|71|Wenn einer sagen muss, was ist

Was die Propheten bewegt

Erich Fried setzt auf eindringliche Weise ins Bild, was ein Prophet ist:

Ein Prophet

 

Dieser Narr

erinnert sich

an die Zukunft

 

Mit seinem Auge

das verfinstert ist

vor der Nacht

 

Mit seinem Ohr

das nichts mehr hört

vor dem Schweigen

 

Mit seinem Hirn

das verbrennt

vor dem Feuer

 

Mit seinem Schrei

Die großen biblischen Propheten leiden an dem, was sie wissen, spüren, ahnen. Sie leiden an der Verweigerung von Einsicht – Einsicht in das, was lebensbedrohlich und in das, was lebensfreundlich ist.

Das Volk und seine Oberen wollen nichts wissen; schließlich |72|sind sie so verblendet, dass sie nichts mehr erkennen. Die Selbstverdummung, die Denkverweigerung, die Hörunfähigkeit wird zum Gericht. »Verstockungsbotschaft« nennt man das, und das hört sich so an:

 

Starret hin und werdet bestürzt,

seid verblendet und werdet blind!

Seid trunken, doch nicht vom Wein,

taumelt, doch nicht von starkem Getränk!

Denn der HERR hat über euch

einen Geist des tiefen Schlafs ausgegossen

und eure Augen – die Propheten – zugetan,

und eure Häupter – die Seher – hat er verhüllt.

Darum sind euch alle Offenbarungen wie die Worte eines versiegelten Buches, das man einem gibt, der lesen kann, und spricht: Lies doch das! und er spricht: »Ich kann nicht, denn es ist versiegelt«; oder das man einem gibt, der nicht lesen kann, und spricht: Lies doch das! Und er spricht: »Ich kann nicht lesen.«

 

Und der Herr sprach:

Weil dies Volk mir naht mit seinem Munde

und mit seinen Lippen mich ehrt,

aber ihr Herz fern von mir ist

und sie mich fürchten nur nach Menschengeboten,

die man sie lehrt,

darum will ich auch hinfort mit diesem Volk

wunderlich umgehen,

aufs wunderlichste und seltsamste,

dass die Weisheit seiner Weisen vergehe

und der Verstand seiner Klugen sich verbergen müsse.

 

Weh denen, die mit ihrem Plan

verborgen sein wollen vor dem HERRN

|73|und mit ihrem Tun im Finstern bleiben

und sprechen: Wer sieht uns, und wer kennt uns?

Wie kehrt ihr alles um!

Als ob der Ton dem Töpfer gleich wäre,

dass das Werk spräche von seinem Meister:

Er hat mich nicht gemacht!

und ein Bildwerk spräche von seinem Bildner:

Er versteht nichts!

 

Wohlan, es ist noch eine kleine Weile,

so soll der Libanon fruchtbares Land werden,

und was jetzt fruchtbares Land ist,

soll wie ein Wald werden.

Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte

des Buches,

und die Augen der Blinden werden aus

Dunkel und Finsternis sehen;

und die Elenden werden wieder Freude haben

am HERRN,

und die Ärmsten unter den Menschen werden

fröhlich sein in dem Heiligen Israels.

Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen

und mit den Spöttern aus sein,

und es werden vertilgt werden alle, die darauf

aus sind, Unheil anzurichten,

welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht

und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor,

und beugen durch Lügen das Recht des

Unschuldigen.

Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum

Hause Jakob:

Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen,

und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen.

Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner

|74|Hände – seine Kinder – in ihrer Mitte,

werden sie meinen Namen heiligen;

sie werden den Heiligen Jakobs heiligen

und den Gott Israels fürchten.

Und die, welche irren in ihrem Geist,

werden Verstand annehmen,

und die, welche murren,

werden sich belehren lassen.

(Jesaja 29,9–24)

 

Propheten verbrennen sich nicht ihre Zunge – das Wort selbst brennt auf ihrer Zunge. Sie beißen sich nicht auf die Lippen. Sie lassen ihr Wort zu Worte kommen. Propheten brennen. Und sie brennen aus. Was sie sehen, zerreißt sie selbst. Sie sehen mehr, und sie sehen weiter, und sie sehen tiefer. Sie spitzen zu – aber sie übertreiben nicht. Sie nehmen kein Blatt vor den Mund. Sie reden auf eigene Kappe. Man setzt ihnen die Narrenkappe auf. Das soll sie neutralisieren. Sie glauben dem Wort. Das Wort trägt die Wahrheit. Ihr Wort hat Gewicht. Sie geben ihrem Wort Gewicht. Ihre Wortgewalt ist ihr Wort gegen die Gewalt. Sie durchleiden heute schon, was morgen kommt. Sie genießen nicht das Wahrwerden ihrer Unheilsprophezeiung – sie sind keine Zyniker der Wahrheit. Sie stellen sich gegen die Ideologen der Lüge. Sie durchschauen die Verpuppungen der Lügen. Sie stehen im Konflikt mit den Priestern, jenen institutionalisierten und ritualisierenden Angestellten der Religion. Sie leiden an ihrer Gegenwart, aber sie geben die Hoffnung nicht auf.

Ihr Wort erfüllt sich nie ganz; es behält einen Mehrwert, einen Wechsel auf die Zukunft, die jede Gegenwart hinter sich lässt. Sie künden den Frieden. Sie preisen die Gerechtigkeit. Sie geißeln einen faulen Frieden und schreien über Ungerechtigkeit wie über einen Schmerz. Sie werden nicht |75|gehört. Sie werden für das Gehörte geprügelt. Die Menge verschließt sich; alle werden sie verstockt, verschlossen, verbohrt. Die Propheten sehen Gewalt und Krieg heraufziehen. Das Unglück ist für sie gerechte Strafe – und doch ein Unglück, an dem sie leiden. Sie haben keine Lust am Rechthaben, wo sie mit ihrer Unheilsnachricht oder ihrer Unheilsvoraussicht Recht bekommen.

Sie suchen Bilder für Argumente. Was sie sagen, soll einschlagen und einleuchten. Sie denken mit dem Herzen. Sie suchen Legitimation und berufen sich auf ihre Berufung. Ihre Visionen werden ihnen zu Verpflichtungen. Sie geißeln alle Doppelzüngigkeit, alle Äußerlichkeit, alle Flachheit. Es geht ihnen um Umkehr im Denken und Tun, um die Beschneidung der Herzen. Was sie tun, hat symbolischen Wert. Mit ihrem Handeln wollen sie begreiflich machen, was niemand begreifen will.

Worte der Propheten – die Prophetenworte werden mündlich weitergegeben. Sie prägen sich ein. Sie werden kolportiert, verändert, verflacht, in andere, neue Kontexte eingetragen. Sie lösen sich vom Anlass und finden erneut Anlässe. Sie meinen die je Angesprochenen; ihre Worte haben tiefe Resonanzböden. Sie leiden an der Verstockung. Das Nicht-hören-Wollen wird mit Nicht-hören-Können bestraft, das Nicht-sehen-Wollen mit Nicht-sehen-Können. Verklebt ist der Verstand derer, die nicht mehr erkennen können, was auf dem Spiel steht. Sie erleben aggressive Abwehr derer, denen sie die sperrigen Wahrheiten sagen und die sich in trügerischen Sicherheiten wiegen.

 

Hört zu, ihr tolles Volk,

das keinen Verstand hat,

die da Augen haben und sehen nicht,

Ohren haben und hören nicht!

(Jeremia 5,21)

 

|76|Es steht greulich

und grässlich im Lande.

Die Propheten weissagen Lüge,

und die Priester herrschen auf eigene Faust,

und mein Volk hat’s gern so.

Aber was werdet ihr tun, wenn’s damit ein Ende hat?

(Jeremia 5,30–31)

 

Denn sie gieren alle, klein und groß,

nach unrechtem Gewinn,

und Propheten und Priester gehen alle mit Lüge um

und heilen den Schaden meines Volkes nur

obenhin,

indem sie sagen: »Friede! Friede!«,

und ist doch nicht Friede.

(Jeremia 6,13–14)

 

So spricht der HERR:

Tretet hin an die Wege und schauet

und fragt nach den Wegen der Vorzeit,

welches der gute Weg sei, und wandelt darin,

so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele!

Aber sie sprechen: Wir wollen’s nicht tun!

(Jeremia 6,16)

 

So spricht der HERR Zebaoth:

Halte Nachlese am Rest Israels

wie am Weinstock,

strecke deine Hand immer wieder aus

wie ein Winzer nach den Reben.

(Jeremia 6,9)

 

Darauf antwortet der Prophet:

»Ach, mit wem soll ich noch reden,

|77|und wem soll ich Zeugnis geben?

Dass doch jemand hören wollte!

Aber ihr Ohr ist unbeschnitten;

sie können’s nicht hören.

Siehe, sie halten des HERRN Wort für Spott

und wollen es nicht haben.«

(Jeremia 6,10)

 

Sie verleugnen den HERRN

und sprechen: »Das tut er nicht;

so übel wird es uns nicht gehen;

Schwert und Hunger werden wir nicht sehen.

Die Propheten sind Schwätzer

und haben Gottes Wort nicht;

es ergehe ihnen selbst so!«

Darum spricht der HERR, der Gott Zebaoth:

Weil ihr solche Reden führt,

siehe, so will ich meine Worte in deinem Munde

zu Feuer machen

und dies Volk zu Brennholz,

dass es verzehrt werde.

