Der süße Kaffee der Genossin Nadia

 

»Genosse, ich bin in der Patsche«, sagte Scamoggia.

»Jedermann hat sein besonderes Kreuz, und er muß es ertragen«, antwortete Don Camillo.

»Es handelt sich nicht um mein Kreuz«, erklärte Scamoggia.

»Man hat mir eine Erbse in den Schuh geschoben, und ich muß sie dir weitergeben, der du mein direkter Vorgesetzter bist. Dann wirst du sie dem Chef zuschieben, und der Chef wem er will, gemäß der Rangordnung der Partei

Don Camillo, von dem Babylon der Halle schließlich gelangweilt, hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen. Da er sich aufs Bett geworfen hatte, richtete er sich auf:

»Wenn es sich um eine offizielle Sache handelt«, sagte er, »dann setze dich und sprich

Scamoggia hob seine Schultern.

»Ich berichte dir, wie die Dinge stehen. Dann wirst du entscheiden, ob es sich um eine offizielle Sache handelt oder nicht. Kennst du den Genossen Gibetti

»Natürlich kenne ich ihn«, rief Don Camillo.

In Wirklichkeit wußte Don Camillo vom Genossen Gibetti nur das, was er im Marschbefehl Peppones gelesen hatte: ›Toskaner, vierzig Jahre, Elektrotechniker, Chef einer Partisaneneinheit mit vielen bedeutenden Aktionen als Aktivposten, ein äußerst geschulter, tüchtiger und zuverlässiger Aktivist.

Viel und nichts, weil der Genosse Gibetti einer der drei

»Erkürten« war, die ihre Karten nie aufgedeckt hatten. Wie der Sizilianer Friddi Li und der Sarde Curullu war der Genosse Gibetti stets sehr zugeknöpft gewesen, indem er jede seiner Gebärden und jedes seiner Worte überwachte.

»Gibetti gefällt mir«, fuhr Scamoggia fort. »Er ist senkrecht wie du und ich, ein Mann der Tat, der wenig schwatzt. In den Bergen hat er Großes geleistet und tausendmal die Haut riskiert

»Ich weiß es«, versicherte Don Camillo.

»Weißt du auch, daß er während des Krieges hier, in der Umgebung von Stalino, gekämpft hat

»In Anbetracht dessen, wie er sich vom September 1943 an aufgeführt hat«, rief Don Camillo aus, »hat das nichts zu bedeuten

»Einverstanden, Genosse«, entgegnete Scamoggia, »im allgemeinen bedeutet es nichts. Doch im Falle Gibetti bedeutet es etwas

»Zum Beispiel fragte Don Camillo.

»Zum Beispiel, daß er zu jener Zeit dreiundzwanzig Jahre zählte und trotz der Propaganda mit dem Feind zu fraternisieren begann. Und da der Feind aus einem herrlichen Stück Mädchen von siebzehn Jahren bestand, wirst du begreifen, daß es im Handumkehren mit dem Fraternisieren zu weit kam. Kurz und gut: beide übertrieben! Dann kam der Rückzug und adieu dem Freßnapf

Don Camillo breitete die Arme aus.

»Genosse, das ist keine schöne Geschichte, aber der Krieg ist voll von solch traurigen Geschichten. In allen Teilen der Welt haben aus diesem oder jenem Grund Mädchen ein bißchen allzusehr mit fremden, auf dem Durchmarsch befindlichen Soldaten fraternisiert

»Stimmt«, gab Scamoggia zu, »doch scheint es mir schwer, unter diesen Durchmarsch-Exsoldaten einen zu finden, der nach siebzehn Jahren verzweifelt an das fremde Mädchen denkt, mit dem er während des Krieges fraternisiert hat. Gibetti ist eine dieser seltenen Erscheinungen

Der Genosse Scamoggia betrachtete schweigend den Rauch seiner Zigarette, dann fuhr er fort:

