|120|Klageschreie und Loblieder

Die Psalmen als expressive Poesie

150 Hymnen umfasst die Sammlung, gegliedert in fünf Bücher (so wie die fünf Bücher Mose). »Von David« steht über vielen Psalmen. Dem König wird Dichterisches und ein Sinn für Macht zugeschrieben. Messianische Hoffnung knüpft sich an ihn, an seine Nachkommen und sein Friedensreich. Was Macht aus Menschen macht, lässt sich ebenso an ihm studieren.

Die in hunderten Jahren entstandenen Psalmen sind gesättigt mit Lebenserfahrung – voll individueller und kollektiver Höhen und Tiefen. Verdichtete Sprache, im Kultus angeeignet, führen sie immer wieder in existenzielles Nach- oder Miterleben. Wechsel von Ich-Sprache und Wir-Rede, sich überschlagende Sprache des Lobpreises, des Staunens über die Wunder des Lebens und: de profundis! – aus der Tiefe, aus den Tiefen, den trockenen Zisternen der Seele, aus dem Sumpf der Verzweiflung. Letzte Schreie, übergehend in Bitten, mündend in Vertrauen.

Das Vibrieren der Sprache im Lobpreis. Das Erzittern der Sprache im Elend. Für alles eine Adresse haben. Reden, Anredenkönnen des Unaussprechbaren, des Schöpfers der Welt, des Hirten meines Lebens. Du, schweige doch nicht! Entsinne dich meiner. Lass mich nicht abgleiten, nicht in die Grube fahren. Mein Schutz. Meine Burg. Mein Er-Retter.

Die Anfänge sind An-Rufe voller Expressivität:

  • Herr, hilf, die Heiligen haben abgenommen

  • Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name

  • |121|Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen

  • Der Herr ist mein Hirte

  • Aus der Tiefe rufe ich.

  • Der Herr ist mein Licht und mein Heil

  • Herr, du erforschst mich

  • Ich habe meine Augen auf

  • Herr, du bist unsere Zuflucht für und für

  • Lobe den Herrn, meine Seele.

 

»Gebetbuch der Bibel«, sagt man. Gebet – das ist ein domestiziertes Sammelwort für die Existenzsprache des Glaubens, in aller Expressivität. Hier wird Glaube Fleisch und Blut. Hier fängt das Ringen an. Und das gesammelte Staunen. Da hört das Erörtern auf. Hier beginnt die Relation, die Beziehung. Du. Du. Du. Meine Adresse für alles. Filterlos reden. Alles loswerden. Eine Adresse haben für alles, was im Innersten aufs Äußerste bewegt – auch aller Zorn, Hass, alle Destruktion. Verzweiflungsfantasien. Täuschung. Hoffnung und Zuversicht wiederfindend. Alles bekommt Raum und Sprache. Kathartische Wirkung, keine moralische Einschränkung. Wer Feind ist, wird Feind genannt. Und die Seele wünscht ihn in den Abgrund. Und Gott, der Herr selbst, möge SEINE Sache gegen den Ruhmredigen, den Rachgierigen, den Spötter, den Frevler, den Lästerer richten.

Diese Gebete sind Gedichte, die das Unsagbare und Unbegreifliche ins Bild bringen, dem Geheimnis gleichnishaft Sprache geben. Herauslassen, was in mir steckt an überschäumender Freude und herzzerreißendem Schmerz, an Urvertrauen und an Grundzweifel.

Beten – das ist Singen und Flehen, Jauchzen und Jammern, Flüstern und Schreien, Danken und Protestieren.

Du musst nicht Dostojewski, Nietzsche und Benn, Beckett und Camus, Kafka, Kahlau oder Nelly Sachs lesen. Hier findest du schon alles. Kein Thema, das Menschen im |122|Innersten bewegt, im Äußersten (um)treibt, lässt dieses Buch aus. Selbstsinn und Gotteszweifel. Grundangst und Furcht vor (übermächtigen) Feinden und vor wilden Tieren. Vernichtungsfantasien und Ermordungsängste. Vergeltungsdrang und Vergebungsflehen. Einsam, verlassen und unverstanden sein. Selbstgerechtigkeit und stabiles Feindbild. Hassausbrüche und Liebeserklärungen. Hoffnungslosigkeit und Zukunftsgewissheit. Todesängste und Todessehnsüchte. Umfangen sein und umgarnt sein. Gelassenheit und Geborgenheit. Kindliches Staunen und erwachsene Reflexion. Traumbilder und Wachträume. Stolz und Dankbarkeit. Innerste Zerrissenheit und umfassendes Heilsein. Gerechtigkeits-, Friedens- und Ruhesehnsucht. Urvertrauen und Urängste. Schuldkomplexe und Gnadenglück. Begeisterung über die Sterne, die Töne, die Farben, die Bäume, die Bäche, die Blumen. Und das wunderbare Aufeinander-Abgestimmtsein aller Dinge. Gewissheit, dass es sich lohnt, gut zu sein. Und das Leiden an dem, der frevelt und frech mit seinem Glücke glänzt. Jammergesang und Jubelgeschrei. Der Mensch – gehängt zwischen Himmel und Erde. Gott, gibt es dich, für mich? Neben dem groß geschriebenen WARUM das DOCH und das DENNOCH, in dem du durchhältst, indem du an Gott festhältst und dich von Gott festgehalten weißt:

Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet,

so bist du doch, Gott,

alle Zeit meines Herzens Trost und mein Teil.