(Jeremia 5,12–14)

 

So spricht der Herr:

Ich habe dich zum Prüfer gesetzt für mein Volk,

dass du seinen Wandel erkennen und prüfen sollst.

(Jeremia 6,27)

 

Der Blasebalg schnaubte,

das Blei wurde flüssig vom Feuer;

aber das Schmelzen war umsonst,

denn die Bösen sind nicht ausgeschieden.

(Jeremia 6,29)

 

|78|Denn so spricht der HERR:

Das ganze Land soll wüst werden,

aber ich will mit ihm doch nicht ganz

ein Ende machen.

Darum wird das Land betrübt

und der Himmel droben traurig sein;

denn ich hab’s geredet,

ich hab’s beschlossen,

und es soll mich nicht gereuen,

ich will auch nicht davon ablassen.

(Jeremia 4,27–28)

 

HERR, deine Augen sehen auf Wahrhaftigkeit.

Du schlägst sie,

aber sie fühlen’s nicht;

du machst fast ein Ende mit ihnen,

aber sie bessern sich nicht.

Sie haben ein Angesicht, härter als ein Fels,

und wollen sich nicht bekehren.

(Jeremia 5,3)

 

Pflügt ein Neues

und säet nicht unter die Dornen!

(Jeremia 4,3)

 

Und tut weg die Vorhaut eures Herzens.

(Jeremia 4,4)

 

Prophet zu sein heißt, rechtzeitig zu sagen, was ist, und zu sagen, was wird, wenn es bleibt, wie es ist. Ein Prophet ist Zeitzeuge mit aller Wahrhaftigkeit und mit allen Konsequenzen. Das Verschwiegene und Verdrängte wird benannt. Die Verstandes- und die Verständnislosigkeit wird aufgedeckt – bei den Führern des Volkes, die zu Verführern |79|werden, und beim Volk, das ein tolles Volk wird, ohne jeden Verstand. Das lässt sich nicht schärfer sagen als so: »Denn sie gieren doch alle, groß und klein, nach unrechtem Gewinn.«

Propheten sehen ihrer Wirkungslosigkeit ins Auge und machen dennoch weiter; eine Resthoffnung auf Wandel behalten sie – deshalb die Nachlese wie am Weinstock. Den bestallten Beschwichtigern, die immer sagen, es ist alles gut, es bleibt alles gut, es wird alles gut, fahren sie in die Parade. Sie legen Oberflächlichkeit und Veräußerlichung bloß. Sie warnen vor den gefährlichen Illusionen, vor denen, die da sagen: »Friede, Friede« – und ist doch kein Friede. Sie warnen vor denen, die da sagen: So übel wird es uns nicht gehen, glaubt nicht den Miesmachern und Unheilspropheten. Propheten sind den Verdächtigern und den Verdächtigungen ausgesetzt als Schwarzseher, Agenten des Feindes, als einzelne Wichtigtuer und unbelehrbare Volksverächter oder Staatsfeinde. Sie haben mit Verhärtung, Uneinsichtigkeit, Gefühl- und Rechtlosigkeit zu rechnen.

Wie schreibt der Prophet? »Sie haben ein Gesicht, härter als ein Fels.« Sie weisen auf das schon sichtbare und das noch drohende Unheil. Sie schauen sich nicht um. Sie schauen nicht nach links und nicht nach rechts. Sie schauen nicht auf die Oberen und auch nicht auf die Volksstimmung. Sie sagen, was zu sagen ist. Wo nicht vom drohenden Unheil gesprochen wird, kann auch der Hoffnung keine Sprache gegeben werden. Es gibt keine Hoffnung ohne Wahrheit, keine Hoffnung ohne Einsicht, keine Hoffnung ohne Umkehr, keine Hoffnung ohne Gnade, keine Hoffnung ohne Liebe.

 

 

|80|Was ist ein Prophet?

 

Prophet ist einer, der reden muss.

Propheten können nicht anders. Es gibt ein inneres Muss gegen jede äußere Überlebensklugheit. Das Innere kommt aus einer äußersten Erregung, gebündelt in Visionen, die zu Legitimationsquellen werden. Sie leiden unter ihrem Auftrag, die Wirklichkeit ohne Rücksicht aufzudecken.

Die Propheten des alten Bundes sagen die Wahrheit. Aber sie sind keine Wahr-Sager.

Ein Prophet steht stets gegen »die Propheten«.

Das Volk will gern hören, dass alles gut wird. Gutredner werden gut bezahlt und gern gehört.

Das Heil gibt es nicht ohne das Gericht – die schönen Versprechungen sind gefährliche Illusionen. Propheten reden nicht vom Gericht des Gerichts willen, sondern weil sie das Heil und die Heilung im Auge behalten.

Ein Prophet steht als Einzelner immer gegen die Vielen. Der Kongress der Weißwäscher tagt in Permanenz und verurteilt die Propheten in eben derselben Permanenz.

Propheten glauben, dass es Wandlung gibt, selbst wenn sie sie nicht erleben.

Sie misstrauen der Zwangsläufigkeit, weil Zwangsläufigkeit Verantwortung leugnet und Schicksalsgegebenheit behauptet. Das Leben verläuft nicht tragisch, also nicht unausweichlich und vorherbestimmt, sondern in einem Zusammenhang von Tun und Ergehen.

»Bessert euer Leben […], so wird es euch wohl gehen im Lande!«

 

Propheten stehen für innere Überzeugung, gegen äußere Riten

– für das konkrete Tun des Gerechten, gegen die bloße Beschwörung des Guten.

Geistesgeschichtlich gesehen, ist ihr Denken ein Schritt |81|aus der streng vorgegebenen Norm in die Freiheit des persönlichen Handelns. Es geht nicht bloß um Normbefolgung; es geht um das Wahrnehmen von Verantwortung. Die Propheten vollziehen den Schritt von der Moral zur Ethik. Es geht nicht mehr um das Befolgen eines äußeren Moralkodexes, sondern um die eigene, freie, verantwortliche Tat.

Es sei an einen Propheten und Märtyrer unserer Zeit erinnert, der Prophetenworte als Lebensworte für heute ausgelegt hat, Dietrich Bonhoeffer:

»Gehorsam ohne Freiheit ist Sklaverei, Freiheit ohne Gehorsam ist Willkür. Der Gehorsam bindet die Freiheit, die Freiheit adelt den Gehorsam. Der Gehorsam bindet das Geschöpf an den Schöpfer, die Freiheit stellt das Geschöpf in seiner Ebenbildlichkeit dem Schöpfer gegenüber. Der Gehorsam zeigt dem Menschen, dass er sich sagen lassen muss, was gut ist und was Gott von ihm fordert (Micha 6,8), die Freiheit lässt den Menschen das Gute selbst schaffen. Gehorsam weiß, was gut ist, und tut es, die Freiheit wagt zu handeln und stellt das Urteil über Gut und Böse Gott anheim. Gehorsam folgt blind, Freiheit hat offene Augen. Gehorsam handelt, ohne zu fragen, Freiheit fragt nach dem Sinn. Gehorsam hat gebundene Hände, Freiheit ist schöpferisch. Im Gehorsam befolgt der Mensch den Dekalog Gottes, in der Freiheit schafft der Mensch neue Dekaloge (Luther).

[…]

HERR, du hast mich überredet,

und ich habe mich überreden lassen.

Du bist mir zu stark gewesen

und hast gewonnen. (Jeremia 20,7)

 

Jeremia hat sich nicht dazu gedrängt, Prophet Gottes zu werden. Er ist zurückgeschaudert, als ihn plötzlich der Ruf traf. Er hat sich gewehrt, er wollte ausweichen – nein, er |82|wollte dieses Gottes Prophet und Zeuge nicht sein – aber auf der Flucht packt ihn, ergreift ihn das Wort, der Ruf. Er kann sich nicht mehr entziehen, es ist um ihn geschehen. Gott hat sein Opfer, oder wie es einmal heißt, der Pfeil des allmächtigen Gottes hat das gehetzte Wild. Jeremia ist sein Prophet.

Von außen her kommt es über den Menschen, nicht aus der Sehnsucht seines Herzens, nicht aus seinen verborgensten Wünschen und Hoffnungen steigt es herauf. Das Wort, das den Menschen stellt, packt, gefangen nimmt, bindet, kommt nicht aus den Tiefen unserer Seele, sondern es ist das fremde, unbekannte, unerwartete, gewalttätige, überwältigende Wort des Herrn, der in seinen Dienst ruft, wen und wann er will. Da hilft kein Widerstreben, sondern da heißt Gottes Antwort: ›Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleib bereitete, du bist mein. Fürchte dich nicht! Ich bin dein Gott, der dich hält.‹ Und dann ist dies fremde, ferne, unbekannte, gewalttätige Wort auf einmal das uns schon so unheimlich wohlbekannte, unheimlich nahe, überredende, betörende, verführende Wort der Liebe des Herrn, den es nach seinem Geschöpf verlangt.«

Die Propheten entlarven das abergläubische Verhältnis zum Ritus. Wo das Äußere nicht das Innere berührt, wird das Äußere trügerischer Schein, religiöses Blendwerk. Bei ihnen erscheint das, was wir später das Gewissen nennen – die syneidesis – das Wissen mit sich selbst.