»Er hat mir alles erzählt. Er wollte seine Sonja mit sich nehmen. Er verkleidete sie als Soldat, und mit Hilfe seiner Kameraden war es beiden gelungen, schon eine schöne Kilometerzahl hinter sich zu bringen. Dann mußte er das Mädchen nach hinten schicken, weil die Russen seine Abteilung einzukesseln drohten und er nicht wollte, daß das Mädchen Gefahr lief, eine Kugel zu erhalten. Er gab ihr allen Zwieback und die Fleischkonserven, die er bei den Kameraden erbetteln konnte, und ließ sie in einer zerfallenen Isba, indem er ihr befahl, sich allda zu verstecken und zu warten. Wenn es ihnen gelänge, sich aus dem Kessel zu befreien, käme er, sie wieder mit sich zu nehmen. ›Wenn du aber siehst, daß sie uns umbringen oder gefangennehmen‹, sagte er, ›dann warte, bis alles ruhig ist, und kehre nach Hause zurück. Entdecken sie dich, so erzähle, daß die italienischen Soldaten dich geraubt haben.‹

Die Schlacht dauerte drei Tage und war eine harte Sache, doch am Schluß mußten die Russen zurück, um nicht ihrerseits eingekesselt zu werden. Gibetti fand die Isba wieder, aber das Mädchen fand er nicht. Er kehrte nach Italien zurück, das Mädchen ins Gehirn genagelt. Nach dem 8. September ging er in die Berge, wo er, wie wir wissen, Heldentaten vollbrachte, immer mit dem Gedanken an seine Sonja im Kopf und mit dem Vorsatz, zurückzukehren und sie zu suchen. Nach dem Krieg, handelte es sich um ein schwieriges Vorhaben, obwohl er den Krieg gegen Rußland nicht gewollt hatte. Es gelang ihm bloß, von Moskau vier oder fünf Briefe abschicken zu lassen, indem er dazu irgendwelche Genossen benützte, die nach Rußland gingen. Vielleicht sind die Briefe nicht abgegangen, vielleicht haben sie ihre Bestimmung nicht erreicht. Tatsache ist, daß er nie eine Antwort bekam. Schließlich hatte er Gelegenheit, nach siebzehn Jahren selbst nach Rußland zu kommen, und dazu mit günstigen Aussichten, denn im ersten Programm war ein Besuch von Stalino vorgesehen. Das Mädchen wohnte seinerzeit in einem Dorf bei Stalino, und Gibetti hatte bei unserer Abreise die Zuversicht, dorthin zu gelangen. Dann wurde das Programm geändert, und er steckte bis zu den Augen im Sumpf. Deshalb hat er sich mir anvertraut. Er hat mir die ganze Geschichte erzählt. ›Du stehst mit der Genossin Nadia auf vertrautem Fuß‹, sagte er mir zum Schluß. ›Schau zu, ob sie mich empfehlen kann. Ich möchte hierbleiben: Ich bin zu allem entschlossen, nur um dieses Mädchen zu finden! ‹

Ich habe ihm geantwortet, er möge mich machen lassen, und gleich darauf hätte ich mir gerne die Zunge abgebissen. Ich habe der Genossin Nadia alles berichtet, von A bis Z. Sie ist eine Genossin mit dem Kopf am rechten Fleck, und sie stellte fest, daß man vor allem die Lage des Mädchens kennen müsse. Ich habe ihr den Namen und die Adresse des Mädchens gegeben, und sie hat sofort einem Freund, der in Stalino ein Bonze ist, geschrieben

Scamoggia unterbrach sich. Er zog ein mit der Maschine beschriebenes Blatt aus der Tasche und reichte es Don Camillo.

»Heute ist die Antwort eingetroffen«, fuhr er dann fort.

Don Camillo drehte das Blatt in den Händen und schüttelte den Kopf.

»Für mich ist das soviel wie nichts«, brummte er. »Ich kann nicht Russisch

»Da ist auch die italienische Übersetzung«, fügte Scamoggia bei, und gab ihm ein anderes, mit Bleistift beschriebenes Blatt.

Es besagte mit wenig Worten viel. Sonja war in einer Isba nahe den feindlichen Linien von einer motorisierten sowjetischen Abteilung entdeckt worden. Sie trug einen italienischen Militärmantel und erklärte, es wäre ihr gelungen, den Italienern, die sie auf ihrem Rückzug vom Dorfe K. verschleppt hätten, zu entfliehen. Sie wurde nach K. zurückgebracht und dem Dorfchef übergeben. Da man dort Bescheid wußte, hatte man Sonja angeklagt, dem Feind aus freiem Willen gefolgt zu sein. Sie wurde wegen Kollaboration mit dem Feind verurteilt und erschossen.