 

Gott ist dennoch Trost für alle, die reines Herzens sind, die der Sinnlosigkeit, der Ungerechtigkeit, der Frevelhaftigkeit widerstehen und widersprechen und in allem und nach allem sagen: Gott ist so gut zu mir. Im Lande bleiben. Redlich sein. Offen. Nicht da sitzen, wo die Spötter sitzen. Lust daran haben, zu erkennen und zu tun, was recht ist. Gewiss |123|sein, dass ich dann bin wie »ein Baum, an den Wasserbächen gepflanzt«. Nicht verwelken, sondern Frucht tragen, verwurzelt sein, grün sein, schön sein, stark bleiben.

Alles ist Fügung, alles ist gut gefügt, und alles kann aus den Fugen geraten.

Und dennoch:

Er wird dich mit seinen Fittichen decken,

und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln.

Seine Wahrheit ist Schirm und Schild,

dass du nicht erschrecken musst vor dem Grauen

der Nacht,

[…]

Denn er hat seinen Engeln befohlen,

dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen,

dass sie dich auf den Händen tragen

und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.

(Psalm 91, 4.5–11.12)

 

Die Psalmen liegen vor uns wie ein aufgeblättertes Buch der menschlichen Seele – die himmelwärts erhoben und abgrundtief erschüttert wird, bisweilen mit einer ungeschützten und moralisch nirgends gefilterten Wucht der Empfindung, der Sehnsucht, der Trauer, des Hasses, des Jubels. Sie reflektieren Urerfahrungen, die ins Unterbewusste dringen. Man muss nicht die historische Einzelheit verstehen, man wird im Innersten auf- und angerührt. Diese Texte helfen, Erfahrungen zu verarbeiten. Darin finde ich mich ausgedrückt. (Wird das Kathartische noch erlebbar, wo die Psalmen »christlich gereinigt« werden – also alle Feindverwünschungen getilgt, umgedeutet werden?)

Glauben heißt, sich dem Antlitz Gottes anzuvertrauen in einer Welt von Gewalt, Lüge, Heuchelei, Feindschaft, Gotteslästerung, Selbstüberhebung, Betrug. Gott möge zurechtbringen, was die Übeltäter durcheinanderbringen.

|124|Wer darf Gott nahe sein? Wer Unrecht meidet. (Vergleiche Psalm 15)

 

HERR, höre die gerechte Sache,

merk auf mein Schreien,

vernimm mein Gebet,

von Lippen, die nicht trügen.

Sprich du in meiner Sache;

deine Augen sehen, was recht ist.

(Psalm 17,1.2)

Im Treiben der Menschen bewahre ich mich

vor gewaltsamen Wegen

durch das Wort deiner Lippen.

(Psalm 17,4)

Errette mich […]

vor den Leuten dieser Welt,

die ihr Teil haben schon im Leben […]

Ich aber will schauen dein Antlitz in Gerechtigkeit,

ich will satt werden, wenn ich erwache, an deinem

Bilde.

(Psalm 17,13 b–14 a,15)

 

Diese Gebete sind selber große Literatur und haben das Denken des christlich-jüdischen Umkreises inzwischen 2000 Jahre geprägt. Ihre Entstehung reicht bis in die Zeit vor 3000 Jahren. Andererseits haben die Psalmen Literatur inspiriert, immer wieder und immer neu. Kein poetischer Text der abendländischen Kultur ist so oft übersetzt worden wie die Psalmen.

Wer weiß noch, was Psalm 8, Psalm 23, Psalm 39, Psalm 73, Psalm 85, Psalm 90, Psalm 103, Psalm 104, Psalm 121, Psalm 130, Psalm 139 evoziert?

Wenn du nur 10 Psalmanfänge in dir trägst, kannst du alles sagen, was wichtig ist – arm, wer das nicht mehr weiß.

|125|Die Gebetssprache der Kirche, eine Liturgie, die bereinigt ist von aller Expressivität und Bildhaftigkeit, reduziert sich auf dogmatisch-saubere Hymnologie und summarische Fürbitten. Das Expressive schwindet in dem Maße, wie das Poetische eliminiert wird. Bisweilen mit dem Grund (oder Vorwand) besserer Verständlichkeit. Glaube ohne Poesie ist überhaupt nicht denkbar, weil Poesie das Geheimnis des Lebens selbst zur Sprache bringt. Dogmatik ist zu keiner Poesie fähig. (Dorothee Sölle spricht deshalb von der Theologie als Theopoesie.) Fast alle Psalmen geben eine Seelenbewegung sprachlich wieder. Das Loslösende im Aussprechen wird für den erfahrbar, der die Zeilen in sein Innerstes lässt und darin das Äußerste – zur Sprache gebracht – nachempfindet. Aus Tiefen ist es gekommen, in Tiefen will es reichen und den Beter wieder hoch-bringen.

150 Gebetslieder aus verschiedenen Sammlungen. Eine Ordnung lässt sich nach ganz unterschiedlichen Kriterien finden, ohne dass man einer den Vorzug geben könnte. Es lassen sich ursprüngliche Sammlungen herausfinden, wie David-Psalmen (3–41), elohistische Psalmen, die für Gott den Namen Elohim verwenden (42–83), Lobpsalmen (103 bis 118), Königspsalmen, Wallfahrtspsalmen.

Oder man teilt ein nach Lob- und Klagepsalmen des Einzelnen oder der Gemeinschaft, nach erzählenden und lehrhaft-bekenntnisartigen oder liturgischen Psalmen, nach Vertrauensliedern und Verzweiflungsschreien, Schöpfungs- und Segenspsalmen, Weisheitspsalmen und »Gott ist König«-Preisungen, Zions- und Wallfahrtslieder, Lieder aus liturgischen Sängerfamilien, wie Korah, Asaph und »von David«.

Das Ich des Beters kann durchaus auch ein gemeinschaftliches werden, wie das Wir von einem Einzelnen erfahren wird.

