch längere Pause. Ich hörte ihn schwer atmen. Er vermutete bestimmt, daß ich während ihrer Abwesenheit ein wüstes Gelage veranstalten würde.

»Wir kommen erst spät abends wieder. Ich hoffe, dich dann zu sehen, denn ich muß dich kurz sprechen.«

»In Ordnung, Kees.« Ich legte auf. Das war wohl das vorläufige Ende unserer Freundschaft, aber ich würde ihm dann später schon alles erklären.

 

Die Schlafzimmertür öffnete sich, und Pauline kam herein.

»Ich habe gerade mit dem Direktor der Werbefirma gesprochen. Ich muß sofort zu einer wichtigen Besprechung in sein Büro.«

Sie lehnte sich an den Türrahmen und trank eine Tasse Kaffee. In zehn Minuten würde der Wagen da sein, der sie zum Flughafen Schiphol brachte. Obwohl sie fast nicht geschlafen hatte, sah sie ausgeprochen wach aus. Nur um ihre Augen herum waren dunkle Schatten, die auf eine gewisse Müdigkeit hindeuteten.

»Holst du mich heute abend ab?« fragte sie. Sie würde um elf Uhr landen.

»Wenn ich nicht da sein sollte, fahr einfach nach Hause. Dann ruf’ ich dich hier an.«

»Gut.« Sie drängte mich nicht weiter. »Was soll ich dir mitbringen?«

»Von wo?«

»Aus Paris natürlich. Jetzt werd doch endlich mal wach.« Sie gab mir einen kleinen Rippenstoß.

»Ach ja, Paris. Wenn du genügend Zeit hast, dann gerne eine Krawatte von Hermès.« Ich zog fünfundzwanzig Gulden aus meiner Brieftasche. »Hier.«

»Was soll ich denn damit?«

»Für die Krawatte.«

»Es soll doch ein Geschenk sein.«

Ich steckte den Schein in die Tasche ihrer Uniformjacke. »Ich möchte gern eine Foulardkrawatte, die Farben überlasse ich dir.«

Während ich sie umarmte, fing ich den Duft ihres Parfüms auf. Blue Grass.

Sie biß mir sachte ins Kinn. »Be good now, Sid.«

»See you, baby.«

So nehmen Liebespärchen auch in Gangsterfilmen immer Abschied voneinander. Während ich durchs Treppenhaus nach unten ging, hörte ich hinter den Eichenholztüren das leise, stetige Rattern elektrischer Schreibmaschinen. Die Welt hatte ihr emsiges Tagewerk aufgenommen. Der eine saß in seinem Büro am Schreibtisch, die andere brach auf, um in einem Flugzeug zwischen Amsterdam und Paris Tassen auszuteilen. Nur Sid Stefan mußte sich, blöd wie er war, noch tiefer in ein schizophrenes Gewirr hineinbegeben, wo Mord real war und Schmerz und Gewalt an der Tagesordnung.

 

Binnen vierzig Minuten war ich in Bergen. Bei Pauline um die Ecke hatte ich eine Werkstatt gefunden, wo ich einen VW Käfer mieten konnte. Nicht gerade ein Schlachtschiff, aber immerhin schnell genug.

Hinter dem Haus, in einem schlammigen Seitenweg, stand ein schwarzer Lincoln mit belgischem Nummernschild halb im Gebüsch. Ich stellte den VW eine Ecke weiter ab und sah mir den Wagen dann aus der Nähe an. Er war abgeschlossen und bis auf ein Plaid auf der Rückbank leer. Aber unter dem Plaid lag, gerade noch sichtbar, eine schwarze Maschinenpistole.

Das Plaid war wohl beim hastigen Einparken halb von der Bank gerutscht, und die Maschinenpistole hatten sie vermutlich zurückgelassen, weil sie schon schwer genug bewaffnet waren. Dem Himmel sei Dank, daß die ganze Familie ausgeflogen war! Ich zog mein Taschenmesser heraus und schaute mich um.

Weit und breit niemand zu sehen. Was die konnten, konnte ich auch. Schnell schnitt ich die Ventile der Vorderreifen ab, und sie leerten sich mit leisem Pfeifen. Dann nahm ich die Pistole aus dem Schulterholster und pirschte mich durchs Gebüsch auf das Haus zu. Ich hatte einen Schlüssel von der Vordertür, wußte aber, daß die Hintertür bei der Küche immer für Lieferanten offen gelassen wurde. Ich öffnete sie mit größter Behutsamkeit, aber die rostigen Scharniere knarrten immer noch viel zu laut.