Scamoggia versicherte entschlossen:

»Ich werde es dem Gibetti bestimmt nicht sagen. Halt es, wie du willst, Genosse. Wenn du es als angezeigt erachtest, dann bring ihm bei, daß ihm die Russen seine Sonja gemordet haben; sag es ihm. Wenn du es ihm nicht sagst, so sei dir bewußt, daß er zu allem entschlossen ist, auch zum Ausreißen, bloß um hier zu bleiben. Ich wasche meine Hände in Unschuld

Der Genosse Scamoggia ging und ließ ihn allein.

Niemand wird sich vorstellen, daß ausgerechnet in der Sowjetunion keine kleinen Sendlinge des Teufels im Umlauf sind!

Don Camillo fand sofort einen zu seinen Füßen, der ihn am Saum der Kutte zog, die er im Geiste immer trug, einen vermaledeiten Schwätzer, der sich abplagte, ihm zuzuflüstern:

»Mut, Hochwürden, erledige auch den Genossen Gibetti

Don Camillo befreite sich mit einem Fußtritt von dem kleinen Satanas, und da in diesem Augenblick Peppone ins Zimmer trat, gab er ihm die beiden Blätter in die Hand. Dabei sprach er: »Genosse, ubi maior, minor cessat. Wie man mir die Erbse gab, gebe ich sie weiter

Dann erzählte Don Camillo, da die beiden Blättchen nicht genügten, den Sachverhalt klarzulegen, dem Peppone die Geschichte haargenau.

Als er fertig war, verschloß Peppone die Türe doppelt und machte sich Luft:

»Zehn brüllte er. »Zehn, die die Allerbesten der Besten sein sollten! Rondella kommt nach Rußland, um Erbsen zu säen, und läßt sich nach Hause schicken. Scamoggia kommt mit Parfüm in der Tasche, um den Casanova zu spielen; Capece, um ihm Konkurrenz zu machen; Bacciga, um am Schwarzen Markt Geschäfte zu machen; Tavan, um das Licht auf das Grab des Bruders zu stellen; Peratto soll Fotografien für die ›Unità‹

machen und macht andere, um sie den dreckigen kapitalistischen Zeitungen zu verkaufen; er glaubt mich zu hintergehe n, aber ich habe es gemerkt! Und jetzt deckt auch Gibetti, der ein idealer Genosse schien, die Batterien auf! Ist es möglich, daß nicht einer der zehn gekommen ist, nur zum Zwecke, die Sowjetunion zu sehen? Alle haben also verfluchte Privatinteressen

Don Camillo versuchte ihn zu trösten:

»Du bist ungerecht, Genosse. Curullu und Friddi Li scheinen völlig verläßliche und uneigennützige Genossen zu sein

»Schöne Sache! Zwei Affen, die nie das Maul aufmachen und dir nicht einmal ›Guten Tag‹ sagen, um sich keine Blöße zu geben.«

»Du vergißt den Genossen Tarocci«, stellte Don Camillo frecherweise fest.

»Tarocci knurrte Peppone wie aus den Wolken gefallen.

»Was für ein Tarocci?«

Dann erinnerte er sich, und indem er sich breitbeinig vor Don Camillo hinpflanzte, schwenkte er einen Zeigefinger, der vor Empörung bebte, unter dessen Nase.

»Ihr«, keuchte er, »Ihr werdet machen, daß ich herzkrank nach Hause komme

Der Atem versagte ihm, und er fiel aufs Bett.

»Ihr habt mich erpreßt«, stammelte er, »Ihr habt mich in eine schmutzige Sache verwickelt, und ich würde, wenn man es zu wissen bekäme, vor der ganzen Welt lächerlich dastehen. Seit ich Euch auf dem Tram in Rom begegnet bin, erlebe ich die schlimmsten Stunden meines Lebens. Seit jenem Augenblick steht jedesmal, da ich sehe, daß Ihr den Mund auftut, mein Herz still. Das Essen bleibt mir wie Zement im Magen liegen. Nachts geht es von einem Alpdruck zum andern, und am Morgen stehe ich mit zermürbten Knochen auf

Peppone trocknete sich den Schweiß, der von der Stirne tropfte.

