|180|Der Mensch im Widerspruch

Die Briefe des Apostels Paulus

Dreizehn Briefe werden dem Zeltmacher Paulus aus Tarsus zugeschrieben. Sie sind Teil der Heiligen Schrift der Christen geworden: Briefe nicht an einen bestimmten Einzelnen, sondern an mehrere Gemeinden. Er lässt sie versiegeln und persönlich überbringen. In den Gemeinden in Korinth oder Thessalonich wird man sie vorgelesen und sicher auch besprochen haben. Aber hat es Antworten gegeben? Wenn ja, von wem und welchen Inhalts? Oder blieben es Briefe ohne Antwort, war der Absender vielleicht gar nicht auf eine Antwort aus? Eines ist sicher: Die Briefe erhoben nicht den Anspruch, als Grundlagendokumente in die Geschichte des Christentums einzugehen – durch Aufnahme in den Kanon der Heiligen Schrift, die später Neues Testament heißen sollte.

Die Christen, zunächst eine »jüdische Sekte«, sehen sich in Kontinuität zu den Juden und deren Heiligen Schriften. Sie glauben, dass Jesus aus Nazareth der Christus, der Gesalbte ist.

Paulus schreibt konkret, kaum mit einem Ewigkeitsanspruch. Aber er schreibt als jemand, der sich ganz gewiss ist, dass der Geist Gottes ihn erfüllt, zumal er eine Berufung durch Christus selbst vorzuweisen hat, eine Berufung, der er sich nicht entziehen kann und nicht entziehen will. Er spricht deshalb mit einer prophetischen Unbedingtheit.

Die Briefe des Paulus haben Geschichte gemacht. Wessen Briefe bekommen schon den Rang höchster Autorität: Gottes Wort in den Worten des Paulus! Dabei ist der Vorgang |181|höchst profan. Da wirbt einer in Palästina, Kleinasien und in Griechenland dafür, dass alle Menschen begreifen: In der Welt ist etwas neu geworden. Er gründet Gemeinden und reagiert auf Nachrichten aus diesen Gemeinden: mit Briefen.

 

Vergegenwärtigen wir uns etwas über die menschliche Briefkultur: Briefe teilen anderen etwas über den Absender mit. Sie erzählen Erfahrungen und Erlebnisse, Hoffnungen und Befürchtungen, Träume und Alpträume. Sie berühren Intimes und Intimstes – und sie können nüchtern, kalt und formal sein. Immer sind sie Ausdruck einer bestimmten Beziehung, und diese Beziehung drückt sich in der Form und im Inhalt des Briefes aus. Briefe tragen zur Selbstklärung bei.

Sie enthalten gute Wünsche, Ermahnungen und Ermunterungen.

Sie wollen Konflikte klären helfen und eine gemeinsame Zukunft eröffnen oder: den Abbruch besiegeln.

Und Briefe werden »Episteln«. (Dieser Ausdruck kommt daher, dass die Epistellesungen in der Kirche meistens Ermahnungen enthielten – was im Übrigen der Grundhaltung des Apostels Paulus nicht entspricht.)

Abgesehen von Behörden- oder Diplomatenbriefen haben Briefe immer etwas Persönliches, geradezu Konfessorisches. Sie verraten etwas über die Intensität, die Nähe oder Ferne zwischen Absender und Empfänger. Wir unterscheiden ganze Gattungen von Briefen: etwa Liebesbriefe, Bittbriefe, Versöhnungsbriefe, Brandbriefe, Geburtstagsbriefe, Drohbriefe, Scheidungsbriefe, Einladungsbriefe, Ablassbriefe, anonyme, öffentliche, fiktive Briefe …

Die letzten Briefe Martin Luthers an seine Käte enthalten seine ganze Theologie: das – mit deftigem Humor gewürzte – unerschütterbare Gott-Vertrauen. Auf das theologische |182|Denken des letzten halben Jahrhunderts – insbesondere die Verbindung zwischen persönlicher Existenz und Theologie – hat eine Briefsammlung gewirkt. Briefe, aus dem Gefängnis an einen Freund geschrieben, von Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge, herausgegeben unter dem Titel »Widerstand und Ergebung«. Authentizität bringt die Autorität – gerade das Persönliche wird das Übertragbare, nicht das Abstrakte. Das Persönliche ist etwas anderes als das Private!

Mir scheint, eine adäquate Redeform des Glaubens ist der Brief – nicht die theologische Dogmatik, nicht die abstrakte Erörterung, nicht der Katechismus. Es ist die Anrede, die persönliche Redeweise, wo einer mit Namen angesprochen wird und mit einer Grußform am Schluss verabschiedet wird. Briefe sagen nicht nur etwas von Menschen, Briefe sind wie Menschen – einmalig. Und jeder Mensch ist ein Brief. Jeder trägt eine Botschaft mit sich, eine einmalige. Und es liegt in der Natur des Menschen, sich mitzuteilen, einem anderen etwas mitzuteilen. Ein Brief bringt eine Sache mit einer Person (oder mit mehreren Personen) zusammen, wobei der Absender etwas von sich selber oder gar sich selber ganz zeigt – oder aber sich im Gegenteil so verbirgt, dass das Unausgesprochene beredt wird. Schon Anrede und Schlussformel sagen fast alles über die Beziehung von Absender und Adressat.

