|222|Verse

Vater unser! Dein Reich komme

(Matthäus 6,10)

 

Wenn ihr betet …, dann sollt ihr so beten, sagt Jesus: »Vater unser im Himmel. Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme.«

Alles gesagt in drei Sätzen, was unsagbar ist.

Beten heißt: innerste Konzentration auf äußerste Herausforderungen, Grund-Vertrauen – auch vor Abgründen.

Wohl dem, der beten kann: »Dein Reich komme«. Weil er nicht alle Hoffnung aufgegeben hat, betet er, und weil er beten kann, hat er nicht alle Hoffnung aufgegeben. Seine Augen sind nicht verkleistert, er sieht schon genau, was ist. Er sieht, was bedrängt. Er kann die »Wasserstandsmeldungen der Sintflut« lesen, aber er sieht auch, was wird und was wächst.

Es sind die kleinen Dinge des Lebens, in denen und durch die etwas aufscheint von dem, was wir erhoffen, erbitten und erstreiten.

Wer so betet, begnügt sich nicht mit den kleinen Dingen, sondern behält immer auch Größeres im Sinn, ohne die kleinen Dinge verächtlich machen zu müssen. Er sieht das Neue und Wunderbare: dass aus einem Senfkorn ein Baum wird, dass ein Kind in der Mitte steht, zum Lehrmeister eines Lebens aus Vertrauen wird. Er kann loslassen und weggeben, weil er das Eine gefunden hat, das ihm wertvoll ist.

»Dein Reich komme.« Ich murmele, ich stottere, ich wispere, flehe, ich bitte, rufe diesen wunderbar einfachen, so öffnenden, weitenden, atemgebenden Satz vor mich hin. Wohl hunderte Male gesprochen, entdecke ich ihn – im Zusammenhang |223|mit den anderen Bitten. So einfach-schön, so tief-wahr, so herzerweichend und markerschütternd.

Ja, »Unser Vater«, geheiligt dieser unaussprechliche und so nahe Name, »dein Wille geschehe« und »unser täglich Brot gib uns« und »unsere Schuld vergib«.

Lauter Näherungsversuche, riskierte Sätze, unvollendete Gedanken – zwischen Stottern und Staunen, Hoffen und Bangen. Erschütterndes und Erfreuliches, Widerständiges und Widersprüchliches, Gewohntes und Gewagtes.

Im Zentrum der Botschaft des Jesus aus Nazareth steht nicht das Seelenheil des Einzelnen, nicht das Heil eines Volkes, ja nicht das Reich der Menschen, auch nicht die Besonderheit einer auserwählten Gruppe, sondern:

Das Reich Gottes und seine neue, andere Gerechtigkeit will den Menschen allen zugute kommen, zu ihnen kommen, ihnen die Augen öffnen dafür, »dass es gegen allen Augenschein eine Perspektive gibt«.

Wer so betet, weitet seinen Blick auf die ganze Menschenwelt, bittet nicht um sein eigenes Reich, sondern um ein Reich, das alle unsere Reiche überschreitet, überwölbt, übersteigt.

Wer so betet, kann keine rassistische, ideologische oder religiös-konfessionelle Überordnung der einen über die anderen wollen oder zulassen.

Wer so betet, muss sich gegen nationalistische Verengung wenden.

Wer jedweder Form rassistischer oder nationalistischer Überhöhung nicht aktiv entgegentritt, soll nicht so beten!

 

Wir Ostdeutschen haben eine Zeit, eine Gesellschaft hinter uns, die ein Ziel, aber keine Freiheit hatte, und sind in einer Welt angekommen, die Freiheit hat, aber ihres Ziels unsicher, ja ungewiss ist. Wenn es kein Ziel mehr gibt, gibt es auch keine Maßstäbe. Die Freiheit ohne Ziel kann zur systematischen |224|Selbstzerrüttung werden, wo Menschen vergessen, WOFÜR sie da sind und WOHIN alles führen soll.

