Geheimagent Christi

 

In Grevinec wurden die italienischen Genossen erwartet. Der Leiter der Abteilung »Agitation und Propaganda« empfing sie am Dorfeingang und führte sie zum Sitz des landwirtschaftlichen Sowjets, wo der Erste Sekretär des Distriktkomitees der Partei und der Vorstand der Kolchose sie mit den passenden Worten empfingen. Genossin Nadia Petrowna übersetzte sie genauestens.

Peppone antwortete, indem er die Ansprache, die er fleißig auswendig gelernt hatte, aufsagte und am Schluß ebenfalls mit den Händen klatschte Beifall für Beifall.

Außer den Bonzen waren noch andere Leute da, und es handelte sich, wie aus den Erklärungen hervorging, mit denen die Genossin Nadia die Vorstellungen bereicherte, um die Verantwortlichen der verschiedenen Sektoren: Rindviehzucht, Schweinezucht, Getreidebau, Obstbau, Maschinenpark usw.

Der Versammlungssaal, in dem der Empfang stattfand, ließ vor allem an eine Lagerhalle denken. Die Ausstattung bestand aus einem rohen langen Tisch in der Mitte, den zugehörigen Bänken und dem Bildnis Lenins an einer Wand.

Das Festkomitee der Kolchose hatte das Bildnis Lenins mit grünem Laub, das sich um den leuchtenden Rotgoldrahmen wand, schmücken lassen; doch das hätte das Lokal nicht wärmer und gastlicher gemacht, wenn nicht der lange Tisch mit einer großzügigen Dekoration von leeren Gläsern und vollen Wodkaflaschen veredelt worden wäre.

Ein Glas Wodka, das wie ein Glas Lambrusco hinuntergestürzt wird, erwärmt rasch die Ohren, und Peppone hatte nach wenigen Sekunden seinen Motor auf höchsten Touren. Nachdem die Genossin Petrowna erklärt hatte, daß die Kolchose Grevinec eine der ertragreichsten sei, hatte sie doch die Spitzenleistungen in der Produktion von Milch, Schweinen und Getreide erreicht, verlangte er das Wort. Er pflanzte sich dem Genossen Oregow gegenüber auf und sagte mit fester Stimme, jeden Satz vom nächsten Satz abhebend, damit die Petrowna Zeit zum Übersetzen hatte:

»Genosse, ich komme aus der Emilia, aus jener Gegend also, wo vor genau fünfzig Jahren als einziger in Italien und seltenster in der Welt richtige proletarische Genossenschaften bestanden.

Eine Gegend mit weitgehend mechanisierter Landwirtschaft und mit einer Produktion an Milchprodukten, Wurstwaren und Getreide, die sowohl in punkto Quantität und Qualität zu den ersten der Welt gehörte. In meinem Dorfe haben ich und meine Genossen eine Genossenschaft der Landarbeiter gegründet, die die große Ehre hatte, von den Brüdern der Sowjetunion das erfreulichste Geschenk zu erhalten

Peppone zog aus seiner Ledermappe ein Bündel Fotografien, die er dem Genossen Oregow reichte. Die Fotografien zeigten die triumphale Ankunft »Nikitas« im Dorfe, nämlich des Traktors, den man von der UdSSR als Geschenk empfangen hatte, den Traktor in Aktion bei der Urbarmachung des Bodens der landwirtschaftlichen Genossenschaft »Nikita Chruschtschow« und dergleichen mehr.

Die großen Fotos gingen von Hand zu Hand und machten auf alle lebhaften Eindruck, angefangen beim Genossen Oregow.

»Das Werk der Zerstörung des Kapitalismus ist im Gange«, fuhr Peppone fort, »und obwohl wir noch nicht bei der Endphase sind, so sind wir doch nahe daran, und es ist zwangsläufig so, wie es euch der Genosse Tarocci, der zu meiner Gegend gehört, noch besser sagen könnte als ich, daß die Vorrechte der Eigentümer und der Pfaffen von der Wandtafel der Geschichte gelöscht werden, worauf die Ära der Freiheit und Arbeit beginnen wird. Die landwirtschaftlichen Genossenschaften, die nach dem Vorbild der Kolchosen geformt sind und nach dem Vorbild der staatlichen Farmen Typ Sowchos, werden innerhalb kurzer Zeit die gegenwärtige Form der versklavenden Verpachtung landwirtschaftlicher Güter ersetzen, und darum ist es, wie leicht zu verstehen, für mich von größtem Interesse, jede technische und administrative Einzelheit der Kolchosen kennenzulernen. Ich möchte daher, Genosse Oregow, daß du die leitenden Genossen der Kolchose Grevinec bittest, mich ausführlich über das Funktionieren der Kolchose auch noch im kleinsten Sektor zu unterrichten

Der Genosse Oregow ließ antworten, er sei sich der Bedeutung der Anfrage bewußt, und versprach, sein Bestes zu tun, um dem gerechten Verlangen Peppones zu entsprechen.