 

»Am Anfang war das Wort. Und das Wort wurde Mensch.« So beginnt der berühmte Prolog im Johannes-Evangelium. Das Wort, der Logos, das Abstraktum wurde Mensch. Man könnte dem Sinne nach auch so übersetzen: »Das Wort wurde Beziehung.« »Das Wort wurde Kommunikation.« »Das Wort wurde Anrede.« »Das Wort erschien in einem Du.«

Insofern ist der jahrhundertelange Versuch der Theologen, aus den Briefen des Apostels Paulus eine theologische |183|Lehre herauszudestillieren, zwar verständlich, ist aber stets substanziell viel weniger als das, was die Briefe an komplexer Wirklichkeit transportieren. Theologie als Brief! Paulus selbst schrieb im 2. Korintherbrief, Kapitel 3, Vers 2:

»Ihr seid unser Brief, in unser Herz geschrieben, erkannt und gelesen von allen Menschen!

Ist doch offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herzen. …

Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.«

Paulus versteht sich als ein »Haushalter über Gottes Geheimnisse« (1. Korinther 4,1) und weiß, dass wir den »Schatz in irdenen Gefäßen« haben. (2. Korinther 4,7) Wohlgemerkt: Er sagt nicht: Wir haben ihn nur in irdenen Gefäßen, sondern wir haben ihn in irdenen Gefäßen – in der ganzen Zerbrechlichkeit, Ambivalenz und Alltäglichkeit.

So kann er denn einschärfen:

»Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug.« (Römer 12, 16b)

Der Mensch ist wichtig genommen, aber er soll sich nicht (zu) wichtig nehmen. Durchgängig in seinen Briefen die Mahnung: sich nicht aufzuplustern, nicht mehr von sich zu halten, als es sich gebührt, nicht zänkisch die Autorität zu betonen oder mit einer bestimmten Begabung zu prahlen. Jeder tue das Seine – das, was ihm zugewiesen ist, wo seine Begabung liegt. (Im Deutschen wird dieser innere Zusammenhang wunderbar klar: In dem Wort »Begabung« steckt die Gabe – das, was einem Menschen mitgegeben ist –, von der er lebt und aus der er etwas machen kann.) Niemand rühme sich selbst, und er personalisiere die Botschaft nicht auf bestimmte Autoritäten, ob auf Paulus, Apollos, Petrus.

Einen anderen Grund kann und soll niemand legen als |184|den, der gelegt ist: Jesus Christus. Und genau dies ist es, wogegen auch Martin Luther polemisierte: gegen Aufplusterungen des Papsttums und die Selbstbeweihräucherung der Kirche, dieser ecclesia triumphans, die sich von Christus selbst ganz entfernt und in all ihrem Pomp an dessen Stelle tritt. Als sich einige »lutherisch« nennen wollten, schrieb Luther: »Was nennt ihr euch nach mir altem stinkendem Madensack.« Paulus hatte an die Korinther geschrieben:

»Niemand betrüge sich selbst. Welcher sich unter euch meint, weise zu sein in dieser Welt, der werde ein Narr, dass er weise werde.« (1. Korinther 3,18)

Schließlich ist Gott in die Niedrigkeit einer Krippe gekommen und seine Erhöhung heißt Kreuz. Gott selbst tut das, was »vor der Welt« eine Torheit ist.

Paulus schrieb Briefe, ganz konkret in ihren Bezügen, ganz grundsätzlich in ihren Aussagen.

Was Paulus immer wieder im Innersten anficht, ist der unerquickliche Rangstreit, der sich in der christlichen Gemeinde sehr früh einstellt. Angesichts dieses jämmerlichen Streites kommt er zu grundsätzlichen Aussagen.

»Nicht über das hinaus, was geschrieben steht!, damit sich keiner für den einen gegen den andern aufblase. Denn wer gibt dir einen Vorrang? Was hast du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich dann, als hättest du es nicht empfangen? […] Denn ich denke, Gott hat uns Apostel als die Allergeringsten dargestellt, wie zum Tode Verurteilte. Denn wir sind ein Schauspiel geworden der Welt und den Engeln und den Menschen. Wir sind Narren um Christi willen, ihr aber seid klug in Christus; wir schwach, ihr aber stark; ihr herrlich, wir aber verachtet. Bis auf diese Stunde leiden wir Hunger und Durst und Blöße und werden geschlagen und haben keine feste Bleibe und mühen uns ab mit unsrer Hände Arbeit. Man schmäht uns, so segnen wir; man verfolgt uns, so dulden wir’s; man verlästert uns, so reden wir freundlich. Wir sind geworden wie der Abschaum der |185|Menschheit, jedermanns Kehricht, bis heute.« (1. Korinther 4,6.7.9–13)

So schreibt Paulus an seine geliebte Gemeinde in der großen griechischen Hafenstadt Korinth. Sie blasen sich auf, diese Korinther. Es gibt Machtkämpfe, Ehrabschneidungen, Verleumdungen, Klatsch und Tratsch, Spaltung, Irrlehren, selbsternannte Heilsbringer.

Bitter kann er werden. Er bedient sich des Mittels der Ironie in geistlichen Dingen. Aber die Bornierten verstehen niemals die Ironie. (Selbstgewisse sind an Dummheit nicht zu übertreffen, weil sie zu einer Selbstdistanz nie in der Lage sind. Außerdem sind sie von keines Gedankens Blässe angekränkelt. Die Dummheit ist pausbäckig. Für sie ist eben »alles klar«; Gewissen, ja Gewissenszweifel wären für sie nur eine Störung der Verdauung.)

Einen »Narren in Christo« nennt er sich – er ist ein Aufgerissener, ein in der Tiefe Verletzter, einer, dem ewig Misstrauen begegnet, dem seine Vergangenheit ewig vorgerechnet wird, einer, dem man den Neidknüppel ins Gesicht wirft, ein Epileptiker, ein Fallsüchtiger, rhetorisch ganz und gar nicht glänzend, wahrscheinlich gar ein Stotterer. Und er sucht doch Klarheit und Wahrheit, Nähe und Harmonie.