Das Reich Gottes ist ein Raum, ein grenzenloser, grenzenübergreifender Raum, etwas, auf das wir zugehen und das auf uns zukommt, das uns zukommt. »Dein Reich komme« – das kann ein Notschrei, ein Bittruf, ein Hoffnungsseufzer, eine Routineformel, eine Widerstandsparole, eine Gegenwelterklärung und eine Einverständniskundgabe sein. Es kann tödlich formalisiert sein, und es kann aus tiefstem Herzen kommen. Missbrauchbar ist es wie alle anderen Worte, wie jede Sprachform, die zur Formel wird.

Jedenfalls ist es ein einfachster Satz für eine einfachste Lebenshaltung. Es gibt (noch) Hoffnung! Es gibt (noch) Offenheit! Es gibt noch anderes als das, was es schon gibt. Es gibt etwas, auf das wir uns richten und das uns ausrichtet und das uns aufrichtet, aufsehen lässt, selbst nach abgrundtiefen Niederlagen oder unverschmerzbaren Verlusten.

Dies ist in einer Welt zu sagen, in der alles zerbröselt – die Ideen und die Institutionen, die Natur und die Kultur –, wo aus dem Osten kein Licht mehr strahlt und wo im Westen die Sonne im Dunst unserer Konsumabfälle untergeht, wo das »Ende der Geschichte« beschworen wird und alle, die von einer Utopie reden, lächerlich gemacht werden.

Um das Reich Gottes bitten wir und haben gerade mehrere Verwechselungen hinter uns. Deutsche erjubelten, erstritten, erkämpften, erschlichen das »Reich der (überlegenen) Deutschen«, weil unseren Vätern Deutschland so sehr »über alles« ging, dass es furchtbar über alle kam, bis es über uns kam und wir Deutschen auf den Ruinen saßen, in die wir uns vor den anderen gebombt hatten.

Die nächste Verwechselung, eine hoch-ideologische Transformation, haben wir Ostdeutschen – mit dem gesamten Ostblock – erst 13 Jahre hinter uns: Das »Reich des befreiten Menschen«, in Gestalt der wohlmeinenden »Diktatur |225|des Proletariats«, Erfüllung versprechend für die Menschheitsträume alle, ja Beginn der Menschheitsgeschichte überhaupt, baute um sich Mauern und schränkte innen den Atemraum ein. Es folgten schmähliche Prozesse einerseits und schmähliche Nach-Klagen der Mitgetrippelten andererseits. Nun aber sollte es endlich losgehen: betörende Blütenträume von einem marktwirtschaftlich blühenden Land, gleich übermorgen. Freiheit wurde zuerst Wohlstandsversprechen. So kamen viele von der Fron einer Arbeit, die wenig Sinn gab, in die Freiheit von der Arbeit, ohne am Sinn des Ganzen teilhaben zu können. Plötzlich stehen wir vor den Zwängen der »Globalisierung« und dem Ende des Sozialstaates, wie man sagt.

Börsen boomen, Exportzahlen explodieren – aber immer weniger Menschen werden gebraucht, fühlen sich erübrigt, zwangs-alimentiert, aus Nürnberg. Ist das die Freiheit?

Wer bittet »Dein Reich komme«, dem geht es nicht um »mein Reich«, auch nicht um »unser« Reich, sondern um sein »Reich«, das unsere Reiche übersteigt. Dies ist keine politische Utopie, auch keine religiöse Vertröstungsformel, sondern ein mutmachender Unterwegssatz. »Dein Reich komme« – ein Weg, auf dem Gerechtigkeit und Friede, Wahrheit und Freiheit auf uns zukommt, und »sein Reich« ist ein Weg, auf dem wir gehen. Wer so beten kann, ist nicht verbittert, auch nicht verbiestert in seine politischen oder moralischen Richtigkeiten. Er bleibt so zielgewiss wie realitätsnah.

Wer sich indes anschickt, das Reich Gottes zu errichten, produziert ebenso die Hölle, wie die Ideologen vom »Reich des Menschen« den Teufel losließen, um dem Guten nachzuhelfen. Das Reich Gottes können wir nur erbitten, erhoffen, erwarten und selber auf das zugehen, was auf uns zukommt. Das Reich Gottes ist etwas ganz anderes als das übliche Gefeilsche ums Geld, als die wohlstandslüsterne |226|Aufholjagd. Es ist vielmehr ein Reichtum, der aus Dankbarkeit wächst, dem Bescheidenheit nicht griesgrämige Askese ist, sondern das Glück des Sehens, Hörens, Riechens, Fühlens, des Tätigseins. Es ist das Glück, am Verändern und am Bewahren beteiligt sein zu können.

