Deshalb ist die Bibel ein ewig wirksames Buch, weil, so lange die Welt steht, niemand auftreten und sagen wird: Ich begreife es im Ganzen und verstehe es im Einzelnen. Wir aber sagen bescheiden: Im Ganzen ist es ehrwürdig und im Einzelnen anwendbar.
Johann Wolfgang von Goethe,
Maximen und Reflexionen
Die Bibel ist das Buch unserer westlichen Zivilisation. Jeder sollte sie kennen und sich ein Leben lang bemühen, sie zu verstehen. Jeder kann sie verstehen. Die Bibel-Texte haben mit Ihnen selbst zu tun. Was wahr ist und wer lügt, was schwer ist und was leicht, wodurch einer schuldig wird und wie er gerechtfertigt wird und worauf er hoffen kann, was gut ist und gut tut, was böse ist und alles zerrüttet, zerstört, vernichtet, wozu wir da sind, was fest steht und was wir offen lassen müssen und dürfen! – all das wird darin geschildert in Geschichten, Bildern, Mythen, in Bekenntnissen, Gebeten, Geboten.
Manche Aussagen sind widersprüchlich. Was man da liest, ist bestechend klar, bringt die Ambivalenzen des Lebens zur Sprache, bleibt geheimnisvoll. Immer auf der Suche nach dem Geheimnis des Lebens – als ein Mensch vor dem Angesicht Gottes.
Unsere Sprache ist voll von sprichwörtlich gewordenen Worten und Redewendungen, deren Tragweite sich erst dann erschließt, wenn man ihren Zusammenhang kennt – nein: versteht! Turmbau, Damaskus-Erlebnis, Apokalypse, wahrer Jakob, Wüstenwanderung, Gelobtes Land, Sündenbock, Sintflut, Menetekel, Silberling – sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, sein Kreuz auf sich nehmen, sein Leben verlieren. |20|Die Bibel ist eine Buchsammlung in Einzelbüchern, die in etwa 1000 Jahren Überlieferung weitererzählt, aufgeschrieben, redigiert, zusammengestellt, nachträglich in zeitliche Abfolge gebracht wurde. Vorzivilisatorisches, ganz Abschreckendes steht neben ganz Modernem, Grundsubstanz dessen, was wir heute Humanität nennen.
Es beginnt mit den Ur-Geschichten (Genesis 1–11) und fährt fort mit der Geschichte Israels, beginnend mit Abraham (Genesis 12–25,18).
Im Namen Abraham bündeln sich die Traditionen der drei großen monotheistischen Religionen: des Judentums, des Christentums und des Islams. Abraham ist ihre gemeinsame Wurzel.
Für den Apostel Paulus ist Abraham das Ursymbol für das, was er Glauben – ein unbedingtes Vertrauen in Gott – nennt. Paulus zitiert Genesis 15,6: »Abraham hat Gott geglaubt, und das ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet worden.«
Es geht Paulus nicht um das äußere Zeichen einer Zugehörigkeit – Beschneidung oder Blutsverwandtschaft –, sondern darum, dass Abraham der »Vater des Glaubens« zum »Vater für viele Völker« geworden ist (Genesis 17,5). Abraham habe die Grundgewissheit des Glaubens hinterlassen, dass Gott das, was er verheißt, auch tun kann (vergleiche Römerbrief, Kapitel 4).
Alle drei monotheistischen Religionen haben Abraham als Eigentum der je eigenen Religion beansprucht und verfahren dabei nach einer gleichen Struktur. Diese Struktur ist eine wiederauftauchende paradoxe Konstellation.