In der Küche hing ein ekliger Krankenhausgeruch. Der dicke Boxer lag in seinem Korb unter dem Küchentisch. Ich ging in die Hocke. Unter dem Tisch wurde der Geruch stärker, sie hatten ihn im Schlaf mit Chloroform betäubt.

Als wenn sie von dem alten Vieh was zu befürchten hätten. Es war stocktaub und so gut wie blind und konnte kaum noch laufen. Ich zog die Schuhe aus und huschte mit der Pistole in der Hand, den Finger am Abzug, auf den Flur. Dort blieb ich einige Minuten lang regungslos stehen und horchte, aber ich hörte nichts als das Ächzen des Dachs im steifen Wind, das Knarren von altem Holz und meinen Herzschlag, der laut in meinen Ohren pochte. Nichts rührte sich. Rein gar nichts. Vorsichtig, mit schnellen Bewegungen und drohend ausgestreckter Pistole, überprüfte ich das Haus. Es war niemand da, oder besser gesagt, es war niemand mehr da.

Mein Gepäck im Gästezimmer war wieder durchsucht worden. Das sah ich sofort, obwohl sie meine Sachen diesmal nicht auf einen Haufen geworfen, sondern alles fein säuberlich so gelassen hatten, wie es war. Während ich kontrollierte, ob etwas fehlte, hörte ich draußen lautes Geschrei. Ich schaute aus dem Fenster und sah eine Familie um den Lincoln versammelt. Der Mann sprang fuchsteufelswild auf und ab und stampfte mit dem Fuß in den Schlamm. Seine modische Frau blickte bedeppert auf den Wagen. Und daneben standen stumm drei schwerbewaffnete Jungen zwischen zehn und vierzehn. Zwei von ihnen hielten treudoof ihre Plastikmaschinenpistolen im Anschlag, der dritte trug ein Bazooka-Imitat in Kleinformat über der Schulter. Durch das geschlossene Fenster drangen einzelne Worte zu mir herauf: »Les cochons, les salauds, incroyable, ces cons, j’aijamais...«

Ich duckte mich, zog den Vorhang zu und packte meine Koffer. Es tat mir schrecklich leid für sie.

Gerade als ich im Wohnzimmer eine Nachricht für Kees und Anneke schreiben wollte, läutete das Telefon. Ich zögerte kurz, nahm dann aber doch ab. Es war Larings.

»Tag, Sid.« Seine Stimme zitterte vor schwer zu verhehlender Bekümmerung.

Ich begann mich wie ein Wahnsinniger zu entschuldigen, rief, daß ich abgespannt und überdreht gewesen sei, aber gerade vorgehabt hätte, bei ihm anzuklopfen, denn ich könne jetzt stehenden Fußes für ihn ans Werk gehen.

Er ließ mich ausreden und sagte: »Deinen Auftrag habe ich zurückgezogen, Sid.«

Verdammt. Ich besaß schließlich trotz allem noch so etwas wie ein Berufsethos.

»Oh, ja, das verstehe ich, Chef. Wenn du noch mal was hast, denk wieder an mich. Vielen Dank jedenfalls.«

»Warte mal, Sid, nicht so hastig. In was für einem Zustand bist du im Augenblick? Ich meine, bist du betrunken, hast du einen Kater, siehst du unappetitlich aus?«

»Ich sehe nie unappetitlich aus, wieso?«

»Könntest du heute nachmittag im Hilton in Amsterdam sein? In vorzeigbarem Zustand?«

»Ja, klar.«

»Dann besteht nämlich die Chance, daß du Karriere machst. Internationale Karriere. Aber dafür mußt du topfit sein, denn die sind nicht ohne.«

»Wer sind die, Chef? Du machst mich neugierig.«

»Okay, Sid, ich dürfte eigentlich nicht darüber reden, aber ich finde, du solltest wissen, was dich erwartet. Ich hatte hier gestern den Vizepräsidenten eines großen amerikanischen Konzerns zu Besuch. Sie wollen ihren Absatzmarkt vergrößern und eine eigene europäische Verkaufssparte aufbauen, und dafür suchen sie sich jetzt in ganz Europa ihre Leute zusammen, unter anderem einen Publicity Manager. Er kam zu einem Informationsgespräch zu mir, und ich habe dich empfohlen. Ich habe ihm ein paar deiner Kampagnen gezeigt, und er schien begeistert zu sein. Er möchte dich heute nachmittag sprechen.«

Ich schwieg ungläubig und starrte nach draußen. Der Wind blies eine dicke Hummel gegen die Fensterscheibe. Mit kurzem, trockenem Ticken prallte sie unaufhörlich gegen das Glas. Im Garten standen die Herbstblumen naß und abgeknickt in den Beeten. Die belgische Familie war verschwunden, sicher auf der Suche nach einer Werkstatt.