Dann sprach er mit den Leitern der Kolchose, und am Schlusse meldete die Genossin Nadia dem Peppone:

»Genosse, dein besonderes Interesse für die technische und administrative Seite ist von allen anerkannt worden. Aber wenn ich hier bleibe, um dir und den Leitern der Kolchose zur Verfügung zu stehen, könnten deine Genossen den kompletten Besuch der Kolchose, wie er im Programm fixiert ist, nicht durchführen. Zum Glück gibt es unter den vorhandenen Technikern jemand, der dir alles erklären kann, ohne mich als Übersetzer zu benötigen

Die Petrowna unterbrach sich und tat einen Wink. Aus der Gruppe der Leiter löste sich ein brauner, magerer Mann. Er trug das Überkleid eines Mechanikers und mochte zwischen fünfunddreißig und vierzig sein.

»Das ist der verantwortliche Leiter für die Abteilung Mechanisierung, Nachschub, Arbeitskoordination«, erklärte die Genossin Petrowna und stellte den Mann Peppone vor: »Stephan Bordonny, Italiener

»Stephan Bordonny, Sowjetbürger«, verbesserte der magere Mann und reichte Peppone die Hand, schaute jedoch die Petrowna an. »Sowjetbürger wie meine Kinder.«

Die Petrowna lächelte, um ihre Verwirrung zu verbergen. »Du hast recht, Stephan Bordonny«, berichtigte sie. »Ich hätte ›von italienischer Herkunft ‹ sagen sollen. Während wir unsern Rundgang fortsetzen, bleibst du zur Verfügung des Genossen Senators Bottazzi

Die Genossin beeilte sich, ihre Gruppe einzuholen, und Don Camillo traf Anstalten, ihr zu folgen, doch Peppone versperrte ihm den Weg: »Du, Genosse Tarocci, wirst bei mir bleiben und all das, was ich dir sagen werde, notieren

 

»Bist du Parteimitglied erkundigte sich Peppone, als er mit dem mageren Mann die Sowjetbaracke verließ.

»Noch wurde mir diese Ehre nicht zuteil«, sagte der andere mit unpersönlicher Stimme.

Er war von eisiger Höflichkeit. Während Don Camillo sich befliß, Notizen in ein Büchlein einzutragen, antwortete der Bürger Stephan Bordonny genau auf jede Frage Peppones, aber man spürte seine Anstrengung, sich mit der kleinstmöglichen Zahl von Worten auszudrücken.

Er kannte die Arbeitsweise der Kolchose bis in das geringste Detail und brachte seine Ziffern und Daten mit absoluter Sicherheit vor. Aber er fügte nie ein Wort mehr hinzu.

Peppone bot ihm einen halben Toskano an, und er wies ihn höflich zurück.

Mit einem einfachen »Danke« wies er auch die »Nazionale«

zurück, die ihm von Don Camillo angeboten wurde.

Doch da die andern rauchten, entnahm er seiner Tasche ein Stück Zeitungspapier und eine Prise Machorka und rollte sich eine Zigarette.

Sie besuchten den Weizensilo, dann die Schuppen, wo die Kraftfuttermittel, die Dünger, die Schädlingsbekämpfungsmittel zur Behandlung der Obstbäume und das bäuerliche Werkzeug für die Handarbeit aufbewahrt wurden.

Alles war genau geordnet und katalogisiert.

In einer Ecke stand eine seltsame, funkelnagelneue Maschine, und Peppone fragte, wozu sie diene.

»Die Baumwolle zu kämmen«, antwortete der Sowjetbürger Stephan Bordonny.

»Baumwolle verwunderte sich Don Camillo. »In diesem Klima baut ihr Baumwolle an

»Nein«, antwortete der Mann.

»Warum ist sie denn hier fragte Don Camillo.

»Ein Irrtum in der Verteilung«, erklärte der Mann. »Sie ist anstatt einer Siebmaschine für die Aussonderung des Weizensamens geliefert worden

Peppone warf Don Camillo einen vernichtenden Blick zu, doch Don Camillo, der jetzt ein Häkchen gefunden hatte, ließ es nicht mehr los.

