|11|Worte wie Perlen

Mich hat das Buch nicht bloß gut unterhalten, sondern auch weidlich erbaut. Welch ein Buch! Groß und weit wie die Welt, wurzelnd in die Abgründe der Schöpfung und hinaustragend in die blauen Geheimnisse des Himmels.

Heinrich Heine, 1830

 

Es gibt so unendlich vieles, das heute gedruckt, gepresst, gesendet, versandt und gemailt wird. Wer hat noch Durchblick? Wer kann noch Wichtiges vom Unwichtigen unterscheiden? Was gilt unter uns das, was sich nicht rechnen lässt?

In der Bibel ist nachzulesen, worauf es ankommt. Es ist nicht das, was vordergründig ankommt, sondern was den Hintergrund der Welt erhellt – im buchstäblichen Sinne erhellt.

In der BIBEL steht Substanzielles, Sinnstiftendes. Hier geht es nicht um Unterhaltung, sondern um Haltung – und um Halt, im Leben und im Sterben. Die Spannung ergibt sich aus den Spannungen des Lebens selbst. Wo die Lösung, die Er-Lösung zu suchen ist, wird durchbuchstabiert.

Was hier zur Sprache kommt, reicht in die Alltage und überschreitet das Alltägliche ins so Offene wie Verheißungsvolle unserer Zukunft.

Im Anfang war das Wort. Und das Wort wurde Mensch und wohnte unter uns (Johannes 1,1–14). Gott spricht durch einen Menschen. Gott spricht durch Menschen. Gott spricht menschlich zu uns. Und wir sprechen in menschlichen Worten von Gott und zu Gott. Wir können uns menschlich, ganz menschlich an ihn wenden und wissen doch um den unendlichen Abstand, das bleibende Geheimnis, das Unaussprechliche seines Namens.

Das Wort wurde Schrift, heilige Schrift. Dies Wort muss |12|gesprochen werden, um gehört zu werden. Nicht wichtig ist, wer zu uns spricht, wichtig ist, dass zu uns gesprochen wird, wichtiger noch, dass wir hören. Und uns wandeln, verwandelt werden. Und doch wieder erkennbar bleiben. Wir haben einen Namen. Wir sind unverwechselbar.

Das Wort muss gehört werden. Eine Viva Vox, eine lebendige Stimme, sagte Luther, ist das Evangelium. Es wird so schnell zum toten Buchstaben. Deshalb lies laut – oder lies es einem anderen vor. Innerste Konzentration wird zu äußerster Partizipation. Stille wird Teilhabe.

Martin Luther hat sich beim Übersetzen der Bibel die einzelnen Worte und ganze Sätze immer wieder laut vorgelesen. Auch Klang ist Sinn. Wie es sich anhört, entscheidet mit darüber, ob es gehört wird. Und die Stimme ist die Seele des Wortes. Das Wort des Evangeliums ist eine lebendige Stimme.

Die Bibel ist ein Volksbuch, ein Buch für das Volk, das vom Volk gehört, gelesen und verstanden werden soll. Gleichzeitig ist die Bibel ein Schatz, der gehoben werden will. Dazu braucht es Mittler und Mittel. Ohne Martin Luthers Sprachleistung gäbe es keine gemeinsame, keine so reiche deutsche Sprache. Und ohne Gutenbergs technische Leistung gäbe es keine so große Verbreitung.

Auch heute nutzen wir zeitgemäße Mittel, um ein Wort zu verbreiten, auf das es ankommt.

Evangelium heißt zu deutsch: gute Nachricht. Luther übersetzt schärfer, zupackender, aufregender: gute Botschaft, gute Märe, gute neue Zeitung, gute Neuigkeit, gut Geschrei – »davon man singet, saget und fröhlich ist«.