Seine Sprache gibt die Schärfe seines Denkens, die Widersprüche dieser Welt und die Widersprüche in jedem Einzelnen wieder – zusammen mit seinem Gemütszustand.

Bisweilen hastet er mit seinen Worten über seine Sätze, in Wortkaskaden, zu Gegensatzpaaren gesteigert. Ungewollt verfeinert er das Kunstmittel des Anakoluths, der abgebrochenen Rede, wo Gedanken nicht zu Ende geführt werden, sondern vom Leser ergänzt werden müssen; weil er nicht viele Worte brauchen kann, weil sie ihn nur stören könnten, um zur Sinnspitze vorzudringen.

Immer wieder stellt er rhetorisch erscheinende Fragen, vor allem die Frage: »Was sollen wir nun hierzu sagen?« Und |186|dann kommt er zur gesammelten Antwort: »Das sollen wir dazu sagen.« Nirgendwann will er überreden mit menschlicher Weisheit oder geschickter Rhetorik, sondern alles solle geschehen »in Erweisung des Geistes und der Kraft« (1. Korinther 2,4). Was soll sich erweisen durch ihn? Dass er ein Mitarbeiter ist, nicht mehr und nicht weniger. (Mitarbeiter! – Welche Worte in unserer Sprache sind nicht missbrauchbar?)

Paulus sah den ganzen Jammer und die ganze Jämmerlichkeit des Menschen und auch der christlichen Gemeinden. Dennoch schrieb er kühn:

»Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.« (2. Korinther 5,17)

Und wer da erneuert ist, soll das Neue leben, als ein zum zweiten Mal geborener Mensch. Solche Erneuerung zu anderen tragen, also ein Botschafter der Versöhnung an Christi Statt sein, nämlich als einer, der Versöhnung erlebt hat – und das mitten in einer Welt von Nachrechnern und Aufrechnern, einer Welt von Hartherzigkeit, Rache, Vergeltung, Herrschsucht und Rechthaberei zu wagen.

Wer Versöhnung erfahren hat, soll nun bestehen – als ein Mithelfer an der Sache Christi. Wir Menschen sollen die Gnade Gottes nicht vergeblich, nicht umsonst empfangen haben. Und er will, dass die Missionare in allen Dingen sich als Diener Gottes verstehen:

»… in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten; als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten, und doch bekannt; als die Sterbenden und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, |187|aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben.« (2. Korinther 6,4–9)

Nachdem Paulus seine ganze Existenznot und seine Enttäuschung ausgedrückt hat, kann er sofort fortfahren und denen, mit denen er im Streit liegt, sagen: »[…] unser Mund hat sich euch gegenüber aufgetan, unser Herz ist weit geworden. Eng ist nicht der Raum, den ihr in uns habt; eng aber ist’s in euren Herzen.«

Und er bittet sie inständig: »[…] macht auch ihr euer Herz weit.« (2. Korinther 6,11–12)

Nachträglich betrachtet, ist es ein Glücksfall, dass die Bibel kein theologisches System bietet, sondern Erfahrungsberichte in aller Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit: Dahinter ist fast immer ein konkreter Mensch – mit allen seinen Begabungen und Begrenzungen – zu spüren.

 

Theologie gibt es im eigentlichen Sinne nur als theologische Existenz. Ein Gedanke, eine Erleuchtung, eine Eingebung kommt aus einem inspirierten Gemüt, bricht aus ihm heraus, sammelt sich, kommt zur Sprache und wird zur Sprache.

Paulus – das ist die farbigste, die sperrigste, die umstrittenste, zugleich die geistvollste, tiefgründigste und sprachgewaltigste, die gebildeteste, die mutigste und die verzücktfröhlichste Figur der frühen Christenheit.

Was hat denn Petrus geleistet, der mit dem Schlüssel und dem unmittelbaren Erbanspruch? Auf ihn wollte Christus seine Kirche bauen. Das Papsttum glaubt bis heute, das gälte den Päpsten allen in apostolischer Sukzession. Petrus verspricht vollmundig »uneingeschränkte Solidarität«, selbst wenn alle abfallen sollten – er nicht.

Dann schläft er im Garten Gethsemane ein, wie die anderen auch. Bei der Gefangennahme Jesu zückt er das Schwert zur Verteidigung, weil er den Beistand himmlischer Heerscharen erwartet. Dann aber verleugnet er dreimal. Kreatürliche |188|Angst – um die eigene Haut. Sehr menschlich. Nur, warum musste er den Mund so voll nehmen? Auf diesen Petrus baut sich die katholische Kirche – auf den Paulus die protestantische. Der eine wird dargestellt mit dem Schlüssel, mit dem er das Reich Gottes aufschließt, und der andere mit dem Schwert, mit dem er die Geister scheidet.

Paulus ist der Mann der scharfen Unterscheidungen. Der große Exeget des Neuen Testaments, Ernst Käsemann, hat im Sinne des Apostels Paulus die Theologie als die Fähigkeit bezeichnet, »die Geister zu unterscheiden« (1. Korinther 12,10).

Der Widerspruch im Menschen zwischen dem inneren Wissen dessen, was gut und richtig ist, ist das eine (Syneidesis – das Mitwissen des Menschen mit sich selbst und die Fähigkeit, zu beurteilen, was er tut, also Gewissen hat). Das andere ist der konkrete Lebenswiderspruch oder – besser gesagt – der Riss in seinem Leben: diese schicksalhafte, diese bewusste Kehrtwendung.