»Und ihr siebt das Korn mit einer Maschine, die zum Kämmen der Baumwolle dient

»Nein«, erwiderte eisig der magere Mann. »Wir verwenden eine Siebmaschine, die wir mit unsern Mitteln in unserer Werkstatt hergestellt haben

»Und jene, die die Siebmaschine erhielten, womit kämmen sie die Baumwolle?«

»Das geht die Kolchose Grevinec nichts an«, antwortete der Mann.

»Irrtümer wie dieser dürften nicht vorkommen«, bemerkte Don Camillo hinterhältig.

»Euer Vaterland ist dreihunderttausend Quadratkilometer groß«, teilte der andere mit Amtsstimme mit. »Die Sowjetunion hat mehr als zweiundzwanzig Millionen Quadratkilometer Oberfläche

Nun griff Peppone ein.

»Stephan Bordonny«, sagte er und trat Don Camillo auf den linken Fuß, »bist du diesem Schuppen zugeteilt

»Nein, ich bin Mechaniker. Wollt ihr die Tierzüchtereien sehen

»Mich interessiert der landwirtschaftliche Maschinenpark«, antwortete Peppone.

Der Schuppen der Landwirtschaftsmaschinen machte äußerlich keinen guten Eindruck, weil er nicht einmal einem Schuppen glich, sondern einer großen Baracke mit Wänden aus Holz und Stroh und einem Dach aus rostigem Blech.

Doch sobald man ihn betrat, blieb man mit offenem Munde stehen.

Auf dem Boden aus gestampfter Erde lag kein Splitterchen, und die Maschinen, in vollkommener Ordnung, waren glänzend herausgeputzt wie für eine Mustermesse.

Der Bürger Stephan Bordonny kannte alle Maschinen von A bis Z, Alter, Arbeitsstunden, Verbrauch, Leistung, als wenn er im Gehirn eine lückenlose Kartei besäße.

Im Hintergrund der Baracke befand sich die Werkstatt, der einzige Teil, der aus Backsteinen erbaut war. Es war eine ärmliche Werkstatt, nur mit dem unumgänglich Nötigen an Werkzeug und Geräten, jedoch alles so sorgsam geordnet und gut instand, daß Peppone die Tränen kamen.

Ein großer Raupenschlepper befand sich in Behandlung, und die Teile des Motors lagen in Reih und Glied auf einer Bank.

Peppone hob ein Stück auf, prüfte es und schaute dann den Bürger Stephan an.

»Wer hat dieses Stück in Ordnung gebracht fragte er.

»Ich«, antwortete Stephan gleichgültig.

»Mit dieser jämmerlichen Drehbank rief Peppone aus und zeigte auf ein altes, zerbrochenes Ding, das tatsächlich an eine Drehbank erinnern konnte.

»Nein«, erklärte der andere, »mit der Feile...«

Peppone schaute das Stück nochmals an. Dann nahm er ein anderes von der Bank und betrachtete es mit ebensoviel Verwunderung.

Über der Bank war eine Eisenstange in die Mauer geschlagen; daran hing an einer Schnur eine Kurbelwelle. Stephan ergriff eine Ahle und schlug auf die Kurbelwelle, die wie eine Glocke ertönte.

»Am Ton, den sie gibt, hört man, daß sie aus dem Gleichgewicht gekommen ist«, erklärte er und legte die Ahle weg. »Man braucht dafür nur etwas Gehör

Peppone nahm den Hut ab und trocknete sich den Schweiß.

»Verflixt rief er aus. »Ich hätte geschworen, nur jener wende diese Methode an, hingegen finde ich einen zweiten hier mitten in Rußland

»Welcher jener erkundigte sich Don Camillo.

»Der Mechaniker von Torricella«, antwortete Peppone. »Er war ein Tausendsassa, richtete die Autos für die Rennfahrer her.

Sie kamen sogar aus dem Ausland. Ein Männchen, dem du aufs Aussehen hin nicht einmal vier Soldi vorausbezahlt hättest. Im zweiten Kriegsjahr wollte ein englischer Taugenichts die Brücke über den Stivone bombardieren und hat sein Haus getroffen.

Unter den Trümmern sind er, seine Frau und die beiden Söhne begraben worden

»Nur einer«, verbesserte der Sowjetbürger Stephan. »Der andere war zum Glück Soldat

Der Sowjetbürger Stephan Bordonny hatte mit einer andern als der gewohnten Stimme gesprochen.