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Bei den Juden:
Der Nicht-Jude und ohne Thora lebende Abraham wird zu einer exklusiven jüdischen Gestalt, zu einem Urrabbi und Erzpriester und damit zum Archetyp des |21|»Halachischen Menschen« – des Gesetzesfrommen. Dabei herrscht die Überzeugung, dass es die Thora und Halacha1* schon vor Mose gegeben habe. Und der Kronzeuge sei eben Abraham. -
Im Christentum:
Der Nicht-Jude und Nicht-Christ Abraham wird zu einer exklusiven christlichen Gestalt, mit dessen Hilfe man Juden den Status des exklusiven Bundes- und Gottesvolkes entzieht. In Abraham ist Christus schon vorgebildet. -
Im Islam:
Auch hier paradox – der Nicht-Jude (sodann jüdischer und christlicher Glaubensheld) Abraham wird zu einer exklusiven muslimischen Figur, mit deren Hilfe Muslime nun den Juden und den Christen wahren Glauben streitig machen. Das geht auf die Überzeugung zurück, dass es den »Islam« schon vor Mohammed gegeben habe. Der Kronzeuge dafür ist Abraham.
Alle drei Religionen berufen sich auf Abraham und dies auch noch mit Exklusivität, obwohl gerade die Gestalt Abrahams – wie kein anderer – geeignet ist, sie alle drei zusammenzuführen – so wie das seit 35 Jahren die »Bruderschaft Abrahams«, die Fraternité d’Abraham in Frankreich, tut, die sich der Aufgabe stellt, die spirituellen, moralischen und kulturellen Werte aus der abrahamischen Tradition zu fördern.
In ihrem Manifest heißt es:
»Drei Weltreligionen, drei monotheistische Religionen, nämlich Judentum, Christentum und Islam, beziehen sich ausdrücklich auf denselben Patriarchen: Abraham. Ob aufgrund der Tradition, wie die Nachkommen Ismaels und Israels, oder ob, wie die Christen, aufgrund einer rein geistigen |22|Abstammung: die einen wie die anderen betrachten sich als Kinder Abrahams. Der Apostel Paulus sagt: ›Alle, die glauben, sind Kinder Abrahams.‹
So sind Millionen Gläubige vereint, in Erinnerung an ein und denselben Menschen, Vater ihrer Völker, Vorbild im Glauben an den einzigen Gott, von grundlegender Bedeutung für die Religion der einen wie der anderen. Der Koran sieht in ihm einen Führer, einen Allah ergebenen Menschen, der erwählt wurde und geleitet hat auf den rechten Weg …
In einer Welt, die entzweit, unaufhörlich bedroht und allzu oft zerrüttet ist durch Rivalität und Feindschaft unter den Völkern, scheint es deshalb mehr als je zuvor an der Zeit, dass sich all diejenigen in geschwisterlicher und friedfertiger Weise zusammenschließen, die ›in Abraham, dem Glaubenden‹ den Stammvater ihrer eigenen Religion, ja ihrer selbst sehen. Juden, Christen und Muslime teilen den Glauben an Gott, aber auch den Glauben an Gottes Wohlwollen, das allen Menschen gleichermaßen gilt, an sein Erbarmen und seine großmütige Gastfreundschaft.«1
Das sind keine gutmenschartige Fantasien französischer Mönche, sondern das hat Anhalt im Koran selbst. So heißt es in der Sure 2,127:
»Und als Abraham und Ismael die Fundamente des Hauses (mit dem ›Haus‹ ist die Ka’ba gemeint) legten, sprachen sie: ›O unser Herr, nimm es an von uns; siehe, du bist der Hörende, der Wissende, o unser Herr, und mache uns dir zu Muslimen und von unserer Nachkommenschaft eine Gemeinde von Muslimen. Und zeige uns unsere Riten und kehre dich zu uns, denn siehe, du bist der Vergebende, der Barmherzige … du bist der Mächtige, der Weise.‹«
Und in der Sure 2,136 fährt der Koran fort:
»Sprecht: Wir glauben an Allah und was ER zu uns niedersandte, und was ER nieder sandte zu Abraham und Ismael und Isaak und Jakob und den Stämmen, und was gegeben ward Moses |23|und Jesus, und was gegeben ward den Propheten von ihrem Herrn. Keinen Unterschied machen wir zwischen einem von ihnen; und wahrlich, wir sind Muslime.«
Die koranische Grundlage für eine abrahamitische Ökumene bildet die Sure 3,64:
»Ihr Leute der Schrift! Kommt her zu einem Wort des Ausgleichs zwischen uns und euch! (Einigen wir uns darauf), dass wir Gott allein dienen und ihm nichts (als Teilhabe an seiner Göttlichkeit) beigesellen, und dass wir (Menschen) uns nicht untereinander an Gottes Statt zu Herren nehmen. Wenn sie sich aber abwenden, dann sagt: ›Bezeugt, dass wir (Gott) ergeben sind!‹«
In dieser Sure ist ausdrücklich ein »Ausgleich« zwischen Judentum, Christentum und Islam im Blick.