»Dein Reich komme«. Wer so bittet, schaut aus, hat offene, gespannte, erwartungsvolle Augen für das, was jetzt schon wird, trotz allem, was uns den Horizont verdüstert. Er sieht nicht darüber hinweg, aber er lässt sich nicht fatalistisch deprimieren; sondern motivieren, auf das Erhoffte zuzugehen. Für ihn gibt es höhere Güter als die Erhöhung des Bruttosozialprodukts. Für ein reiches Land ist das eher eine Frage der gerechteren Verteilung, sowohl von Geld als auch von Arbeit.

 

Wer auf das Reich hofft, wird in Konflikt kommen mit denen, deren Lebens-Träume auf Geldzuwächsen gebettet ist.

Wer betet und deshalb auch hofft, wird sich ganz konkret der Verbitterung derer annehmen, die nicht wissen, wie sie ihre Miete bezahlen sollen und erleben müssen, wie die »Oberen« Geld machen, wie diejenigen ihr »Geld machen«, die schon Geld haben, und wie Schamlosigkeit zur Alltäglichkeit wird …

Wer sich davon frei fühlt, das Reich Gottes auf Erden errichten zu müssen, der kann auch bescheidener sein und für sich selbst ehrlicher. Wer den Mund zu voll nimmt mit hehren Ansprüchen und großen Versprechungen und wer sich den Mund zu voll stopft mit allem, was er nur kriegen und ansammeln kann, wird letztlich nur Stinkendes hinterlassen.

Wir brauchen und wir können keine Engel sein; aber wir brauchen auch nicht aus der Verachtung anderer letztlich zur Selbstverachtung zu kommen und uns gegenseitig nur noch das Ekel-Sein zugestehen. Wer auf das Reich Gottes hofft, |227|der weiß um die Liebenswürdigkeit und um die Liebesbedürftigkeit des Menschen, also um seine Erbarmungs-Würdigkeit.

»Dein Reich komme«. Wer so bittet, hält die Augen offen und sieht, welche ermutigenden Lebenszeichen aufleuchten, und behält den Mut, sich zu bewegen, statt gebannt auf heraufziehende Katastrophen zu starren und zu erstarren. Beten ist Offensein und Offenbleiben. Beten führt zusammen, wo alles auseinanderläuft und wo alles sich verläuft. Wer betet, hört auch auf, seine Verdrossenheit vor sich herzutragen. Er weiß um ein Wofür und ein Wohin. Wer aber das Wofür verloren hat, sieht auch kein Wohin mehr. Wer kein Wohin mehr hat, weiß auch nicht mehr das Wie.

Solange es die Kirche gibt, so lange gibt es auch den Streit, ob das Reich Gottes ein Jenseitstraum ist, Utopielyrik und unlebbare Heiligenethik oder ob darin eine Veränderungs-, ja eine praktische Gestaltungskraft für das Diesseits liegt.

Wo die Kirche nicht mehr »Gegenwelt« ist, sondern sich möglichst anschmiegt und einschmiegt, hat sie aufgehört, das Reich Gottes als inspirierende Gegenwart einer unverfügbaren Zukunft anzusagen. Die Kirche, die auf das Reich Gottes wartet, kann nicht zum Feiertagsschnörkel verkommen. Als religiöser Senfgeber ist sie wahrlich entbehrlich. Wer wohltemperiert, konturenlos, proporzängstlich Volkskirche sein will, wird auf Dauer nicht zur Kirche des Volkes werden können.

Im Mittelpunkt der Botschaft Jesu steht nicht die Kirche, nicht die Gruppe, auch nicht das Seelenheil des Einzelnen, schon gar nicht »der gute Mensch«, sondern das Reich Gottes, eine unsere Reiche inspirierende, kritisierende und illuminierende Größe, in der das Große klein, das Unscheinbare groß, in der die Übersehenen ansehnlich und die Vergessenen beachtet werden.