»Es freut mich, daß sich jemand noch meines Vaters erinnert«, fügte er bei.

Sie gingen hinaus, ohne weiter von der Werkstatt zu reden.

Draußen fanden sie einen bleiernen Himmel vor, der Sturm androhte.

»Ich wohne in jenem Hause«, sagte Stephan. »Wir sollten dort sein, bevor die Sintflut kommt. Während wir dort auf das Aufhören des Regens warten, kann ich euch alle sonst noch gewünschten Angaben machen

Sie langten eben beim Hause an, als die ersten Tropfen niederstürzten. Es war ein ländliches, armes Haus, aber sauber und einladend, mit einer geräumigen Küche unter geschwärzten Balken und einem großen Ofen.

Peppone hatte sich von seiner Überraschung noch nicht erholt.

Sie nahmen am langen Tisch Platz.

»Im Jahre 39 war ich zum letztenmal in der Werkstatt von Torricella«, sagte Peppone wie zu sich. »Ich hatte eine gebrauchte ›Balillar‹ gekauft und fand nicht heraus, was dem Motor fehlte

»Eine verbogene Kurbelwelle«, erklärte Stephan. »Ich habe sie wieder in Ordnung gebracht. Diese Kleinigkeiten überließ der Vater mir. Und lief sie dann gut

»Sie läuft immer noch«, antwortete Peppone. »Dann also, jener magere Bub mit dem schwarzen Haarbüschel über den Augen...«

»Ich war neunzehn Jahre alt«, brummte Stephan. »Damals hatten Sie keinen Schnauz...«

»Nein«, mischte sich Don Camillo ins Gespräch. »Er hat ihn wachsen lassen, nachdem man ihn wegen belästigender und widerlicher Trunkenheit sowie nächtlicher antifaschistischer Scharmützel ins Gefängnis gesteckt hatte. Bei dieser Gelegenheit hat er sich das Zeugnis verdient, ein politisch Verfolgter zu sein, und so das Recht erworben, kommunistischer Senator zu werden

Peppone schmetterte eine Faust auf den Tisch.

»Ich habe auch noch anderes vollbracht rief er aus.

Stephan schaute jetzt Don Camillo an.

»Und auch Sie«, brummte er schließlich, »haben kein fremdes Gesicht. Sind Sie auch aus der Gegend

»Nein«, antwortete Peppone rasch. »Er wohnt dort, wurde aber importiert. Du kannst ihn nicht kennen. Sage mir vielmehr: Wie bist du hierhergelangt

Stephan breitete die Arme aus.

»Warum an das erinnern, was die Russen großmütig vergessen haben sagte er mit seiner Stimme, die wieder eisig klang. »Wenn ihr weitere Erklärungen über die Kolchose wünscht, stehe ich zu eurer Verfügung

Da schaltete sich Don Camillo ein.

»Freund«, sagte er, »hab keine Sorge, weil er kommunistischer Senator ist. Reden wir von Mensch zu Mensch. Die Politik hat dabei nichts zu suchen

Stephan blickte zuerst Don Camillo und dann Peppone in die Augen.

»Ich habe nichts zu verbergen«, erklärte er. »Es ist eine Geschichte, die hier in Grevinec alle kennen. Aber da niemand davon spricht, möchte nicht einmal ich davon sprechen

Don Camillo hielt ihm das Päckchen ›Nazionali‹ hin.

Draußen war die Sintflut losgebrochen, und der Wind warf die Wasserströme gegen die kleinen Scheiben der beiden Fenster.

»Seit siebzehn Jahren träume ich davon, wieder einmal eine ›Nazionale ‹ zu rauchen«, sagte Stephan und zündete sich eine Zigarette an. »Ich kann mich nicht an Machorka und ans Zeitungspapier gewöhnen. Sie zerreißen mir den Magen

Er schluckte gierig einige Züge und betrachtete dann das bläuliche Räuchlein, das langsam aus seinem Mund kam.

»Die Geschichte fuhr er fort. »Ich war als Soldat bei der Autozentrale. Eines Tages erwischten uns die Russen. Das war Ende 42! Schnee und Frost zum Krepieren. Sie trieben uns wie eine Schafherde vor sich her. Ab und zu stürzte einer. Er stand nicht mehr auf; sie nagelten ihn mit einer Kugel in den Kopf auf den schmutzigen Schnee der Piste. Schließlich war auch ich soweit, daß ich stürzte. Ich verstand Russisch und konnte mich verständlich machen. Als ich hinfiel, kam ein russischer Soldat herbei und stieß mich mit dem Fuß: ›Steh auf!‹ befahl er.