Zurück zu dem Abraham, mit dem alles begann: Das ist Dichtung, Verdichtung existentieller Urerfahrungen. Menschheitsgeschichte, zusammengedrängt in eine Person. Kollektive und individuelle Erfahrung. Glückendes Leben und jäher Absturz.
Abraham ist keine historische Person. Was berichtet wird, reicht 1500 Jahre vor unsere Zeitrechnung zurück; in ihm kulminieren menschliche Urphänomene, Glück und Tragik. Sie bekommen einen Namen, ein Geschick, eine Dramatik zwischen fortwährender Bedrohung, Bewahrung und Bewährung.
Unterwegssein und Fremdsein: rechtlos, schutzlos, überlebensorientiert existieren. Herrschaftsrechte der Herren über Leib und Leben anderer, insbesondere der Zugewanderten. Gewissheit und Zuversicht über Erwählung und Zukunft.
Ressourcenkampf und Konfliktprävention – statt Präventionskrieg durch bewusstes Auseinandergehen. Andererseits Friedensschluss durch Vertrag.
Unerwartete Nachkommenschaft und Verstoßung der Abhängigen.
|24|Rettung – aus Barmherzigkeit für Verstoßene.
Wunderbares Gastrecht und tödliche Fremdenfeindlichkeit.
Vernichtung und Fürsprache.
Eifersucht und Rache.
Rückwärtsgewandte Erstarrung.
Inzestuöse Fantasien und Praktiken.
Frauen als männliche Spielbälle. Und wahre Liebe. Wunder der unerwarteten Geburt und Verstoßung des potenziellen Erbberechtigten.
Tödlicher Streit ums Wasser. Und vertragliche Regelung.
Väter und Söhne. Gehorsam gegen Liebe.
Das Recht des Fremdlings auf ein Stück Land – um eines geliebten Toten willen.
Die Hoffnung liegt auf den Nachkommen. »Die Enkel werden’s richten« – oder das Spiel wird sich wiederholen.
All das wird anschaulich-hintergründig erzählt von Genesis 12 bis Genesis 25. Drei Quellen sind darin verwoben. Wir nennen sie die jawistische, die eloistische und die priesterschriftliche. Jahrhunderte haben an dem uns vorliegenden Text geschrieben. Deshalb finden sich darin Wiederholungen einzelner Erzählstränge und Passagen, die sich heute schwer erschließen lassen. Es ist eine so kunstvolle wie geheimnisvolle Komposition.
Mit Abraham hört im Alten Testament die Urgeschichte auf und beginnt die Geschichte eines Volkes, das ein Segen für die Völker werden soll. Verschiedene Stammestraditionen werden als fortlaufende Familiengeschichten erzählt (»Genealogien«). Bei Mose vor dem Dornbusch (Exodus 3) werden sie ausdrücklich benannt – noch als unterschiedliche und zugleich zusammengehörige Traditionen (»Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs«).
Wir haben in den Abraham-Erzählungen einen Bericht über eine Sonderrolle für Winzlinge in der Machtwelt vor uns – |25|quer zu allen imposanten Weltreichen und Herrschervölkern. Es ist eine Geschichte, die bis heute in blutigen Konflikten und Kämpfen ausgetragen wird: im Streit um Abraham.