Das Stigma der Vergangenheit bleibt, ob bei dem U-Boot-Kommandanten des Ersten Weltkrieges und entschiedenen Pazifisten seit seiner KZ-Zeit in Dachau Martin Niemöller, beim Helden des Sechstage-Krieges General Rabin, der genauso zum Friedensnobelpreisträger wurde wie der einstige Vater der sowjetischen Atombombe Andrej Sacharow.

Es gibt Wendebiografien, die sind so erschütternd wie überzeugend. Und es gibt andere, die sind geradezu schäbig.

Paulus, zunächst orthodoxer, also rechtgläubiger fundamentalistischer Jude, Eiferer für ein Judentum unter Jerusalemer Führung, das Abweichler verfolgt. Er bewirbt sich geradezu darum, nach Damaskus zu ziehen, um Jesusanhänger ausfindig zu machen, sie gefesselt nach Jerusalem zu schleppen, damit ihnen dort – vor dem Synedrion – der Prozess gemacht werden könne. Auf der Verfolgungs-Reise ereilt es ihn: ein grelles Licht vom Himmel, ihn blendend. Er |189|fällt auf die Erde und hört eine Stimme: Saul, Saul, was verfolgst du mich? – Wer bist du? – Ich bin Jesus, den du verfolgst, steh auf und geh.

Die Gefährten – erstarrt. Sie hörten die Stimme, aber sie sehen nichts. Paulus steht auf, tut seine Augen auf und »er sieht nichts«. Der Verfolger muss geführt werden, findet Aufnahme in der christlichen Gemeinde in Damaskus. Ananias wird berufen, Paulus zu sagen, wozu er fortan berufen ist. »… dieser ist mein auserwähltes Werkzeug, dass er meinen Name trage vor Heiden und vor Könige und vor das Volk Israel. Ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muss, um meines Namens willen.«

Ananias legt ihm die Hand auf und sagt: »Lieber Bruder Saul … und sogleich fiel es von seinen Augen wie Schuppen, und er wurde wieder sehend.« (Apostelgeschichte 9,15ff.)

Paulus lässt sich taufen – und wird der Sehende, der sehr klar Sehende, erfüllt mit dem heiligen Geist. Viele wissen noch, noch sehr lange, wer er gewesen war: Misstrauen bleibt. Und er wirbt mit ganzem Einsatz für Jesus – wie es heißt – »mit Freimut«. Nun wird der Verfolger der Verfolgte – von seinen jüdischen Glaubensbrüdern –, muss in einem Korb von der Stadtmauer heruntergelassen werden, damit diejenigen Fundamentalisten ihn nicht umbringen, in deren Auftrag er selber die Christen umbringen wollte. Er taucht in Cäsarea unter, streitet mit Gebildeten (also griechisch gebildeten Juden), bleibt bis zu seinem Lebensende unentwegt unterwegs – der Missionar Europas. Seine Spur verliert sich in Rom, wohin er zum Prozess gebracht worden war. Oder kam er doch noch nach Spanien? Wir wissen es nicht. Was wir von ihm wissen, erschließen wir aus seinen Briefen. Dazu kommt die biografische Belletristik des Lukas – gut erzählt, schönes katechetisches Material, historisch von bedingtem Wert. Aber was heißt hier: historisch von Wert?

|190|Was ist gewonnen, wenn das Damaskus-Erlebnis auf einen epileptischen Anfall zurückgeführt wird? Wenn Tiefenpsychologen sich daran machten, die Kehrtwendung eines orthodoxen Juden zu erklären, ihn auf eine typische Renegatenpsychologie zu reduzieren? Wie viel Erkenntnis gewinnt man, wenn man auch nur einem einzigen Satz nachsinnt!!

Der dort auf die Erde gefallene Paulus, geblendet von einem himmlischen Licht und im Mark getroffen von einer Stimme, steht wieder auf von der Erde, »und als er seine Augen auftat, sah er nichts« (Apostelgeschichte 9,8).

 

Der Neu-Sehende ist zunächst der ganz Erblindete. Meister Eckhart, der große Mystiker des Mittelalters, hat diesen Satz in einem vierfachen Sinne ausgelegt: »Mich dünkt, dass dies Wörtlein vierfachen Sinn habe. Der eine Sinn ist dieser: Als er aufstand von der Erde, sah er mit offenen Augen nichts, und dieses Nichts war Gott: denn als er Gott sah, das nennt er ein Nichts. Der zweite Sinn: Als er aufstand, da sah er nichts als Gott. Der dritte: In allen Dingen sah er nichts als Gott. Der vierte: Als er Gott sah, da sah er alle Dinge als ein Nichts.«7

»›Paulus stand auf von der Erde, und mit offenen Augen sah er nichts.‹ Ich kann nicht sehen, was Eins ist. Er sah nichts: das war Gott. Gott ist ein Nichts, und Gott ist ein Etwas. Was etwas ist, das ist auch nichts. Was Gott ist, das ist er ganz. Daher sagt der erleuchtete Dionysius, wo immer er von Gott schreibt: Er ist (ein) Über-Sein, er ist (ein) Über-Leben, er ist (ein) Über-Licht. Er legt ihm weder dies noch das bei, und er deutet (damit) an, dass er (irgend etwas) ich weiß nicht was sei, das gar weit darüber hinaus liege. Siehst du irgend etwas oder fällt irgend etwas in dein Erkennen, so ist das Gott nicht; eben deshalb nicht, weil er weder dies noch das ist. Wer sagt, Gott sei hier oder dort, dem glaubet nicht. Das Licht, das Gott ist, das leuchtet in der Finsternis |191|(Joh. 1,5). Gott ist ein wahres Licht: wer das sehen soll, der muss blind sein und muss Gott von allem Etwas fern halten.«8

»›Als er nichts sah, da sah er Gott.‹ Das Licht, das Gott ist, fließt aus und verfinstert alles (andere) Licht. In jenem Licht, in dem Paulus da sah, in dem sah er Gott, sonst nichts. Daher sagt Job: ›Er gebietet der Sonne, dass sie nicht scheine, und hat die Sterne unter sich verschlossen wie unter einem Siegel‹ (Job. 9,7). Dadurch, dass er von jenem Licht umfangen war, sah er sonst nichts; denn alles, was zu seiner Seele gehörte, war bekümmert und beschäftigt mit dem Lichte, das Gott ist, sodass er sonst nichts wahrzunehmen vermochte. Und das ist uns eine gute Lehre; denn, wenn wir uns um Gott bekümmern, so sind wir wenig von außen her bekümmert.«9

Wer so nachdenkt, der entdeckt den tiefen Sinn, den Tiefsinn der Schrift!

