Das Kind Jesus ist populär. Wegen Weihnachten. Krippenidylle. Hirtenromantik. Königlicher Besuch beim »holden Knaben im lockigen Haar«.
Was wäre Deutschland ohne Weihnachten, ohne deutsche Weihnachten. Und ohne die drei Weisen aus dem Morgenlande gäb’s zum Heiligen Abend keine Geschenke, wer auch immer geboren wäre. Aber die drei Weisen gab es nicht, schon gar nicht drei. Was da erzählt wird, stimmt nicht. Aber es hat eine Wahrheit. Eine Geschichte, tausendfach ausgeschmückt, spricht zu uns, regt alle Fantasie an, hat guten Sinn, lieber Kaspar, lieber Melchior, lieber Balthasar. Doch erst die armen Hirten, dann ihr reichen Herren!
Zwei Geschichten, ein Kind. Bei Matthäus keine Hirten, bei Lukas keine Weisen, bei Markus kommt gar niemand. Und Johannes wird ganz abstrakt. »Am Anfang war das Wort. Und das Wort wurde Mensch.« Auch dem Apostel Paulus, der das Christentum nach ganz Europa brachte, scheint man nichts von Weihnachten in Bethlehem erzählt zu haben. So wichtig theologisch Karfreitag, Ostern und Pfingsten sein mögen – was wäre unser Christentum ohne die Weihnachtsidylle? Die Botschaft und das Geschick des Jesus aus Nazareth hängen eng zusammen. Er wurde von einem Verkündiger zu einem Verkündigten.
Später wird auch von einem Wanderprediger erzählt, einem im Kloster geläuterten Zimmermannssohn ohne jede philosophische Bildung, einem Wunderrabbi, der für seinen Anspruch, »der Menschensohn« zu sein, zum Tode verurteilt |148|wird. In einem Komplott zwischen den Juden und der römischen Besatzungsmacht geht er zugrunde. Wenn es um den Bergprediger geht, gar um den, der ganze Hingabe erwartet, eine Nachfolge, die das Leben kosten kann, werden es schon bedeutend weniger, die etwas von ihm wissen wollen.
Das lässt sich nicht verrummeln und nicht verrubeln:
Geht und verkündet:
Nahe ist das Reich der Himmel.
Heilt – die Kranken.
Weckt – die Toten auf.
Reinigt – die Aussätzigen.
Jagt die Geister davon.
Ihr seid Schafe
und ich schicke euch unter die Wölfe.
Nein, fürchtet sie nicht!
Entdeckt werden wird: das Versteck.
Bekannt werden wird:
das Geheimnis
Was ich in der Dunkelheit sage,
zu euch, sagt es am hellen Tag
und schreit, was euch ins Ohr geflüstert wurde
herab von den Dächern.
(So aufgeschrieben in der Aussendungsrede Matthäus 10.)
Am Anfang ein Stall; am Ende ein Galgen.
Aber es ist nicht zu Ende mit ihm. Diese Aussendungsrede versteht nur, wer sich anreden läßt. Ja, ihr seid gemeint! Kirchensteuern zahlen ist ja nicht schlecht, aber das ist es nicht. Ihr seid es und seid es nicht, die den Ruf hören. Widersteht und widersprecht und vertraut! Vor dem Imperativ steht bei Jesus immer ein Indikativ. Bei ihm jedenfalls steht vor jedem Sollen ein Sein: du bist geliebt. Also liebe! Macht es wirklich einen Unterschied, ob es heißt »Du sollst, denn |149|du kannst«, oder ob es heißt »Du kannst, denn du sollst«? Alles, was er sagt, lässt sich auf eine Lebensmaxime reduzieren: Gott ist dir gut. Trotz allem. Gott liebt diese Welt. Trotz allem. Jesus ist der Gutmensch schlechthin, der das Böse kennt und überwindet. Er lebt auf das Reich Gottes hin, in Frieden und Gerechtigkeit.
»Mein Jesus«, sage ich zuerst. Ich verhalte mich zu ihm. Ich habe meine Geschichte mit ihm, von seiner Geschichte hörend über den garstigen Graben der Geschichte hinweg, übertönt von kirchlichen Überlieferungen und Konzilien, im Hall von Domen, über den Scheiterhaufen der Ketzer, unter den Leuchtfeuern der Hoffnung, bezaubert von der Klarheit und Einfachheit seiner Worte.
Jesus nehme ich so wörtlich wie möglich. Ich nehme seine Worte beim Wort. Ich erprobe ihre Tragfähigkeit. Dabei versinke ich und tauche wieder auf. Ich bleibe leer, und ich werde ganz erfüllt. Ich finde Jesus wunderbar naiv und bestürzend hellsichtig. Er zeigt mir die Welt. Er kann so gut zeigen, was ich übersehe, nicht sehen kann, nicht sehen will.
Viele Gesichter hat er für mich, schon im Neuen Testament, dann übermalt und übertüncht von den Jahrhunderten. Viele Sichtweisen finden sich auf seinem Bild, Interpretationen, auch Missverständnisse, gewollte, damit er sich besser einfüge. Ihn zu verstehen hieße ja, die Welt nicht so lassen zu können, wie sie ist. In den Missverständnissen seiner ersten Anhänger entdecke ich meine eigenen Missverständnisse. Mein Nicht-Verstehen-Wollen führt zu einem Nicht-Verstehen-Können.
Hinter den vielen Gesichtern wird für mich immer wieder das Antlitz dessen sichtbar, den er »Vater« nannte. Ich habe es nun aufgegeben, alle Schichten zu unterscheiden, alle Bilder nebeneinander zu ordnen, alle Stile zu bewerten.
Theologie als Sezierwissenschaft hat mich immer mehr |150|verwirrt, je mehr sie freigelegt und geordnet hat. Ich versuche, das Verschiedene zusammen zu sehen. Ich prüfe, ob aus dem Vielen nicht doch noch ein Ganzes wird. Immer wieder hebt sich mir anderes hervor. So begleitet Jesus meine Lebensgeschichte. Natürlich ist er mir bisweilen auch ganz gleichgültig. Unentbehrlich ist er mir geworden beim Erkennen der »Zeichen der Zeit«, der Zeichen meiner Zeit.
Scheitern können, ohne verzweifeln zu müssen! Das ist es, was mich an ihm besticht in einer Zeit, da die Schatten lang werden. Ich akzeptiere, dass andere anderes an ihm hervorheben, auch weil sie die Welt – durch ihn! – anders sehen. In allem sehe ich Annäherungsversuche. Irrtümer und Irrwege sind nicht ausgeschlossen, auch nicht in der Bibel. Die Unterscheidungen und Unterschiede rechtfertigen indes die kirchlichen Spaltungen nicht, finde ich. Vielbedeutend ist er für mich in dem, was er für mich ist und in dem, was er mir sagt. Vielbedeutend, aber nicht mehrdeutig. Jesus wird umstritten bleiben. Es wäre geradezu schlimm um uns, wenn es ruhig um ihn würde. Aber streiten um ihn heißt streiten wie er. Sonst geht es nicht mehr um ihn.
Ob ich ihn vor mir habe, erkenne ich an einer Geste, die für mich seine Grundgeste ist: an der geöffneten Hand, an den ausgebreiteten Armen mit den durchbohrten Händen, inmitten der Faust-Welt. Sein Lehren wird einladend, sein Drohen besänftigend, sein Erheben segnend, sein Austeilen sättigend, seine Berührung heilend, sein Zupacken aufhebend, sein Empfangen schenkend.