Wir sehen auch, »dass Gott nicht dringet, sondern freundlich locket und spricht: Selig sind die Armen.« Luther meinte, man ginge am besten an diese Texte heran wie ein Kind. »Ich habe mich bemüht, und zwar mit allem Eifer, und doch habe ich nicht ein einziges Wort aus der ganzen Schrift |13|völlig ergriffen. Darum bin ich noch nicht aus der Kinderlehre herausgekommen, bewege vielmehr täglich im Geiste das, was ich weiß, und suche den rechten Verstand der heiligen zehn Gebote des christlichen Glaubens. Und zwar verdrießt es mich einigermaßen, dass ich, ein so großer Doktor, ich mag wollen oder nicht, mit aller meiner Gelehrsamkeit bei der Gelehrsamkeit meines Hänschens und Magdalenchens bleiben muss und in diese selbige Schule gehen, in der sie aufgebracht werden. Denn wer von allen Menschen versteht in seinem vollen Umfange, wie es verstanden werden muss, nur dieses Wort Gottes: Vater unser, der du bist im Himmel –? Denn wer diese Worte im Glauben versteht: der Gott, welcher Himmel und Erde in seinen Händen hat, ist unser Vater, der schließt sofort mit völligem Herzensvertrauen, weil dieser Gott mein Vater ist und ich sein Kind bin. Wer wird mir schaden können?«

Nur in den höchsten Tönen kann Luther von der Weisheit und Kraft dieser wunderbaren Schrift reden, »dass sie sei, wie ein sehr großer weiter Wald, darinnen viel und allerlei Bäume stünden, davon man könnte mancherlei Obst und Früchte abbrechen.« Denn man hätte in der Biblia reichen Trost, Lehre, Unterricht, Vermahnung, Warnung und Verheißung. Aber es sei kein Baum in diesem Walde, daran er nicht geklopft und ein paar Äpfel oder Birnen davon gebrochen und abgeschüttelt hätte. »Die Bibel ist ein Buch, mit welchem Gott die Welt irre macht. Aber es ist wunderbar, dass Gott dieses Buch behütet hat, wie auch seine Kirche.«

 

Wir werden es nie begreifen, es sei denn, wir werden von diesem Wort ergriffen. Und wir werden niemals Herren, sondern immer Schüler bleiben. Martin Luther hat am Ende seines reichen Lebens seine »Lebensernte« in Sätze getrösteter Demut gefasst:

»Die Hirtenlieder Vergils kann niemand verstehen, er sei |14|denn fünf Jahre Hirte gewesen. Die Vergilschen Gedichte von der Landwirtschaft kann niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre Ackermann gewesen.

Die Briefe des Cicero kann niemand verstehen, er habe denn 25 Jahre in einem großen Gemeinwesen sich bewegt. Die Heilige Schrift meine niemand genugsam geschmeckt zu haben, er habe denn 100 Jahre lang mit Propheten wie Elias und Elisa, Johannes dem Täufer, Christus und den Aposteln die Gemeinde regiert. Versuche nicht diese göttliche Aeneis1*, sondern neige dich tief anbetend vor ihren Spuren! Wir sind Bettler, das ist wahr.«

Das sind die letzten überlieferten Worte des großen Sprachschöpfers, dieses großen Entdeckers des innersten Sinns der Heiligen Schrift: »Was Christum treibet«, das gilt. Das Evangelium ist eine Neuigkeit, die nicht vergeht wie die Zeitung von gestern. Das ist keine BILD, aber eine bildhafte Zeitung – ein Sich-Entdecken, ein Sich-Entwerfen, ein Über-Sich-Hinauswachsen, in Bildern, durch Bilder anschaulich gemacht. Diese Bilder sind und bleiben geerdet. Um Kerzen geht es. Um Fischernetze, um Perlen, um Sauerteig, den verlorenen Groschen, das verirrte, das wiedergefundene Schaf.

Das Neue Testament – Wort für Wort in einer Sprache, die so kraftvoll wie poetisch, so bildhaft wie konkret, so musikalisch wie dramatisch, geheimnisvoll wie verständlich ist im Deutsch des Bergmannsohnes aus Eisleben, des Augustinermönchs Dr. Martin Luther. Nichts wird weggenommen und nichts wird hinzugetan. Was da aufgeschrieben wurde, kommt aus Glauben und will auf Glauben hinaus. Es geht nicht um ein Für-wahr-Halten, sondern um das Zeugnis des Lebens, unseres Lebens.