Vater Abraham: das tödliche Nebeneinander von Felsendom und Klagemauer. Und die sich wiederholenden Bluttaten am Grab, dem heiligen, der Sara und des Abraham in Hebron. Die Söhne Hagars und die Söhne Saras streiten ums verheißene Land. Unversöhnlich. Von beiden Seiten.
Aber war nicht Vater Abraham einer der ganz Großen, der Tolerierende, der Ausgleichende, der Lösungsorientierte, der Kompromissbereite, der Feindschaften lösende und religiöse Traditionen Respektierende?
Von unseren Ursprüngen wird erzählt, in die wir eintauchen können, um uns besser zu verstehen, damit wir wieder auftauchen.
Eine der ersten großen Familien-Sagas beginnt:
Nach dem Tode Abrahams und seinem Begräbnis in Hebron wird nun von Isaak, dem listigen Jakob und dem aufs Linsengericht versessenen Esau erzählt, sodann von Joseph und seinen Brüdern (Genesis 25,19–50,26).
Joseph ist der jüngste, der privilegierte, weil vom Vater besonders geliebte Sohn, der von seinen Brüdern als Sklave an die Ägypter verkauft wird, während seine Brüder dem Vater zusammen mit dessen blutbeschmiertem Rock übermitteln, Joseph sei von wilden Tieren zerrissen worden.
Joseph kommt als »Sterndeuter« beim Pharao zu Ehren, fällt aufgrund einer Weibsintrige tief, prophezeit die »sieben fetten und sieben mageren Jahre«, trifft wegen einer Hungersnot infolge von Dürre auf seine mörderischen Brüder – bis es zum Wiedersehen mit dem alten Vater und der Versöhnung mit den Brüdern kommt. Die Geschichte gipfelt in dem Satz, mit dem Glaubensgeschichte in den Konflikten der Welt und je eigenes Verschulden erzählt werden soll: »Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott |26|gedachte es gut zu machen.« (Genesis 50,20) Auf die zwölf Söhne Jakobs gehen die zwölf Stämme Israels zurück, und Jesus beruft zwölf Jünger.
Dem folgt – nachdem die Erinnerung an die Verdienste Josephs um das Reich am Nil vergessen war – die lange Zeit der Sklaverei der Hebräer in Ägypten, der Auszug aus der Wüste (im Buch Exodus beschrieben, vieles wird wiederholt im Buch Deuteronomium) ins Gelobte Land. Im Mittelpunkt steht die alles überragende Person des Befreiers aus der Sklaverei, Mose, der den »Dekalog« an das Volk weitergibt, während dieses orgiastisch um einen goldenen Stier tanzt (vergleiche Exodus 20 ff.).
Nach dem Tod des Mose folgt die Inbesitznahme des verheißenen Landes, wo »Milch und Honig« fließt, durch den kriegerischen Josua – voller Konflikte, Missverständnisse, Kriegslisten, Heldenlegenden. Immer wieder Schuld, Verschuldung, Verirrung und wunderbarer Neubeginn. Mörderische Geschichten, in denen die Guten stets den Bösen gegenüberstehen und das ihnen versprochene Land erobern. (In Wirklichkeit wird dies mehr ein Hineinsickern in das Land Kanaan gewesen sein, bei dem es zu den unvermeidlichen Konflikten zwischen Einheimischen und Zuwanderern gekommen ist. Im Ganzen aber: archaisches Denken in Rache- und Überlegenheitskategorien – wie es heutzutage bedrohlich in die Politik zurückkehrt.)
In Josua Kapitel 24 wird die ganze Auszugsgeschichte – kurz gefasst – nacherzählt, und das Ganze mündet in eine geradezu rührende Abschiedsrede, in der das Volk vor eine Entscheidung gestellt wird: Welchem Gott (welchen Göttern) will sich dieses Volk anvertrauen? Wollt ihr bei dem bleiben, der als euer Befreier erfahren wurde?