Die großen Propheten entgrenzen ihr Denken. Das führt sie weit hinaus, über ein kleines Volk hinaus ins Geschick der Völker. Sie reklamieren den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Gott der Wüstenwanderung und der Landnahme als den Herrn der Völkerwelt. Sie führen ins Universale, was im National-Religiösen befangen war. Sie entlarven die Götzen, die Menschen sich machen, um Menschen zu bedrücken und zu betrügen, bis sie sich selbst betrügen.

Der geistesgeschichtliche Schritt, der Akt der Selbstbefreiung, |83|den die Propheten entschlossen vorantreiben, ist ihr Kampf gegen die Götzen, jene von Menschen gemachten Götter, die Unterwerfung verlangen, im Namen von Menschen. Die Propheten gehen den geistesgeschichtlich entscheidenden Schritt zur Entdämonisierung und zur Delegitimierung der Mächtigen, die ihre Macht mit Götzen, ihren selbstgemachten Göttern, absichern und legitimieren. Ihr theologisches Prinzip: Monotheismus, Universalismus und Bilderlosigkeit.

Weil der Herr der Welt sich nicht »orten« lässt, lässt er sich nicht domestizieren und instrumentalisieren.

Karl Jaspers sieht die alttestamentlichen Propheten als Teil einer weltgeschichtlichen Zäsur. Er nennt die Zeit um 500 v. Chr. die Achsenzeit, und bezieht den Zeitraum zwischen 800 v. Chr. und 200 n. Chr. ein. In seiner Schrift »Vom Ursprung und Ziel der Geschichte« (1955) heißt es:

»Diese Achse der Weltgeschichte scheint nun rund um 500 vor Christus zu liegen, in dem zwischen 800 und 200 stattfindenden geistigen Prozess. Dort liegt der tiefste Einschnitt der Geschichte. Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute leben. […]

In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen.

In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang-Tse, Lie-Tse und ungezählte andere, – in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, – in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse, – in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaias und Jeremias bis zu Deuterojesaias, – Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes. Alles, was durch solche Namen |84|nur angedeutet ist, erwuchs in diesen wenigen Jahrhunderten annähernd gleichzeitig in China, in Indien und dem Abendland, ohne dass sie gegenseitig voneinander wussten.

Das Neue dieses Zeitalters ist in allen drei Welten, dass der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewusst wird. Er erfährt das Furchtbare der Welt und die eigene Ohnmacht. Er stellt radikale Fragen. Er drängt vor dem Abgrund auf Befreiung und Erlösung. Indem er mit Bewusstsein seine Grenzen erfasst, steckt er sich die höchsten Ziele. Er erfährt die Unbedingtheit in der Tiefe des Selbstseins und in der Klarheit der Transzendenz.«

Karl Jaspers hat die Propheten in einen weltgeschichtlichen geistigen Kontext gestellt und verdeutlicht, wie sehr wir bis heute von dieser Aufbruchszeit zehren: von den alttestamentlichen Propheten, von Homer, den griechischen Tragödiendichtern, von Buddha, Konfuzius und Laotse. Angesichts der Herausforderungen an der Jahrtausendwende hat Hans Küng den Versuch unternommen, daran anzuknüpfen und ein »Weltethos« zu entwerfen, ein geistig-moralisches Rückgrat für eine überlebensfähige Welt, die jetzt erst erkennbar zu der einen Welt wird.

Die großen Propheten und ihr Ethos werden geradezu »zukunftskonstitutiv«.

Biblische Prophetie ist ein sehr komplexes Phänomen. Rufer, Gottesmann, Seher – sie alle können subsumiert werden unter dem Wort »Nabi«. Das kann heißen aktiv »der Rufer« oder passiv »der Gerufene«. Ein Nabi ist beides: Rufer und Gerufener, der gerufene Rufer und der berufene Rufer.

Man kann drei große Gruppen unterscheiden: Da sind zunächst die Prophetengeschichten, die sich in den Geschichtsbüchern 1. Samuel bis 2. Könige finden. Über Samuel und Nathan bis zu Micha ben Jimla, Elia und Elisa. Sie stehen in einem engen Kontakt zum Königtum und sind eingewoben in die dramatische Geschichte der Teilung des |85|Landes in Israel und Juda, in die beiden Zentren Jerusalem und Samaria, verquickt in die jeweiligen politischen und religiösen Auseinandersetzungen, sowohl mit den Großmächten des Nordens und des Südens, wie in Konflikte mit den Herrschaftskulturen und -kulten – vom Tigris und vom Nil.

Sie sind Stützen und Kritiker der Könige zugleich. Könige fragen sie um Rat – oder sie mischen sich ungefragt ein. Mit Lebensrisiko.

Es treten auch Gruppen der Propheten auf, »Söhne der Propheten«. Dies sind zumeist Ekstatiker, die im Rausch Gesichte haben, die von Träumen erfüllt sind, sich in Gruppen organisieren, in denen sie sich methodisch in Ekstase versetzen und darin übersinnliche Fähigkeiten beanspruchen. Aus der Ekstase heraus ergeht ein Wort.

Bei Elia erfahren wir von Konflikten – todbringenden! – zwischen den (Groß-)Gruppen ekstatischer Wahrheitspropheten und dem einzelnen berufenen Propheten.

Erstere sind besoldet und künden dem König das Erwünschte (1. Könige 18,19–40); letzterer legt die Finger in die Wunden des Unrechts und lebt lebensgefährlich.

Es geht z. B. um einen Weinberg in der Nähe des Königspalastes (1. Könige 21).

Die Königin organisiert ein Verbrechen gegen den renitenten Weinbergbesitzer Naboth, der dem König seinen Weinberg nicht abtreten will. Und Elia kündigt dem König das Gottesgericht für dieses Unrecht an. Elia muss fliehen und ist dem Umkommen nahe. Wunderliche Prophetensagen erzählen von der Rettung des Propheten.

Daneben gibt es die Seher, die orakelhaft die Zukunft künden, wie der Seher Samuel gegenüber König Saul. Dieser trifft (wie in 1. Samuel 10,5ff. erzählt wird) – von Samuel kommend – auf eine Schar von Propheten: »Vor ihnen her ertönt Harfe, Handpauke, Flöte und Zither«, während sie selbst in Ekstase sind. Sie bringen sich tanzend in Rausch |86|und benutzen dafür Rauschmittel. Der König selbst lässt sich von dieser Ekstase ergreifen und die Leute fragen: »Ist Saul unter den Propheten?« König Saul kommt nun zu Samuel. Der ist kein Ekstatiker, sondern Analytiker. Er will ihn beraten, nicht betören. Sodann trifft Saul auf die Ekstatiker und lässt sich betören …

Später, nach Samuels Tod, wird König Saul phasenweise hoch depressiv, heitert sich durch Musik auf, fällt in tiefe Verzweiflung, sucht angesichts der Angst vor dem Heer der Philister Zuflucht bei der Hexe in Endor, einer Totenbeschwörerin. Nachdem er weder durch Träume noch durch Propheten Klarheit gewinnt, geht er zu ihr, und sie beschwört den toten Samuel aus dem Totenreich hervor. Dessen Prophezeiung für ihn ist vernichtend.

Diese Geschichte vergegenwärtigt uns das ganze Problem des schillernden Begriffs »Prophet«. Wenn wir in unserer Sprache das Verb bilden, heißt dies »prophezeien«. Und wenn jemand jemandem etwas prophezeit, dann sagt er ihm etwas »voraus«. So wird aus dem Propheten ein Zukunftsvorhersager oder gar ein Zukunftsrauner. Dies kann einerseits der Vorfahre der Zukunfts- und Trendforscher sein und andererseits der Halbbruder von Orakelbefragern, Kaffeesatzlesern, Sterndeutern und Horoskopgläubigen.

Biblische Prophetie spricht von den künftigen Folgen heutigen (Fehl-)Verhaltens, und sie eröffnet Perspektiven für die, die keine Zukunft mehr sehen.

Im Zentrum stehen die Schriftpropheten, die drei »großen Propheten«: Jesaja, Jeremia, Hesekiel und – als eine Sonderkategorie, die schon in die Apokalyptik hinüberreicht – der Prophet Daniel. Dazu kommen die »zwölf kleinen Propheten«. Sie alle sind Einzelpersönlichkeiten. Wir haben ihre Spruchsammlungen schriftlich vor uns. Sie gehören zu keiner Prophetenorganisation und sind in keine eigenen politischen Aktivitäten verwickelt, außer dass sie mit dem »Wort« |87|Einspruch erheben. Ihre Worte speisen sich nicht aus Ekstasen, weder bei ihrer Berufung noch beim Finden ihrer Worte. Sie sind bei hellwachem Bewusstsein, sie hören, beobachten, antworten. Sie sehen und spüren genau, was ist und was wird. Im Unterschied zu allen Ekstatikern geben sie ihre Widerfahrnisse selbst wieder; bei den Ekstatikern können nur immer Dritte deuten.

Jeder von ihnen ist einer und bleibt einer. Keiner von ihnen hat Massen angesteckt oder bewegt. Jeder hat für sich die Spannungen auszuhalten gehabt, die durch sein Wort zwischen ihm und dem Volk aufbrechen, einem Volk, zu dem sie selber gehören, an dem sie leiden, für das sie hoffen. Sie alle hatten zu ihren Lebzeiten kaum Erfolg. Sie kamen und riefen – und ihr Ruf verhallte. Jeder steht am Ende da, wo er am Anfang stand – und der nächste Prophet muss wieder von vorn anfangen.