 

Am Ende des Jahres 2002 fragten nun BILD, STERN und SPIEGEL gemeinsam nach der Wahrheit der Bibel und suchten |15|vor allem historische Wahrheit und führen damit die Leserinnen und Leser auf eine falsche Spur. Wenn denn nur das wahr wäre, was war! Wenn BILD in einem Beitrag über Jesus fragt, »wer sein bester Kumpel war« und damit Johannes meint, »den Jünger, den er lieb hatte«, dann führt das nicht in die Wahrheit der Bibel, sondern in die Banalität von BILD.

Frank Ochmann schreibt in der Weihnachtsnummer des STERN:

»Bei einem, über den wir so wenig Gesichertes wissen, ist es leicht, sein Bild so lange zu retuschieren, bis es gefällt oder nützt. Jesu frühe Anhänger heben ihren am Kreuz getöteten Meister mit aller Fantasie des Morgenlandes in den Himmel. Per Mundpropaganda zunächst. Was dann Jahrzehnte später an Erinnertem und Ersonnenem auf eine der damals gebräuchlichen Buchrollen passt, wird aufgeschrieben und zur Quelle der heutigen Evangelien. So bekommt Jesus, gestutzt und geschminkt, seine gewohnten Konturen und wird endgültig zum Christus.« (STERN, Nr. 52 vom 18. 12. 2002)

An anderer Stelle heißt es dort: »Wie er als Mensch lebte, nicht als Messiaskandidat, das lässt sich nur noch ahnen. Aber er half wohl vielen, denen es dreckig ging, wieder auf die Beine. Und solche Wunder bewirkt er offenbar bis heute.« Mit dem letzten Satz nähert sich der STERN-Autor dem, worum es in der Bibel geht: um eine im Glauben angeeignete und damit auch veränderte Welt – mit Hilfe einer Botschaft, die in jeder Zeit zu den Menschen kommt, die sie hören können und wollen.

Die Verfasser der Evangelien treten hinter dem zurück, was sie aufgeschrieben haben. Lediglich vom Apostel Paulus wissen wir viel: wer er war, was er durchlebt und durchlitten hat, welch wunderbare Wendung sein Leben nahm: wie er zum ersten transnationalen Missionar wurde, der die Grenzen überwand und das Universalistische des Pantokrators |16|Jesus Christus zur Geltung brachte: gegen jede alte und neue Engherzigkeit, horizontlose Engstirnigkeit, gegen Abgrenzung und Ausgrenzung. Paulus war – weiß Gott! – kein Relativist, sondern mutiger Bekenner vor jedermann, in jeder Lebenslage, vor Freund und Gegner. Er stellte sich auf dem Areopag der Meinungen. Er erkannte die Suche der anderen nach der Wahrheit an und ließ unerschrocken erkennbar werden, wo er die Wahrheit gefunden hatte, welche Wahrheit es verdient, in aller Welt verbreitet zu werden. Das Persönliche des Glaubens blieb ihm wichtig; er redete, predigte, er schrieb Briefe. In aller Dichte. Mit aller Freude und allem Schmerz.

Das Evangelium soll heute seinen Weg finden zu den Menschen, zu allen Menschen, die etwas suchen, was diesem begrenzten Leben Sinn, Ziel, Tiefe, Orientierung, Hoffnung gibt: Fülle des Lebens, Stillen des Durstes, Ende des Hungers, Freude des Genießens, Dankbarkeit und Staunen, prallvolles Leben – und die Netze reißen nicht.

Lernen vom Baum. Werden wie die Kinder. So bleiben wie ein Fischer, selbst wenn man gewürdigt wird, »ein Fels der Kirche« zu heißen; den Versuchungen der Verleugnung wie denen der Macht zu widerstehen. Die Gnade der neuen Geburt annehmen – und auch anderen gestatten. Suchen und finden. Bitten und erhört werden. Anklopfen und Offenheit erleben. Sich nicht verschweigen, dass es Verweigerung, Verschlossenheit und Vergeblichkeit gibt.