Eine der ältesten Überlieferungen, das Debora-Lied, natürlich ein archaisches Siegeslied mit Fluch über alle Feinde, findet sich im Richter-Buch (Kapitel 5).
|27|Dem folgt die so genannte Richter-Zeit, wo die einzelnen Stämme Israels in Gefahrensituationen von außen sich zusammenschließen und mit Hilfe charismatischer Richter gerettet werden. Es werden die auch bei anderen Völkern bekannten Heldenlegenden überliefert. Gideon ist neben Simson der sagenumwobenste charismatische Führer. Nach seinem Tod wird – ungeschminkt – von Diadochenkämpfen und Massenmorden berichtet. Der dem Gemetzel um die Macht entronnene Sohn Gideons, Jotham, erzählt eine Parabel über die »Negativauswahl« derer, die Herrschaft anstreben wie der blutrünstige Bastard Abimelech, der König (unumschränkter Herrscher) werden will.
Das alte Israel war und blieb skeptisch gegenüber dem menschlichen Königtum, weil Gott selbst König sein sollte und niemand anders. Erst nach den Kabalen um Saul/Jonathan/David wird ein Königtum Davids zugelassen. Es blieb aber stets umstritten, weil immer Usurpation des Königs befürchtet wurde. Wohl kaum zu Unrecht.
Wie ein Krimi liest sich die Davidsgeschichte, samt der Nachfolgeprobleme (dynastische Kämpfe zwischen den Söhnen) und der Schmutzarbeit von »Krethi und Plethi«.
Mit Salomo erreicht das kleine Israel, ein vergleichsweise winziges Territorium, Durchmarschkorridor der damaligen Weltmächte, seine sagenhafte Blüte – und seine unverhohlen erzählte Dekadenzperiode.
Nur wegen der zeitweiligen Ruhe zwischen den rivalisierenden Großreichen am Nil und am Euphrat konnte sich das »Großreich Davids« zwischen 1004 und 928 v. Chr. halten, bis es zu einer folgenreichen Spaltung zwischen Nordreich (Haus Jakob/Israel) und Südreich (Haus Juda) kommt. Die nördliche Hauptstadt Samaria wird 722 v. Chr. von den Assyrern erobert. Samaria wird zur assyrischen Provinz. Jerusalem wird in mehreren Kriegen schließlich 587 v. Chr. katastrophal geschleift.
|28|Es beginnt das 40-jährige Exil der Oberschicht, bis 538 v. Chr. der persische König Cyrus die Rückkehr nach Jerusalem ermöglicht. Der Prophet Deutero-Jesaja (Jesaja 40–55) gilt als der große Trostprophet auf der Wüstenwanderung zurück ins ersehnte Jerusalem.
Unter Esra und Nehemia wird der langwierige Wiederaufbau Jerusalems vollzogen.
In der Königszeit treten die Propheten auf, die kritische Kommentatoren der Macht- und Bündnispolitik sowie scharfe Kritiker eines veräußerlichten Kults sind, beginnend mit dem »Seher« Nathan, dem tragischen Elia – zur Zeit Ahabs und Isebels; Amos, Sacharja und Hosea wirken im Nordreich; Jesaja, Micha, Jeremia und Hesekiel im Südreich.
Die »Prophetenbücher« werden neben den Geschichtsbüchern überliefert und enthalten – abgesehen von einigen erzählenden Passagen – Prophetenreden (Heils- und Unheilsreden) und einzelne Prophetensprüche. Die Kritik am Abfall des eigenen Volkes von dem Gott, der aus der Knechtschaft geführt hat, steht neben Gerichtsreden über die (Feind-)Völker.