»Wenn Ihr mich in den Dreck werfen wollt, um Euch zu vergnügen, so werft mich hin: Ich bin schon im Dreck

Don Camillo hatte Peppone nie so außer Fassung gesehen. Er hatte auch nie gedacht, daß Peppone derart aus der Fassung geraten würde, und er verspürte Mitleid.

»Gott ist mein Zeuge, daß ich dir nie Schlimmes zufügen wollte«, rief er aus.

Peppone wischte sich immer noch den Schweiß ab.

»So? Warum habt Ihr mich dann gezwungen, diese dreckige Komödie aufzuführen? Es gibt längst keinen Eisernen Vorhang mehr! Ihr habt Ausländer jeder Rasse herumreisen gesehen.

Konntet Ihr Euch nicht als Mann verkleiden und auf eigene Faust als Tourist herkommen? Das Geld? Das hätte ich Euch gegeben! So wie die Dinge liegen, hat mich die Erpressung, obwohl ich kein Geld auslegen mußte, hunderttausendmal mehr gekostet. Und noch ist es nicht zu Ende. Oder wolltet Ihr die Genugtuung haben, auf Kosten der Sowjetunion hierherzukommen

Don Camillo schüttelte den Kopf.

»Nein, ich wollte Rußland nicht mit den Augen des Touristen sehen. Mich interessierte es, Rußland mit deinen Augen zu sehen. Mit euren Augen! Es ist nicht das gleiche, eine Oper vom Balkon oder vom Parkett aus anzusehen oder sie inmitten der Komparsen des Chors zu betrachten. Genosse, zwei Fälle sind möglich: Entweder hast du dein Gehirn, als du Senator wurdest, dem Parteiganzen verschrieben, oder du mußt zugeben, daß ich aus einem ehrlichen Grund, nicht aus Bosheit, so gehandelt habe

Peppone erhob sich und näherte sich der Bank, auf der sein Koffer stand. Er streckte die Hand aus, um ihn zu öffnen, zog sie aber sogleich wieder an sich und kehrte betrübt an den Ausgangsort zurück.

»Ihr habt mich sogar der Tröstung durch den Kognak beraubt«, rief er verbittert aus. »Was glaubtet Ihr zu gewinnen, als Ihr dem Genossen Oregow meinen Kognak schenktet

»Nichts«, bekannte Don Camillo. »Im Gegenteil, ich habe dabei verloren, weil ich dir jetzt von meinem geben muß

Eine Flasche alten Kognaks kam aus dem Koffer Don Camillos hervor, und nachdem Peppone ein gutes Glas hinuntergestürzt hatte, überwand er seine Krise.

»Und nun erkundigte sich Don Camillo; dabei wies er auf die beiden Blätter. »Wozu hast du dich entschlossen

»Bringt das selber in Ordnung«, antwortete Peppone. »Ich weiß nichts und will nichts wissen

Don Camillo ging hinaus und fand den Genossen Gibetti allein auf seinem Zimmer. Er machte keine Umschweife.

»Der Genosse Scamoggia sollte dir eine schlimme Mitteilung bringen und fühlte sich dazu nicht imstande. So bringe ich sie dir

Gibetti, der auf dem Bett lag, sprang auf die Füße.

»Vergiß diese Sonja«, sagte Don Camillo. »Sie ist verheiratet und hat fünf Kinder

»Unmöglich rief Gibetti aus.

»Genosse, du kannst russisch, nicht wahr

»Nein!«

»Wie hast du es dann angestellt, mit dem Mädchen zu fraternisieren

»Man verstand sich ohne zu reden

»Und wie hast du es mit den Briefen gehalten

»Ich wußte, wie sich ihr Name und der ihres Dorfes schreibt, und ließ mich belehren, wie man ›Ich denke immer an dich. Ich komme wieder. Antworte mir!‹ schreibt. Sie hatte meine Adresse

Don Camillo nahm das maschinengeschriebene Blatt aus der Tasche und reichte es ihm.

»Das ist der Bericht, den man von dort geschickt hat«, erklärte er. »Du kannst ihn dir übersetzen lassen, und du wirst darin finden, was ich dir gesagt habe

Gibetti durchging gierig die paar Zeilen.