»Leben in seiner ganzen Fülle« – das ist er für mich, das stellt er in seiner ganzen Vielfalt dar: der Lehrer des Matthäus, der Wundertäter des Markus, der Sozialtherapeut des Lukas, der große Liebende des Johannes, der Hohepriester im Hebräerbrief, der Versöhner bei Paulus, das Lamm in der Offenbarung, der enttäuschende König, der zurechtweisende Freund, der unverstandene Bruder, der sanfte Revolutionär, |151|der fremde Weggefährte. Titel um Titel fände ich für ihn – viele Hoheitstitel für seine Erniedrigung –, für ihn, der keinen Titel braucht, um wer zu sein.
Er hat eine Größe, die mich nicht klein macht. (Vergleiche Lukas 9)
»Mein Jesus« hängt als Torso an der Wand, ohne Arme, Beinstummel, rechtsseitig wurmzerfressen bis zur Hüfte, klaffende Wunden, den Kopf zur Seite geneigt, halboffener Mund, abgebrochene Nase, geschlossene Augen – so hängt er an der Wand des Raumes, in dem wir Gottesdienst feiern. Ich sehe ihn jeden Tag, ich gehe jeden Tag an ihm vorüber, ich habe mich noch nicht an ihn gewöhnt. Ich hoffe, dass ich mich nie an ihn gewöhne.
Sein Körper ragt als Schrei in die Welt.
2003 n. Chr., so zählen wir, als ob er die vollzogene Wende der Zeit sei. Und da hängt er als der vermoderte, aufgerissene, abgerissene, abgehackte Holzkörper. Ich muss anders zählen, wenn ich ihn ansehe: 58 n. A., 58 nach Auschwitz, 58 n. H., 58 nach Hiroshima, 58 Jahre danach, der geschundene, verbrannte, verstümmelte Menschensohn. Es ist abschreckend, wie er zugerichtet ist. Die Folgen unserer Abschreckung sehe ich an ihm voraus. Das unbefleckte Lamm, ein verstümmelter Leichnam. So hängt er an der Wand, vorweggenommene Apokalypse.
Ich sehe den Unansehnlichen an. Dieses Stück Holz spricht mich an. Das geht nicht, das ist unerträglich, das ist eine Zumutung, sagen viele. Und ich kann sie verstehen. In der Tat: eine Zumutung, ein Skandal, keine gute Lösung für unsere Wand, keine gute Lösung. Ein Eichenkreuz, neu und unversehrt und glatt, trägt den Torso.
Es macht ihn erträglicher, jedenfalls optisch.
Ich sehe an ihm etwas, das mich ganz tief berührt:
der geneigte Kopf ist zugeneigt, mir zugeneigt.
|152|Jesus ist für mich Zuneigung, letzte Zuneigung, Zuneigung noch im Letzten …
Der Erbarmungswürdige erbarmt sich. (Vergleiche Jesaja 53)
»Mein Jesus« schreibt in den Sand, in die Geschichte, die mich am meisten bewegt. Sie gilt als »unecht«.
Sie hat ein Sternchen in meiner Bibel. Sie steht in eckigen Klammern. Sie ist von anderer Hand. Schon sehr früh wurde sie verschieden eingeordnet. Nirgends passt sie richtig hin. Sie passt nicht in unsere Ordnungen. So kann diese Geschichte nur unecht sein, historisch wie ideologisch. Eine Frau, eine Ehebrecherin, wird vor ihn geschleppt. Sie hat sowieso keine Chance mehr, und er soll auch keine haben. Wo kämen wir hin mit einer Liebe ohne Ordnung. Jesus, zum Richter bestellt, zum Vollstrecker geschriebener Gesetze, schweigt, bückt sich, schreibt in den Sand. Er gibt Bedenkzeit. Sie aber denken, er brauche Bedenkzeit. Sie fragen ihn nochmals nach seinem Urteil. Sie bedrängen ihn. Wird er gegen die Autorität des Gesetzes antreten? Kraft welcher Autorität? Der Fall liegt klar. Es gilt, nur zu bestätigen, was ohnehin geschehen wird: Steinigung.
Da richtet er sich auf, richtet seinen Blick nicht auf die Beschuldigte, sondern auf die Beschuldiger. Es soll Recht sprechen, wer selber gerecht ist. Es soll Schuld sühnen, wer selber ohne Schuld ist. Und dann bückt er sich wieder, schreibt in den Sand. Er prüft nicht, er überprüft nicht, er richtet nicht. Jeder soll sich selber prüfen, ohne überprüft zu werden. Jeder soll in sich gehen können, ohne Angst vor Entblößung haben zu müssen. Und alle gehen sie in sich und gehen, beschämt und erleichtert. Sie brauchen kein Urteil mehr zu fällen, es fällt kein Stein, auch nicht auf sie selbst.
Dieser Jesus beschämt mich.
Dieser Jesus erleichtert mich.
|153|Er macht mich frei davon, andere zu verurteilen. Selten genug.
Er lässt mich meinen Schatten annehmen. Selten genug.
Mein Jesus malt in den Sand und haut nicht in Stein.
Immer wieder verweht, verwischt, vergessen in mir, was er mir sagen will.
In den Sand geschrieben, in den Wind geredet: Durchzugsgewissen. (Vergleiche Johannes 8)
»Mein Jesus« – unbeachtet noch immer, wie ihn Schwester Jelisaweta in Solschenizyns »Krebsstation« beschreibt.
Eine fleißige Pflegerin mit klugem Gesicht, die unter die Betten kriecht, um den Boden aufzuwischen, die Spucknäpfe ausleert und blitzend sauber putzt, die nicht schimpft, die alles, was einer Schwester zu schwer, unhandlich oder unsauber ist, herbei- und wieder fortträgt: Jelisaweta Anatoljewna, die verbannte Frau auf der Krebsstation.
»Und je selbstverständlicher sie ihre Arbeit erledigt, desto weniger wurde sie auf der Station beachtet. Schon 2000 Jahre lang Augen haben, bedeutet noch nicht, sehen zu können. Aber ein schweres Leben schärft das Auge.«
Je selbstverständlicher, desto weniger beachtet: so begreife ich Jesus, so sehe und übersehe ich sein Bild im Bild von Menschen, die sich bücken, in Menschen, die ein erkennendes, ein liebendes Auge haben. (Vergleiche Johannes 13)
Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus gelten dem Philosophen Karl Jaspers als die vier maßgebenden Menschen. Sie sind sich fern, sie sind sich nah. Ihre Wahrheiten haben sie gelebt, bereit, dafür zu leiden. Sie kennen den Menschen und geben ihn doch nicht auf. Ihre Weisheit und ihre Hoffnung überdauerte die Zeit, in der sie lebten. »Der Stall, der Zimmermannssohn, der Schwärmer unter kleinen Leuten, der Galgen am Ende – das ist aus geschichtlichem Stoff, nicht aus |154|dem goldenen, den die Sage liebt«, schreibt Ernst Bloch in »Das Prinzip Hoffnung«.
Was wir historisch zweifelsfrei über Jesus aus Nazareth wissen, ist wenig. Seine aufgeschriebene Lebensgeschichte ist bereits Teil seiner Wirkungsgeschichte, beginnend mit den vier so genannten Evangelisten: Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Wir finden in fast jeder Kirche ihre Symbole: Engel, Löwe, Stier, Adler. Die Übereinstimmungen bei den ersten dreien sind so groß, dass man sie »Synoptiker« nennt, also die, die man »zusammensehen« kann. Ihre Evangelien sind nach 70 unserer Zeitrechnung – nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels – entstanden, das Johannes-Evangelium etwa 100 unserer Zeitrechnung.