Gott selbst ist für die Propheten der eigentliche Herr der Geschichte, und das, was wir heute Gewissen nennen, ist für sie wichtiger als alle äußeren Riten und politische Abhängigkeitsverhältnisse. Der Prophet Jeremia bringt es auf den Punkt: »Bessert euer Leben, so will ich bei euch wohnen an diesem Ort. Verlasst euch nicht auf Lügenworte …« (vergleiche Jeremia 7,1–11).
Am Anfang stehen die vier großen Propheten: Jesaja, Jeremia, Ezechiel und Daniel, sodann die zwölf kleinen – unter ihnen die wunderschöne Novelle von Jona, der Stadt Ninive und dem großen Fisch.
Mittendrin eine wunderschön erzählte, sehr bewegende Liebesgeschichte, in der die kulturellen und religiösen Grenzen |29|durch Liebe überwunden werden: das Buch Ruth. Dazu das überschwängliche Liebeslied als »Hohes Lied des Salomo«. Weisheitsworte mit schonungslosem Blick auf die Realität, bis in die Ernüchterungen des Atheismus, gesammelt in den Sprüchen und im Prediger Salomo.
Schließlich die unbeantwortbare Frage: WARUM? Warum muss der Gerechte leiden, und warum geht es so ungerecht in der Welt zu. Im Buch Hiob wird das hochpoetisch, hochdramatisch zu Sprache gebracht.
Das sind die Schriften, die Juden und Christen gemeinsam haben. Die Christen nennen sie Altes Testament.
Die Christen haben dem die Schriften des Neuen Testaments (des Neuen Bundes) hinzugefügt, weil sie der Überzeugung sind, dass der verheißene Messias im Zimmermannssohn aus Nazareth schon gekommen ist. Von seinem Geschick und seiner Botschaft erzählen die vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes.
In der Apostelgeschichte wird von der ersten (idealisierten) Christenheit, auch von ersten schwerwiegenden Konflikten in der Gemeinde sowie von den Verfolgungen der ersten Christen berichtet. Darauf folgen die Briefe, vor allem die des Völkerapostels Paulus, der vom Christenverfolger zum bedeutendsten Missionar wurde.
Zum Schluss steht das »Buch mit sieben Siegeln«: Die Visionen des Johannes. Man nennt sie die Johannes-Apokalypse.
Diese Schriften wurden im 2. Jahrhundert nach Christus kanonisiert – was später entstand, sollte nicht dieselbe Autorität haben wie die »heiligen Schriften«.
Vieles aus dieser Buchsammlung, entstanden in 1000 Jahren, ist religionsgeschichtlich interessant oder relevant, aber nicht für heutiges Leben hilfreich.
Martin Luther mutete jedem Leser zu, selber zu unterscheiden, was auch mir und was nur damals Gültigkeit hatte. |30|Sein einfacher Schlüssel zum Verständnis und zur Unterscheidung ist: »Was Christum treibet« – was also dem Geist Jesu entspricht –, das soll Gültigkeit haben. Das ist Schlüssel und Maßstab!
Im Konkreten begegnet das Verallgemeinerungsfähige, im Individuellen das Existenzielle, im Einzelnen das Universelle, im Zeit- und Ortsgebundenen das Ewige und das über jeden einzelnen Ort hinaus Gültige.
Ein Beispiel: Bethlehem ist eine kleine Stadt, 10 km von Jerusalem entfernt. Es ist die kleinste Stadt in Juda, und auf ihr liegt nach alter prophetischer Verheißung messianischer Segen. Aus dieser winzigen Stadt soll das ganz Große – das Welterlösende kommen, hier am Winzigen soll Großes geschehen. Und der Ort Bethlehem heißt übersetzt: Haus des Brotes. Und daneben gibt es das Bethlehem, das zeit- und ortsgebunden bleibt: das Bethlehem zur Zeit des Propheten Jesaja 600 vor der Zeitrechnung, das Bethlehem der Geburt Jesu (nach dem Bericht des Lukas) und das Bethlehem mit der Geburtskirche, der palästinensischen Selbstverwaltung, der israelischen Panzer und der Terroristen der Hamas.