 

Der Dramatik der Bekehrung, wie es die Apostelgeschichte 9 erzählt, entspricht die Dramatik des Streites mit den Jerusalemer Juden-Christen, die meinten, auch die Christen müssten erst Juden werden durch Beschneidung, ehe sie Christen werden könnten, und müssten sich dem Gesetz Moses auch äußerlich unterwerfen. Paulus geht es nicht um äußere Zeichen, sondern um innere Veränderung. Er spricht gar von der »Beschneidung der Herzen«. Dann kommt es zum ersten Konzil – oder sagen wir: »Parteitag«, der mit einem Kompromiss endet. Sie entschließen sich, dass die gleiche Botschaft in unterschiedlicher Weise, also adressatenbezogen, weitergetragen wird. Man muss nicht über den Umweg eines gesetzestreuen Juden, der sogar deren Speisegebote einhält, zum Christen werden.

Die Eintracht trügt; man geht sich aus dem Wege – man geht verschiedene Wege. Aber man weiß wenigstens, dass |192|man denselben Christus verkündigt, der größer ist als die Unterschiede der Gemeindetradition oder Kirchen.

Paulus bleibt der Hinzugekommene, der Jesus, den Meister der zwölf Jünger, nicht leiblich erlebt hat und vielleicht gar keine Geschichte von ihm kennt. Aber das Leben Jesu interessiert ihn nicht; ihn interessiert der lebendige Christus, der zum befreienden Herrn für das Leben wird. Und so geht es ihm auch nicht um Imitatio Christi, nicht darum, so zu sein oder so zu leben wie dieser großartige Mensch, der Wanderprediger aus Nazareth, Wundertäter, Geschichtenerzähler, friedfertiger Mensch durch und durch, sondern darum, in ihm zu sein, von ihm bestimmt zu sein – befreit und verpflichtet, nicht verpflichtet und verängstigt!

Lebenslang wehrt er sich gegen zwei Missverständnisse: erstens gegen das moralische. Christ würde man durch die Einhaltung einer bestimmten Summe moralischer Vorschriften, die mit einem abrechenbaren Ergebnis zu einem gnädigen göttlichen Richterspruch führt. Dagegen hält er: Der Mensch ist vor allem in seinem Tun ein ›Begnadeter‹ und soll als ›Begnadeter‹ nun handeln, aber: mit einer freien Sicht auf die Dinge, wissend, dass er nicht schuldlos leben kann, aber Schuld abladen kann, sich nicht rechtfertigen muss.

Und das zweite Missverständnis ist das religiöse, gegen das er sich wehrt. Der Mensch könne durch Riten, durch das Befolgen diverser religiöser Vorschriften – wie Beschneidung, Speisegebote oder irgendwelche Opfer – Gott nahe kommen. Ihm geht es um den Existenzwechsel, um die Veränderung, ja die Erneuerung des Denkens, um eine Befreiung der ganzen Person und nicht um religiöse Verengung oder Überhöhung des Religiösen.

Er hält konsequent am Monotheismus fest: Das Subjekt ist Gott, der seinen Sohn gesandt hat, der in ihm und durch ihn wirkt, in der Kraft seines Geistes weiterwirkt. Dieser |193|Geist ist der von Christus bestimmte Geist, der Menschen kräftigt, gründet, ergreift, erfüllt, verwandelt.

Es scheint, als ob er aus Konflikten überhaupt nicht herauskommt: ob um seine eigene Person, ob im fortgesetzten Rangstreit der Jünger, der besonders vom Petrus-Kreis in Jerusalem ausgeht, ob um die Frage nach der jüdischen Abkunft (ob also die Christengemeinde nur eine Spielart des Judentums ist, oder ob in Christus nicht alle Völker erlöst werden – also in Christus der kosmische Erlösungswillen Gottes begegnet). Er hat zu kämpfen mit den Dionysoskulten, mit den Gnostikern (wir würden heute sagen: Esoterikern), mit den Geistverzückten (vergleichbar den Pfingstlern), mit den Traditionalisten (wir würden sagen: Nostalgikern und jeglichen Verklärern der Vergangenheit). Und er ist ein Unruhestifter, der der römischen Administration stets ein Dorn im Auge ist.

Verpetzt von den Juden an die Römer, wird ihm der Prozess gemacht, jahrelang.

Seine Person muss eine hohe Faszinationskraft gehabt haben, die gar dazu führt, dass ein Gelähmter wieder gehen kann und die Leute nun sogleich ihn und seinen Gefährten Barnabas als »Merkur und Jupiter« anbeten wollen. (Wie viele sind in solchen Fällen davor gefeit, solches Ansinnen anzunehmen? Wer ist schon bereit, wenn er Macht ausüben und ausbauen kann, Huldigungen und Schmeicheleien zurückzuweisen?)