Ihre Lebensberichte sind Zeugnisse über Jesus Christus, den Jesus aus Nazareth, der für die Gemeinde Christus (der Gesalbte), der Herr (der Kyrios) geworden ist. Unsere Zeitrechnung ist eine nachträglich bestimmte Zeit »post Christum natum«, Beginn einer neuen Zeit, Beginn der eigentlichen Zeit. Das Zeichen, mit dem sich Christen – besonders zur Zeit der römischen Christenverfolgungen – zu erkennen gaben, war ein Fisch, ICHTYS. Darin steckt das erste Bekenntnis: Jesus ist Christus, ist der Sohn Gottes, ist der Retter. Das wird mit dem Fischsymbol ausgedrückt.
Das ganze Problem zwischen »Historie« und »Geschichte« bündelt sich in einigen überprüfbaren Fakten: Jesus ist im Jahre 4 »vor Christus« geboren. Er kam nicht in Bethlehem, sondern in Nazareth zur Welt. Seine Mutter war keine Heilige, keine »unbefleckte« Gottesmutter, sondern eine einfache Frau, deren Mann Joseph hieß und dort Zimmermann war. Jesus hatte Geschwister. Es kamen keine drei Weisen aus dem Morgenlande, die sich etwa noch vorher bei König Herodes nach ihm erkundigt hätten. Auch ein systematischer Kindsmord an Neugeborenen fand zu jener Zeit nicht statt. Maria und Joseph sind mit dem Neugeborenen nicht nach |155|Ägypten geflüchtet. Ein besonderer Stern hat nicht über einem Schafstall gestanden.
Und doch hat alles einen Sinn und tiefe Wahrheit! Eine Geschichte wird erzählt, nicht Historie dokumentiert. Der junge Brecht hat eines der schönsten Weihnachtsgedichte verfasst:
Die gute Nacht
Der Tag, vor dem der große Christ
Zur Welt geboren worden ist
War hart und wüst und ohne Vernunft.
Seine Eltern, ohne Unterkunft
Fürchteten sich vor seiner Geburt
Die gegen Abend erwartet wurde.
Denn seine Geburt fiel in die kalte Zeit.
Aber sie verlief zur Zufriedenheit.
Der Stall, den sie doch noch gefunden hatten
War warm und mit Moos zwischen seinen Latten
Und mit Kreide war auf die Tür gemalt
Dass der Stall bewohnt war und bezahlt.
So wurde es doch noch eine gute Nacht
Auch das Heu war wärmer, als sie gedacht.
Ochs und Esel waren dabei
Damit alles in der Ordnung sei.
Eine Krippe gab einen kleinen Tisch
Und der Hausknecht brachte ihnen heimlich einen Fisch.
(Denn es musste bei der Geburt des großen Christ
Alles heimlich gehen und mit List.)
Doch der Fisch war ausgezeichnet und reichte durchaus
Und Maria lachte ihren Mann wegen seiner Besorgnis aus
Denn am Abend legte sich sogar der Wind
Und war nicht mehr so kalt, wie die Winde sonst sind.
|156|Aber bei Nacht war er fast wie ein Föhn.
Und der Stall war warm und das Kind war sehr schön.
Und es fehlte schon fast gar nichts mehr
Da kamen auch noch die Dreikönig daher!
Maria und Joseph waren zufrieden sehr.
Sie legten sich zufrieden zum Ruhm
Mehr konnte die Welt für den Christ nicht tun.
Jesus ist nicht drei Tage nach der Leichenstarre wiederbelebt worden und aus dem Grabe auferstanden, um nach 40 Tagen die Schwerkraft zu verlieren und in den blauen Himmel aufzusteigen. Er hat sich weder ins Nichts aufgelöst, noch sitzt er nun zur rechten Gottes auf der Herrscher- und Richterbank im Himmel der Schwerelosigkeit.
Jesus selbst wusste nicht, dass er »der Sohn Gottes« ist. Er entzog sich den Versuchen, ihn zu vergöttlichen. Er gehörte zum Schülerkreis des Johannes, den man »den Täufer« genannt hat, der möglicherweise zu der Essenersekte gehörte, die am Toten Meer ihr asketisches »Kloster«-Leben führte. Dort hat er in einem religiösen Bußorden die Schriftauslegung gelernt und wirkte zunächst als ein Schüler des Johannes, der in prophetischer Tradition stand und als »Prediger in der Wüste« charakterisiert wird. Bei seiner Taufe durch Johannes erfolgte eine Berufung, eine Art Berufungsvision, eine Stimme kam vom Himmel: »Dies ist mein lieber Sohn. Den sollt ihr hören.«
Jesus scharte eine Gruppe von 12 berufenen Jüngern um sich. Sie stammten aus dem einfachen Volk, keiner aus der Oberschicht. Nicht gebildet waren sie, aber lebenserfahren. Jesus bediente sich für seine Botschaft einer einfachen Gleichnissprache, deren Stoff jedermann verständlich war. Er verdichtete seine Erkenntnisse zu Sprüchen, die zu Spruchsammlungen zusammengetragen oder an Ereignisse |157|bzw. Gleichnisse als Interpretamente angehängt wurden. Er wirkte Wunder, die nicht zuerst als Demonstrationswunder seiner göttlichen Kraft gedacht waren, sondern Hilfshandlungen für Hungernde, seelisch und körperlich Kranke und für tragisch Verstorbene.
Er wandte sich in besonderer Weise den sozial, religiös und politisch Ausgegrenzten, Verfemten, Verlorenen, Übersehenen, Gemiedenen zu. Gegen alle religiösen Vorschriften ging er zu denen »ganz unten«, ließ sich von einer Hure die Füße salben, berührte Pestkranke, kehrte bei Kollaborateuren ein.
In prophetischer Tradition geißelt er Rechthaberei, Heuchelei und Veräußerlichung der Religion. Wie den Propheten ging es ihm um die »Beschneidung der Herzen«, nicht bloß um den Ritus der Penis-Vorhautbeschneidung. Er nahm keine Rücksicht – auch nicht auf sich selber. Was ihn drängte: zu sagen, was ist; zu zeigen, was übersehen wird; zu hören, was überhört wird.
Er wurde in Gespräche mit Pharisäern und Schriftgelehrten verwickelt. Man sprach ihm mehrere Hoheitstitel zu, denen er sich entzog.
Mit seinen Jüngern zog er über Land, führte Lehrgespräche und lebte in ungesicherter kommunitärer Gemeinschaft.
In einem Komplott zwischen Synedrion, der obersten jüdischen Verwaltungs- und Gerichtsbehörde, und römischer Besatzungsmacht wurde er zum einen wegen Gotteslästerung und zum anderen wegen Anstiftung zum Aufruhr zum Tode verurteilt.
Er war wie ein Volksheld gefeiert worden, sodann verraten, verhaftet, verhöhnt, verurteilt, gefoltert, gekreuzigt. Zwischen »Hosianna!« und »Kreuzige!« liegen wenige Tage; vermutlich haben beides dieselben Leute geschrieen.
Die ihn betrauern und nach jüdischem Ritus einbalsamieren wollen, finden ein leeres Grab vor. Sie haben – ebenso |158|wie die sich aus Angst eingeschlossenen Jünger – eine Vision, in der ihnen der Gekreuzigte und zu Grabe Gelegte »als Auferstandener« begegnet. Sie hören die Botschaft, dass er nicht im Reich der Toten geblieben, sondern von Gott auferweckt ist und mit ihnen sein wird, sie ermutigt, seine Botschaft (seine Sache!) weiterzutragen, – zunächst zurück in den galiläischen Alltag, sodann in die ganze Welt. Der so genannte Sendungsbefehl oder »Missionsbefehl« (Matthäus 28,18–20; Markus 16,15) wird zum Ausgangspunkt einer Weltbewegung, die für viele Christen der Frühzeit Martyrium bedeutet, später als Staatsreligion auch mörderische Intoleranz einschloss.