Durchgehend vermitteln die Psalmen eine Erfahrung: Was |126|»vor Gott« ausgesprochen wird, wird leichter, bis Klage in Lob, Aussichtslosigkeit in Zuversicht, Tränen in Freude, Unbegreiflichkeit in Dankbarkeit, Erregtheit in Gelassenheit, Verfolgungs- und Bedrohungsgefahr in Sicherheits- und Schutzgefühle überwechseln.

Bei vielen Psalmen lässt sich ein Entstehungsanlass rekonstruieren; entscheidend aber bleibt die existenzielle Übertragbarkeit für den Stoßseufzer des Einzelnen: »Ich wäre fast gestrauchelt mit meinen Füßen.« (Psalm 73,2) Und der Jammer des Volkes: »An den Wassern von Babylon saßen wir und weinten.« (Psalm 137) Ganz nahe beieinander liegen Betrübnis und Gewissheit, etwa in Psalm 42/43: »Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.« In allem scheint eines durch: das Vertrauen, dass alles in Ordnung kommt, dass alles dennoch seine gute Ordnung hat, dass der ferne Gott sich umwendet und wieder nahe ist und hilft, dass der Feind unterliegt und der Redliche obsiegt.

 

Beginnen wir mit Psalm 8:

HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name

in allen Landen,

der du zeigst deine Hoheit am Himmel!

Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge

hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen,

dass du vertilgest den Feind und den Rachgierigen.

Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk,

den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:

was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst

und des Menschen Kind, dass du dich seiner

annimmst?

Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott,

mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.

|127|Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände

Werk,

alles hast du unter seine Füße getan:

Schafe und Rinder allzumal,

dazu auch die wilden Tiere,

die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer

und alles, was die Meere durchzieht.

HERR, unser Herrscher,

wie herrlich ist dein Name in allen Landen!

 

Staunen und Verwunderung über die Weite des Firmamentes, über die Winzigkeit und gleichzeitig über die Größe des Menschen. Glanz und Elend seiner Existenz! Am Anfang und am Schluss der Ausruf: »Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen.«

Wer einmal unter dem Firmament stand – am besten fernab aller Zivilisation –, den Himmel gesehen hat, das Staunen über die Lichter der Nacht, diese wunderbare und erschreckende Unendlichkeit: Da stehst du kleiner Mensch und fragst, wieso interessiert sich Gott angesichts des Universums für die Staubkörnchen am Rande? »Wenig niedriger gemacht als ein Gott« erlebt er sich, wird Concreator in der Welt. Er ist Geschöpf, und er ist Mitschöpfer. Er, der Vergänglichkeit unterworfen, ist doch Herr über andere Schöpfung. Alles ist ihm anvertraut. Er ist Haushalter und Sachwalter der Dinge in der Welt, der Tiere auf der Erde, in der Luft, im Wasser. Von daher kommt das Bild von der »Krone der Schöpfung«, das Missverständnis seines Herrschens als Willkürakt. Es folgte und folgt jegliche Vernichtung. Es geht aber um Haushalterschaft, um Mitgeschöpflichkeit eines Mitschöpfers!

Das Wichtigste: Die Gestirne werden entgöttert. Sie sind geschaffen wie alles Geschaffene. Der Mensch ist ihnen nicht unterworfen. Er kann nur staunen, dass Gott ihn adelt, ihn zu seinem Partner macht. Die Hybris wohnt nicht weit |128|weg. Er überhebt sich an seiner Macht, wird überheblich und verhebt sich, mit Folgen für das ganze Schöpfungsgefüge, den Oikos.

Wie nah und wie fern ist das Pathos dieses Psalms dem Pathos des Sophokles: »Vieles Gewaltige lebt, aber nichts ist gewaltiger als der Mensch!«

Und wie anders das Sturm-und-Drang-Gedicht, das zur ideologischen Schleuder gegen jeglichen Glauben, das Christentum zumal, gebraucht wurde: das goethische Prometheus-Gedicht. Der sich vergottende Mensch, der seine Zauberlehrlingsexistenz verleugnet. (Ganz anders als Goethe, der nicht zufällig diese beiden Gedichte nacheinander drucken ließ.) Herr sein heißt eben nicht (willkürlich) herrschen, sondern Verantwortung tragen für das, was einem anvertraut ist, worüber man Macht hat. Tiefe Ambivalenz. Die Macht muss sich Grenzen setzen. Um des Lebens willen. Klugheit, Weisheit, Besonnenheit. – Maßhalten eben.

Schließlich noch einen Satz zur poetischen Leistung Martin Luthers. Psalm 8 ist ein Beispiel gelungenster Lautmalerei, die den Inhalt unterstützt. »Herr, unser Herrscher, wie herrlich« und fährt fort »dein Name in allen Landen«. Welche Erhabenheit nach dem dreimaligen Herr, herrlich, Herrscher. Markerschütternd, wie J. S. Bach seine Johannes-Passion mit Psalm 8 anheben lässt. Da gibt es doch tatsächlich Religionsdiener, die um der Verständlichkeit willen »in allen Ländern« lesen. (Wenn Protestanten das Sprachgefühl abgeht, sollten sie besser wieder katholisch werden; da gibt es wenigstens Gewänder, Gerüche und eine über jeden Zweifel erhabene Institution Kirche von Rom.)

Gott zur Sprache zu bringen heißt, das Geheimnis der Welt auf eine wundervolle Weise zur Sprache zu bringen, bis in unseren Worten Gott selbst spricht:

Ein Tag sagt’s dem andern,

und eine Nacht tut’s kund der andern,

|129|ohne Sprache und ohne Worte;

unhörbar ist ihre Stimme.

Ihr Schall geht aus in alle Lande

und ihr Reden bis an die Enden der Welt.

(Psalm 19,3–5)

Das Beten wird zum »Gespräch meines Herzens vor DIR« (Psalm 19,15).