Das WORT schält sich heraus aus den Worten. Es bleibt unendlich fern – und es kommt bestürzend nah. Aber nie kann es gleichgültig lassen.

Da hörst du Worte, da geht dir der Himmel auf, sofern sie dein Herz erreicht haben: bei den Seligpreisungen der Bergpredigt (Matthäus), bei den Abschiedsreden Jesu im Johannes-Evangelium (Johannes 13–17), beim Lied über die Liebe (1. Korinther 13), bei den tröstenden und kräftigenden Bildern |17|der Hoffnung, die Johannes auf Patmos gesehen hat, den »neuen Himmel und die neue Erde« (Offenbarung 21).

Christus ist das Ja Gottes zu uns, nicht das Ja und Nein. Das ganze JA. Bleiben wird: »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.« (1. Korinther 13,13)

Hör zu. Hör hin. Hör dich hinein. Hör nicht auf.

Eigentlich reichen drei oder vier Geschichten: Vom barmherzigen Samariter. Vom Kornbauern. Vom Scherflein der Witwe.

»Der Glaube kommt aus dem Hören«, also aus dem gesprochenen, dem zugesprochenen Wort, schreibt der Apostel Paulus an die Gemeinde in Rom. Dieses Wort kann trösten und mahnen, aufmuntern und ermutigen, es kann durstig und satt machen, erwärmen und kalt lassen, verwirren und klären, ärgern und erhellen, in Frage stellen und bestätigen. Es kann Hoffnung wecken und aus Verzweiflung erlösen, kann dich ganz leer lassen und dich ganz erfüllen, es kann beglücken, orientieren und Widerspruch erregen. Es bleibt unendlich fern, und es kommt bestürzend nah. Aber nie kann es gleichgültig lassen.

Texte aus der Vergangenheit haben ihre Zukunft noch vor sich. Um dich geht es! Dein Leben wird verhandelt. Du bist gemeint. Du bist gefordert. Dir wird viel zugetraut und viel zugemutet. Dein Scheitern brauchst du hier ebensowenig zu leugnen wie deine Schuld: Die Gnade ist größer. Für deinen Neuanfang ist es nie zu spät.

Worte wie Brot. Man muss es kauen, ehe es schmeckt. Man muss es kauen, ehe es süß wird, selbst das trockene und harte Brot.

Worte wie Perlen: die Seligpreisungen. Die verblüffenden Antworten Jesu auf dem Berg der Versuchung. Der Mut des Samariters. Die Liebe des Vaters zum verloren geglaubten Sohn. Die Umkehrung aller Herrschaftsverhältnisse: der |18|Herr wäscht den Dienern die Füße. Die Liebe ist sein Vermächtnis.

Brot wird gebrochen und verteilt wie Leben; Wein wird gesegnet und getrunken, zum Heil und zur Freude, zur Freude über das Heil. Und in Dankbarkeit für Brot und Wein.

Das Heil der Welt kommt durch einen Menschen. Sein klärendes und aufhelfendes Wort führt durch alle Verirrungen und Verwirrungen.

»Fürchtet euch nicht«, steht über der Krippe. Die Engel singen es für die Hirten in der Nacht.

»Fürchtet euch nicht«, ruft der, der den Tod überwunden hat, seinen erschrockenen Jüngern zu. Darum geht es, zuerst und zuletzt: ohne Angst leben. »In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.« (Johannes 16,33)

Diese Worte wollen gehört, diese Worte wollen verstanden, diese Worte wollen gelebt werden.

Der Acker ist die Welt. Sie braucht gute Ackerleute, fleißige, zuversichtliche, dankbare.

 

Jeden Tag ein Stück (vor)lesen. Zuhören und In-sich-hinein-Hören. Aufhören und nachdenken. Wieder anfangen und weiterdenken. Das Wort trägt. Das Wort trägt weiter. Das Wort braucht Träger. Das Wort meint dich. Das Wort trägt dich. Es soll nicht leer zurückkommen. Es wird nicht leer zurückkommen.

Lies. Hör. Sprich. Lies weiter. Lies wieder.