So gibt es am konkreten Ort Bethlehem mit seinen jeweiligen Zeit- und Lebensumständen noch das Bethlehem des Glaubens, der Hoffnung, der Verheißung, der Erfüllung, der neuen Hoffnung. Dieses Bethlehem ist Symbolort des Glaubens, wie Jerusalem.
Wer sich nur die Frage stellt, ob im Jahre 1 unserer Zeitrechnung dort wirklich der Jesus aus Nazareth geboren wurde, verfehlt den Sinngehalt, erreicht nicht das, was ihm – heute – jetzt gesagt werden soll.
Im ganz Alltäglichen, im ganz Einfachen, im ganz Elementaren wird das jederzeit Gültige erkannt, aber eben nicht als das Zeitlos-Allgemeine, sondern das in die jeweilige Zeit Hineinsprechende.
Ein Beispiel: Von den Hirten, die Nachts bei den Hürden |31|ihre Herden hüten, erzählt Lukas, dass ihnen der Himmel aufging und sie die Botschaft vom Frieden und der Geburt des Heilands hörten – und dass sie hingingen und nichts anderes fanden als ein Neugeborenes in einem Stall. Da heißt es dann ganz lapidar am Schluss dieser Geburtserzählung: »Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott um alles, was sie gehört und gesehen hatten.« (Lukas 2,20) Was die Hirten vom Himmel herab gehört und auf Erden gesehen hatten, das führt sie zur von Herzen fröhlichen Rückkehr an ihren Arbeitsplatz. Was sie gehört und was sie gesehen hatten, bringen sie in einen konkreten, sinnstiftenden Zusammenhang. Eine Vision wird Wirklichkeit.
Die Frage ist nicht entscheidend, ob es diese Hirten gegeben hat, sondern ob der Leser sich in den Hirten wiederfinden kann.
Ein anderes Beispiel: Wer die kleine Begebenheit liest, wie Jesus in ein Dorf kommt und ins Haus der Martha geht, sich Martha für den Gast zu schaffen macht. Ihre Schwester Maria setzt sich einfach hin und hört Jesus zu. Martha beschwert sich bei dem Gast über ihre Schwester, die sie allein in der Küche stehen lässt, und fordert ihn auf, dass er diese faule Schwester doch auffordern möge, zu helfen. Darauf antwortet Jesus: »Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.« (Lukas 10,41) Die Frage, ob es eine solche Begegnung im Hause einer Martha mit einer Schwester Maria wirklich gegeben hat, ist geradezu müßig. Wer nur danach sucht, wird nichts verstehen. Gar nichts.
Man kann sogar noch radikaler argumentieren und sagen: Wer nicht sieht und hört, sieht und hört nichts, und dem lässt sich auch kaum etwas erklären, weil seine Augen und Ohren bloße Sinnesorgane und nicht zugleich Erkenntnisorgane sind. Jede Erklärung wird allzu leicht zum Erkläricht. |32|So schreibt Ernst Barlach zu den Anfangsworten aus der Jesaja-Vision (Jesaja 6,1ff.):
»Heilig, heilig ist der Gott Zebaoth, und alle Lande sind seiner Ehre voll. Wer’s hört, der hat’s, aber wer ausdeutet, der begreift es nur, hat einen Plunder von musikalischem oder sonstigem Fachwissen in Händen.«
Ich nenne die fünfzehn Texte, die Sie kennen sollten; es könnten auch fünfzehn andere sein. Schlagen Sie nach! Nehmen Sie sich einfach ein bisschen Zeit. Lassen Sie sie auf sich wirken. Versetzen Sie sich in diejenigen hinein, die sie aufgeschrieben haben, oder in diejenigen, von denen sie erzählen. Sie werden ermutigt und erweckt, erleuchtet und erschüttert, erwärmt und ernüchtert.