»Der Name ist richtig, und auch der Name des Dorfes stimmt«, rief er aus.

»Auch das übrige ist richtig, was ich dir gesagt habe. Auf alle Fälle, wenn du es nicht glauben willst, kannst du es leicht zu Hause überprüfen lassen

Gibetti faltete das Blatt sorgsam und tat es in seine Brieftasche.

»Ich werde nichts überprüfen lassen«, rief er aus. »Ich habe Vertrauen zu dir. Es erscheint mir unmöglich aber wenn eine Frau mir den Kopf verdrehen sollte, werde ich dieses Blatt anschauen, und alles geht vorbei

Er lächelte traurig.

»Genosse«, fuhr er nach einigem Zaudern fort, »kennst du meinen Rang in der Partei

»Jawohl.«

»Gut. Ich will dir etwas im Vertrauen sagen. Alles, was ich getan habe und viele Dinge hätte ich nicht tun sollen , habe ich getan, um mir das Recht zu erwerben, hierher zurückzukehren und das Mädchen zu suchen. Wie soll ich mich jetzt verhalten? Was meinst du

»Du fährst fort, für die Sache zu kämpfen

»Meine Sache heißt Sonja und gehört mir nicht mehr, sondern einem andern

Don Camillo hob die Schultern.

»Überleg dir das mit größter Ruhe, Genosse. Ich rate es dir!

Auf jeden Fall habe ich als Freund zu dir gesprochen, nicht als Parteigenosse. Der Genosse weiß nichts von dieser Angelegenheit

»Das Unglück ist, daß ich es weiß«, murmelte Gibetti und ließ sich aufs Bett zurückfallen.

Sie fanden sich zum Abendessen am Tisch wieder, und es waren alle da, ausgenommen Gibetti, der sagen ließ, er leide am Magen.

Der Genosse Oregow war sehr zufrieden, weil der Besuch des Mausoleums bestmöglich abgelaufen war.

Der Genosse Bacciga, der neben Don Camillo saß, fand in einem passenden Augenblick Gelegenheit, ihm in vertraulichster Weise zuzuflüstern:

»Gemacht, Genosse

»Und wie bringst du es fertig, in Italien den Zoll zu passieren fragte mit der gleichen Zurückhaltung Don Camillo.

»Es scheint mir schwierig, eine Nerzstola als männliches Kleidungsstück durchzubringen

»Ich nähe sie an den Mantelkragen. Millionen von Männermänteln haben Pelzkragen. Übrigens noch eines: die reaktionären Zeitungen erzählen wie gewöhnlich Märchen

»Ich ziehe das nicht in Zweifel«, antwortete Don Camillo,

»nur begreife ich nicht, was das mit dem Geschäft zu tun hat

»Du hast mir gesagt, daß die reaktionäre Presse behauptet, in Moskau seien für einen Dollar zwanzig Rubel zu haben. Nun, das ist Schwindel. Man hat mir sechsundzwanzig Rubel für den Dollar gegeben

Der Wodka begann zu kreisen, und die Unterhaltung wurde je länger je lebhafter.

»Genosse Tarocci«, sagte in einem passenden Augenblick Scamoggia zu Don Camillo, »du hast viel verloren, daß du nicht mit uns kamst. Der Besuch von Lenins Mausoleum war eine unvergeßliche Sache

»Er hat recht«, bestätigte der Genosse Curullu, der in der nächsten Umgebung saß. »Sich dort zu befinden, wo Stalin ruht, macht einen großen Eindruck

Nur nicht von Stalin reden im Hause der Entstalinisierung!

Don Camillo intervenierte mit diplomatischem Geschick:

»Das ist begreiflich«, rief er aus. »Ich erinnere mich an den Eindruck, den mir das Grab Napoleons in Paris hinterließ. Und Napoleon war nur ein armer Kerl, verglichen mit einem Koloß wie Lenin.«

Der Genosse Curullu, der von dem Genossen Wodka Rückendeckung bekam, war nicht gesonnen, seine Ansicht preiszugeben.