Wer ängstlich auf Austrittsdrohungen reagiert oder eher |228|fragt, was die Mitglieder bei der Stange hält, aber nicht fragt, was vor Christus standhält, verliert seine Sache.

Die Hauptsache für die Kirche muss sein, dass Christus sich uns nicht entzieht. Die Hauptfrage der Kirche kann nicht sein, wie viele sich der Institution entziehen.

Wer scheitert, der bete und fange wieder und wieder an. Wer das ganz Große erhofft, der hat auch offene Augen für das ganz Kleine und sieht darin Zeichen für das Größere; aber er begnügt sich nicht, braucht sich nicht zu begnügen, speist nicht ab und lässt sich nicht abspeisen. Wer das Reich Gottes betend erhofft, hofft für die Welt diesseits unseres Tuns und Trachtens, aber er ist auch offen für das Umgreifende und das Ungreibare, wo Gott »alles in allem« sein wird.

Wir wissen nicht, was wir beten sollen

(Römer 8,26)

 

Es heißt nicht »wie« oder »warum« oder »wofür«, sondern »was«.

Was soll der Inhalt, was Gegenstand des Gebets sein?

Der Beistand wird angerufen, der Tröster, Heilige Geist, das Unverfügbare schlechthin, etwas uns auf wunderbare Weise Zukommendes. Das hilft uns auf, dort, wo wir unsere Schwachheit, unser Am-Ende-Sein erkennen, nicht dort, wo wir vor Selbstbewusstsein und äußerer Stärke strotzen. Beten findet seine Sprache aus dem Stammeln, dem Ringen um das richtige Wort, dem Flehen um Ant-Wort. Gebet ist Annäherung an das, was unsagbar ist, aber ausgedrückt werden muss. Beten ist ein Reden, in dem ein Mensch nichts mehr filtern muss, wo er alles sagen darf, alles rauslassen kann, auch alles Erschrecken, alles Selbsterschrecken, alles Drückende und Bedrückende. Beten ist ein Reden ohne Angst, ist ein Loswerden dessen, was bedrohlich in uns |229|selbst steckt und was uns bedrohend umgibt. Hier kann einer alles sagen, ohne sein Gesicht zu verlieren. Hier kann er sich etwas zugestehen, was er einem anderen Menschen nicht zugestehen kann. Und er findet für dieses Zugestehen ein DU. Da kann einer alles sagen, tabulos und angstfrei sich anvertrauen, im Wutschrei, im Verzweiflungsruf, ja auch in der Selbstverfluchtung, bis er erlebt, dass er freier wird, bis er gar frei wird. Wo das Gebet verstummt, verliert der Mensch einen wesentlichen kathartischen Ort, einen intimen Ort der Selbstreinigung und Selbstbefreiung: durch ein Sich-Anvertrauen an das, was er nicht selbst ist.

Das andere ist das Stammeln der Freude, das Verwundern und die Dankbarkeit, die tief innere Begeisterung über das, was mitten im Alltags-Leben einfach nicht zu fassen ist, weil es zu schön ist. Beten, das nicht im Ritual erstarrt, gehört zur Intimsphäre des Menschlichen, ins geheimste Innere, ins vertrauensvoll Verschwiegene, ins An-Vertraute im Zwiegespräch. Leben auf der Suche nach dem DU, das sich dem ICH erschließt. In uns allen, die ihr Wohin suchen, steckt eine Sehnsucht; gibt es etwas, was jenseits aller Zweifel einfach »da« ist, für uns da ist? Unser Gebet sagt mehr über unseren Glauben als alle formalisierten Glaubenssätze. Unsicherheit bleibt, da wir nicht wissen, wie sich’s gebührt, zu beten.

Wir wissen, wie missbrauchbar gerade das Gebet geworden ist. Beten: das ist äußerster Ausdruck innerster Vorgänge, das ist Intensität und Intimität in ihrer höchsten Stufe, auf wundervolle Weise erreicht. Beten ist Besinnung auf die innersten Kräfte, die einem Menschen wunderbar zuwachsen. Läuterung geschieht durch ein Erzählen ohne Scheu; da kann einer sein Leben ohne Angst ausbreiten, weil er auf Annahme hofft. Es geht nicht zuvörderst ums Erhören, sondern um mitverstehendes Anhören. Ein Mensch, der aufhört zu beten, kommt sich selbst abhanden. Ein |230|Mensch, der in das Geheimnis des persönlichen Gebetes eintritt, wird von einem unsagbaren Zauber erfüllt.