»Sid, bist du noch dran?«

»Hast du ihm auch erzählt, daß ich im Knast war und seit drei Jahren nicht mehr gearbeitet habe, Chef?«

»Habe ich ihm alles gesagt, und es hat ihn nicht gestört. Er sagte wörtlich: »He sounds like the man I’m looking for.«

»Tja, Chef, was soll ich jetzt sagen? Danke auf jeden Fall. Und tut mir leid, daß ich dich mit diesem Auftrag hängen gelassen habe.« Ich war nie gut darin gewesen, jemandem meinen aufrichtigen Dank zu bezeugen. Nicht, weil ich nicht wirklich dankbar sein konnte, sondern weil ich das einfach nicht in Worte fassen konnte.

»Du brauchst dich nicht zu bedanken, Sid. Sein Name ist Peter Henderson. Ruf ihn im Hilton an und mach einen Termin mit ihm aus. Aber mach dich drauf gefaßt, er ist knallhart und sucht harte Leute. Nutz deine Chance. Viel Erfolg.« Er legte auf.

Guter alter Chef. Das hätte ich nicht von ihm gedacht.

Bevor ich im Hilton anrief, schrieb ich erst die Nachricht für Kees und Anneke fertig. Dann zündete ich mir eine Zigarette an und ging im Zimmer auf und ab. Mein Leben hatte sich in den letzten Tagen rapide gewandelt. Ein Neuanfang für Sid Stefan. Vom Holzfäller zum Freibeuter, und vom Freibeuter zum Publicity Manager. Wieder aufgenommen in die Riege der ehrbaren Leute. Wer weiß. Plötzlich fiel mir der betäubte Hund ein. Auf dem Weg in die Küche kam ich an einem Spiegel vorüber. Ich grüßte mich höflich, wie es schon bald auch andere tun würden. Dabei stach mir mein seltsames Einstecktuch ins Auge. Es waren die fünfundzwanzig Gulden, die mir Pauline wohl bei unserer letzten Umarmung doch irgendwie wieder untergeschoben hatte. Sid, der Liebling aller Frauen...

Pfeifend trat ich in die Küche. Der alte Hund schnarchte schon wieder. Im Kühlschrank fand ich ein Stück Leberwurst, das ich neben seinen Korb legte. Dann hatte er was, wenn er aufwachte. Sid, der Freund der Tiere...

 

Amsterdam lag in der Ferne unter einer schmutzig gelben Wolkendecke und wurde naß geregnet. Ich ließ nicht gleich den Motor an, sondern blieb eine Weile still hinter dem Lenkrad sitzen und blickte auf die Silhouette der Stadt.

Die grauen Wohnblocks glichen nassen Torfballen. Zwischen dem Stadtrand dort und dem Motel, wo ich mir ein Zimmer genommen hatte, erstreckte sich Brachland mit Baugruben, Schrebergärten und Autofriedhöfen. Eine Landschaft, in der man immer abgemagerte Hunde nach Freßbarem herumstreunen sieht. Ich sah aber keinen. Aus irgendeinem Grund hatte ich mir als Kind immer vorgestellt, daß so auch der Stadtrand von Tokio aussehen müsse, und damit hatte ich natürlich recht, denn alle Stadtränder sehen so aus. Das da vor mir konnte jede beliebige Stadt auf der Welt sein.

 

Frisch geduscht und in einem taillierten schwarzen Zweireiher, leider ohne Perle auf der Krawatte, denn die besaß ich noch nicht, fuhr ich in die Stadt hinein. Eine praktischere Lösung, als ein Zimmer in einem Motel direkt vor den Toren der Stadt zu mieten, hatte mir gar nicht einfallen können. Dort konnte mich keiner kommen und gehen sehen. Ich hatte mich auf dem Zettel, den ich für Kees und Anneke hinterlassen hatte, herzlich bedankt, mich für meine unvermittelte Abreise entschuldigt und keine Adresse hinterlassen. Jetzt wußte niemand mehr, wo ich wohnte.

Im Schnellrestaurant des Motels hatte ich mit Hamburgern und Hot dogs für eine solide Grundlage in meinem Magen gesorgt und mir dabei ein Tennismatch im Fernsehen angeguckt. Schade, daß der Kommentator nicht englisch gesprochen hatte, dann wäre die Illusion, daß ich mich in Amerika befand, perfekt gewesen.