Dieses Gespräch des Herzens ist von einem so unerschütterlichen wie schmerzhaft erschütterbaren Grundvertrauen geprägt. Dies geht von folgenden Voraussetzungen aus: 

  • dass Gott selbst zur Sache des gerechten und lauteren Gottesfürchtigen steht, ihn bewahrt, errettet, erhebt, empfängt,

  • dass die Frevler zur Rechenschaft gezogen werden im Gericht und schon spüren werden, was sie davon haben; es gibt einen Tun- und Ergehens-Zusammenhang,

  • dass Gott hört, zuhört, dass er sich bewegen lässt und selber bewegt ist,

  • dass es Vergebung gibt, und weil es Vergebung gibt, gibt es auch glaubwürdigen Neuanfang: »Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.«

»So fern der Morgen ist vom Abend, so lässt er unsere Übertretungen von uns sein. So hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten.« (Psalm 103, 11–12)

Und zugleich jenes schroffe, schier unüberbrückbare Nebeneinander von Psalm 22 und 23.

Psalm 22,1:

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.

Und Psalm 23,1:

Der Herr ist mein Hirte,

mir wird nichts mangeln.

|130|Kaum ein Text der christlich-abendländischen Geschichte ist so voller Trost und erreicht in seinem Bildreichtum so das Unterbewusste. Die Verse dieses Psalms haben ihre Tragfähigkeit in Jahrhunderten erwiesen. Auch wenn man keine existenzielle Erfahrung mit dem Hirtendasein hat, so gibt es doch eine Ursehnsucht und eine Urerfahrung von Behütung. Der Hirte ist der Behüter des Lebensweges. (Auch die Frage an Kain nach seinem toten Bruder Abel, der ein Hirte war, heißt eigentlich: Soll ich meines Bruders Hirte/Hüter sein?)

Gott selbst wird als der bezeichnet, der durch die Höhen und Tiefen des Lebens, durch die Genuss- und die Durststrecken, durch Licht und Finsternis, durch Angst und Glück hindurchführt. Der Psalm verdichtet dies in poetischen Bildern hoher Faszinationskraft. Dieser Psalm verschweigt (sich) nichts. Es geht um das Geführtsein auch durch die Finsternis, nicht um die Bewahrung vor der Finsternis, sondern die Bewahrung in ihr. Der »Stab« und der »Stecken« deuten das Beschützen und das Zurückdrängen, den Angriff und die Abwehr an. Tisch, Öl und Wein: ein Festmahl. Und der Feind schaut von ferne zu. Nicht der Verfolger ist ihm auf dem Fuße, sondern Gutes und Barmherzigkeit folgen mir und gehen mir voran. Und ich bleibe in Gott zu Hause. Immerdar. Keine Interpretation vermag einzufangen, was den Zauber dieser Zeilen ausmacht. Alles, was wir heute leib-seelische Einheit nennen – die Urängste und die konkrete Furcht, den Hunger der Seele und den Hunger des Geistes, Orientierung und Orientierungslosigkeit, Tröstung und Trostlosigkeit – sind in sechs Versen eingefangen. Die Seele wird so erquickt, wie der Körper erquickt wird vom frischen Wasser. Der Lebensweg ist eine Straße mit einem Ziel, keine Sackgasse. Mitten in der Finsternis ist nicht die Angst der Begleiter, sondern die Zuversicht. Und dem Vergehenden wird nicht versprochen, dass |131|er nicht vergehen würde, sondern dass »der Bleibende« bei ihm bleibt. Und: Es ist der Einzelne und die Einzelne, nicht die Herde, das Kollektiv, die Volks-Gemeinschaft, »die Kirche«; Glaube bewährt sich am Einzelnen und im Einzelnen. Im Letzten kann uns niemand etwas abnehmen. Auf dein eigenes Zeugnis kommt es an.

So wie der Psalm 23 Bilder findet für Vertrauen und Zuversicht, so findet der Psalm 22 Bilder letzter Angst und Verlorenheit. Abgründe klaffen auf.

 

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.

Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht,

und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.

[…]

Unsere Väter hofften auf dich;

und da sie hofften, halfst du ihnen heraus.

Zu dir schrien sie und wurden errettet,

sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden.

Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch,

ein Spott der Leute und verachtet vom Volke.

Alle, die mich sehen, verspotten mich,

        sperren das Maul auf und schütteln den Kopf:

»Er klage es dem HERRN, der helfe ihm heraus

und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.«

(Psalm 22,2–9)

 

Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an,

du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an.

Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe;

denn es ist hier kein Helfer.

(Psalm 22,11.12)

Gewaltige Stiere haben mich umgeben,

mächtige Büffel haben mich umringt.

|132|Ihren Rachen sperren sie gegen mich auf

wie ein brüllender und reißender Löwe.

Ich bin ausgeschüttet wie Wasser,

alle meine Knochen haben sich voneinander gelöst;

mein Herz ist in meinem Leibe

wie zerschmolzenes Wachs.

Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe,

und meine Zunge klebt mir am Gaumen,

und du legst mich in des Todes Staub.

Denn Hunde haben mich umgeben,

und der Bösen Rotte hat mich umringt;

sie haben meine Hände und Füße durchgraben.

Ich kann alle meine Knochen zählen;

sie aber schauen zu und sehen auf mich herab.

Sie teilen meine Kleider unter sich

und werfen das Los um mein Gewand.

Aber du, HERR, sei nicht ferne;

meine Stärke, eile, mir zu helfen!

Errette meine Seele vom Schwert,

mein Leben von den Hunden!

Hilf mir aus dem Rachen des Löwen

und vor den Hörnern wilder Stiere –

du hast mich erhört!