Und als er eine Frau von einem Wahrsagegeist befreit, macht er sich sofort diejenigen zu Feinden, die an dem Wahrsagegeist einer besessenen Frau ihr Geld verdienen. Er und seine Begleiter werden sofort denunziert: Sie würden Aufruhr in die Stadt bringen, also die Geschäftsbeziehungen – auch die unsauberen – durcheinanderbringen. Law-and-Order-Ideologien führen stets zu diktatorischen Maßnahmen; so werden sie vorsichtshalber ins Gefängnis geworfen. |194|Im Gefängnis beten und singen sie so, dass es die anderen Gefangenen hören.

»Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, sodass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen, und von allen fielen die Fessel ab.« (Apostelgeschichte 16,25–26)

Der Kerkermeister fährt aus dem Schlaf und sieht die Gefängnistore offen und will sich selber töten, denn er würde verantwortlich gemacht werden, wenn die Gefangenen geflohen sind. Aber die Gefangenen haben das Gefängnis nicht verlassen. Es gibt eine andere Freiheit als die, ein Gefängnis zu verlassen.

Um die Botschaft an den Kerkermeister geht es: Der Kerkermeister wäscht ihnen die Striemen ab, wird gläubig, lässt sich taufen.

Als den Behörden bekannt wird, dass sie einen schwerwiegenden juristischen Formfehler begangen haben, wollen sie die Sache vertuschen und Paulus und Silas heimlich ziehen lassen; diese aber bestehen darauf, dass die Verantwortlichen selber kommen, ihren Irrtum offenbaren und sie vor aller Augen freilassen.

Darauf folgt, nach der schmückenden Erzählung Lukas’ in Apostelgeschichte 17, die berühmteste und vielleicht folgenreichste Geschichte: Paulus geht auf den Areopag – dort, wo die Gelehrten der damaligen Welt zusammentreffen und miteinander streiten und um die Wahrheit ringen, insbesondere die beiden damals bestimmenden philosophischen Schulen der Epikuräer und der Stoiker, aber auch Anhänger kleinerer und größerer Religionsgemeinschaften.

Auf dem Areopag sind sie alle versammelt, die Götterstatuen aller Glaubensrichtungen – und aus Angst, ein Gott könnte vergessen sein und dies den Menschen übel nehmen, haben sie »dem unbekannten Gott« auch noch einen Altar gebaut. Das ist der Anknüpfungspunkt für Paulus: Dieser |195|euch unbekannte Gott – das ist der eigentliche Gott: Ursprung und Ziel aller Dinge, der Sehnsuchtsort all derer, die da suchen, der aber keiner Statuen und keiner religiösen Riten bedarf. Paulus verfährt nach dem Muster »Anknüpfung und Widerspruch«. Die Stoiker meinen, dass alle Menschen in Gott leben, weben und sind und dass wir Menschen göttlichen Geschlechts seien. Aber das lässt sich – nach Paulus – nicht in Götterstatuen ausdrücken. Gott habe sich in einem Mann manifestiert, der auf Erden gelebt hat, der gestorben und wieder auferstanden ist und der den Erdkreis richten werde mit Gerechtigkeit.

Zustimmung erntet er, Kopfschütteln – und Nachdenklichkeit. Einige sagen, sie wollten ihn noch ein anderes Mal hören. Diese Bewährungsprobe des Paulus auf dem Areopag hatte Konsequenzen für das Christentum, das sich in den folgenden Jahrhunderten dem Dialog mit der Philosophie und mit anderen Religionen stellte. Immer dann, wenn es den Dialog verweigerte, brannte die Welt: Kreuzzüge, Reconquista, Scheiterhaufen, Dreißigjähriger Krieg. (Was heißt das heute im »Kampf der Kulturen« und bei »enduring freedom«?)

Paulus hat als erster Christ mit seiner hellenistischen Bildung – aus jüdischer Tradition – gearbeitet, Argumentation und Bekenntnis zusammengehalten, nicht bloß erwogen, sondern auch entschieden, aber vor der Entscheidung stand und steht das Erwägen.

Über allem bleibt das JA Gottes zum Menschen. In Christus. Unser Wort ist nicht ein JA und NEIN zugleich. Jesus war nicht JA und NEIN, »sondern es war JA in ihm«, heißt es zu Beginn des 2. Korintherbriefes (2. Korinther 1,15–22).

Über eines kann man sich nicht genug wundern: Wie konnte einer, der nach der Kreuzigung Jesu zum Christen wurde, nicht nur nachträglich in den Rang eines Apostels kommen, sondern mit seinen Briefen gar kanonischen Rang erlangen? Briefe wurden heilige Schrift, Wort Gottes!

|196|Nicht einmal alle sind »echt«, sondern werden ihm zugeschrieben, bereits aus Verehrung für seine Person. Das als Fälschung zu deuten wäre unangebracht, weil dies ein damals allgemein übliches Stilmittel war.

Die Evangelien wurden sämtlich erst nach dem Tode des Paulus schriftlich fixiert.

Sein erster Brief an die Thessalonicher stammt aus dem Jahre 51, die Evangelienberichte stammen erst aus den Jahren nach 70, das Johannes-Evangelium entstand gar noch später.

Berufen worden ist Paulus etwa ein Jahr nach dem Tode Jesu. Ihm war das Faktum der Menschwerdung, das Faktum der Kreuzigung und der Glaube an die Auferstehung das Entscheidende. Er hört die Stimme des erhöhten Christus, nicht die Stimme eines durch die Lande ziehenden Wanderpredigers und Rabbis. Die konkrete Geschichte und die einzelnen Geschichten interessieren ihn nicht – oder wenig. Er schaut nicht zurück auf das Leben Jesu, seine Lehrpredigten und Wundertaten, sondern er erwartet die Wiederkunft des von Gott zu neuem Leben Erweckten – und dies bald. Nur aus diesem Grunde akzeptiert er auch die römische Macht, ja, er rät den Sklaven, in ihrem Stande zu bleiben, denn diese Welt vergeht:

»Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen […]

Den Schwachen im Glauben nehmt an und streitet nicht über Meinungen. […]

Ein jeder sei in seiner Meinung gewiss.

Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist.«

(Römer 13,12ff.; 14,1.5b.17)

|197|Als er gefoltert wird, beruft er sich darauf, dass er römischer Bürger sei, also auch nicht ohne Urteil festgehalten werden dürfe. Er besteht darauf, dass er das Bürgerrecht nicht gekauft habe, sondern römisch geboren sei. Er beruft sich also auf das weltliche Recht vor den Römern und wird wie Jesus wiederum vor den Hohen Rat gestellt. Und er wehrt sich (in der Überlieferung des Lukas) mit folgenden Worten:

»Ihr Männer, liebe Brüder, ich habe mein Leben mit gutem Gewissen vor Gott geführt, bis auf diesen Tag.

Der Hohepriester Ananias aber befahl denen, die um ihn standen, ihn auf den Mund zu schlagen. Da sprach Paulus zu ihm: Gott wird dich schlagen, du getünchte Wand! Sitzt du da und richtest mich nach dem Gesetz und lässt mich schlagen gegen das Gesetz?« (Apostelgeschichte 23,1–3)

Und dann nutzt er eine List, indem er einen heftigen innerjüdischen Streit auslöst. Er bekennt sich selbst als Pharisäer (die an die Möglichkeit der Auferstehung glauben) und bringt die Sadduzäer auf (die das bestreiten). Schon gibt’s Tumult. Der römische Statthalter fürchtet größeren Aufruhr – und bringt ihn in Gewahrsam.

Paulus kennt sich aus im römischen Recht und in der Rechtsprechung der Juden. Und er macht sie sich alle zu Feinden – weil er sie auf den Bruch ihrer eigenen Gesetze hinweist. Da wird Paulus dann ganz auf sich gestellt – ist ganz allein. Aber Lukas erzählt:

»In der folgenden Nacht aber stand der Herr bei ihm und sprach: Sei getrost! denn wie du für mich in Jerusalem Zeuge warst, so musst du auch in Rom Zeuge sein.« (Apostelgeschichte 23,11)

Das ist es: nicht nur in der römischen Provinz Palästina, im Zentrum der Macht ZEUGE sein!

Im Wort und im Leben will Paulus ein Zeuge sein, der sich bewährt und der weiß, dass er bewahrt wird, auch im Leiden. |198|SEINE Kraft ist in den Schwachen mächtig. Und wenn es ums Rühmen geht, so rühmt er sich nicht seines Mutes, sondern er rühmt sich seiner Schwachheit. Er kehrt nichts Heldisches heraus, sondern er bewährt seinen Glauben – nicht mehr und nicht weniger. Nicht weniger – mehr!

 

Einer der wenigen deutschen Professoren, die 1933 den »Eid auf den Führer« verweigerten und relegiert wurden, der Theologe der so genannten Bekennenden Kirche Karl Barth, schrieb im Vorwort zu seinem Römerbrief im August 1918:

»Paulus hat als Sohn seiner Zeit zu seinen Zeitgenossen geredet. Aber viel wichtiger als diese Wahrheit ist die andere, dass er als Prophet und Apostel des Gottesreiches zu allen Menschen aller Zeiten redet.

Was einmal ernst gewesen ist, dass ist es auch noch heute. Und was heute ernst ist und nicht bloß Zufall und Schrulle, das steht auch in unmittelbarem Zusammenhang mit dem, was einst ernst gewesen ist. Unsere Fragen sind, wenn wir uns selber recht verstehen, die Fragen des Paulus und des Paulus Antworten müssen, wenn ihr Licht uns leuchtet, unsere Antworten sein.«

Geschichtsverständnis ist ein fortgesetztes, immer aufrichtigeres und eindringenderes Gespräch zwischen der Weisheit von gestern und der Weisheit von morgen, die eine und dieselbe ist.

Bei Paulus heißt es: »Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes […] stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch die Erneuerung eures Sinnes […]«(Römer 12,1–2)

Karl Barth schreibt dazu unter der Überschrift: »Die große Störung«

»Denn das Leben ist nun einmal nicht einfach, nicht direkt, nicht eindeutig. Einfach, direkt und eindeutig ist immer nur die Oberfläche einzelner Erscheinungen, nie und |199|nirgends aber ihre Tiefe, ihr Zusammenhang, die Krisis, in der sich alles Erscheinende befindet, die Realität, von der es Zeugnis gibt. Gerade als dialektisches Denken erfüllt also das Denken seinen Zweck als Frage nach Tiefe, Zusammenhang und Realität des Lebens, seinen Zweck, Besinnung auf den Sinn des Lebens herbeizuführen, Sinngebung an das Leben zu ermöglichen. Wären seine Wege direkter, weniger gebrochen, leichter übersichtlich, so wäre das das sicherste Zeichen dafür, dass sie am Leben, das heißt aber an der Krisis, in der sich dieses Leben befindet, vorbeigehen. Doktrinär ist nicht das so genannte ›komplizierte‹, sondern das viel gerühmte ›einfache‹ Denken, das immer schon zu wissen meint, was es doch nicht weiß. Echtes Denken kann darum die oft gewünschte Gradlinigkeit nicht haben, muss darum so unmenschlich und weltfremd sein, weil es selber keine biologische Funktion, sondern die Frage bedeutet, deren Beantwortung die Möglichkeit aller biologischen Funktionen ist. Denn als Frage nach dieser Antwort ist es selber nicht Akt, sondern Voraussetzung.«10