»Stalin«, antwortete er finster, »Stalin, das war ein Koloß

»Gut gesagt, Genosse«, rief noch finsterer der Genosse Friddi Li aus. »Wirklich ein Koloß! Stalin hat die Sowjetunion groß gemacht. Stalin gewann den Krieg

»Inmitten der Arbeiter, die heute auf den Zutritt zum Mausoleum warteten«, verkündete der Genosse Curullu, nachdem er abermals ein Glas Wodka hinuntergeschüttet hatte,

»befanden sich auch amerikanische Touristinnen. Sie waren gekleidet, als ob Karneval wäre. Sie schienen die Uraufführung der Marilyn Monroe zu erwarten. Blöde Klatschbasen!«

»Gut gesagt, Genosse«, pflichtete ihm Friddi Li wieder bei.

»Ich empfand geradezu Ekel. Moskau ist nicht Monte Carlo.

Man geht nicht nach Moskau, wie man nach Capri geht

»Unter Stalin hätten diese Krähen nicht kommen dürfen, um hier zu krächzen«, stellte der Genosse Curullu fest. »Unter Stalin zitterten die Kapitalisten vor Angst

Obwohl Peppone löblich unterstützt von der Genossin Nadia versuchte, den Genossen Oregow durch ein Gespräch zu fesseln, spitzte der Genosse Oregow in einem schönen Moment schließlich doch die Ohren, und die Genossin Petrowna mußte ihm erklären, worüber die Genossen auf der andern Seite diskutierten. Daraufhin preßte der Genosse Oregow die Kinnbacken aufeinander, paßte genau auf und befahl der Genossin Nadia, ihm alles, Wort für Wort, zu übersetzen.

Peppone sandte mit den Augen ein SOS zu Don Camillo.

»Genossen«, griff Don Camillo ruhig ein, indem er sich an die beiden Insulaner wandte: »Niemand zieht die Verdienste des Mannes in Zweifel. Aber es ist nicht zweckmäßig, gerade jetzt von ihm zu reden

»Es ist stets zweckmäßig, die Wahrheit zu sagen rief der Genosse Curullu hartköpfig. »Und die Wahrheit ist heute, obwohl die Sowjetunion den Mond erobert hat, daß in unserer Partei nicht mehr jener revolutionäre Elan vorhanden ist, den es früher gegeben hat, und so haben wir

zweihundertfünfzigtausend Eingeschriebene verloren

»Die Politik hat sich stets der besonderen Lage des Augenblicks anzupassen«, erwiderte Don Camillo schüchtern.

»Man muß das Endergebnis betrachten

»Das Endergebnis ist, daß Stalin erhielt, was er wollte, ohne einzuwilligen, die von der Sowjetunion besetzten Gebiete herauszugeben«, stellte der Genosse Curullu fest.

Don Camillo hielt den Mund. Jetzt redete der Wodka, nicht mehr die Genossen, und der Wodka hat keine Vernunft.

Überdies hatte das Heimweh nach Stalin nicht nur die Genossen Curullu und Friddi Li, sondern allmählich alle andern erfaßt, ausgenommen Peppone, der mit Wut in den Augen und gespannten Nerven das Platzen der Bombe erwartete.

Und auf einmal platzte die Bombe.

Nachdem der Genosse Oregow aufgeregt mit der Genossin Nadia gesprochen hatte, tat er einen mächtigen Faustschlag auf den Tisch und sprang auf die Füße. Seine Augen blitzten. Er war totenbleich und machte allen Angst.

Das Gerede verstummte sogleich, und mit einem gebrochenen, aber nur allzu verständlichen Italienisch rief der Genosse Oregow in die Stille hinein: »Viva il grande Stalin

Er hob sein mit Wodka gefülltes Glas, und alle sprangen auf die Füße und hoben das Glas.

»Viva antworteten alle einstimmig.

Der Genosse Oregow schluckte den Wodka in einem Zug, und die andern taten es ihm nach.

Er zerbrach das Glas, indem er es auf den Boden schmetterte, und die andern machten es auch so.

Dann sagte die Genossin Nadia:

»Der Genosse Oregow wünscht den italienischen Genossen gute Nacht

Das war alles, und die Versammlung löste sich wortlos auf.

 

Während Don Camillo und Peppone als letzte der Bande auf die Treppe zugingen, trat ihnen die Petrowna in den Weg.