(Psalm 22,13–22)

 

Wie ließe sich das Elend an Leib und Seele zutreffender und treffender beschreiben als in diesen Bildern? »Das Leid ist der Stachel des Atheismus«, schrieb Georg Büchner. Und dann kommt es zur Wende; weil der Mensch dies alles aussprechen kann, weil er eine Adresse hat, erlebt er den unerwarteten inneren Durchbruch: Du hast mich erhört. Durch Leiden hindurch, aus dem Leiden heraus findet der Beter dadurch, dass er IHM und sich, sich und IHM nichts verschweigt.

|133|Motive dieses Psalms wurden in den Kreuzigungsberichten aufgegriffen. Das »Eli, Eli lama asabtani?«, die durchbohrten Hände und Füße am Kreuz, das Würfeln um das Gewand. Dass der Himmel leer ist und Leid, Sinnlosigkeit und Verzweifelung ohne Adresse sind, bringt der Dichter Dámaso Alonso so ins Bild:

Mensch,

trübsinniger Schrei,

o einsamer und trister

Schwätzer: Sagst du etwas? Hast du etwas

zu sagen? den Menschen oder den Himmeln?

Und ist nicht diese Bitternis

deines Schreis der lastende Alpdruck

des ewigen Monologs, des antwortlosen?

 

Alonso endet trost-los. Warum? Weil er keinen Dialogpartner findet. Also bleibt er antwortlos.

 

Ernst Eggimann hingegen sucht eine Richtung:

weil ich dich loben muss

wen loben muss

loben mit welchen worten

wende ich mein gesicht in irgendeiner richtung

 

wo die autobahn hervorschießt mir entgegen

mekka

wo der ameisenhaufen im benachbarten walde

sonnenaufgang

wo die atombomben gestapelt

golgatha

wo der irre über dich briefe versendet

ganges

|134|wo die kinderschuhe das frauenhaar und die judenasche

jerusalem

wo immer du bist wende ich mein gesicht hin

weil ich dich loben muss wen loben

 

weil du mir fehlst

überall fehlst bist du überall

und ich rufe laut deinen namen weiter

als das endliche sich ständig ausdehnende gekrümmte all2

Die von starken Bildern überquellenden Psalmen lassen sich verstehen, ohne dass man die historischen Einzelheiten kennt. Aber wenn man um die Einzelheiten weiß, erschließt sich noch mehr. Ein Beispiel: Ohne je in Babylon gefangen gewesen zu sein, kann die Seele nachvollziehen, worum es geht. Der Zauber der Worte kann auf eine erlösende Weise einen Menschen ergreifen. 2000 Kilometer von Jerusalem entfernt, 40 Jahre lang ghettoisiert lebt die Oberschicht Jerusalems – während Jerusalem zerstört, entweiht ist: eine Trümmerwüste der Hoffnungslosigkeit. Die Babylonier zwingen die Exilierten zu singen, während sie weinen.

Denn die uns gefangen hielten,

hießen uns dort singen

und in unserm Heulen fröhlich sein:

»Singt uns ein Lied von Zion!«

(Psalm 137,3)

Welch letzte Schmach, welch letzter Hohn.

(Ihre Musik hören sie gern, diese verrohten KZ-Wächter, diese jiddischen Lieder, diese traurige Poesie, diesen hintergründigen Humor, diese unverwechselbare Innigkeit mit betörender Lebensfreude.)

40 Jahre Verbannung – und ein neuer Herrscher kommt. Und die Gefangenen sollten freikommen. Es ist nicht zu |135|glauben, man kann es nicht glauben, nach 40 Jahren »spes contra spem«.

Und so finden sich in Psalm 126 die Zeilen:

Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird,

so werden wir sein wie die Träumenden.

Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein.

Dann wird man sagen unter den Heiden:

Der HERR hat Großes an ihnen getan!

Wenn das Wunderbare geschehen wird, dann wird das Lachen von innen und außen kommen, und die anderen – gerade die Unterdrücker – werden sagen, dass Gott sie erlöst hat.

Nun setzt der Psalm auf eine andere, zweite Zeitebene und beschreibt den Vorgang als einen im Moment geschehenen.

Der HERR hat Großes an uns getan;

des sind wir fröhlich.

(Psalm 126,3)

Also, das Große ist geschehen, sie sehen es als SEINE Führung und Fügung an und sind einfach fröhlich. Vergessen sind alle Tränen, alle Erniedrigung, alle Beleidigung, alle Sehnsucht, alle Verzweiflung.

Dann kommt in Vers 4 eine ganz andere Perspektive hinzu. Nun wird der Psalm plötzlich aus der Perspektive der Zurückgebliebenen in Jerusalem gesungen, die darauf warten, dass die anderen Jerusalemer aus Babel zurückkehren und sie gemeinsam Jerusalem – die hoch gelobte Stadt – wieder aufbauen.

HERR, bringe zurück unsre Gefangenen,

wie du die Bäche wiederbringst im Südland.

(Psalm 126,4)

 

So unglaublich es immer wieder ist, dass das völlig ausgedörrte Flussbett wieder voll strömenden, reißenden, lebensspendenden Wassers ist, so unwahrscheinlich ist es, dass die |136|Gefangenen nach 40 Jahren doch noch zurückkehren. Es ist wie das Frühlingserwachen: Plötzlich, nach der langen Dürre, der tristen Verödung, nach einer Zeit sengendster Hitze, des Verdorrens jedes Halmes. »Mittagsland« heißt es: Zenit der Sonne, Südland, Wüstenland.

In den Versen 5 und 6 wird der Wechsel von Freude und Leid beschrieben, anknüpfend an die Erfahrung beim Säen und beim Ernten.

Die mit Tränen säen,

werden mit Freuden ernten.