Aber das Persönlichste findet öffentlichen Ausdruck, wo wir mitschwingen in einer Musik und mitsingen, sodass der Brustkorb bebt, wo wir erleben, wie die Stimme es vermag, das Herz in den Kopf und das Gefühl in den Verstand zu bringen! Wer singen und loben kann, dem wird sein Leben reicher, ohne dass er mehr dazu haben muss. Bachs Musik z. B. öffnet, weil geistlicher Gehalt sich mit künstlerischer Genialität verbindet. Wo diese Musik auf den ästhetischen Genuss beschränkt bleibt, bleibt das draußen, worauf es auch Bach ankam: der gesungene Glaube. Das Geistliche drängt aufs Ästhetische, vollendet sich im Künstlerischen, weil alle wahre Kunst hilft, dem Unsagbaren näher zu kommen. Religion ohne künstlerische Durchdringung wird peinlich und hohl.

Gott von ganzem Herzen suchen

»Gott spricht: Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen.«

(Jeremia 29,13)

 

Jeremia ist der leidenschaftlichste Gottsucher unter den Propheten, von Selbstzweifeln geplagt, erlebt er Gott wie ein »fressend Feuer«, und er gilt als einer, der Mutlosen unglaublichen Mut macht. Er ist in erbitterten Streit und in finstere Zisternen geworfen. Er ist sprachmächtiger Gegner der bestallten Gutredner und Weißwäscher. Allein steht er da, zu oft allein. Seine Heilsvision, seine Hoffnungen knüpft er eng an eine Gotteserkenntnis, in der »Große« und »Kleine« Gott von selbst erkennen. Keiner muss den anderen mehr darüber belehren und alle werden schließlich wissen, was gut ist, und was gut tut (Jeremia 31,31ff.).

|231|Gott will gesucht werden. Von ganzem Herzen. Nicht halbherzig, oberflächlich, cool. Wo Menschen am liebsten »light« leben und dies in der Spaßwelt täglich in allen Kitschfarben angepriesen wird, hat es Gott schwer. Ein flauer Gottesglaube und fauler Atheismus stehen sich gelangweilt gegenüber. Weder das Ja- noch das Nein-Sagen hat Leidenschaft. So unterbleibt das bohrende Fragen nach Sinn und Ziel, Woher und Wohin, Gut und Böse, Gelingen und Versagen, Gericht und Gnade.

Wo Gott nicht gesucht wird von ganzem Herzen, da hat er es schwer. Nicht weil Gott »schwer«, sondern weil er »tief« ist. In der Tiefe ist Wahrheit – nicht in dem, was leicht eingeht. Wer Gott von ganzem Herzen sucht, von dem lässt er sich finden. Schon im Suchen ist Finden. Unsere Suche gleicht nicht einer Fahrt ins Blaue, sondern einem Weg nach Hause. Aber suchen müssen wir – von ganzem Herzen. Mit aller Ausdauer, einer existenziellen und intellektuellen. Es ist wie beim »Versteckspiel«, das Martin Buber weitererzählt:

Das Versteckspiel

Rabbi Baruchs Enkel, der Knabe Jechiel, spielte einst mit einem anderen Knaben Verstecken.

Er verbarg sich gut und wartete, dass ihn sein Gefährte suche. Als er lange gewartet hatte, kam er aus dem Versteck, aber der andere war nirgends zu sehen. Nun merkte Jechiel, dass jener ihn von Anfang an nicht gesucht hatte.