»Ermahnen kann man also nur von dort aus, wo Pharisäer und Zöllner ganz und gar in einer Reihe stehen […] und also gar kein moralisches Ressentiment gegen einen Tirpitz zum Beispiel oder gegen einen Bethmann-Hollweg oder auch gegen einen Lenin vorliegt, wohl aber die Einsicht, dass die in die Augen springende Problematik solcher Gestalten ganz und gar ihre Parallele hat in der aus Gründen in den Ausmaßen etwas bescheidener geratenen eigenen Lebensproblematik, dass sie nur Schattenbild ist einer noch ganz andern Problematik, vor deren Unheimlichkeit jeder Mensch nur verstummen kann. Ermahnung ist also überall da nicht möglich, wo der Ermahner einen Programmentwurf und eine entsprechende Anklageschrift schon in der Tasche hat. Unverkennbar verrät sich alles menschliche Ethos, das von den Höhen der Menschheit herunter |200|predigt, an dem gänzlich mangelnden, obwohl heiß erstrebten absoluten Ton seines Auftretens, an der sich überschlagenden, heiser krächzenden, wenig imponierenden Stimme, die nur von dem Titanismus des bösen und des guten Menschen und von dem Gericht, unter dem aller Titanismus steht, immer neues Zeugnis ablegen kann. Ermahnung ist nur da möglich, wo des Menschen Recht darauf begründet ist, dass er – Unrecht hat, also nur ›aufgrund der Erbarmungen Gottes‹.«

»Gnade heißt: nicht richten, weil schon gerichtet ist. Gnade heißt: Selbstverständlichkeit des schlechten Gewissens mitten in den Verrichtungen der schlechten Welt, aber gerade in dieser Selbstverständlichkeit des schlechten Gewissens die unerhört neue Möglichkeit eines (nie und nirgends ›guten!‹) getrösteten Gewissens.«11

»[…] die Erneuerung eures Denkens – also doch wieder das Denken? Jawohl das Denken! Die primäre ethische Handlung ist ein ganz bestimmtes Denken. Buße heißt Um-Denken. Die Schlüsselstellung des ethischen Problems, der Ort, wo die Drehung geschieht, die auf ein neues Tun hinweist, ist dieses Um-Denken.«12

So weit, so polemisch, so gültig wie dicht Karl Barth.

Die kirchliche Tradition stellt bei Paulus mehr das Schwere, ja Schwermütige und Ernste in den Mittelpunkt. Dabei sind seine Briefe immer wieder voll von Überschwang, von übermächtig werdender Freude, dass in Christus ganz das JA ist. Und kein NEIN ist in ihm. Das ist unendlich wichtiger als alles selbstquälerische Nachdenken über die Grund-Schuld des Menschen. Es geht um das Frei-Werden des Menschen, nicht um selbstquälerische Selbsterkenntnis; aber ohne Selbsterkenntnis keine Freiheit. Ausgerechnet im Philipperbrief, als er seine Verurteilung in Rom schon vor Augen hat und im Gefängnis sitzt, wird und wirkt er am gelöstesten:

|201|»Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch!« (Philipper 4,4)

 

Sören Kierkegaard ist kaum denkbar ohne das Studium des Paulus, nicht von ungefähr hat sein großer Essay den Titel »Furcht und Zittern«. Kierkegaard schreibt am 19. Mai 1838, 10.30 Uhr: »Es gibt eine unbeschreibliche Freude, die uns ebenso unerklärlich durchglüht, wie der Ausbruch des Apostels unmotiviert hervortritt: ›Freut euch und abermals sage ich euch: Freuet euch‹ – nicht eine Freude über das oder jenes, sondern der Seele voller Ausruf mit Zung’, Mund und voll Herzensgrund: Ich freue mich in meiner Freude, von, in, mit, auf, durch und an meiner Freude, ein himmlischer Kehrreim, der gleichsam plötzlich unser übriges Singen abschneidet: eine Freude, die einem Windhauch gleich kühlt und erfrischt, ein Stoß des Passats, der vom Haine Mamre weht zu den ewigen Wohnungen.«13

Paulus ist in diesem Sinne einer der Vorläufer des existenzialistischen Denkens, einer Linie, die von Sokrates über Paulus, Augustin, Luther und Pascal zu Kierkegaard führt und in das Denken von Gabriel Marcel, Albert Camus und Karl Jaspers zwar verschieden adaptiert eingeht, aber sich substanziell den gleichen Fragen stellt.

Paulus hat sich nichts erspart. Was er mit aller Konsequenz versucht hat, ist jene eigentümliche Aufrichtung gegenüber Gott, die in die Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst führt, und aus dieser Aufrichtigkeit heraus weiß er – mit dem Herzen, mit dem Kopf, mit allen Fasern seines Leibes – , wie viel Barmherzigkeit wir alle brauchen.

Kierkegaard schrieb – und dies könnte für Paulus ebenso gelten:

»Die Hauptsache ist doch, dass man recht aufrichtig gegen Gott ist, nicht versucht, sich um etwas herumzudrücken, sondern durchdringt, bis er selbst die Erklärung gibt, was es |202|auch sei, erwünscht oder unerwünscht, sie ist doch die beste«14 – bis er selbst, Gott selbst, die Erklärung gibt. Der Weg dahin braucht Aufrichtigkeit. Das Ziel ist die Offenbarung, das Offenbarwerden des Verborgenen, ohne dass man davor Angst zu haben bräuchte.

Leben mit dem Widerspruch. Erlöstwerden aus den Widersprüchen.