Sie gehen hin und weinen

und streuen ihren Samen

und kommen mit Freuden

und bringen ihre Garben.

(Psalm 126,5.6)

Mit Tränen des Hungers geben sie ihr letztes Brotgetreide und lassen es zu Saatgetreide werden, darauf wartend, dass aus dem Saatgetreide wieder Brotgetreide werde und der Hunger ein Ende habe. Mit Tränen wird gesät und mit Freuden wird geerntet. Unter Tränen wird der Same ausgestreut. Man kommt im innersten Jammer vom Felde und kommt mit größtem Glück wieder zurück. Dazwischen liegen Monate der Geduld und Entbehrung.

Ein Naturbild wird mit einem Geschichtsereignis verglichen. Gleichzeitig sind es Ereignisse, die sich im Innersten des Menschen abspielen. Ein Psalm der allerhöchsten Poesie, der ein Mensch fähig ist. Und die Verse sind doch ganz geerdet.

Die Erlösung aus der Gefangenschaft wird zum Ur-Symbol, genauso wie die Hoffnung auf diese Erlösung und der lange Weg durch die Wüste, ehe es das Land gibt, in dem das Volk wieder sein Zuhause findet.

Wer hört da nicht die Vertonung der Psalmverse in Johannes Brahms’ »Deutschem Requiem« mit?

Psalm 85 knüpft an die vollzogene Befreiung aus Babel an:

|137|HERR, der du bist vormals gnädig gewesen deinem

Lande

und hast erlöst die Gefangenen Jakobs;

der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk

und alle seine Sünde bedeckt hast.

Der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen

und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:

hilf uns, Gott, unser Heiland,

und lass ab von deiner Ungnade über uns!

Willst du denn ewiglich über uns zürnen

und deinen Zorn walten lassen für und für?

Willst du uns denn nicht wieder erquicken,

dass dein Volk sich über dich freuen kann?

HERR, erweise uns deine Gnade

und gib uns dein Heil!

Könnte ich doch hören,

was Gott der HERR redet,

dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen,

damit sie nicht in Torheit geraten.

Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,

dass in unserm Lande Ehre wohne;

dass Güte und Treue einander begegnen,

Gerechtigkeit und Friede sich küssen;

dass Treue auf der Erde wachse

und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;

dass uns auch der HERR Gutes tue;

und unser Land seine Frucht gebe;

dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe

und seinen Schritten folge.

Du, sei doch uns wieder gnädig und zürne nicht über uns. Und lass uns Lebensfreude wiederfinden.

Und dann beklagt der Beter »Hörunfähigkeit« des Einzelnen und des Volkes, das immer wieder in Torheit gerät. Sodann mündet die Bitte in Zuversicht:

|138|Güte und Barmherzigkeit. Treue und Redlichkeit. Gerechtigkeit und Recht. Friede und Brot. Alles gehört zusammen! Dass das Land nicht nur seine Frucht gibt, sondern dass die Frucht auch in Gerechtigkeit geteilt werde, damit Frieden sei. Eine ganze Gesellschaftstheorie in Form eines poetischen Gebets. Kein Friede ohne Gerechtigkeit. Und keine Gerechtigkeit ohne Frieden.

Wie die ganze Schöpfung durch ihr Dasein den Schöpfer lobt – die Engel, die Gestirne, das Wetter, die Fische und Würmer, die Könige und die Jungfrauen –, erzählt Psalm 148!

Lobet im Himmel den HERRN,

lobet ihn in der Höhe!

Lobet ihn, alle seine Engel,

lobet ihn, all sein Heer!

Lobet ihn, Sonne und Mond,

lobet ihn, alle leuchtenden Sterne!

Lobet ihn, ihr Himmel aller Himmel

und ihr Wasser über dem Himmel!

Die sollen loben den Namen des HERRN;

denn er gebot, da wurden sie geschaffen.

Er lässt sie bestehen für immer und ewig;

er gab eine Ordnung, die dürfen sie nicht

überschreiten.

Lobet den HERRN auf Erden,

ihr großen Fische und alle Tiefen des Meeres,

Feuer, Hagel, Schnee und Nebel,

Sturmwinde, die sein Wort ausrichten,

ihr Berge und alle Hügel,

fruchttragende Bäume und alle Zedern,

ihr Tiere und alles Vieh,

Gewürm und Vögel,

ihr Könige auf Erden und alle Völker,

Fürsten und alle Richter auf Erden,

|139|Jünglinge und Jungfrauen,

Alte mit den Jungen!

Die sollen loben den Namen des HERRN;

denn sein Name allein ist hoch,

seine Herrlichkeit reicht, so weit Himmel und Erde ist.

Er erhöht die Macht seines Volkes.

Alle seine Heiligen sollen loben,

die Kinder Israel, das Volk, das ihm dient.

(Psalm 148)

In einer selbstverständlichen Weise freut sich die belebte und die unbelebte Natur, sodass Jesaja schreibt: »und alle Bäume auf dem Felde sollen in die Hände klatschen« (Jesaja 55,12). Oder es heißt: »Der Himmel freue sich, und die Erde sei fröhlich.« (Psalm 96,11)

Bert Brecht schreibt als ein Nachgeborener – nach Verdun.

Der Nachgeborene

Ich gestehe es: ich

Habe keine Hoffnung.

Die Blinden reden von einem Ausweg. Ich

Sehe.

Wenn die Irrtümer verbraucht sind

Sitzt als letzter Gesellschafter

Uns das Nichts gegenüber.

Kann man nach allem, was im 20. Jahrhundert geschehen ist, noch so unbefangen fröhlich und hoffnungsvoll das Leben preisen? Entsprechend formuliert er in seinem großen Dankchoral – genüsslich! – eine Negation, abgedruckt in der »Hauspostille«. Brecht hatte schon sehr früh bekannt, dass er gelernt habe »bei Luther in der Lyrik und Pamphlet«.