›Towarischtsch‹, antwortete ich, ›ich kann nicht mehr. Laß mich in Frieden sterben.‹ Das Ende der Kolonne ich war einer der letzten war schon zehn Meter weit weg, und es begann zu schneien. Er schoß einen halben Meter über meinen Kopf hinaus und knurrte: ›Schau, daß du rasch stirbst, und bring dich nicht in die Patsche

Stephan unterbrach sich. Ein großes Bündel, bedeckt mit Sackleinwand, die von Wasser troff, trat in die Küche, und als die Sackleinwand gefallen war, sah man eine schöne Frau, die nicht viel über dreißig schien. »Meine Frau«, erklärte Stephan.

Die Frau lächelte; dann erklärte sie rasch etwas in einer fremden Sprache und verschwand über die Sprossen einer Leiter hinauf in den Estrich.

»Gott hatte entschieden, daß ich davonkommen sollte«, fuhr Stephan fort. »Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einer Isba an der Wärme. Ich war einen halben Kilometer von hier weg gestürzt, zwischen dem Dorf und dem Wald, und ein siebzehnjähriges Mädchen, das vom Wald, wo es Holz gesammelt hatte, nach Hause ging, hatte unter einem Haufen Schnee eine klagende Stimme gehört. Es war ein kräftiges Mädchen. Es hatte mich beim Mantelkragen ergriffen und mich ohne das Reisigbündel, das es auf der Schulter trug, loszulassen wie einen Kartoffelsack zu seiner Isba geschleppt

»Gute Menschen, die russischen Bauern«, warf Peppone ein.

»Auch Bagò del Molinetto wurde auf diese Weis e gerettet

»Jawohl«, gab Stephan zu, »sie haben einige der Unglücklichen, wie ich es war, gerettet. Doch jenes Mädchen war keine Russin, sondern Polin. Man hatte sie zusammen mit Vater und Mutter hierhergebracht, weil man Leute brauchte, die die Erde bebauten. Sie gaben mir von dem wenigen, das sie hatten, zu essen, und hielten mich zwei Tage lang verborgen. Ich begriff, daß die Sache nicht ewig dauern konnte, und da ich und das Mädchen uns verständigen konnten, da wir das Russische radebrechten, bat ich sie, zum Dorfvorstand zu gehen und ihm zu erklären, ihnen sei vor ein paar Stunden ein italienischer Soldat zugelaufen. Es tat ihr leid, doch sie ging. Sie kehrte nach kurzem mit einem Kerl, der mit einer Pistole bewaffnet war, und zwei andern, die Gewehre trugen, zurück. Ich hob die Hände, und sie gaben mir ein Zeichen, daß ich herauskommen müsse.

Die Hütte des polnischen Mädchens war von allen am weitesten vom Dorfkern entfernt, und ich mußte ein schönes Stück mit den Läufen im Rücken marschieren. Endlich kamen wir auf dem Platz an, wo ihr die Silos gesehen habt.

Ein Lastwagen voller Kornsäcke stand dort, und ein verdammter Halunke versuchte vergeblich, ihn in Gang zu bringen. Ich vergaß alles übrige und dachte nur an den Lastwagen. Ich hielt an und wandte mich zum Chef:

›Towarischtsch‹, sagte ich, ›der entlädt die Batterie und wird ihn nicht mehr in Gang bringen! Befiehl ihm aufzuhören und vorerst die Pumpe zu säubern.‹ Als der Chef mich russisch reden hörte, blieb sein Mund offen, aber dann sagte er streng:

›Was verstehst du davon? ‹ Ich erwiderte ihm, es wäre mein Handwerk. Der Verdammte fuhr fort, die Batterie zu morden; sie lag schon in den letzten Zügen. Der Chef stieß mich mit dem Pistolenlauf vorwärts, und als wir beim Lastwagen angelangt waren, hielt er an und rief dem Chauffeur zu, aufzuhören und die Pumpe zu prüfen. Im Kabinenfenster erschien das tölpelhafte Gesicht eines Burschen, der als Soldat gekleidet war. Er wußte nicht einmal, um welche Pumpe es sich handelte. Es war das erstemal, daß er einen Diesel lenkte. Ich bat ihn, mir einen Schraubenzieher zu geben. Nachdem ich ihn hatte, hob ich die Kühlerhaube hoch und säuberte im Handumdrehen die Einspritzpumpe. Dann drückte ich die Kühlerhaube nieder und streckte ihm den Schraubenzieher hin. ›Jetzt geht's‹, sagte ich.