Also lesen Sie
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Genesis 2–4, 11;
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Psalmen 23; 85; 104; 139;
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Jesaja 2,2–4;
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1. Korintherbrief 13;
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Römerbrief 12;
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Matthäus-Evangelium 4,1–11;
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Matthäus-Evangelium 5,1–10;
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Lukas-Evangelium 10,25–37;
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Lukas-Evangelium 15.
Beim Lesen dieser Texte werden Sie spüren, wie nahe und fremd zugleich das alles ist. Vor allem dieser Name GOTT wird Sie befremden – und muss Sie befremden, denn wir Menschenkinder können SEINEN Namen eigentlich gar nicht aussprechen – und tun es trotzdem, sogar sehr vertraulich: VATER UNSER im Himmel …
Wenn Sie die Wahrheit biblischer Texte suchen, dann werden Sie auch sich selbst suchen – ohne dabei die anderen zu vergessen.
Alte Geschichten neu durchbuchstabieren. Verstehen ist ein Näherungsprozess, nie etwas Endgültiges. Verstehen |33|braucht Verständigung, also Gespräch mit anderen über das sich annähernde Verstehen.
Man kann die Bibel von vorn bis hinten lesen, aber auch von hinten nach vorn. Am besten aber: Man liest immer wieder dazwischen hinein, sucht und findet Querverbindungen, lässt jeden Abschnitt für sich stehen und lernt ihn in größere Zusammenhänge einzuordnen. Eine rundum schwierige, eine rundum lohnende Lektüre. Man kann sich auch einzelne Sätze herausschreiben und sie meditieren, sie in sein Innerstes lassen und sie vor sich her sagen; Worte, die einen umhüllen, wärmen, weitertragen, ermutigen, bestärken und befragen oder so in Frage stellen, dass sich Perspektiven eröffnen:
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Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?
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Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles (was ihr zum Leben braucht und worum ihr euch sorgt) zufallen.
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Niemand kann zwei Herren dienen – Gott und dem Mammon.
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Ein neu Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebet, gleich wie ich euch geliebt habe.
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Wenn aber die Ungerechtigkeit überhandnehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten.
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Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
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Wer der Größte unter euch sein will, der sei euer Diener.
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Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene.
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Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.
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In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.
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Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.
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|34|Das Weizenkorn, das in die Erde fällt und nicht stirbt, bleibt allein. Wenn es aber stirbt, so bringt es viel Frucht.
Worte des Wanderpredigers aus Nazareth, eines Zimmermannssohns, des »Christus« der Christen, in dem sie den Gesalbten Gottes sehen.
Vielleicht werden Ihnen ganz andere Sätze wichtig. Am besten, Sie suchen sie sich selbst heraus und sprechen darüber mit anderen, mit Vertrauten und Freunden. »Die Wahrheit beginnt zu zweit«, meint Martin Buber. Wir brauchen Sätze in uns, die mit uns gehen, die man nicht nur nachliest, sondern denen man nachlebt oder in denen man leben lernt: nicht leichter, aber freier; nicht sicherer, aber zuversichtlicher; nicht erfolgreicher, aber reicher.
Freilich muss man sich mühen, diese Texte in ihrer Tiefendimension zu verstehen. Das ist nicht Fastfood – das ist Vollkornbrot. Daran hast du zu kauen – und dann stärkt es dich.
Luther schrieb einmal: »Die Heilige Schrift ist ein Kräutlein; je mehr du es reibst, desto mehr duftet es.«
Also: Ich möchte Ihnen ausdrücklich Mut machen zum eklektischen (ausgewählten, hervorhebenden und vernachlässigenden) Lesen der Bibel. Nur eines bitte ich Sie nicht zu tun: alles das zu überlesen oder für irrelevant zu erklären, wodurch Sie sich und Ihr Leben infrage gestellt, beunruhigt oder vor schwierige Herausforderungen gestellt sehen. Gerade das Fremde kann das Hilfreiche und Weiterbringende sein. Für Sie.