Den großen Psalm 148 nimmt Brecht in all seinen Elementen negativ auf, bleibt deutlich an seine Vorlage gebunden.

|140|Großer Dankchoral

 

Lobet die Nacht und die Finsternis, die euch umfangen!

Kommet zuhauf

Schaut in den Himmel hinauf:

Schon ist der Tag euch vergangen.

 

Lobet das Gras und die Tiere;

die neben euch leben und

sterben!

Sehet, wie ihr

Lebet das Gras und das Tier

Und es muss auch mit euch sterben.

 

Lobet den Baum, der aus Aas aufwächst jauchzend zum

Himmel!

Lobet das Aas

Lobet den Baum, der es fraß

Aber auch lobet den Himmel.

 

Lobet von Herzen das schlechte Gedächtnis des Himmels!

Und dass er nicht

Weiß euren Nam’ noch Gesicht

Niemand weiß, dass ihr noch da seid.

 

Lobet die Kälte, die Finsternis und das Verderben!

Schauet hinan:

Es kommet nicht auf euch an

Und ihr könnt unbesorgt sterben.

Schließlich sei der Psalm 1 mit zwei literarischen Adaptionen bedacht. Da wird der rechtschaffene Mensch, der sich darum sorgt, die Ordnungen der Welt und die Anordnungen Gottes in der Ordnung dieser Welt zu erkennen, ihnen nachzusinnen, |141|Tag und Nacht, also auf der Suche nach dem »richtigen Weg«, zu bleiben, mit einem Baum verglichen, der an einer Wasserquelle steht und nicht verdorrt, während die anderen, die Spötter und Frevler, vertrocknen und verworfen werden.

Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen

noch tritt auf den Weg der Sünder

noch sitzt, wo die Spötter sitzen,

sondern hat Lust am Gesetz des HERRN

und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht!

Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen,

der seine Frucht bringt zu seiner Zeit,

und seine Blätter verwelken nicht.

Und was er macht, das gerät wohl.

Aber so sind die Gottlosen nicht,

sondern wie Spreu, die der Wind verstreut.

Darum bestehen die Gottlosen nicht im Gericht

noch die Sünder in der Gemeinde der

Gerechten.

Denn der HERR kennt den Weg der Gerechten,

aber der Gottlosen Weg vergeht.

 

Als sich in meiner kleinen Heimatstadt Werben an der Elbe Leute um einen Brunnen stritten und sich an Luther als Schlichter wandten, schenkte er ihnen eine Bibel, einen wunderschönen alten Folianten, und schrieb eine Widmung hinein (1545): »Ein hart merklich Wort ist das, dass außer Gottes Wort alle Menschenlehre sogar verdammt sind, dass sie heißen der Gottlosen Rat, der Sünder Weg, der Spötter Sitz und Gott nichts von ihnen wissen will. Auch wir sind Spreuen, die der Wind verweht. So doch Rat, Weg, Sitz, schöne herrliche Namen sind und gleißen zur Verführung der Welt. ›Vergeblich dienen sie mir mit Menschengeboten, ihr Herz ist ferne von mir.‹« Ein hart merklich Wort für Leute, die um einen Wasserbrunnen streiten!

|142|Immer wieder hat man versucht, diesen Psalm zu übertragen, und kehrt doch immer wieder zurück zur ursprünglichen Poesie des Textes, mit all seiner Sperrigkeit. Ernesto Cardenals Übertragung ist geradezu bestürzend aktuell.

Selig der Mensch, der den Parolen der Partei nicht folgt

und an ihren Versammlungen nicht teilnimmt,

der nicht mit Gangstern an einem Tisch sitzt

noch mit Generälen im Kriegsgericht.

Selig der Mensch, der seinem Bruder nicht nachspioniert

und seinen Schulkameraden nicht denunziert.

Selig der Mensch, der nicht liest, was die Börse berichtet,

und nicht zuhört, was der Werbefunk sagt,

der ihren Schlagworten misstraut.

Er wird sein wie ein Baum, gepflanzt an einer Quelle.

Arnold Stadler, ein Büchnerpreisträger, hat im Inselverlag eine Psalmübertragung herausgebracht und sie bereits in sechster Auflage verkauft. Sie trägt den Titel: »Die Menschen lügen. Alle.«

Wunderbar der Mann,

der nicht aufs Volk hört,

den Leuten nicht nach dem Maul redet

und am Stammtisch bei denen herumsitzt,

die immer alles besser wissen.

Das ist ein Mann, der nichts als Freude hat

am Herrn, der ihm den Weg weist,

Tag und Nacht.

 

Er wird ein Baum sein,

direkt am Wasser.

Er wird zur rechten Zeit seine Früchte

tragen.

|143|Seine Blätter werden nicht welken.

Wo er steht, steht’s gut um ihn.

 

Dagegen die Vergeblichen:

Sie sind nichts als Spreu,

vom Wind verweht.

Daher werden die Abwegigen nicht stehen

in der Reihe der Aufrechten, beim Gerichtstermin,

von wegen jene, die ganz abgekommen sind,

wenn Richttag ist.

Denn den Weg der Aufrechten richtet

und weist der Herr,

der Weg der Verirrten hingegen

führt von selbst zum Abgrund.3

Stadler hat Umschreibungen für die sperrigen Worte »Gottlose« und »Sünder« gefunden. Er nennt sie die Vergeblichen, die Abwegigen, die Verirrten. Seine Übertragung kommt dem Geist des Psalms sehr nahe und hat nicht den anbiedernden Ton, den viele Gebrauchslyrik im protestantischen Raum der letzten 30 Jahre anwehte.