Nach zwei Sekunden fuhr der Lastwagen ab.

Sie brachten mich in eine Kammer der Sowjetbaracke und schlossen mich darin ein. Ich bat um eine Zigarette, und sie gaben mir ein paar. Sie kehrten nach zehn Minuten zurück und führten mich, immer mit den Waffenläufen im Rücken, zu einer Remise, wo Traktoren und landwirtschaftliche Maschinen so gut als möglich eingestellt waren. Der Chef zeigte mir ein Raupenfahrzeug und fragte mich, warum es nicht ginge.

Ich ließ mir siedendheißes Wasser bringen, füllte den Kühler auf und probierte den Anlasser. Ich stieg sofort ab. ›Eine geschmolzene Lagerschale‹, erklärte ich. ›Man müßte alles auseinandernehmen, die Lagerschale wieder in Ordnung bringen und montieren. Das braucht Zeit.‹ Mit der Handvoll jämmerlichen Werkzeugs, das sie mir zur Verfügung stellten, mußte ich wie ein Verrückter arbeiten, aber achtundvierzig Stunden später beendigte ich die Montage des letzten Stückes.

Darauf kam ein Offizier mit zwei Soldaten, die mit Parabellums bewaffnet waren. Sie schauten mir zu, und als ich fertig und der Kühler voll kochendem Wasser war, bestieg ich den Traktor.

Gott hatte beschlossen, mich um jeden Preis zu retten: der Motor lief sofort und ging wie eine Uhr. Ich versuchte eine Runde um die Remise herum, dann brachte ich ihn an seinen Platz zurück.

Ich reinigte mir die Hände mit einem Lumpen, sprang hinunter und präsentierte mich dem Offizier mit erhobenen Armen. Sie lachten mir ins Gesicht. ›Wir überlassen ihn dir, Genosse‹, sagte der Offizier zum Chef, ›auf deine Verantwortung. Wenn er durchbrennt, bezahlst du für ihn.‹ Da begann auch ich zu lachen. ›Herr Hauptmann‹, antwortete ich, ›Rußland ist groß, und ich brenne höchstens bis zu jener Isba dort hinten durch, wo es ein hübsches Mädchen hat, das mir sehr gefällt, auch wenn es mich dem Sekretär des Distriktkomitees der Partei anzeigt.‹ Der Offizier schaute mich an: ›Du bist ein tüchtiger italienischer Arbeiter. Warum bist du gekommen, die sowjetischen Arbeiter zu bekämpfen?‹ Ich sagte ihm, ich wäre gekommen, weil man mich hergeschickt habe. Ich wäre Chefmechaniker der Autozentrale gewesen, und die einzigen Russen, die ich je getötet hätte, wären zwei Hühner gewesen, die unter die Räder meines Lastwagens gekommen seien

Draußen war die Sintflut zu einem wahren Orkan geworden.

Stephan stand auf und sprach russisch in ein Feldtelefon hinein, das sich in einer Ecke befand. Nach kurzem kehrte er von dort zurück.

»Man sagt, ihr könntet hierbleiben. Die andern wurden im Stall Nummer drei, der Gottes Haus ist, blockiert

»Und dann fragte Don Camillo.

»Dann begann für mich eine Teufelsarbeit, denn ich reparierte alle Maschinen, richtete die Werkstatt und die Remise ein, und als ich endlich an mich denken konnte, war der Krieg schon seit zwei Jahren aus. Der Vater des polnischen Mädchens war gestorben, und ich heiratete das Mädchen. Dann gingen weitere Jahre vorbei, und mir und meiner Frau wurde die Sowjetbürgerschaft zugesprochen

»Und du hast nie an die Heimkehr gedacht erkundigte sich Don Camillo.

»Wozu? Um den Haufen Schutt zu sehen, unter dem mein Vater, meine Mutter und mein Bruder starben? Hier behandeln sie mich jetzt wie einen der ihren. Ja sogar besser, weil ich etwas leiste und mein Handwerk verstehe. Wer erinnert sich dort noch an mich? Ich bin im Nichts verschwunden wie die vielen, die in Rußland verlorengegangen sind

Gerade in diesem Augenblick kam es zu einer unerwarteten Störung. Die Türe ging plötzlich auf und ließ, zusammen mit einem Wasserschwall, ein seltsames Vieh herein, eine Art dunkelhäutigen, nassen Tausendfüßler.