»Genossen«, sagte sie, »würdet ihr mir die Ehre erweisen, eine Tasse Kaffee bei mir zu trinken

Beide schauten sie verwirrt an.

»Ich werde versuchen, einen Kaffee nach italienischer Art zu bereiten«, erklärte lächelnd die Genossin Nadia. »Meine Wohnung ist nicht weit von hier

Hinter den kaiserlichen Palästen und den amerikanischen Wolkenkratzern befand sich das proletarische Moskau, und die Genossin Nadia wohnte im dritten Stock einer trostlosen Arbeiterkaserne mit halbdunklen Treppen, die nach Kohl und Windeln stanken.

Die Wohnung bestand aus einem Zimmer mit zwei Liegesofas, einem Tisch, vier Stühlen, einem Schrank und einem Tischchen, auf dem ein Radioapparat thronte.

Ein Vorhang, ein Lampenschirm mit Quasten, ein Bild, ein Teppich bemühten sich, den allgemeinen Eindruck zu verbessern, doch umsonst.

»Das ist die Genossin, die mit mir lebt«, erklärte Nadia und stellte Peppone und Don Camillo eine Frau vor, die die Türe geöffnet hatte. Sie war bejahrter, massiger und gröber als die Petrowna, schien aber in der gleichen Presse hergestellt zu sein.

»Es ist die Übersetzerin fürs Französische«, fügte Nadia bei,

»versteht aber auch das Italienische vollkommen und spricht es ziemlich gut

Die Kaffeemaschine stand schon inmitten des Tisches auf dem Spirituskocher bereit.

»Wir machen den Kaffee hier«, erklärte die Genossin Nadia,

»weil wir die Küche mit einer andern Familie teilen; um dorthin zu gelangen, müssen wir den Treppenabsatz überqueren

Der Kaffee erwies sich als unerwartet gut, und die Genossin Nadia schien für die Lobsprüche Peppones und Don Camillos sehr zugänglich zu sein.

»Ich hoffe, daß unser großes Rußland euch gefallen hat«, sagte die Genossin Nadia, nachdem das Thema Kaffee erschöpft war.

Begeistert begann Peppone alle Wunderwerke aufzuzählen, die er gesehen hatte, bis ihn die Freundin Nadias auf einmal lachend unterbrach:

»Wir kennen das alles«, rief sie aus. »Warum erzählt ihr uns nicht von Italien

Peppone breitete die Arme aus.

»Genossinnen«, sagte er, »Italien ist ein kleines Land, das schön wäre, wenn die Priester und die Kapitalisten es nicht verpesteten

»Gibt es denn dort wirklich keine Freiheit erkundigte sich die Genossin Nadia.

»Scheinbar ist es ein freies Land«, erklärte Peppone, »aber alles wird von den Priestern kontrolliert, die überall ihre Spione haben. Wenn wir zurückkehren, werden die Priester nach Punkt und Faden wissen, was wir hier getan und gesprochen haben

»Ist das möglich verwunderte sich die Freundin der Genossin Nadia.

»Reinste Wahrheit«, gab Don Camillo ehrlich zu, »ich schwöre es

»Das ist ja schrecklich«, rief die Genossin Nadia aus. »Und wie lebt der durchschnittliche Arbeiter? Zum Beispiel ein Arbeiter von der Sorte Scamoggias, wieviel verdient der

»Scamoggia ist nicht als durchschnittlicher Arbeiter zu betrachten«, stellte Peppone klar. »Der Genosse Scamoggia ist ein spezialisierter Mechaniker; er hat seine eigene kleine Werkstatt und eine große Kundschaft; er verdient gut

»Wieviel etwa fragte Genossin Nadia gleichgültig.

Peppone stellte im Geist Berechnungen an; dann antwortete er:

»Den Rubel zu dreißig Lire gerechnet ungefähr siebentausend Rubel im Monat

Die beiden Mädchen sprachen ein wenig auf russisch miteinander; dann sagte die Genossin Nadia:

»Alles hängt von der Kaufkraft der Lire ab. Wieviel kostet in Rubeln ein Anzug für Männer? Wieviel ein Paar Schuhe?«

»Das hängt von der Qualität der Ware ab«, erklärte Don Camillo. »Ein Paar Schuhe zwischen siebzig und dreihundertfünfzig Rubel, ein Anzug zwischen siebenhundert und tausendvierhundert.«

Peppone trug einen fabelhaften blauen Doppelreiher, wie sich das für einen Senator gehört, und die Freundin der Genossin Nadia betastete den weichen Stoff eines Ärmels.