»Nachtherbergen für die Wegwunden« nannte Nelly Sachs die Psalmen. Es lohnt sich, die Herbergen aufzusuchen, auch heute.

 

Epilog nach dem 11. September 2001

Die Psalmen sind voll von archaischem Denken. Als ich im Sommer 2001 den ganzen Psalter gelesen hatte, war ich einerseits erschüttert und erschlagen von der Expressivität und der poetischen Kraft dieses Buches. Er spielt all das durch, was die Seele eines Menschen durchmacht, der seine Seele nicht getötet hat. Und zugleich durchweht diese Psalmen ein Schema von Gerechten und Ungerechten, Frommen und Sündern, Friedlichen und Lügnern, Gottlosen und |144|Gerechten. Der Rachewunsch gegenüber den Feinden tritt unverblümt, unvermittelt und unzensiert hervor, meistens so, dass die eigenen Feinde die Feinde Gottes sind und Gott sie möglichst vernichten möge, sodass dann die eigenen Vernichtungswünsche, mit höchster Autorität versehen, auch selber im Namen Gottes ausgeführt werden können. Ein archaisches Denken, über das inzwischen – nach etwa 3000 Jahren – ein bisschen zivilisatorisch-christlicher Firnis gezogen ist. Nicht mehr.

Nach dem 11. September 2001 wird deutlich, wie stark dieses Gut-Böse-Schema die Welt durch eine fanatische Terrortat wieder auf dieses Schema gebracht hat, dem auch der mächtigste Mann der Welt mit seinem texanischen Welthorizont und seiner bigotten Frömmigkeit frönt. »Ausräuchern« will er die Feinde, einen »Kreuzzug« führen, die gerechte Sache zu Ende führen. Schließlich geht es gegen die »Achse des Bösen«.

Einen beträchtlichen Teil der Psalmen kann der texanische Jäger auf seine Mühlen schütten:

 

Du bringst die Lügner um;

dem HERRN sind ein Greuel die Blutgierigen und

Falschen.

(Psalm 5,7)

 

Es sollen alle meine Feinde zuschanden werden und sehr

erschrecken;

sie sollen umkehren und zuschanden werden plötzlich.

(Psalm 6,11)

 

Doch sich selber hat er tödliche Waffen gerüstet

und feurige Pfeile bereitet.

Siehe, er hat Böses im Sinn,

mit Unrecht ist er schwanger und wird Lüge gebären.

|145|Er hat eine Grube gegraben und ausgehöhlt –

und ist in die Grube gefallen, die er gemacht hat.

Sein Unrecht wird auf seinen Kopf kommen

und sein Frevel auf seinen Scheitel fallen.

(Psalm 7,14ff.)

Wer denkt da nicht unmittelbar an Kandahar und Osama Bin Laden?

 

HERR, führe meine Sache wider meine Widersacher,

bekämpfe, die mich bekämpfen!

Unversehens soll ihn Unheil überfallen;

sein Netz, das er gestellt hat, fange ihn selber,

zum eigenen Unheil stürze er hinein.

(Psalm 35,1.8)

Sein Mund ist voll Fluchens, voll Lug und Trug;

seine Zunge richtet Mühsal und Unheil an.

Er sitzt und lauert in den Höfen […]

Er lauert im Verborgenen wie ein Löwe im Dickicht.

(Psalm 10,7.9)

Ich will meinen Feinden nachjagen und sie ergreifen

und nicht umkehren, bis ich sie umgebracht habe.

Ich will sie zerschmettern, dass sie nicht mehr aufstehen

können;

sie müssen unter meine Füße fallen.

[…]

Du treibst meine Feinde in die Flucht,

dass ich vernichte, die mich hassen.

[…]

Ich will sie zerstoßen zu Staub vor dem Winde,

ich werfe sie weg wie Unrat auf die Gassen.

(Vergleiche Psalm 18,38–43)

 

Hinter solchen Wünschen verbirgt sich das Gefühl eigener Schwäche, das Erlebnis, auf der Seite der Unterlegenen zu |146|sein – und die Sehnsucht nach dem Eingreifen Gottes auf der Seite dessen, der glaubt, dass ER der Herr ist: für die Armen, ein Schutz in der Zeit der Not, ein Fels, eine Burg, ein Erretter, Berg meines Heils, die Lebenskraft schlechthin.

ER, der Richter über alle Völker, möge für Recht sorgen und sich dem Einzelnen in seiner Not zuwenden:

Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach;

heile mich, HERR, denn meine Gebeine sind

erschrocken

und meine Seele ist sehr erschrocken.

Ach du, HERR, wie lange!

(Psalm 6,3–4)

Das Schema ist klar: Der Gerechte steht bei dem Herrn der Gerechtigkeit, und auf der anderen Seite finden sich die Übeltäter. Genau dieses Denken hat Jesus mit seinen Grenzüberschreitungen und mit der Abwehr aller Selbstgerechtigkeit überwunden. Für dieses Werk der Versöhnung ist er genauso gekreuzigt worden, wie Paulus der Prozess gemacht wurde, weil er sich weigerte, sich den vorgegebenen Schlachtordnungen unterzuordnen. »Uns ist gegeben das Amt, das die Versöhnung predigt«, schreibt Paulus im 2. Brief an die Korinther. Erfahrene Versöhnung wird zur selber praktizierten – oder sie bleibt ein religiöser Raub.

Es gibt durchaus einen kathartischen Effekt des Hassgebets – sofern es reinigt vom Destruktiven und nicht zur Vorbereitung und Munitionierung von neuem Hass oder praktisch ausgeübter Vernichtung wird.

Die Sinnspitze der Psalmen für Konfliktbereinigung liegt indes in der Bitte, dass »Gerechtigkeit und Friede sich küssen« (Psalm 85,11 b).