Mit einem Schrei stürzte sich Stephans Frau, die weiß der Himmel woher gesprungen kam, auf die Türe und schloß sie wieder. Darauf fiel die nasse Haut von dem Untier ab, und von dem zerfetzten Wachstuch befreit, unter das sie sich vor dem Regen geflüchtet hatten, erschienen sechs Kinder, eines schöner als das andere, sechs Orgelpfeifen von sechs bis zwölf Altersjahren.

»Freund, bist du wirklich in Rußland verloren rief Don Camillo aus.

Stephan schaute Don Camillo nochmals verstohlen an.

»Und doch«, erklärte er dann, »muß ich Euch irgendwo gesehen haben

»Wahrscheinlich nicht«, antwortete Don Camillo. »Immerhin, auch wenn es so wäre, vergiß, mich gesehen zu haben

 

Es waren sechs guterzogene Kinder. Sie krähten wie Hühnchen, aber es genügten drei Worte der Mutter, um sie zum Verstummen zu bringen. Sie setzten sich ruhig auf die Ofenbank und plauderten leise.

»Sie sind noch klein«, erklärte die Frau mit einem seltsamen, doch klaren Italienisch. »Sie hatten die kranke Großmutter vergessen

Don Camillo erhob sich.

»Wir möchten sie begrüßen«, sagte er.

»Sie wird darüber sehr erfreut sein«, rief die Frau lächelnd aus. »Sie sieht nie jemanden

Sie stiegen die Leiter hinauf und gelangten in eine niedere Estrichkammer. Eine verkümmerte Greisin lag auf einem Bett mit weißem, faltenlosem Linnen.

Stephans Frau sprach polnisch mit ihr, und die Alte lispelte etwas.

»Sie sagt, der Herr segnet jene, die die Kranken besuchen«, erklärte Stephans Frau. »Sie ist eine alte Frau, und man muß ihr verzeihen, wenn ihr Geist noch im Vergangenen verweilt

Über der Kopfwand des Bettes war ein Bild an die Mauer geheftet, und Don Camillo näherte sich neugierig.

»Es ist die Schwarze Madonna rief er aus.

»Ja«, erklärte leise Stephans Frau, »es ist die Beschützerin Polens. Die alten Polen sind Katholiken. Man soll die Alten verstehen

Sie drückte sich mit viel Vorsicht aus, und eine unbestimmte Furcht stand in ihren Augen.

Peppone rettete die Situation: »Es gibt nichts zu verzeihen«, versicherte er. »In Italien sind nicht nur die Alten, sondern auch die Jungen Katholiken. Hauptsache, daß sie ehrlich sind! Wir bekämpfen nur die verfluchten Priester, die, anstatt Diener Gottes zu sein, politisieren

Die Greisin flüsterte Stephans Frau etwas ins Ohr, und diese warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu, ehe sie zu reden anfing.

Stephan beruhigte sie: »Sie sind nicht hier, um uns Übles zu tun

»Sie möchte nur wissen«, stammelte die errötende Frau,

»möchte nur wissen, wie es dem Papst geht

»Nur zu gut antwortete lachend Peppone.

Don Camillo fingerte unter seinem Rock herum; er holte ein Bildchen heraus und reichte es der Greisin, die es zuerst mit aufgerissenen Augen betrachtete und dann mühsam eine kleine Hand, die ganz Knöchelchen war, unter den Decken hervorzog und es ergriff.

Dann redete sie aufgeregt der Tochter ins Ohr hinein.

»Sie sagt, er sei es wirklich«, übersetzte die Frau mit Angst in der Stimme.

»Der Heilige Vater persönlich«, bestätigte Don Camillo.

»Papst Johannes der Dreiundzwanzigste.«

Peppone erblaßte und schaute besorgt rundum, wobei er den erstaunten Blicken Stephans begegnete.

»Genosse«, gebot ihm Don Camillo, ergriff ihn bei einem Arm und stieß ihn zur Türe, »geh mit Stephan ins Erdgeschoß hinunter und schau zu, wie es regnet

Peppone versuchte zu widersprechen, aber Don Camillo machte es kurz.

»Nicht stören, Genosse, wenn du keine Schwierigkeiten haben willst

Don Camillo, Stephans Frau und die Greisin blieben allein.

»Sag ihr, daß sie ruhig sprechen kann, denn ich bin Katholik wie sie Don Camillo befahl es ganz entschieden.