Die vier Jesus-Erzählungen – subsumiert unter dem Wort ›Evangelien‹ = gute Nachrichten – sind literarisch gestaltete Tendenzschriften, die das Leben des historischen Jesus erzählend deuten: vom Ende am Kreuz und vom Neuanfang zu Ostern her interpretieren sie sein Leben, seine Worte und Taten und machen so den Verkünder der Botschaft zum Gegenstand der Verkündigung.
Dabei setzen sie unterschiedliche Akzente, verarbeiten verschiedene Quellen, stellen ihr ›Material‹ in spezifische theologische Zusammenhänge. Sie bedienen sich dafür mehrerer literarischer Stilmittel. Sie entwickeln eine ganz eigene Theologie: Matthäus ist judenchristlich orientiert, Johannes beinahe judenfeindlich, Lukas sozial-therapeutisch.
Man muss allerdings davon ausgehen, dass keiner von ihnen selber historischer Zeuge der berichteten Geschehnisse gewesen ist.
Ich weise noch einmal darauf hin: Der Älteste – Markus – weiß von keiner wunderbaren Geburt. Bei ihm fehlt die Weihnachtsgeschichte, die das Christentum volkstümlich gemacht hat. Er beginnt mit der Botschaft Johannes des Täufers. Man hat sein Evangelium als eine »Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung« bezeichnet.
|159|Matthäus und Lukas verfügen neben einem möglichen »Ur-Markus« über Quellenmaterial, das wir die Logienquelle, die Spruch- oder Reden-Quelle, nennen. Daraus wurde die Bergpredigt bei Matthäus (Kapitel 5–7) bzw. die Feldrede bei Lukas (Kapitel 11) oder die Aussendungsrede (Matthäus 10) komponiert. Bei Johannes nehmen die Abschiedsreden größeren Raum ein (13,31–16,33).
Zum einen wird die Lebensgeschichte – von der Geburtsgeschichte bis zu den Auferstehungsberichten – verschieden akzentuiert überliefert, zum anderen finden sich darin Lehrgespräche, Streitgespräche, Sprüche, Spruchsammlungen, Wundergeschichten und Gleichnisse.
Die Kernbotschaft, die auf den historischen Jesus mit einiger Wahrscheinlichkeit rückführbar ist, lässt sich in groben Zügen so zusammenfassen:
-
Das »Reich Gottes« – als das Ende der bisherigen Welt- und Machtverhältnisse – ist nahe. Die Basileia tou Theou, die Königsherrschaft Gottes in Gerechtigkeit und Frieden ist nahe!
Es kommt das Ende dieser Welt, die Welt kommt zu ihrem Ziel. -
Darum: Kehrt um! Ändert all euren Wandel und vertraut nicht den Sicherungen, die bisher gelten. Macht euch in all eurem Denken und Tun für diese neue Wirklichkeit bereit.
-
Habt unbedingtes Vertrauen! Der unnahbare und unaussprechbare Gott wird zum Urwort des Vertrauens: Gott ist der ABBA, der ganz und gar Väterliche und: Der ganz Ferne – unser Vater »in den Himmeln« – ist zugleich der ganz Nahe. Seid ohne Lebensangst, ohne Lebenssorge! Denn ER weiß, was ihr braucht!
-
Ihr seid doch Geliebte! Seid Menschen der Liebe! Ihr wisst selber, wie viel Liebe ihr braucht. So habt Liebe mit ganzem Herzen, mit allem Denken, Fühlen und Tun.
|160|Das »neue Gesetz« ist das Gesetz der Liebe. Und die Liebe selbst ist des Gesetzes Erfüllung! Die Liebe steht über allen Einzelgesetzen; sie setzt auf den Einzelnen, in Freiheit zu entscheiden, was jetzt das Richtige, das Angemessene und Zuträgliche ist.
Gottes- und Menschenliebe sind unlösbar aufeinander bezogen. Sich selbst zu lieben, Ja zu sich selbst zu sagen, ist Voraussetzung für Nächstenliebe.
-
Seid wach und seid wachsam – besonders für alle, die unten sind, die am Rande sind, die ausgestoßen sind. Lebt schon heute die neue Gemeinschaft in Warmherzigkeit und Mit-Menschlichkeit. Macht euch frei von aller Verhärtung der Herzen. Übt Barmherzigkeit. Stiftet Frieden, einen Frieden, der sich auch auf den Feind richtet.
-
Das Leben findet im Tode kein Ende, weil es bei Gott aufgehoben ist und die neue Welt Gottes – in Gericht und Gnade – unser aller Zukunft ist.
Die vier Evangelisten entfalten diese Kernbotschaft in einer je spezifischen theologischen und literarischen Form. Später hat die Kirche durch ihre Lehrentscheidungen auf Konzilien daraus einen dogmatischen Christus herauskristallisiert, ein ausgeklügeltes Lehrgebäude entwickelt, wobei die Vielfältigkeit der Lebenszeugnisse der Evangelien auf den Leisten von kirchlichen (römischen) Dogmen geschlagen wurden. Das früheste und bis heute wirkende altkirchliche »Symbol« ist das so genannte Apostolikum, das den Glauben an etwas festschreibt, also den Akkusativ dem Dativ vorordnet.
»Ich glaube an […]« statt »Ich glaube ihm«.
An die Stelle des Grundvertrauens tritt ein »Für wahr halten, dass …«
In einem ganz hohen Ton beginnt der Evangelist Johannes. Er knüpft an den Anfang der Schrift an: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde« (Genesis 1,1). Und Gott |161|schafft durch das schöpferische Wort. Er ruft das Sein ins Dasein. Sein erstes schöpferisches Wort ist das Wort: »Es werde Licht! Und es ward Licht.« (Genesis 1,3) Sodann scheidet er das Licht von der Finsternis. So kommt es zur ersten Einteilung in Tag und Nacht, zur ersten Strukturierung der Schöpfung, zur ersten klaren Unterscheidung. Für dieses »Schaffen«, dieses schöpferische Tun schlechthin, benutzt der Verfasser im Hebräischen nur dieses eine Wort, das für kein anderes Schaffen eingesetzt wird. Und »Wort« und »Ding« sind im Hebräischen dasselbe Wort.
Johannes knüpft an diesen »Anfang der Welt« an. Für ihn ist Jesus von Nazareth von Anfang an schon da, weil er bei Gott von Ewigkeit her gewissermaßen beschlossene Sache ist. Der Sohn und der Vater sind eins. Jesus ist der, den Gott sendet, um in der Finsternis Licht zu schaffen und den Menschen Licht zu bringen, die in der Finsternis sind. Er sieht in Jesus den Präexistenten, der nun gekommen ist. Ein erneutes schöpferisches Wort Gottes: Das Wort wurde Mensch, der Ewige kommt ins Zeitliche, der Unsterbliche ins Sterbliche.
Genial hat dies Luther aus dem Griechischen so übersetzt:
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.
Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.
(Johannes 1, 1–5, 9–11.14)
|162|Diese Passage aus dem Johannes-Evangelium ist meist nur noch in ihrer Verkürzung auf den ersten Satz »Im Anfang war das Wort« bekannt – nämlich aus dem »Studierzimmer« des Faust bei Goethe.
Wir sehnen uns nach Offenbarung,
die nirgends würdiger und schöner brennt
als in dem Neuen Testament.
Mich drängt es, den Grundtext aufzuschlagen,
mit redlichem Gefühl einmal
das heilige Original
in mein geliebtes Deutsch zu übertragen.
Geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort!«
Hier stock ich schon!
Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
ich muss es anders übersetzen…
Im Goethe’schen Verständnis liegen Wort und Tat auseinander. Im biblischen Verständnis sind Wort und Tat eins. Und es geht im biblischen Text um das Tatwort Gottes, das schöpferische Wort Gottes, und um sein Wort an diese verlorene, in Finsternis störrisch verharrende Welt. Sie sieht nicht, sie nimmt nicht an und nicht auf.
Was der Johannes-Prolog theologisch verdichtet, was Luther mit sprachlicher Meisterschaft übersetzt, das führt Walter Jens in seiner Übersetzung so weiter, dass das Erratische des Textes hörbar wird. Bei Luther dominiert das Musikalische.
Am Anfang: ER.
Am Anfang: Das Wort.
Und Das Wort war bei Gott.
Und was Gott war, war ER.
Durch Das Wort
Wurde alles.
Nichts, was ist,
ist ohne IHN.
Er: das Leben.
Er: Das Licht
für die Menschen.
Das Licht in der Nacht:
nicht überwältigt
von der Finsternis.
Das Wort
war die Wahrheit.
ER
war das Licht,
das jedermann leuchtet.
ER
war in der Welt,
die Welt ist durch IHN geworden,
aber sie erkannte IHN nicht.
ER
kam zu den Seinen
ins Eigene kam ER,
aber die Seinen nahmen IHN nicht auf.
Doch die IHN aufnahmen –
ihnen gab ER die Macht,
Kinder Gottes zu sein.
Ihnen, die nicht aus Blut und Gier und Lust,
sondern von Gott gezeugt sind.
ER aber, Das Wort,
ER wurde Fleisch:
Mensch unter Menschen
war ER bei uns.
Wir sahen IHN in seiner Herrlichkeit,
|164|dem Licht des einzigen Sohnes,
vom Vater her leuchtend,
erfüllt von Gnade und Wahrheit.«
Ein großer, ein tiefer, ein unergründlicher Text, eine »philosophische Weihnachtsgeschichte«. Fürs Kindergemüt schrieb Lukas seine Geschichte »Es begab sich aber zu der Zeit […]« (Lukas 2,1–21)
Mit den so genannten Abschiedsreden hat Johannes ein zweites literarisches Meisterstück mit tiefer theologischer Substanz, psychologischer Einfühlungsgabe und literarischer Kraft hinterlassen – einen Abschied als Vermächtnis und Trost:
»Liebe Kinder,
ich bin noch eine kleine Weile bei euch. Ihr werdet mich suchen. […] Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen.
Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.
Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; ich komme zu euch. Es ist noch eine kleine Zeit, dann wird mich die Welt nicht mehr sehen. Ihr aber sollt mich sehen, denn ich lebe, und ihr sollt auch leben.
Aber der Tröster, der heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.
Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.
Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibet in meiner Liebe!
Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie |165|ich euch liebe. Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete.
Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir. Das habe ich mit euch geredet, dass ihr in mir Frieden habet. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.« (Johannes, Kapitel 13–16)
Sätze tiefer Einfühlung, die sich vom aktuellen Anlass des Abschieds von einem wohltuenden Freund, großen Liebenden und verehrten Lehrenden ablösen lassen. ER weiß im Innersten, dass er die Verurteilung vor sich hat. Er wird eine schmerzliche Leerstelle hinterlassen. Er lebt in ihnen, bei ihnen: Liebe, Freundschaft, Beistand und Trost wirken über den Tod hinaus.
(Ein Satz aus diesen Abschiedsreden ist vielfach mißbraucht worden, er steht auch auf unzähligen Kriegerdenkmälern des Ersten Weltkrieges: »Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.« Es ist nationalistische Volk-Vaterland-Gehorsams-Ideologie, die Verbrechen und Verführung, Leid und Trauer verklärt.)
Ein häufig literarisch bearbeitetes Stück aus dem Johannes-Evangelium ist der Dialog zwischen Jesus, dem von den Juden bereits verurteilten »Gotteslästerer«, und Pilatus, dem römischen Prokurator mit Anwallungen von Mitleid und schlechtem Gewissen.
Da heißt es:
Pilatus rief Jesus und sprach zu ihm: Bist du der König der Juden? Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus, oder haben dir’s andere über mich gesagt? Pilatus antwortete: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet: Was hast du getan?
Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre |166|mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; nun aber ist mein Reich nicht von dieser Welt. Da fragte ihn Pilatus: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?
(Johannes 18, 28–19, 16)
Der Evangelist Johannes berichtet davon, dass Pilatus von seinem Amnestierecht Gebrauch machen will und dem Volk einen Verurteilten – entweder den Räuber Barabbas (wahrscheinlich einen radikal-religiösen Aufständischen) oder Jesus freizulassen. Als die Meute schreit »Barabbas«, lässt er Jesus foltern und führt den Gefolterten dem Volke vor, um darzutun, dass er nichts aus ihm hatte ›herausschlagen‹ können, und um ihr Mitleid zu erregen. Bei der Folter wird ihm eine Dornenkrone aufgesetzt. Er wird in ein Purpurkleid gehüllt und vor die Menge gestellt. Pilatus sagt: Ecce homo! Sehet, welch ein Mensch!
Danach kommt es erneut zu einem Dialog zwischen Pilatus und Jesus. Jesus gibt ihm keine Antwort. Und Pilatus spricht zu ihm:
Redest du nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich loszugeben, und Macht habe, dich zu kreuzigen? Jesus antwortete: Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben her gegeben wäre.
(Johannes 19,10)
Diese Geschichte hat im Abendland die Dichotomie zwischen Gottesreich und Menschenreich, Kaisertum und Papsttum begleitet. Sie hat gleichzeitig einen tiefsitzenden, langwährenden und phasisch wiederkehrenden verbrecherischen Antijudaismus und Antisemitismus begünstigt. Es sind Juden, die da brüllen: »Kreuzige! Kreuzige!« Sie weigern sich, ihn freizugeben. Sie drohen gar dem Pilatus mit |167|dem Kaiser, falls er Jesus freiließe. Die Unterjochten drohen dem römischen Prokurator mit seinem eigenen Kaiser. So jedenfalls konzipiert Johannes den Justizskandal und gibt so dem Judenhass »christliches« Futter.
Diese Passagen wurden von Dichtern bis in unsere Zeit nachgestaltet und gedeutet.
Wer die Bearbeitung des Johannes-Textes in Michail Bulgakows Roman »Der Meister und Margarita« und in Tschingis Aitmatows Roman »Die Richtstatt« liest und wieder zum Ursprungstext zurückkommt, spürt, dass selbst solche meisterhaften Weiterführungen nicht alle Konnotationen der sprachlich verdichteten Ursprungsform einfangen können.
Diese wiederum ist kaum ablösbar von einer geradezu genialen Übersetzung durch Martin Luther, der dem im jeweiligen Text dominierenden Gestus sprachliche Form gab. Daher nimmt es nicht wunder, dass Bertolt Brecht in seiner Selbstbefragung unter dem Titel »Wo ich gelernt habe« schreibt: bei »Luther in der Lyrik und im Pamphlet«.4
Brecht entfaltet dies praktisch an einem Satz Lutherscher Übersetzung: »[…] die Sprache sollte ganz dem Gestus der sprechenden Person folgen. Ich will ein Beispiel geben. Der Satz der Bibel ›Reiße das Auge aus, das dich ärgert‹ hat einen Gestus unterlegt, den des Befehls. Aber er ist doch nicht rein gestisch ausgedrückt, da das ›das dich ärgert‹ eigentlich noch einen anderen Gestus hat, der nicht zum Ausdruck kommt, nämlich den einer Begründung. Rein gestisch ausgedrückt, heißt der Satz (und Luther, der dem Volk aufs Maul sah, formt ihn auch so): ›Wenn dich dein Auge ärgert: reiß es aus!‹. Man sieht wohl auf den ersten Blick, dass diese Formulierung gestisch viel reicher und reiner ist.«5
Ich füge hinzu, dass Luther in seiner Übersetzung auch die Gedankenfolge umkehrt und mit dem »Auge, das dich |168|ärgert« beginnt und dann den Doppelpunkt anfügt: »Reiß es aus!«
Die ganze Sperrigkeit eines solchen Ansinnens, solchen Befehls wird auf diese Weise umso schärfer erkennbar.