Einige Propheten haben ihren Worten Zeichenhandlungen hinzugefügt: So wird dem Jesaja geboten, nackt und barfuss zu gehen (Jesaja 20,2).

Jeremia soll allein bleiben und nicht heiraten; er soll in kein Trauerhaus gehen, weder um zu klagen, noch um zu trösten, aber auch nicht in ein Hochzeitshaus, um zu essen und zu trinken. Es ist Zeit des Gerichts!

Dramatisch wird es bei Hosea, dem der Auftrag erteilt wird, ein Hurenweib zu nehmen und Hurenkinder zu gebären, »denn das Land läuft vom HERRN weg, der Hurerei nach« (Hosea 1,2). Mit der Hure bekommt er drei Kinder; diese bekommen symbolische Namen.

Jeder der Propheten muss selbst in Worte fassen, was er erspäht hat. Jeder tut es in eigener Verantwortung und mit ganz eigener Profilierung. Jeder übernimmt Verantwortung. Keiner von ihnen ist frei von Verzweiflung. Sie bleiben als Berufene stets Angefochtene. Die Ergriffenen sind die Zögernden (Jeremia 1,6ff.) und die Erschrockenen (Amos 3,8). Ihre |88|Widerspenstigkeit muss überwunden werden, und sie werden zu widerspenstigen Empörern gesandt (Hesekiel 2,3ff.).

Wegen ihrer Botschaft werden sie in die Einsamkeit gestoßen (Jeremia 15,17) und der Verfolgung ausgesetzt (Amos 7,10ff.; Jeremia 20,10; 36).

Die Propheten haben alles andere als ein stabiles Amts- und Sendungsbewusstsein. Sie sind darauf angewiesen, dass des HERRN Wort sie je und je aufrichtet (Jeremia 15, 19– 21) und darauf, dass SEINE Kraft sie erfülle (Micha 3,8).

Sie erheben Anklage. Sie sagen, was gesagt werden muss, was sich aber kaum einer getraut. Die Anklagen gehen in drei Richtungen: soziale, politische und theologische. Die soziale Anklage ist bei Amos und Micha beherrschend. Die politische Anklage besonders bei Jesaja und Jeremia. Die theologische Anklage bezieht sich auf Götzendienst, Vielgötterei und die falsche Sicherheit, die den Menschen besonders durch das bestallte Priestertum eingeredet wird.

Hinzu kommt die Anklage gegen die »falschen Propheten«. Waren die ersten Propheten wesentlich dazu da, das Königtum zu stützen, zu bestätigen und zu beraten, so werden sie mehr und mehr zur wachsamen Instanz, zu Warnern und Zurechtweisern der Könige.

Insbesondere die Schriftpropheten stehen in einer permanenten Gegnerschaft: zum König, zur Priesterkaste, zu den Propheten-Organisationen und zur Menge des Volkes, das die Wahrheit nicht hören will. Sie selbst bilden keine Prophetenparteien und schüren keinen Aufstand. Sie haben den Königen gegenüber nichts einzusetzen als ihr Wort und – wo es nötig wird – ihr Leiden. Ihr Wirken ist in einen genau benennbaren historischen Zusammenhang gestellt (»Im Regierungsjahr des Königs Usia« usf.). Ihre Worte sind historisch geortet, aber sie werden ablösbar vom konkreten Zusammenhang und behalten eine aufdeckende, klärende, mahnende, tröstende Funktion. In jeder Gegenwart sagen sie etwas von |89|dieser Gegenwart und etwas über die Zukunft, die sie schon hinter sich haben und stets wieder vor sich haben. Das konkrete Wort ist zugleich ein prinzipielles, und das prinzipielle ist nur dann ein betreffendes, wenn es auch konkret ist.

Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit zeichnet sie aus. Verantwortlich sind sie einzig dem, der sie berufen hat und der sie täglich ruft.

So tritt Micha unmissverständlich den »Häuptern Israels«, also den Sippenältesten entgegen, die die Rechtspflege zu verantworten haben, und ruft ihnen zu:

 

[…] Höret doch, ihr Häupter im Hause Jakob

und ihr Herren im Hause Israel!

Ihr solltet die sein, die das Recht kennen.

Aber ihr hasset das Gute und liebet das Arge;

ihr schindet ihnen die Haut ab

und das Fleisch von ihren Knochen

und fresset das Fleisch meines Volks.

Und wenn ihr ihnen die Haut abgezogen habt,

zerbrecht ihr ihnen auch die Knochen;

ihr zerlegt es wie in einen Topf

und wie Fleisch in einen Kessel.

Darum, wenn ihr nun zum HERRN schreit,

wird er euch nicht erhören,

sondern wird sein Angesicht vor euch verbergen

zur selben Zeit,

wie ihr mit eurem bösen Treiben verdient habt.

(Micha 3, 1–4)

 

Dann fährt der Prophet fort und geißelt die falschen Propheten, deren Wahrheiten nur Ausdruck ihrer Bestechlichkeit sind.

So spricht der HERR wider die Propheten,

die mein Volk verführen,

|90|die da predigen, es werde gut gehen,

wenn man ihnen zu fressen gibt;

wer ihnen aber nichts ins Maul gibt,

dem predigen sie, es werde ein Krieg kommen:

»Darum soll euch die Nacht ohne Gesichte sein

und die Finsternis ohne Wahrsagung.«

Die Sonne soll über den Propheten untergehen

und der Tag über ihnen finster werden.

Und die Seher sollen zuschanden

und die Wahrsager zu Spott werden;

sie müssen alle ihren Bart verhüllen,

weil kein Gotteswort dasein wird.

(Micha 3,5–7)

Darauf folgt das selbstbewusste Ich des Propheten:

Ich aber bin voll Kraft, voll Geist des HERRN,

voll Recht und Stärke […]

(Micha 3,8a)

 

Propheten müssen sagen, was sie sagen. Dies hängt mit der Unbedingtheit ihrer Berufung zusammen, am knappsten und eindringlichsten ausgedrückt beim Propheten Amos.

Der Löwe brüllt,

wer sollte sich nicht fürchten?

Gott der HERR redet,

wer sollte nicht Prophet werden?

(Amos 3,8)

Jeremia wehrt sich und sagt: Ich bin zu jung. Jesaja wehrt sich und sagt, ich bin ein Mann unreiner Lippen. Mose wehrt sich und sagt, ich kann nicht reden, und in wessen Namen soll ich denn reden. Wer wird mir glauben? Jeder wird überwunden durch die Stimme des Herrn, die er deutlich hört und der er sich nicht entziehen kann. Ein durch keine Überlebensängste eindämmbares ›Muss‹ wirkt in den Propheten, ein Wahrheitspathos und ein Wahrheitsethos, das geradezu |91|masochistische Züge trägt – am berührendsten, bewegendsten, konsequentesten und eindrücklichsten beim Propheten Jeremia.

Stets sind sie Einzelne, ganz auf sich Gestellte. Und sie sind stets wieder vor die Legitimationsfrage gestellt. Sie spüren den Spott der Menge, die Macht der Mächtigen, die Verführbarkeit durch die Meinungsmacher und die Unfähigkeit aller zu hören, was ist und was auf dem Spiel steht.

 

 

Jesaja

 

Beginnen wir mit Jesaja (Kapitel 1–39, dem so genannten ersten Jesaja).

Er ist Prophet und Ratgeber der Könige von Juda. Jesaja erlebte vier Könige, drängte auf Reformen, besaß eine außergewöhnliche poetische Ausdrucksfähigkeit. Er behielt einen pessimistischen Patriotismus und hielt an der Überzeugung fest, dass Rechtschaffenheit letztlich den Sieg davontragen wird. Ungezügelt werden seine Äußerungen über die traditionellen Feinde – die Edomiter. Hauptsorge war ihm die Verderbtheit des eigenen Volkes, der unmäßige Reichtum der Besitzer an Grund und Boden, die Sauferei und Prunksucht, die Arroganz der schönen Frauen. Die grausame Herrschaft der Assyrer sah er als Strafe für den Lebenswandel des eigenen Volkes an. Er erhoffte eine neue Schöpfung und ein neues Davidisches Reich durch den Messias, begründet auf den Rest des Volkes, der nach der Katastrophe übrig bleiben wird – auf den heiligen Rest.

 

Mein Volk, deine Führer verführen dich

und verwirren den Weg, den du gehen sollst!

Der HERR steht da zum Gericht

und ist aufgetreten, sein Volk zu richten.

|92|Der HERR geht ins Gericht mit den Ältesten seines Volks

und mit seinen Fürsten:

Ihr habt den Weinberg abgeweidet,

und was ihr den Armen geraubt, ist in eurem Haus.

Warum zertretet ihr mein Volk

und zerschlagt das Angesicht der Elenden?

spricht Gott, der HERR Zebaoth.

So hat der HERR gesprochen:

Weil die Töchter Zions stolz sind

und gehen mit aufgerecktem Halse,

mit lüsternen Augen,

trippeln daher und tänzeln

und haben kostbare Schuhe an ihren Füßen,

deshalb wird der Herr den Scheitel der Töchter Zions

kahl machen,

und der HERR wird ihre Schläfe entblößen.