Darüber musste er weinen, kam weinend in die Stube seines Großvaters gelaufen und beklagte sich über den bösen Spielgenossen. Da flossen Rabbi Baruch die Augen über und er sagte: »So spricht Gott auch: ›Ich verberge mich, aber keiner will mich suchen‹.«

Das kennen wir alle aus unserer Kinderzeit: diese wunderbare Spannung des Suchens und – das lachende Glück des Findens!

|232|Der Unnahbare und seine Seraphim

»Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!«

(Jesaja 6,3)

 

Eingezeichnet in Geschichte: Im Todesjahr des Königs Usia sieht der Prophet den »König der Könige« – in Analogie und Unvergleichlichkeit zugleich! – mit seinem himmlischen Hofstaat. Diese Analogie verleitete christlich-europäische Volksfrömmigkeit, Kirchenmacht und die kirchliche Kunst (in der von Christen kurzerhand abgelegten Bilderscheu) dazu, Gott als bärtigen König darzustellen, umgeben mit einem opulenten Hofstaat. Die visionäre Bildhaftigkeit, Nichtdarstellbarkeit und Ungreifbarkeit Gottes wurde in Holz und Stein, auf Leinwand und im Bildband festgemacht. So wurde Gott letztlich auch als stattlicher bärtiger alter Opa dem Gespött der ganz Intelligenten wie der ganz Dummen ausgeliefert. Solche Realdarstellung Gottes konnte bloße Überhöhung menschlicher Königsmacht sein, von der menschliche Macht abgeleitet und per se legitimiert werden konnte.

Dabei hat dieses wunderbar dunkle Wort ein unnachahmliches Flair. In religiöser Trance, in religiöser Erschütterung, ja in letzter Angst und letzter Verzückung zugleich wird der Prophet der Einmaligkeit, der Unanschaubarkeit und Ungreifbarkeit Gottes ansichtig und braucht dafür doch Bilder, Bilder von Traum und Trance, die sich ableiten von geschauten Bildern, erlebter Wirklichkeit, mit dieser verschwistert, verzwittert, verschränkt, verglichen. Er wird Zeuge, wie die Seraphim Mischwesen, vielleicht geflügelte Schlangen oder personifizierte Blitze, schwebend um den Thron Gottes herum – sich im Mehrklang und im Einklang zugleich einander dreimalig zurufen: kadosch, kadosch, kadosch – heilig, heilig, heilig – also rein, unverletzlich, schön, vollkommen, |233|unnahbar –, was sind Worte gegen eine Erfahrung von höherem Sehen, Schweben, Träumen, Erschrecken? Verzückt und verängstigt, angezogen und weggestoßen ist der Prophet, im Innersten aufs Äußerste erschüttert … Von tiefster Erschütterung in der Begegnung des Menschlichen mit dem Göttlichen schreibt er. Die Seraphim preisen den Unaussprechlichen mit dem geheimnisvollen Namen »Zebaoth«, unübersetzbar, mit umstrittener Bedeutung und interessebesetzter Bedeutsamkeit. Benutzbar geworden jeglichem. Ist er nun Herr der judäischen und damit überhaupt der Heere? Oder ist er Herr der himmlischen Heere? Oder ist es eine abstrakte Aussage über Gottes Mächtigkeit, die sich menschlicher Machtbilder bloß bedient, ohne sie übertragen zu können und zu dürfen?

Jedenfalls ist es ein Ganzheitserlebnis, wie auch das ganze Land, Himmel und Erde erfüllt sind von seiner Ehre, seinem Ruhm, seinem Licht, seiner Faszination, seinem Glanz.

Ein Mensch begegnet Gott und ist aufs Tiefste erschrocken und gleichzeitig un-heimlich fasziniert. Das Unvergleichliche erscheint im Vergleichbaren, das Unnahbare kommt fast greifbar nahe, das Unendliche erscheint in endlichen Dimensionen. Ungreifbares ist zum Greifen nahe. Himmel und Erde berühren sich in SEINER Herrlichkeit.

Solches Erlebnis lässt sich eigentlich nicht ritualisieren und einfangen in den Beginn eines christlichen Gottesdienstes, wie es im Protestantismus üblich geworden ist. Aber genau das bleibt die »theologische« Voraussetzung eines jeden Gottesdienstes: zu bekennen, dass wir unreiner Lippen sind und doch Gewürdigte der Herrlichkeit des Herrn, der sich uns zeigen will. Wer aufhört, von SEINEM Geheimnis zu sprechen und versucht, IHN in Formen und Formeln zu bannen, wird IHN nicht erreichen. Letztlich ist es die tiefste Erschütterung, in der der Mensch Gottes ansichtig wird.