Zu den mit großer Meisterschaft erzählten biblischen Geschichten gehören die von den Emmaus-Jüngern (Lukas 24), von Rembrandt wie von Schmidt-Rottluff bildnerisch genial ›nachgezeichnet‹. Zwei über den Verlust ihres Lehrers und Freundes Verzweifelte gehen von Jerusalem in das kleine Dorf Emmaus und unterhalten sich über all das, was sie erlebt haben. Sie versuchen, erzählend zu verarbeiten, wessen Tod sie zu beklagen haben und was sie mit ihm erlebt hatten, der ans Kreuz genagelt wurde – ein für sie endgültiges Aus. Es geht darin um ihren eigenen Lebensentwurf während ihres gemeinsamen Abschieds vom Ort des Geschehens – von Jerusalem. Sie sind ohne Ziel losgegangen. Einfach weg! Und sie sind unterwegs, ohne zu wissen, wohin. Es gibt keinen Rückweg. Nur weg! Und da gesellt sich ein Dritter zu ihnen – ein Unbekannter. Er hört zu. Er fragt und fragt nach. Sie erzählen ihm. Und dann heißt es:
»Und sie kamen nahe an das Dorf, wo sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte er weitergehen. Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben.
Und es geschah, da er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen. Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen. Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete?«
(Lukas 24, 28–32)
So übersetzt Luther. Diesen Text kann man auch so ins heutige Alltagsdeutsch übersetzen und ihm damit alles nehmen, was in ihm mitschwingt!
|169|»Unterdessen gelangten sie in die Nähe des Dorfes, wo sie hinwollten. Jesus tat so, als ob er im Sinn habe, weiterzuwandern. Aber sie baten ihn ganz dringend zu sich: Bleib doch bei uns! Die Sonne steht schon im Westen, und es geht auf den Abend zu. So kehrte er bei ihnen ein und blieb. Als er mit ihnen beim Essen ausruhte, nahm er das Brot in die Hand, dankte Gott, zerbrach es und gab es ihnen weiter. Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten Jesus. Doch Jesus selbst wurde für sie unsichtbar. Darauf sagten sie zueinander: Wurde uns nicht das Herz heiß, als er unterwegs zu uns redete und uns die Schriften erklärte?«6 Hier wird mit der Absicht, mehr Verständlichkeit durch mehr Alltäglichkeit zu erreichen, die Banalität zum Prinzip. Solche Sprache ist nicht mehr in Musik übersetzbar. Holprigkeit der Verständlichkeit – ohne Hinter-Sinn.
Der Doppelsinn der Geschichte ist aus dem Text eliminiert. Es geht um die Banalität von ›bleib doch noch ein bisschen‹. Und der Abend ist nur das Ende eines Tages, während in Luthers Übersetzung »der Tag hat sich geneigt – und es will Abend werden« die ganze Hintergründigkeit der Vorstellung vom Abend des Tages und vom Abend der Welt enthalten ist. Noch stärker wird der Unterschied bei der Übersetzung der Szene des Abendessens deutlich. Bei Luther heißt es: »Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen.«
Nahm, dankte, brach’s, gab’s.
In der neueren Übersetzung heißt es: »Als er mit ihnen beim Essen ausruhte, nahm er das Brot in die Hand, dankte, zerbrach es und gab es ihnen weiter.«
›Das Brot brechen‹ und ›ein Brot zerbrechen‹ – welch ein Unterschied!
Die Evangelisten sind allesamt Schriftsteller. Sie sind nicht Zeugen des Geschehens, sondern geben Zeugnis von einem Geschehen. Der Duktus der Erzählung ist nüchtern. Sie |170|gestalten das ihnen überlieferte Material, ordnen und ordnen eigenständig zueinander.
Das Land, in dem Jesus lebte, bekommt klare Konturen – wie nebenbei: die Wüste und der See Genezareth, die Fischer beim Flicken der Netze, dümpelnde Boote, vergebliche Arbeit, ein plötzlicher Sturm schlägt Wasser in die Schiffe. Von Motten und Würmern ist die Rede, von Huren und Dieben, Säufern und Fressern, Blinden und Lahmen, Besessenen und einem jungen Mann aus gutem Hause, frommen Eiferern und bösartigen Spöttern, gleichgültigen Zeugen und gegeißelten Anhängern, von Kindern und Gaunern, von einem Volk, das ihn jammert, und einem Volk, das zum Mob wird.
Nicht ohne Komik wird erzählt, wie der nackte Jüngling bei der Verfolgung sein Hemd fallen lässt oder wie der gelähmte Mann von den Trägern durch das Dach des Hauses gehievt wird, wie der kleinwüchsige Zöllner Zachäus auf einen Baum steigt, um auf sich aufmerksam zu machen, wie die bösen Geister ausfahren und auf ihre Bitte hin nicht in die Hölle, sondern in die Säue fahren, um sich dann kollektiv in den See zu stürzen, wie die erschrockenen Sauhirten in die Stadt rennen und erzählen, was sie erlebt haben, und man daraufhin Jesus bittet, die Gegend zu verlassen. Solch ein Mann ist kein Wirtschaftsfaktor, kein Standortmagnet.
Eine Mutter bittet, auf Knien, für ihre Söhne um eine steile himmlische Karriere, was andere Jünger wütend macht, die selber Stellvertreterposten scharf im Auge haben. Und sie alle geben damit Jesus eine Vorlage, ihnen zu erklären, wie er zur Macht steht.
»Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er |171|sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.«
(Markus 10, 42–45)
Immer wieder Erzählungen, in denen Missverständnisse aufgedeckt werden, Lehrgespräche unterwegs, die Anlässe im Alltag findend, nicht in abstrahierender Büchergelehrsamkeit, sondern in glühender Mittagshitze, auf stürmischer See, an einem einsamen Brunnen, am Ufer des Sees, während einer Hochzeitsfeier oder am Sabbat in einer Synagoge. Da kommt der Mann mit der verdorrten Hand, und Jesus schert sich nicht um den Sabbat, sondern lässt sich rühren von dem, der Hilfe braucht, und rührt ihn – ihn heilend – an. Am heiligen Sabbat.
Wer die Geschichten und die Anlässe zu diesen Geschichten nach den Zeugnissen der vier Evangelisten durchginge, würde zu dem Ergebnis kommen, dass alle Fragen, um die es im Menschengeschick und in der Menschengeschichte geht, angesprochen sind. Ihre Mehrschichtigkeit macht ihren Reichtum wie ihre Missdeutbarkeit aus. In den Geschichten steckt stets mehr als das Problem, auf das sie gemäß unserer Wirkungsgeschichte hinauslaufen. Insofern sind sie immer wieder neu zu lesen, ohne dass wir davon absehen können, dass sie eine Wirkungsgeschichte hinter sich haben, von der wir nicht mehr abstrahieren können. Und unser Vor-Verständnis macht häufig überhaupt ein Verstehen möglich.