»Was kostet dieser zum Beispiel erkundigte sie sich.

»Vierzigtausend Lire«, antwortete Peppone.

»Ungefähr tausenddreihundertfünfzig Rubel«, erläuterte Don Camillo.

»Aber Scamoggia«, fing Peppone wieder an, »ist ein besonderer Fall. Scamoggia ist kein gewöhnlicher Arbeiter.

Scamoggia...«

»Scamoggia, Scamoggia rief lachend die Freundin der Genossin Nadia. »Immer Scamoggia! Ist das zufällig jenes schreckliche Individuum, das sich in der Kolchose Tifiz so schlecht betragen hat? Ich kann nicht verstehen, daß ein so schlechter Mensch in der Partei bleiben darf

»Er ist nicht schlecht wehrte Peppone ab. »Er ist ein gescheiter, tüchtiger und zuverlässiger Genosse. Sein Verhalten täuscht

»Dann trägt also eine schlechte Erziehung schuld, die er in einer schlechten Familie erhalten hat«, bestand die Freundin der Genossin Nadia auf ihrer Ansicht.

»Nein«, stellte Peppone entschieden fest. »Seine Familie besteht aus äußerst braven Leuten. Ihr könnt das nicht begreifen, weil ihr Rom nicht kennt. Die römischen Männer machen auswärts den Eindruck von dreimal Verdammten. Aber zu Hause öffnen sie nicht einmal den Mund, weil sie eine fürchterliche Angst vor der Gattin haben

»Hat auch Scamoggia Angst vor der Gattin fragte die Freundin der Genossin Nadia.

»Nein«, Peppone kicherte. »Noch nicht, weil er nicht verheiratet ist. Aber wenn er heiratet, wird er sich wie alle andern verhalten

Die Genossin Nadia fuhr dazwischen und verlangte genauen Bericht über die italienische Schwerindustrie und über die Produktion an Südfrüchten. Peppone war ausgezeichnet im Bild und schoß haufenweise Ziffern.

Die Genossin Nadia lauschte ihm mit äußerster Aufmerksamkeit und wollte um jeden Preis einen zweiten Kaffee zubereiten.

Sie anerbot sich schließlich, die Gäste zum Hotel zurückzubringen, aber sie schlugen das ab und kehrten allein zur Basis zurück.

Unterwegs meinte Peppone, in Italien würde man schwerlich Frauen von soviel politischer Reife wie die Genossin Nadia und ihre Freundin finden.

»Was bedeuten den italienischen Frauen die Schwerindustrie und die Obsterträgnisse der Sowjetunion rief er aus.

»Nichts«, erwiderte Don Camillo. »Die italienischen Frauen wollen nur wissen, ob der junge Mann, der ihnen den Hof macht, verheiratet ist oder nicht, was er tut und was er verdient, was für einen Charakter er hat, aus welcher Familie er kommt und ähnliches dummes Zeug.«

Peppone hielt an, von einem Verdacht gepackt.

»Wollt Ihr damit vielleicht sagen, daß...«

»Ich denke nicht einmal daran unterbrach ihn Don Camillo.

»Stellst du dir vor, ich nähme an, ein kommunistischer Senator käme nach Moskau, um den Heiratsvermittler zu machen? Er ist hier, um der Sache zu dienen, keineswegs aber Genossinnen, die einen Mann wollen

»Jawohl«, brüllte Peppone, »das stimmt ganz genau! Weder ledigen Genossinnen noch verheirateten Genossinnen, obwohl ich, wenn es nach meiner Frau ginge, die Gelegenheit benützen müßte, um einen Pelz, wie ihn die Genossin Nilde Jotti hat, nach Hause zu bringen.«

Das war eine Sache, die ihm seit langem auf dem Magen lag, und jetzt, da er sie gekotzt hatte, war ihm leichter.

Es war zehn Uhr abends. Ein eisiger Wind fegte durch die leeren Straßen, und Moskau erschien als die Hauptstadt der sowjetischen Traurigkeit.