|234|Das große Preisgebet vor dem Genuss von Brot und Wein, das im Glauben zur Teilhabe an Sterben und Leben des Heilandes wird, stimmt mit der Schlussformel ein in das Lied des Unnennbaren und des Nennbaren: »Heilig, heilig, heilig ist Gott, der Herr Zebaoth, voll sind Himmel und Erde seiner Herrlichkeit. Hosianna in der Höhe. Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herren. Hosianna in der Höhe.«

Hier wird aufgenommen, was der Prophet einmalig erlebte und was Möglichkeit von Gottesbegegnung jedes Einzelnen innerhalb seiner jeweiligen Bildwelt werden kann. Da wird seine Herrlichkeit gepriesen, die Himmel und Erde erfüllt, und gleichzeitig wird seine Erdung gepriesen, wie er einreitet auf einem Esel, Hosianna-umjubelt, hinaufziehend ans Kreuz. So wird er begleitet vom Schrei »Hosianna« und »Kreuzige« der Menschen. Der sich erdende Gott wird besungen mit dem unendlichen »Hosianna in der Höhe«.

Der begeisterte Hosianna-Ruf und der schäbige Kreuzige-Schrei macht den Menschen mit unreinen Lippen offenbar, den Menschen, in dem ich meine Zwei-Deutigkeit erkenne. Meine Lippen und Augen können reingemacht werden, mitten unter einem Volk von unreinen Lippen. So gewinne ich Zugang als ein Endlicher zum Unendlichen, das als »Kadosch«, als Glanz, Ehre, Herrlichkeit alles Leben und Sterben umhüllt.

Wer dieses »Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth« mitsingen, ins Innerste aufnehmen und im Äußersten glauben kann, der wird frei von den Preisungszwängen, die die Herren der Welt den Menschen aufzuerlegen versuchen. Wehe uns, wenn wir wieder irdischen Herren die abgeleitete Herrlichkeit dieses ungreifbaren Gottes zusprechen! Gott sei Dank für seine Ungreifbarkeit.

|235|»Kommet her zu mir alle«

(Matthäus 11,28)

 

In einer Nische der Gertraudenkapelle in Güstrow sitzt der »lehrende Christus«, eine Holzplastik von Ernst Barlach. Weites Gewand. Die Arme ruhen auf den Oberschenkeln. Beide Hände weit geöffnet, zum Empfangen, zum Austeilen. Eine darlegende, eine offen-legende Geste. Nichts von oben herab Forderndes oder Gebietendes. Der lehrende Christus. In sich ruhend und Ruhe ausstrahlend die ganze Person, beinahe wie eine Buddhafigur, aber nicht selig-bedürfnislos in sich versunken, sondern weit-sehend und den Näherkommenden einladend zum Gespräch, wohl auch in die Fülle des Schweigens …

Eine »Kommt, es ist alles bereit«-Geste.

 

Schmeckt und seht, wie freundlich Gott ist.

Und es gibt nur ein Stück Brot und einen Schluck Wein.

Was ist dieser Bissen schon?

Brot ist doch sonst nur meine Unterlage.

Nun schmecke ich diesen Bissen, zusammen mit Wort und Geste.

Brot ist Leben. Ohne Brot: Tod. Leben ist Hingabe für Leben.

Dieser Bissen erinnert mich an meine Bedürftigkeit.

Ich genieße ihn. Ich kaue, bis er ganz süß wird.

Und er erinnert mich an meine Unersättlichkeit, an meine Gefahr, das Viele zu verschwenden, statt das Wenige zu genießen.

Er erinnert mich an den Hunger, den ich zufällig nicht teile, aber in einer Welt lebe, die bisher nicht fähig ist zu teilen.

 

Im Empfangen, Teilen, Weitergeben des Wenigen, das alles sein kann,

|236|weil’s für alle ist, komme ich auch der Stimme der Verführbarkeit auf die Spur, die mir immer wieder einflüstert, dass die Fülle der Güter die Fülle des Lebens sei.

So kann dieser Bissen zum Bissen meiner Wandlung werden.

Nimm Brot. Nimm Leben.

Gib Leben, gib Brot weiter.