 

Vor dem Eingang des Hilton stand ein Mann in gelb-rotem Zirkusmantel und mit Zylinder auf dem Kopf. Er sah aus wie ein Amsterdamer Droschkenkutscher von Anno dazumal, entpuppte sich aber als der Portier. Amerikaner haben eben noch Sinn für Tradition.

An der Rezeption empfing mich eine Brigade wandelnder Zahnpastawerbeträger, die in Telefone säuselten und mich an einen tadellosen Pagen weiterreichten, der mich seinerseits wiederum einem silberhaarigen Liftboy abtrat, und dieser geleitete mich schließlich persönlich zu dem von Mr. Peter Henderson bewohnten Zimmer, dem Mann, der auf mich angewiesen war.

 

Er war ein Doppelgänger von Humphrey Bogart, mit den gleichen schmalen, spitzen, feuchten Lippen, den gleichen blauen Segleraugen, dem gleichen pfefferfarbenen Haar und diesem Gesicht, als wäre jemand darauf herumgelaufen. Er war schlank, um nicht zu sagen dünn, aber seine Schultern machten dennoch den Eindruck, als habe er Muskeln und könne sie einsetzen. Wahrscheinlich spielte er ganz gut Tennis, und er war bestimmt auch ein Golfer mit einem Handicap unter fünfzehn. Er mußte so an die fünfzig sein, hatte aber nicht ein Gramm Fett zuviel. Während er mir die Hand gab, die sich anfühlte wie ein Stück ausgetrocknetes Leder, musterte er mich von Kopf bis Fuß und sagte: »Sie sind groß für Ihr Alter.«

Ich hätte gern etwas Geistreiches darauf erwidert, aber mir fiel nichts ein, und so zog ich ein Pokerface und schwieg. Er stellte mich einem blonden Mädchen – sie war bestimmt älter als fünfundzwanzig – mit ernstem, nicht unhübschem Gesicht und schmaler, modischer Brille mit leicht getönten Gläsern vor. »Daisy Callock, meine Sekretärin.«

Wir nickten einander zu. Wie ihr Chef maß sie mich kritisch von oben bis unten, ließ sich aber nicht anmerken, wie ihr Urteil ausfiel. Eine Beißzange, entschied ich sofort, aber nicht uninteressant.

»Setzen Sie sich, Mr. Stefan. Manhattan, Scotch oder Bourbon?«

Diese Sauferei den ganzen Tag! »Bourbon gern.«

»Daisy!« Kein Befehlston, sondern eine Aufforderung, die zur alltäglichen Routine gehörte. Sie trat an eine in die Wand eingebaute Bar und goß drei Gläser Whiskey ein.

»Wasser, Eis, Mr. Stefan?« Ihre Stimme war ein bißchen rauchig, was sie schon gleich wesentlich attraktiver machte. »Nein, danke, einfach pur.«

Wir hoben die Gläser und nickten einander zu. Während wir tranken, versuchte ich festzustellen, ob die beiden ein Verhältnis hatten. Ich versuchte, mir Mr. Henderson frühmorgens beim Aufwachen vorzustellen. Daisy! Und Daisy, die dann nackt und noch halb blind vom Schlaf zur Wandbar taumelte und mit eckigen Bewegungen ein Glas Whiskey für ihn einschenkte. Aber so schätzte ich sie eigentlich nicht ein. Daisy wirkte auf mich eher wie der seriöse, verlobte Typ, vielleicht war sie sogar Mitglied einer religiösen Gesprächsrunde in ihrem Suburb, und Henderson...Ich schaute auf seine Hände, er trug keinen Ring.

Das Zimmer war in gut aufeinander abgestimmten Blau-und Grautönen gehalten, ergänzt durch viel Holz und Glas. An den Wänden hingen einige Bilder junger niederländischer Künstler, womit sich die Direktion als große Gönnerin auszeichnete. Der Regen klatschte gegen die Fensterscheiben. Wir tauschten einige höfliche Worte über Amsterdam und die Niederlande aus. Der Whiskey machte mich ein wenig schläfrig, ich streckte behaglich die Beine aus. Daisy saß mit hochgezogenen Knien dekorativ auf einem Sofa im Hintergrund und blätterte in einer Life.

Endlich sagte Henderson: »Soweit ich verstanden habe, sind Sie in der Werbung tätig, Mr. Stefan?«

Daisy schoß hoch und griff zu einem bereitliegenden Notizblock.

Ich setzte mich auf. »Ja, das bin ich.«