Ich nenne Beispiele: In der Versuchungsgeschichte geht es um Macht und Autorität, Hunger und Unterwerfung und um das Spiel mit dem Risiko des Lebens. In der Begegnung mit dem reichen Jüngling und seinem Bedürfnis, erlöst zu werden, geht es um die Selbstversklavung an das, was Menschen haben können. Bei der Frage, ob man dem Kaiser Steuern zahlen soll oder nicht, geht es um die Frage nach Gehorsam und Widerstand. In dem Konflikt um das verweigerte Gastrecht für die Jünger in Samaria geht es um die |172|Berechtigung von Rache und um die Frage nach der Schuld aller, wenn kollektiv gelitten wird.
Als Jesus vor Pilatus steht, geht es bei der Frage nach Wahrheit auch darum, wer von uns sich die Hände in Unschuld waschen kann. Bei der Bitte um die Teilhabe an der göttlichen Macht bei den Söhnen des Zebedäus geht es um die Frage nach der »guten Macht« und den »alten Mitteln«. Bei einem Streit um das Erbe geht es um die Frage, was die Seele satt macht. Bei der nächtlichen Begegnung zwischen Jesus und Nikodemus geht es darum, ob jemand je aus seiner Haut kann und neu werden kann. Beim Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen geht es um die Frage, ob es ein endgültiges Zuspät gibt. Bei dem Gleichnis von den anvertrauten Zentnern geht es darum, wie wir mit unseren unterschiedlichen Gaben wuchern, zugleich um die Chance von Armen gegenüber Reichen. Beim Gleichnis vom Weltgericht geht es um die Solidarität einer Gesellschaftsformation und um die Barmherzigkeit aller Einzelnen.
Darum geht es. Und es geht immer um noch viel mehr. Wer Ohren hat, der höre!
Jesus entzieht sich den ihn vergöttlichenden Unterwerfungsabsichten seiner Anhänger und weist sie auf Gott, den er »unseren himmlischen Vater« nennt, in großer Vertrautheit, ja Zutraulichkeit und doch festhaltend an seiner Unverfügbarkeit, Souveränität, einer alle Menschensatzungen überschreitenden Autorität.
Die Evangelien beschreiben einen Mann, der von ganz unten kam, ganz unten blieb, nach ganz unten gestoßen wurde und »den da ganz oben« für sich reklamierte: Gott soll geerdet werden und geerdet bleiben.
Ihn jammern die Kranken, die Hungernden, die Verlorenen. Ihn jammert die Herde, die keinen Hirten hat. Er weint über das verstockte Jerusalem. Ihn hungert, dürstet und friert. Er wird wütend (Luther übersetzt: unwillig). Und er |173|redet gut zu, spricht Mut zu: »Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!«
Er zieht sich zurück und entzieht sich. Er setzt sich ein und setzt sich aus. Er kämpft mit seiner Enttäuschung. Immer wieder scheint alles umsonst: »Was bekümmert ihr euch doch, dass ihr kein Brot habt? Versteht ihr noch nicht, und begreifet ihr noch nicht? Habt ihr noch ein verhärtetes Herz in euch? Habt Augen und seht nicht, habt Ohren und höret nicht? […]« (Markus 8, 17–18)
Jesus erlebt Feindschaft, Verachtung, das Lächeln derer, die im Besitz von Macht, Geld und Geltung sind. Alle nehmen sie an ihm Ärgernis. »Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und bei seinen Verwandten und in seinem Hause.« (Markus 6,4)
Er wird in Streit verwickelt. Er soll als Gesetzesbrecher und Aufrührer überführt werden. Er wird denunziert. Er bringt die religiösen und politischen Sicherungssysteme durcheinander. Denn der Mensch ist nicht um des Gesetzes, sondern das Gesetz um des Menschen willen gemacht, sagt er.
Er fordert Selbstvertrauen, Verzicht auf alle Rück-Versicherung, Loslassen und Gelassenheit, Leidensbereitschaft und zuerst und zuletzt: Zuversicht, Vertrauen, Wage-Mut. Denn es gibt Beistand für die, die die Wahrheit wagen. Aber die Wahrheit ist nicht billig, weil es um keine billigen Wahrheiten geht. So sendet er sie aus – die zwölf.
Wer dies liest, dem wird klar, dass es sich um eine Zusammenstellung von Jesusworten aus der nachösterlichen Situation handelt.
Die Gemeinde wird bereits verfolgt, da hört sie, was er ihnen zumutet und zutraut:
»Fürchtet euch nicht vor den Menschen.
Sie töten den Leib.
Können sie nicht.
Der aber Seele und Leib vernichten kann
In der Hölle:
Den sollt ihr fürchten.
Es stürzt kein Spatz auf die Erde herab,
wenn euer Vater nicht will:
Und zwei Spatzen
Kauft man für einen einzigen Pfennig!
Ihr aber seid mehr wert
als alle Spatzen zusammen!
Was soll euch geschehen,
da selbst die Haare gezählt sind,
auf eurem Haupt?
Nein, fürchtet euch nicht!
Wer sein Leben gewinnen will,
wird es verlieren,
doch wer es, um meinetwillen, verliert,
wird es gewinnen.
Wer euch aufnimmt,
nimmt mich auf.
Wer mich aufnimmt,
nimmt den auf,
der mich gesandt hat.
(Matthäus 10 nach der Übersetzung von Walter Jens)
Das sind Steilvorlagen: Wer euch aufnimmt, nimmt mich, den Menschensohn, auf. Und wer den Menschensohn aufnimmt, nimmt Gott selbst auf. Gott bei den Menschen zu Gast! Gott in der Gestalt der Geringsten bei den Menschen zu Gast.
|175|Dieses Motiv wird eindringlich entfaltet in einem der drei so genannten Endzeitgleichnisse bei Matthäus im 25. Kapitel:
»Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.
Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.«
Diese Redeweise ist unmissverständlich und direkt, einfach und hintergründig, einleuchtend und begreiflich, voller Zumutung und voll Mut machendem Pathos.
Hier wechselt die Perspektive zwischen Nähe und Distanz zu Jesus und den Jüngern; sie sind ganz der Wirklichkeit ausgesetzt und ihr zugleich ganz enthoben, erleben irdische Nähe und himmlische Ferne! Der Auferstandene weist auf den Gemarterten hin. Einerseits singen Engel vom Himmel – und andererseits liegt da einer im Stall. Hier ein Wunderzeichen in den Wolken – und dort Tränen, Todesschreie, der Jammer der Frau unter dem Kreuz. Unendlich oft abgebildet in der »Kreuzigungsgruppe« in unseren Kirchen, aufgehängt in der Vierung.
Es bleibt bei allem, was ganz offenbar wird, etwas, das ganz verborgen bleibt. Ganz gewöhnliche Leute werden zu Zeugen des Außergewöhnlichen. Im ganz Alltäglichen vollzieht sich das ganz Besondere.
Die Evangelisten beschreiben einen Mann, der zwischen den Jahren 1 und 33 lebte; aber sie berichten nur von etwa zwei Jahren seines Lebens, zugleich antizipieren sie sein weiteres Geschick. Sie schildern hautnahe Berührungen, wie etwa Maria aus Magdala ihn salbt, wie Judas ihn küsst, die Soldaten ihn peitschen und wie er gleichzeitig der ganz andere, der ganz ungewöhnliche, der ganz außergewöhnliche |176|Mensch bleibt. Das dauernde Wechselspiel von »Leben mitten in der Welt« und »Entrückung«: Joseph ist der Vater, und er ist doch nicht Vater. Maria ist eine normale Frau aus Nazareth. Und Jesus – ein normal Pubertierender – bleibt einfach zurück in Jerusalem. Mit großer Sorge suchen die Eltern und finden ihn dann im Tempel sitzend, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhört und sie fragt. Als Vater und Mutter ihm sagen, dass sie ihn mit Schmerzen gesucht hätten, antwortet er ihnen: »Ihr? Mich gesucht? Wisst ihr denn nicht, dass ich im Hause meines Vaters sein muss?« Aber die Eltern verstanden nicht, was er sagte.