Die beiden Frauen wisperten hin und her, dann berichtete Stephans Gattin:

»Sie sagt, sie danke und segne Euch. Mit dem Bildnis, das Ihr ihr gegeben habt, fühlt sie sich gefaßter, den Tod zu erwarten.

Sie hat viel gelitten, als sie meinen Vater wie einen Hund ohne die letzten Tröstungen sterben sah

»Aber ihr habt doch Priester, die frei umhergehen und bis hierher kommen«, verwunderte sich Don Camillo.

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Es scheinen Priester zu sein, doch hängen sie nicht von Gott ab, sondern von der Partei«, erklärte sie. »Sie sind nichts für uns Polen

Draußen regnete es aus allen Himmeln.

Don Camillo riß sich sein Wams vom Leib, entnahm dem falschen Füllfederhalter das Kruzifix mit den faltbaren Armen, steckte es in einen Flaschenhals und stellte es in die Mitte des Tischchens an der Wand neben dem Bett der Greisin.

Er holte den Aluminiumbecher heraus, der ihm als Kelch diente.

Eine Viertelstunde später stiegen Peppone und Stephan hinauf, da sie durch das lange Schweigen beunruhigt waren. Sie lauschten an der Estrichtüre und erstarrten: Don Camillo las die heilige Messe.

Die Alte schaute ihn, die Hände gefaltet, mit Tränen in den Augen an. Als sie die Kommunion empfangen hatte, schien es, das Leben fließe plötzlich kräftiger in den ausgedörrten Adern.

»Ite, missa est..

Nach dem Amen sprach die Greisin erregt ins Ohr der Tochter, die sogleich zu Don Camillo hinübersprang.

»Hochwürden«, keuchte sie, »verheiratet uns vor Gott! Jetzt sind wir nur vor den Menschen verheiratet

Draußen der Blutsturz des Himmels; anscheinend hatten sich die Wolken von ganz Rußland am Himmel von Grevinec versammelt.

Es fehlte der Ring, aber die Greisin streckte ihre Hand aus und der abgescheuerte Ehering, ein dünnes Ringlein aus Silber, schob sich über den Finger der Tochter.

»Herr«, flehte Don Camillo, »beachte es nicht, wenn ich einige Worte oder Sätze verschlucke

Peppone glich der klassischen Statue aus Gips.

Don Camillo unterbrach einen Augenblick den Gottesdienst und stieß ihn gegen die Türe:

»Beeile dich und hole die ganze Bande hierher

Jetzt nahm der Regen rasch ab, aber Don Camillo war so hurtig wie ein Maschinengewehr: er taufte alle sechs Kinder mit atemraubender Schnelligkeit.

Und es geschah nicht so, wie er gesagt hatte, indem er Worte verschluckte oder ganze Sätze übersprang. Er sagte alles, was er sagen mußte, von der ersten bis zur letzten Silbe. Doch die Kraft dazu hatte ihm Jesus gegeben.

Vielleicht hatte alles eine Stunde gedauert, vielleicht nur ein paar Minuten. Don Camillo wußte es nicht; er fand sich erst wieder, als er am Küchentisch saß mit Peppone ihm zur Seite und Stephan vor sich.

Jetzt blitzte die Sonne, und im Halbdunkel des Ofens blitzten aufgerissene Augen, die seine Augen suchten, mehr noch als die Sonne. Don Camillo zählte sie, und es waren ihrer sechzehn: zwölf Augen der Kinder, zwei der Mutter und zwei der Greisin.

Aber diese zwei befanden sich nicht in einem der Gesichter, die vom Halbdunkel des Ofens umschleiert waren, sondern er sah sie in seinem Geist, weil er nie zwei Augen, die ihn auf diese Weise angeschaut hätten, begegnet war und sie nicht mehr aus seinem Gedächtnis entfernen konnte.

Die Genossin Nadia Petrowna erschien auf der Schwelle.

»Alles in Ordnung fragte sie.

»Alles völlig in Ordnung«, antwortete Don Camillo und erhob sich.

»Wir sind dem Genossen Oregow dankbar, daß er uns einen technischen Fachmann wie den Bürger Stephan Bordonny zur Verfügung stellte«, ergänzte Peppone, indem er Stephan die Hand drückte und sich der Tür näherte.

Don Camillo war der letzte, der hinausging, und als er auf der Schwelle war, wandte er sich um und machte rasch das Zeichen des Kreuzes. Er flüsterte:

»Pax vobiscum.«

»Amen«, antworteten die Augen der Greisin.