Zu der Zeit wird der Herr den Schmuck an den kost-

baren Schuhen wegnehmen und die Stirnbänder, die

Spangen, die Ohrringe, die Armspangen, die Schleier,

die Hauben, die Schrittkettchen, die Gürtel, die Riechfläschchen,

die Amulette, die Fingerringe, die Nasenringe,

die Feierkleider, die Mäntel, die Tücher, die Täschchen,

die Spiegel, die Hemden, die Kopftücher, die Überwürfe.

Und es wird Gestank statt Wohlgeruch sein

und ein Strick statt eines Gürtels

und eine Glatze statt lockigen Haars

und statt des Prachtgewandes ein Sack,

Brandmal statt Schönheit.

Deine Männer werden durchs Schwert fallen

und deine Krieger im Kampf.

Und Zions Tore werden trauern und klagen,

und sie wird leer und einsam auf der Erde sitzen.

(Jesaja 3,12b–26)

 

|93|Eines der ältesten poetischen Prophetenzeugnisse ist das Weinbergslied:

Mein Freund hatte einen Weinberg

auf einer fetten Höhe.

Und er grub ihn um und entsteinte ihn

und pflanzte darin edle Reben.

Er baute auch einen Turm darin

und grub eine Kelter

und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte;

aber er brachte schlechte.

Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas,

zwischen mir und meinem Weinberg!

Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg,

das ich nicht getan habe an ihm?

Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht,

während ich darauf wartete, dass er gute brächte?

Wohlan, ich will euch zeigen,

was ich mit meinem Weinberg tun will!

Sein Zaun soll weggenommen werden,

dass er verwüstet werde,

und seine Mauer soll eingerissen werden,

dass er zertreten werde.

Ich will wüst liegen lassen,

dass er nicht beschnitten noch gehackt werde,

sondern Disteln und Dornen darauf wachsen,

und will den Wolken gebieten,

dass sie nicht darauf regnen.

Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel

und die Männer Judas seine Pflanzung, an der

sein Herz hing.

Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei

über Schlechtigkeit.

(Jesaja 5,1b–7)

 

|94|Wie Unrecht und Lüge eine unheilige (Macht-)Allianz eingehen, geißelt der Prophet so:

Weh denen, die das Unrecht herbeiziehen mit Stricken

der Lüge

und die Sünde mit Wagenseilen

und sprechen: Er lasse eilends und bald kommen

sein Werk,

dass wir’s sehen,

es nahe und treffe ein der Ratschluss des Heiligen Israels,

dass wir ihn kennen lernen!

Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen,

die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen,

die aus sauer süß und aus süß sauer machen!

Weh denen, die weise sind in ihren eigenen Augen

und halten sich selbst für klug!

Weh denen, die Helden sind, Wein zu saufen,

und wackere Männer, Rauschtrank zu mischen,

die den Schuldigen gerecht sprechen für Geschenke

und das Recht nehmen denen, die im Recht sind!

Darum, wie des Feuers Flamme Stroh verzehrt

und Stoppeln vergehen in der Flamme,

so wird ihre Wurzel verfaulen

und ihre Blüte auffliegen wie Staub.

Denn sie verachten die Weisung des HERRN Zebaoth

und lästern die Rede des Heiligen Israels.

(Jesaja 5,18–24)

 

Der Unheilsbotschaft folgt die Hoffnungsgeschichte:

Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais

und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.

Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN,

der Geist der Weisheit und des Verstandes,

der Geist des Rates und der Stärke,

der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN.

|95|Und Wohlgefallen wird er haben

an der Furcht des HERRN.

Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen,

noch Urteil sprechen nach dem, was seine

Ohren hören,

sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen

und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande,

und er wird mit dem Stabe seines Mundes den

Gewalttätigen schlagen

und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten.

Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein

und die Treue der Gurt seiner Hüften.

Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen

und die Panther bei den Böcken lagern.

Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen

und Mastvieh miteinander treiben.

Kühe und Bären werden zusammen weiden,

dass ihre Jungen beieinander liegen,

und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder.

Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter,

und ein entwöhntes Kind wird seine Hand

stecken in die Höhle der Natter.

Man wird nirgends Sünde tun noch freveln

auf meinem ganzen heiligen Berge;

denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein,

wie Wasser das Meer bedeckt.

Und es wird geschehen zu der Zeit,

dass das Reis aus der Wurzel Isais dasteht

als Zeichen für die Völker.

(Jesaja 11,1–10a)

 

Schroff neben erwärmenden und ermutigenden Zeilen stehen Prophetensprüche, die erschaudern lassen:

|96|Siehe, der HERR macht die Erde leer und wüst

und wirft um, was auf ihr ist,

und zerstreut ihre Bewohner.

Und es geht dem Priester wie dem Volk,

dem Herrn wie dem Knecht,

der Frau wie der Magd,

dem Verkäufer wie dem Käufer,

dem Verleiher wie dem Borger,

dem Gläubiger wie dem Schuldner.

Die Erde wird leer und beraubt sein;

denn der Herr hat solches geredet.

Das Land verdorrt und verwelkt,

der Erdkreis verschmachtet und verwelkt,

die Höchsten des Volks auf Erden verschmachten.

Die Erde ist entweiht von ihren Bewohnern;

denn sie übertreten das Gesetz und ändern die Gebote

und brechen den ewigen Bund.

Darum frisst der Fluch die Erde,

und büßen müssen’s, die darauf wohnen.

(Jesaja 24,1–6a)

 

Priester und Propheten sind toll von starkem Getränk,

sind vom Wein verwirrt.

Sie taumeln von starkem Getränk,

sie sind toll beim Weissagen

und wanken beim Rechtsprechen.

Denn alle Tische sind voll Gespei

und Unflat an allen Orten!

»Wen«, sagen sie, »will der denn Erkenntnis lehren?

Wem will er Offenbarung zu verstehen geben?

Denen, die entwöhnt sind von der Milch,

denen, die von der Brust abgesetzt sind?

Zawlazaw zawlazaw, kawlakaw kawlakaw,

hier ein wenig, da ein wenig!«

|97|Jawohl, Gott wird einmal mit unverständlicher Sprache

und mit einer fremden Zunge reden zu diesem Volk,

er, der zu ihnen gesagt hat:

»Das ist die Ruhe; schaffet Ruhe den Müden,

und das ist die Erquickung!«

Aber sie wollten nicht hören.

Darum soll so auch des HERRN Wort an sie ergehen:

»Zawlazaw zawlazaw, kawlakaw kawlakaw,

hier ein wenig, da ein wenig«,

dass sie hingehen und rücklings fallen,

zerbrochen, verstrickt und gefangen werden.

(Jesaja 28,7–13)

 

So redet Jesaja in einer Versammlung betrunkener Priester und Propheten!

Aber er belässt es dabei nicht:

 

Saget den verzagten Herzen:

Seid getrost, fürchtet euch nicht!

[…]

Dann werden die Augen der Blinden aufgetan

und die Ohren der Tauben geöffnet werden.

Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch,

und die Zunge der Stummen wird frohlocken.

Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen

und Ströme im dürren Lande.

Und wo es zuvor trocken gewesen ist,

sollen Teiche stehen,

und wo es dürre gewesen ist,

sollen Brunnquellen sein.

Wo zuvor die Schakale gelegen haben,

soll Gras und Rohr und Schilf stehen.

Und es wird dort eine Bahn sein,

die der heilige Weg heißen wird.

|98|Kein Unreiner darf ihn betreten;

nur sie werden auf ihm gehen;

auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren.

(Jesaja 35,4–8)

 

Mit Kapitel 40 beginnt ein neues Prophetenbuch, das auch unter dem Namen »Jesaja« geführt wird. Man nennt die Passagen von Kapitel 40–55 den Deutero-Jesaja, den »zweiten«. Worte aus der Zeit um 540 vor Christus.

Es ist das große Trostbuch für die 40 Jahre Exilierten in Babylon über ihren Weg durch die Wüste zurück nach Jerusalem. Dieser Prophet ist der konsequenteste Monotheist und geißelt spöttisch die babylonischen Kulte, mit denen sich Israel zu assimilieren versuchte.

 

Der HERR, der ewige Gott,

der die Enden der Erde geschaffen hat,

wird nicht müde noch matt,

sein Verstand ist unausforschlich.

Er gibt dem Müden Kraft

und Stärke genug dem Unvermögenden.

Männer werden müde und matt,

und Jünglinge straucheln und fallen;

aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft,

dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler,

dass sie laufen und nicht matt werden,

dass sie wandeln und nicht müde werden.

(Jesaja 40,28b– 31)

Suchet den HERRN, solange er zu finden ist;

rufet ihn an, solange er nahe ist.

Der Gottlose lasse von seinem Wege

und der Übeltäter von seinen Gedanken

und bekehre sich zum HERRN, so wird er sich

seiner erbarmen,

|99|und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung.

Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken,

und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR,

sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde,

so sind auch meine Wege höher als eure Wege

und meine Gedanken als eure Gedanken.

Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt

und nicht wieder dahin zurückkehrt,

sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar

und lässt wachsen, dass sie gibt Samen, zu säen,

und Brot, zu essen,

so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein:

Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen,

sondern wird tun, was mir gefällt,

und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.

Denn ihr sollt in Freuden ausziehen

und im Frieden geleitet werden.

Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken

mit Jauchzen

und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen.

Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen

und Myrten statt Nesseln.

Und dem HERRN soll es zum Ruhm geschehen

und zum ewigen Zeichen, das nicht vergehen wird.

(Jesaja 55,6–13)

 

Dem folgt der dritte Prophet, der unter dem Namen Jesaja geführt wird. (Trito-Jesaja Kapitel 56–66, entstanden etwa um 500 v. Chr.)

Er wirkte nach der Zeit des Exils, also nach 539, als Kyros das Edikt erlassen hatte, dass die Israeliten aus Babylon zurückkehren können. Die Rückkehrer begannen sofort, die Stadt und den Tempel wieder aufzubauen.

Sein Buch geht wahrscheinlich auf mehrere Verfasser |100|zurück. Man kann ihn als Schüler des Deutero-Jesaja ansehen, der dem Volk Mut macht und gleichzeitig vor jeder erneuten Veräußerlichung des Ritus warnt.

Wo das Religiöse das Soziale einschließt, ist es erst richtiger »Ritus«.

Das ist aber ein Fasten, an dem ich Gefallen habe:

Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast,

lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast!

Gib frei, die du bedrückst,

reiß jedes Joch weg!

Brich dem Hungrigen dein Brot,

und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!

Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn,

und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!

Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte,

und deine Heilung wird schnell voranschreiten,

und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen,

und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen

Zug beschließen.

Dann wirst du rufen, und der HERR wird dir antworten.

Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.

Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst

und nicht mit Fingern zeigst und nicht

übel redest,

sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt

und den Elenden sättigst,

dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen,

und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.

Und der HERR wird dich immerdar führen

und dich sättigen in der Dürre

und dein Gebein stärken.

Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten

und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.

Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden,

|101|was lange wüst gelegen hat,

und du wirst wieder aufrichten,

was vorzeiten gegründet ward;

und du sollst heißen »Der die Lücken zumauert

und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.

(Jesaja 58,6–12)

 

Solider Ausgleich und Harmonie in und mit der Natur ergeben eine »neue Welt«, in der Glück für alle erlebbar wird:

 

Denn siehe, ich will einen neuen Himmel

und eine neue Erde schaffen,

dass man der vorigen nicht mehr gedenken

und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.

Freuet euch und seid fröhlich immerdar

über das, was ich schaffe.

Denn siehe, ich will Jerusalem zur Wonne machen

und sein Volk zur Freude,

und ich will fröhlich sein über Jerusalem

und mich freuen über mein Volk.

Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des

Weinens

noch die Stimme des Klagens.

Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur

einige Tage leben,

oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen,

sondern als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt,

und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt

als verflucht.

Sie werden Häuser bauen und bewohnen,

sie werden Weinberge pflanzen und ihre

Früchte essen.

Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne,

und nicht pflanzen, was ein anderer esse.

|102|Denn die Tage meines Volks werden sein

wie die Tage eines Baumes,

und ihrer Hände Werk

werden meine Auserwählten genießen.

Sie sollen nicht umsonst arbeiten

und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen;

denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des HERRN,

und ihre Nachkommen sind bei ihnen.

Und es soll geschehen: ehe sie rufen, will ich antworten;

wenn sie noch reden, will ich hören.

Wolf und Schaf sollen beieinander weiden;

der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind,

aber die Schlange muss Erde fressen.

Sie werden weder Bosheit noch Schaden tun

auf meinem ganzen heiligen Berge,

spricht der HERR.

(Jesaja 65,17–25)

 

 

Jeremia

 

Von ihm und seinem persönlichen Geschick wissen wir nicht nur am meisten, er hat auch die expressivsten Texte hinterlassen. Jeremia wirkte von 627 bis 587 v. Chr. Die schwersten Auseinandersetzungen führt er mit den so genannten falschen Propheten. Jeremia ist oft einsam und unglücklich. Er wird von den Angehörigen des eigenen Volkes angegriffen, körperlich gezüchtigt, in Verliese geworfen, muss sich mehrfach verstecken. Immer wieder versucht er, seinen Auftrag – Prophet für sein Volk zu sein – loszuwerden und muss doch reden. Vorbildhaft wurde seine Tempelrede, die den Grundkonflikt zwischen Ritus und Leben, zwischen Religion und Moral offen legt.

»Bessert euer Leben und euer Tun, so will ich bei euch wohnen an diesem Ort.

|103|Verlasst euch nicht auf Lügenworte, wenn sie sagen: Hier ist des HERRN Tempel, hier ist des HERRN Tempel, hier ist des HERRN Tempel! Sondern bessert euer Leben und euer Tun, dass ihr recht handelt einer gegen den andern und keine Gewalt übt gegen Fremdlinge, Waisen und Witwen und nicht unschuldiges Blut vergießt an diesem Ort und nicht andern Göttern nachlauft zu eurem eigenen Schaden […]

Haltet ihr denn dies Haus, das nach meinem Namen genannt ist, für eine Räuberhöhle? Siehe, ich sehe es wohl, spricht der HERR.«

(Jeremia 7,3–6,11)

In einem dramatischen Zwiegespräch wird deutlich, vor welch eine übermenschliche Aufgabe er sich gestellt sieht, die er nur lösen kann, wenn sich sein Gott zu ihm stellt. Und immer wieder möchte er sich davon auch loslösen, so sehr, dass er geradezu sein Dasein verflucht.

Und des HERRN Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker. Ich aber sprach: Ach, HERR HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.

Und es geschah des HERRN Wort zu mir: Jeremia, was siehst du? Ich sprach: Ich sehe einen erwachenden Zweig. Und der HERR sprach zu mir: Du hast recht gesehen; denn ich will wachen über meinem Wort, dass ich’s tue.

|104|Und es geschah des HERRN Wort zum zweitenmal zu mir: Was siehst du? Ich sprach: Ich sehe einen siedenden Kessel überkochen von Norden her. Und der HERR sprach zu mir: Von Norden her wird das Unheil losbrechen über alle, die im Lande wohnen.

(Jeremia 1,4–14)

 

Eine Doppelbotschaft ist ihm aufgetragen: Zerstören und Bauen, Gerichtsandrohung und Heilsversprechen. Er zerbricht daran. Und er wird wieder aufgerichtet.

 

Weh mir, meine Mutter, dass du mich geboren hast,

gegen den jedermann hadert und streitet im ganzen

Lande!

Hab ich doch weder auf Wucherzinsen ausgeliehen,

noch hat man mir geliehen,

und doch flucht mir jedermann.

Ach HERR, du weißt es!

Gedenke an mich und nimm dich meiner an

und räche mich an meinen Verfolgern!

Lass mich nicht hinweggerafft werden,

während du deinen Zorn über sie noch zurückhältst;

denn du weißt,

dass ich um deinetwillen geschmäht werde.

Dein Wort ward meine Speise, sooft ich’s empfing,

und dein Wort ist meines Herzens Freude und Trost;

denn ich bin ja nach deinem Namen genannt,

HERR, Gott Zebaoth.

Ich habe mich nicht zu den Fröhlichen gesellt

noch mich mit ihnen gefreut,

sondern saß einsam, gebeugt vor deiner Hand;

denn du hattest mich erfüllt mit Grimm.

Warum währt doch mein Leiden so lange

und sind meine Wunden so schlimm,

|105|dass sie niemand heilen kann?

Du bist mir geworden wie ein trügerischer Born,

der nicht mehr quellen will.

Darum spricht der HERR:

Wenn du dich zu mir hältst, so will ich mich zu dir

halten,

und du sollst mein Prediger bleiben.

Und wenn du recht redest und nicht leichtfertig,

so sollst du mein Mund sein.

Sie sollen sich zu dir kehren,

doch du kehre dich nicht zu ihnen!

Denn ich mache dich für dies Volk

zur festen, ehernen Mauer.

Wenn sie auch wider dich streiten,

sollen sie dir doch nichts anhaben;

denn ich bin bei dir, dass ich dir helfe

und dich errette, spricht der HERR,

und ich will dich erretten aus der Hand der Bösen

und erlösen aus der Hand der Tyrannen.

(Jeremia 15,10.15–21)

 

Mitten in all seinem Elend preist er Gott und hört nicht auf, für sein störrisches Volk, für die Einsicht der Spötter, Verleumder, Lügner und Gewalttäter zu hoffen.

 

Gesegnet aber ist der Mann, der sich auf den

HERRN verlässt

und dessen Zuversicht der HERR ist.

Der ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt,

der seine Wurzeln zum Bach hin streckt.

Denn obgleich die Hitze kommt, fürchtet er sich

doch nicht,

sondern seine Blätter bleiben grün;

und er sorgt sich nicht, wenn ein dürres Jahr kommt,

|106|sondern bringt ohne Aufhören Früchte.

Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding;

wer kann es ergründen?

Ich, der HERR, kann das Herz ergründen

und die Nieren prüfen

und geben einem jeden nach seinem Tun,

nach den Früchten seiner Werke.

Wie ein Vogel, der sich über Eier setzt, die er nicht

gelegt hat,

so ist, wer unrecht Gut sammelt;

denn er muss davon, wenn er’s am wenigsten denkt,

und muss zuletzt noch Spott dazu haben.

(Jeremia 17,7–11)

 

Und doch behält er eine Hoffnung: dass der Gott aller Zeit den alten Bund erneuern wird.

Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit

dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund

schließen, nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit

ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie

aus Ägyptenland zu führen, ein Bund, den sie nicht gehalten

haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR;

sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel

schließen

will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in

ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein

Volk sein, und ich will ihr Gott sein. Und es wird keiner den

andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Er-

kenne den

HERRN«, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, klein und

groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat ver-

geben

und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.

(Jeremia 31,31–34)

 

|107|Es gibt ein gnädiges Vergessen und eine Wandlung, die ins Innerste reicht. Äußere Gebote taugen nicht, wenn sie nicht »ins Herz geschrieben« sind. (Es ist wie mit unserem Land und seinem guten Grundgesetz. Wo es nicht von den Bürger/-innen in tätiger Überzeugung getragen wird, bleibt unsere freiheitliche sozialstaatliche Demokratie auf tönernen Füßen.)

Jeremia gehörte zu den scharfen Kritikern einer Bündnis-Schaukel-Politik zwischen den damaligen rivalisierenden Großmächten. Israel und Juda werden zerrieben – bis es zur Deportation der Jerusalemer Oberschicht nach Babylon (597 v. u. Z.) kommt. Jahrzehnte Exil in Schmach. Jeremia war in Jerusalem verblieben und ist erst 586 in den großen Wirren verschollen.

Sein persönliches Schicksal ist uns unbekannt, aber sein Brief an die Exilierten hat eine große Wirkungsgeschichte – bis heute: keine Verweigerungshaltung im fremden Lande, sondern mutiger Überlebenswillen und Mitwirken am Wohl des Landes in der Fremde.

Dahinter steht die Überzeugung, dass Gott auch in der Fremde da ist und dass es Heimkehr gibt.

So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter; nehmt für eure Söhne Frauen, und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehret euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl.

Denn so spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Lasst euch durch die Propheten, die bei euch sind, und durch die Wahrsager nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen! Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Ich habe sie nicht gesandt, spricht der HERR.

|108|Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe. Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe das Ende, des ihr wartet. Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

(Jeremia 29,4–14)

 

 

Hesekiel

 

Der Prophet Hesekiel (Ezechiel) gehörte zur ersten Gruppe der Verschleppten – also zur ersten Deportationswelle nach Babylonien 597 vor der Zeitrechnung.

Er kündigt das Gottesgericht über Jerusalem an – was 587/86 geschah. Sodann schlägt seine Prophetie in Heilserwartung um. Zunächst muss er falsche Hoffnungen zerstören: »Dahin ist unsere Hoffnung, es ist aus mit uns.« (Ezechiel 37,11)

Nur zerstreute Totengebeine und Gräber sind übrig geblieben. Aber der Lebensodem Gottes, der mit dem prophetischen Wort zu wehen beginnt, wird die Erstorbenen zu neuem Leben bringen. Diese Vision vom Gräberfeld, auf dem Gott die toten Gebeine zusammensammelt, wird einerseits Vorbild für die christliche Auferstehungshoffnung »Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: ›HERR, mein Gott, du weißt es.‹« (Ezechiel 37,3) (Andererseits wurde das hier Beschriebene |109|die grausige Wirklichkeit in den Lagern, in denen deutsch gesprochen wurde. Niemand war da, der die Gebeine sammelte und ihnen neues Leben einhauchte.)

Ezechiel berichtet von seiner dramatischen Berufung. Seine Thronwagenvision sollte für viele Maler Vorbild werden. Aus ihr stammen auch die geläufigen vier Symbole für die Evangelisten, also für den geflügelten Menschen Matthäus, für den Löwen Markus, für den Stier Lukas, für den Adler Johannes. Gleichzeitig symbolisiert dies die vier Himmelsrichtungen.

Die Berufungsgeschichte findet sich in Ezechiel 1,4–2,7. Ezechiel wird zu seinem Volk gesandt, aber sie alle sind »ein Haus des Widerspruchs«. Als Zeichenhandlung muss er die Buchrolle mit Klagen beschreiben und die »Klageschrift« sodann buchstäblich aufessen.

(Von daher stammt unsere Bezeichnung ›In-sich-Hineinfressen‹. Der Auftrag an ihn, wieder abzugeben, was er »Unverdauliches« in sich aufgenommen hat, macht deutlich, dass das, was man in sich hineingefressen hat, auch wieder raus will und raus muss, weil es sonst krank macht.)

Aber du, Menschenkind, höre, was ich dir sage, und widersprich nicht wie das Haus des Widerspruchs. Tu deinen Mund auf und iss, was ich dir geben werde. Und ich sah, und siehe, da war eine Hand gegen mich ausgestreckt, die hielt eine Schriftrolle. Die breitete sie aus vor mir, und sie war außen und innen beschrieben, und darin stand geschrieben Klage, Ach und Weh.

Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, iss, was du vor dir hast! Iss diese Schriftrolle und geh hin und rede zum Hause Israel! Da tat ich meinen Mund auf, und er gab mir die Rolle zu essen und sprach zu mir: Du Menschenkind, du musst diese Schriftrolle, die ich dir gebe, in dich hineinessen und deinen Leib damit füllen. Da aß ich sie, und sie war in meinem Mund so süß wie Honig.

Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, geh hin zum Hause Israel und verkündige ihnen meine Worte. Denn ich sende dich ja |110|nicht zu einem Volk, das unbekannte Worte und eine fremde Sprache hat, sondern zum Hause Israel, nicht zu vielen Völkern, die unbekannte Worte und eine fremde Sprache haben, deren Worte du nicht verstehen könntest. Und wenn ich dich zu solchen sendete, würden sie dich gern hören. Aber das Haus Israel will dich nicht hören, denn sie wollen mich nicht hören; denn das ganze Haus Israel hat harte Stirnen und verstockte Herzen. Siehe, ich habe dein Angesicht so hart gemacht wie ihr Angesicht und deine Stirn so hart wie ihre Stirn. Ja, ich habe deine Stirn so hart wie einen Diamanten gemacht, der härter ist als ein Kieselstein. Darum fürchte dich nicht, entsetze dich auch nicht vor ihnen; denn sie sind ein Haus des Widerspruchs.

Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, alle meine Worte, die ich dir sage, die fasse mit dem Herzen und nimm sie zu Ohren! Und geh hin zu den Weggeführten deines Volks und verkündige ihnen und sprich zu ihnen: »So spricht Gott der HERR!«, sie hören oder lassen es.

(Ezechiel 2,8–3,11)

 

Das Hirtenmotiv hat Ezechiel auf eindrückliche – und bis heute – weiterwirkende Weise entfaltet. Einerseits übt er scharfe Kritik an den Hirten, die sich selber weiden, und andererseits entfaltet er das Versprechen, dass ER selbst der Hirte sein wird.

Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß |111|geworden und zerstreut. Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut, und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet. Darum hört, ihr Hirten, des HERRN Wort! So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten, darum, ihr Hirten, hört des HERRN Wort! So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen nicht mehr sich selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.

Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. Ich will sie aus allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes. Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.

(Ezechiel 34,1–11.16)

 

Der Hirte sammelt die Verstreuten. Auch Ezechiel nimmt die Erwartung eines neuen Davids und eines neuen Jerusalem |112|auf – einschließlich Rückführung der in die ganze Welt Verstreuten nach Israel.

Immer, wenn Juden litten und deportiert wurden, haben sie diese Schrift gelesen, – unüberbietbar in der Drastik und Realistik des Schreckens wie in der erwärmenden Hoffnung der Bilder vom neuen Heil.

Für alle großen Propheten ist eine Universalisierung des Handelns Gottes charakteristisch, die die Juden zu einem ganz eigenen Kosmopolitismus führte. Zugleich schärfen die Propheten einen strengen Monotheismus ein, insbesondere der so genannte Deutero-Jesaja (Jes. 40–55). (Nicht zufällig waren viele säkularisierte Juden Kommunisten, die die Welt als eine Welt sahen und deshalb alle sozialen, religiösen, kulturellen und rassischen Unterschiede und Barrieren niederreißen wollten.)

»Gott ist Herr der Welt« bedeutet hier nicht den Anspruch der Juden auf andere Völker, sondern bedeutet: Gott nimmt alles und alle in Anspruch, ist also Herr der Völker und auch Herr über die Völker. Seinen Ausdruck findet dies bei den Propheten in einer Vielzahl so genannter Völkersprüche. Sie richten sich an alle näheren oder ferneren Nachbarn Israels. Auch die gefürchteten Großmächte sind in Gottes Hand – und können zu Gottes Werkzeugen werden – vernichtend oder errettend.

Nebukadnezar kann Vollstrecker des Gerichts über Jerusalem werden, so wie Kyros der Retter sein kann, der das Volk aus der Knechtschaft, aus 40-jährigem babylonischem Exil, zurückziehen lässt.

Die Freude darüber besingt der Psalm: »Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein.« (Psalm 126)

 

 

|113|Amos

 

Amos ist Zeitgenosse von Jesaja, lebte also um 700 v. Chr. Er ist Schafzüchter, kommt von unten, gehört nicht zur »führenden Klasse«. Er benutzt bukolische Bilder, um das schreiende Unrecht zur Sprache zu bringen. So vergleicht er z. B. Frauen der vornehmen Gesellschaft mit »fetten Kühen«. Er geißelt Korruption und das Schlemmen der Reichen auf Kosten der Armen. Und wer Menschen schindet, der schändet Gott.