In ganz knapper Form: Nähe und Entrückung ins Bild gebracht, denn unmittelbar darauf geht er mit ihnen wieder nach Nazareth und ist ihnen gehorsam. Vorerst. Dann geht er den ihm vorbestimmten Weg – als sich bei seiner Begegnung mit Johannes über dem Jordan der Himmel auftut und eine Stimme hörbar wird: »Du bist mein lieber Sohn« (Markus 1,11).
Jesus zelebriert die Liturgien des Alltags, die Liturgien im Alltag. Und das Erhabene ist nicht das feierlich-steif Zelebrierte, sondern das unmittelbar sinnlich Erlebte: wie aus Dankbarkeit im Teilen des Wenigen in einer aufeinander abgestimmten Gemeinschaft von Menschen der Hunger gestillt wird, der Hunger nach Brot und der Hunger nach Leben! Voller Symbolik, voller geheimnisvoller Sinnbezüge ist das ganz Alltägliche. Es verweist zugleich über den Tag, über den Einzelvorgang hinaus.
Bethlehem – das heißt »Haus des Brotes«. Da wird er geboren, ER, der Brot bricht und teilt und sagt: »Ich bin das Brot des Lebens.« Der Alltag wird geheiligt – aber es geht um mehr als um die platte Oberfläche aller Dinge.
Diese Dialektik von Göttlichkeit und Menschlichkeit setzt sich in der gesamten theologischen, künstlerischen und literarischen Wirkungsgeschichte fort. Der vollkommene |177|Mensch ist der geschändete Mensch. Diese Spannung wird in der Gotik dadurch vor Augen gestellt, dass der ganz und gar Unbefleckte, ästhetisch Vollkommene, weil moralisch Reine, am Kreuz hängt.
Und die vier Symbole der Evangelisten (wie sie Ezechiel in seiner sog. Thronwagenvision gesehen hat) zieren die vier Enden des Kreuzes. Der Vollkommene am Kreuz! Vollkommene Schöpfung Gottes wird der Bösartigkeit des Menschen ausgeliefert, am lebendigen Leibe ans Kreuz genagelt. Er liefert sich aus, mit Demutsgeste wird er abgebildet, jenem angedeuteten S in der Körperform der gotischen Kunst.
Der Gemarterte wird erst wieder sichtbar in aller Drastik und Dramatik im Grünewald’schen Isenheimer Altar. Ecce homo! Der Gemarterte. Der Pestkranke.
Ostern nicht denkbar ohne Karfreitag. Langer Konflikt der Theologien und der Kirche: Die Prunk- und Machtkirche mit vergoldeten Kreuzen und dem entrückten Pantokrator in kostbarstem Mosaik, präsentiert und repräsentiert die Theologia Triumphans und den Triumph der Kirche! Mächtigstes Symbol nach der Hagia Sophia: der Petersdom in Rom. Was hat das noch mit dem armen Jesus aus Nazareth und dem Fischer Petrus zu tun?
Ihr gegenüber steht die Theologia Crucis: der Christus von Karfreitag her, der Christus als leidender Gottesknecht (Jesaja 53), der Gerechte, der sich schinden lässt und sich für andere hingibt. Daraufhin eine Kirche, deren »Schatz« die Armen sind.
Da wird von Karfreitag her auf Ostern hin gedacht – und im Osterereignis immer auch auf Karfreitag verwiesen. Der Auferstandene ist nicht ohne seine Nägelmale denkbar. Sein Machtwort ist sein Wort der Liebe, nicht die erhobene Faust, sondern die ausgebreiteten Arme. Der Protest des Protestantismus beruht letztlich in dieser Reklamation der Menschlichkeit Gottes und seiner Zugewandtheit zu diesem |178|Leben, gipfelnd in seinem Leiden am Karfreitag. Reformation ist der stete Protest gegen eine Kirche, die sich zusammen mit ihren Repräsentanten selbst vergottet und sich zur Heilsmittlerin verklärt, wo doch der Vermittler des Heils allein der Jesus ist, der zum Christus wurde.
Luther fasst diese Dialektik in den Satz: »Wahrer Gott und wahrer Mensch«. Und so der Mensch: Gerechter und Sünder!
Die Ostkirchen und die römisch-katholische Kirche repräsentieren eine eschatologische (jenseitige) Hoffnung, wo in den prächtigen Kirchen ein Vorschein des himmlischen Jerusalem ebenso erlebbar werden soll wie im feierlichen Hochamt mit allem Sinnenschmaus!
In allen Evangelien findet sich schöpferische Anverwandlung von Tradition. Was die Evangelisten aufschreiben, ist historisch schwer belegbar. Sie interpretieren, was sie gehört haben, in seinem Sinne. Mit allem Widersprüchlichen. Lukas als Arzt sieht Jesus als jenen, der sich den Verlorenen zuwendet, diese aufsucht und einlädt: im Gleichnis vom verlorenen Sohn (das eigentlich das »Gleichnis vom liebenden Vater« heißen muss) oder im »Gleichnis vom verlorenen Groschen, vom verlorenen Schaf, vom großen Abendmahl« – jener Einladung an die, die sonst nirgendwo Zugang bekommen: »Geh schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die Armen, Verkrüppelten, Blinden und Lahmen herein. […] Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, dass mein Haus voll werde.« Die sich als die »Würdigen« – die Würdenträger für die Empfänge von lauter Wichtigtuern aller Zeiten – verstehen, erwiesen sich als taub für seine Einladung. (Vergleiche Lukas 14, 21b – 23)
Die Evangelisten haben es vermocht, auf eine unnachahmliche, je eigene Weise das Erhabene und das Alltägliche ineinander |179|zu verweben, das Geschehen zu erklären und zugleich das Geheimnis zu belassen, im historisch Abgeschlossenen das geschichtlich Offene zu zeigen, im Konkreten das zu Abstrahierende zu erahnen und zu entdecken.
Wer nur das Erhabene sieht, verliert Jesu Menschlichkeit und wird sakral. Wer nur das Alltägliche sieht, verliert seine Transzendenz und wird banal. Wer keine Linien zu erkennen vermag, wird verwirrt sein. Aber wer aus dieser Überlieferung ein System machen will, verliert seine Lebenswahrheit – und die ist voller Widersprüche und Brüche, ein Wechselspiel von Verborgenem und Offenbarem, von Zweifel und Gewissheit, von Gericht und Gnade.
Du kommst diesen vier großen Zeugnissen der Weltgeschichte dann nahe, wenn du erspürst, was diese wunderlichen Berichte von dir wollen, wozu sie dich herausfordern, ermutigen und ermuntern. Am ehesten begreifst du es, wenn du es Maria gleich tust, von der es bei Lukas am Schluss der Weihnachtsgeschichte heißt: »Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.« (Lukas 2,19)
Das Wort wurde Mensch. Der Mensch wurde Wort. Das Wort wurde Form, die Form trug den Inhalt. Und alles kann so wahr wie schön wie gut sein. »Gut und schön« ist Gott.
»Friede sei mit euch!« und »Fürchtet euch nicht!« – das sind die Worte, die bei Jesu Geburt ertönen, für die verschreckten Hirten des Nachts. Und das sind die Worte für die verschreckten Jünger nach der Hinrichtung, als er ihnen erscheint und sie begreifen: Der ist nicht totzukriegen. Der lebt. Den hat Gott für uns zum Zeichen gesetzt. Als sie das begreifen, gehen sie los und werden zu Zeugen, in alle Welt, in alle Zeit, mit allen Konsequenzen. Mit einem Nähe- und Beistandsversprechen: »Siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis ans Ende der Welt.«