 

Höret dies Wort, ihr fetten Kühe,

die ihr auf dem Berge Samarias seid

und den Geringen Gewalt antut

und schindet die Armen

und sprecht zu euren Herren:

Bringt her, lasst uns saufen!

(Amos 4,1)

 

Getrieben ist der Prophet von der Sorge, Gott könnte sich völlig entziehen. So richtet er die Bitte Gottes an sein Volk, Gott zu suchen, dann würden sie leben.

 

Suchet das Gute und nicht das Böse,

auf dass ihr leben könnt,

so wird der HERR, der Gott Zebaoth, bei euch sein,

wie ihr rühmt.

Hasset das Böse und liebet das Gute,

richtet das Recht auf im Tor,

vielleicht wird der HERR, der Gott Zebaoth,

doch gnädig sein denen,

die von Joseph übrigbleiben,

(Amos 5, 14,15)

 

|114|Den ritualisierten Gottesdienst lehnt Amos – als Mund Gottes – strikt ab:

Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie

und mag eure Versammlungen nicht riechen.

Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder;

denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!

Es ströme aber das Recht wie Wasser

und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

(Amos 5,21. 23. 24)

 

Das Schlimmste wäre für ihn, wenn Gott sich entzöge und nicht mehr finden ließe:

 

Siehe, es kommt die Zeit, spricht Gott der HERR,

dass ich einen Hunger ins Land schicken werde,

nicht einen Hunger nach Brot oder Durst nach Wasser,

sondern nach dem Wort des HERRN, es zu hören;

dass sie hin und her von einem Meer zum andern,

von Norden nach Osten laufen

und des HERRN Wort suchen

und doch nicht finden werden.

(Amos 8,11f.)

 

Dies hat unmittelbar mit dem sozialen Verhalten zu tun. Er schärft ein:

 

Höret dies, die ihr die Armen unterdrückt

und die Elenden im Lande zugrunde richtet

und sprecht: Wann will denn der Neumond ein Ende

haben,

dass wir Getreide verkaufen,

und der Sabbat,

dass wir Korn feilhalten können

und das Maß verringern

|115|und den Preis steigern

und die Waage fälschen,

damit wir die Armen um Geld

und die Geringen um ein Paar Schuhe

in unsere Gewalt bringen

und Spreu für Korn verkaufen?

(Amos 8,4–6)

 

Wer sich vor Augen führt, was internationaler Währungsfonds und Weltbank mit den Armen der Welt heute tun, spürt, wie hochaktuell in einem globalen Sinne geworden ist, was in einem lokalen Kontext – mit scharfem Auge, betrübtem Herzen, wachem Verstand und einer dennoch bleibenden Hoffnung – von Amos ausgesprochen wurde.

Denn Jahwe verspricht:

 

Zur selben Zeit will ich die zerfallene Hütte Davids

wieder aufrichten

und ihre Risse vermauern

und, was abgebrochen ist, wieder aufrichten

und will sie bauen, wie sie vorzeiten gewesen ist […]

(Amos 9,11)

 

 

Micha

 

Der Prophet Micha – sein Name bedeutet ›Wer ist Jahwe‹ – wirkte zur gleichen Zeit wie Jesaja, also um 700 v. Chr. Das Nordreich, also Jakob/Israel, wurde von den Syrern 733 erobert und Jerusalem 701 von den Assyrern belagert. Auch ihm geht es um den engen Zusammenhang zwischen Ritus und Gerechtigkeit. Bei Micha findet sich die Ursprungsfassung der Friedensvisionen, die auch bei Jesaja überliefert wird (Jesaja 2,2–5).

|116|In den letzten Tagen aber wird der Berg,

darauf des HERRN Haus ist, fest stehen,

höher als alle Berge

und über die Hügel erhaben.

Und die Völker werden herzulaufen,

und viele Heiden werden hingehen und sagen:

Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des HERRN gehen

und zum Hause des Gottes Jakobs,

dass er uns lehre seine Wege

und wir in seinen Pfaden wandeln!

Denn von Zion wird Weisung ausgehen

und des HERRN Wort von Jerusalem.

Er wird unter großen Völkern richten

und viele Heiden zurechtweisen in fernen Landen.

Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen

und ihre Spieße zu Sicheln machen.

Es wird kein Volk wider das andere

das Schwert erheben,

und sie werden hinfort nicht mehr lernen,

Krieg zu führen.

Ein jeder wird unter seinem Weinstock

und Feigenbaum wohnen,

und niemand wird sie schrecken.

Denn der Mund des HERRN Zebaoth hat’s geredet.

Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes,

aber wir wandeln im Namen des HERRN,

unseres Gottes, immer und ewiglich!

(Micha 4,1–5)

Dieser Hoffnungstext mit konkreter Handlungsrelevanz gehört zum globalen Vermächtnis der prophetischen Tradition. Im allgemeinen Bewusstsein ist ein Vers übrig geblieben: »Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden.« Diese Konzentration ist zugleich eine Verkürzung.

Schwerter werden »zu Pflugscharen«: Das wertvolle Eisen |117|wird nicht mehr benutzt werden, um zu töten, den Boden mit Blut zu tränken, sondern dient dazu, Brotgetreide aus der Erde hervorzubringen. Die Konversion soll endgültig sein, der ständige Wechsel von Kriegs- und Friedenszeiten soll aufhören. Und genauso sollen die Winzermesser immer Winzermesser bleiben, die den Wein schneiden und nicht zu Spießen geschmiedet werden, um den Feinden in den Leib getrieben zu werden. Brot statt Tod und Wein statt Blut. Brot und Wein werden geheiligt, wo der Friede-Fürst sein SCHALOM-Mahl austeilt, mitten in der Machtwelt des Imperators und Pilatus: »In der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot […] nahm er den Wein […]«

Micha kündet von einer Konversion, die nicht wieder zurückgenommen wird. Dazu gehört unabdingbar, dass die Völker alle zusammenkommen, sie gelehrt werden und sich darüber belehren lassen, was es heißt, »auf seinen Pfaden zu wandeln«.

Es geht um internationale Rechtsprechung, um das Recht aller! Wenn kein Volk mehr gegen das andere das Schwert erhebt, brauchen auch die Völker keine Angst mehr zu haben; die Angst wird nicht wieder zur Rüstung führen. Sie werden nicht mehr lernen, wie man Krieg führt, sondern lernen, wie man Frieden bewahrt: gemeinsame Sicherheit zu beiderseitigem Vorteil. Kriegshandwerk wird kein seriöses Handwerk mehr sein. Dazu gehört unabdingbar die Gerechtigkeit. Wo jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnt und nicht der eine der Knecht des anderen bleibt! Das wird eine Zeit sein, in der die Angst begraben und dieses Friedenslied gesungen wird.

Es geht um die Hardware und um die Software des Friedens, um den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Frieden, von Lehre und Leben. Es geht nicht bloß um die Abwesenheit von Krieg, sondern um SCHALOM – das erfüllte, glückende, gesegnete, gerechte, umfassende Leben.

|118|Das weltgeschichtlich bedeutsame Erbe der prophetischen Tradition lässt sich in diesem Text wiederfinden, nicht zuletzt in seinem universalistischen Grundton, der weder etwas Imperiales noch einen ideologischen oder religiösen Alleinvertretungsanspruch enthält. Wohl aber geht es um eine Verbindlichkeit, in der Schöpfer und Geschöpf und auch die Geschöpfe untereinander mit der Natur im Einklang zu leben lernen. Insofern gehören die traditionell in die Weihnachtsliturgie gestellten Jesaja-Texte in die Friedenstradition als einer messianischen Tradition. Sie haben mit ihrer kräftigen und zarten Poesie, mit ihrem Realitätssinn und ihrem Überschuss zeitübergreifende Faszination:

 

Das Volk, das im Finstern wandelt,

sieht ein großes Licht,

und über denen, die da wohnen im finstern Lande,

scheint es hell.

Du weckst lauten Jubel,

du machst groß die Freude.

Vor dir wird man sich freuen,

wie man sich freut in der Ernte,

wie man fröhlich ist,

wenn man Beute austeilt.

Denn du hast ihr drückendes Joch,

die Jochstange auf ihrer Schulter

und den Stecken ihres Treibers zerbrochen

wie am Tage Midians.

Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht,

und jeder Mantel, durch Blut geschleift,

wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.

Denn uns ist ein Kind geboren,

ein Sohn ist uns gegeben,

und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter;

und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held,

|119|Ewig-Vater, Friede-Fürst;

auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende

auf dem Thron Davids und in seinem Königreich,

dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit

von nun an bis in Ewigkeit.

Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth.

(Jesaja 9,1–6)

Martin Luther klagte 1528 in einem Brief: »Wir mühen uns jetzt ab, die Propheten ins Deutsche zu übersetzen, lieber Gott, welch großes und beschwerliches Werk, die hebräischen Schriftsteller zu zwingen, deutsch zu reden, die sich so sträuben, da sie ihre hebräische Sprache nicht verlassen und die fremde Sprache nachahmen wollen; wie wenn eine Nachtigall gezwungen würde, einem Kuckuck, dessen eintönigen Ruf sie verabscheut, nach zu singen und ihren eigenen lieblichen Gesang aufzugeben.«

Ihm ist diese Nachahmung vortrefflich geglückt.