Dieses Kleine, Wenige, Winzige kann alles sein –

Fülle des Lebens – mehr haben, als wir je »haben« können!

 

Was bin ich schon Großes, was habe ich schon aufzuweisen?

Sehe ich ehrlich auf mich, wie traurig, wie mutlos,

ohnmächtig, auch verbittert ich bin,

einsam, unverstanden, verletzt. Und doch wieder

fröhlich, zuversichtlich, gelassen,

verwundert – aus lauter Gnade, denke ich.

Ich habe nur Worte, höre nur Worte, Schall und Rauch, so schön wie vergänglich, missverstanden und missbraucht die größten Worte:

Gott und Heil, Wahrheit und Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit.

Und doch: Sie richten mich auf, trösten mich, geben mir Atem.

Ich brauche den Zuspruch der Worte.

Frieden! – denke ich. Im äußeren Frieden lebe ich; er ist nicht alles. Aber ohne ihn ist alles nichts.

Alles ist er, wo er mich in meiner Tiefe erreicht.

Christus ist mein Friede. Frieden heilt mich Zerrissenen.

Und will sich ausbreiten unter uns und durch uns.

So haben wir nichts. Und haben doch mehr als wir je haben können.

|237|Geduld und Barmherzigkeit

»Der Herr ist geduldig und von großer Barmherzigkeit und vergibt Missetat und Übertretung.«

(4. Mose 14,19)

 

Geduld und Barmherzigkeit, nicht Schnellurteil und Strafe, Versöhnung und nicht Vergeltung, Vergebung und nicht Rache, Mitempfinden und nicht Gefühlskälte, Einfühlung und nicht Distanz sind Kennzeichen des christlichen Gottes. Um dies zu zeigen, musste Gott Mensch werden, sich zeigen als der sanftmütige, friedfertige und barmherzige Mensch schlechthin, der lebte, was er sagte, und der auslegte, was er tat. Ein Beispiel hat er uns gegeben. Den autoritären Herr-Gott löst er ab durch den mitverstehenden Vater-Gott, einen Gott, der wesentlich etwas »Mütterliches« hat.

Wie Gott mir, so ich dir! Es ist Mangel an Gottvertrauen, Mangel an Dankbarkeit für Empfangenes, wenn wir nicht vergeben, nicht Geduld haben miteinander, uns unbarmherzig zeigen. Gerade in einer Zeit der Vergangenheitsabrechnung und der rückwärts gewandten Schuldzuweisung, aber auch einer Zeit der neuen großen Fehler, Versäumnisse, Irrtümer und Fehl-Tritte kommen wir miteinander weiter, wenn wir nicht immerfort mit anderen oder bei anderen »aufräumen«, sondern jedem die faire Chance lassen und geben, zurückzukehren in die Gemeinschaft. Freilich gibt es dafür eine einzige unabdingbare Voraussetzung: das Ein-Sehen in Misse-Tat, z. B. die Verletzung von Menschen-Rechten.

Wer, wenn nicht die Christen, sollten Anwälte der Barmherzigkeit, Geduld und Vergebung Gottes in unserer Abrechnungskultur sein. Der Verzicht auf Auf- und Abrechnen kommt schließlich auch immer uns selbst zugute. Der andere Weg hat sich totgelaufen und eröffnet kein neues Leben.

|238|Was Gott mit uns angefangen hat, dürfen wir getrost und mutig fortsetzen.

Gewinn und Verlust

»Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?«

(Matthäus 16,26)

 

Mit jungen Leuten aus Leuna habe ich diesen Satz vor 25 Jahren durchbuchstabiert. Jeder sollte heute bedenken, was für ihn Schaden an der Seele bedeutet und was trügerischer Gewinn.

Was nützt dir ein berufliches Weiterkommen,

wenn du als Mensch nicht weiterkommst?

Was nützt dir dein Studium,

wenn du darüber versäumst, dich selber zu studieren?

Was nützen dir viele Kumpels,

wenn du keinen Freund hast?

Was nützt dir alles Wissen,

wenn du dabei ein kalter Mensch geworden?

Was nützt dir alle Schönheit,

wenn nur deine Schönheit bewundert wird?

Was nützt dir aller Reichtum,

wenn du nicht mehr staunen kannst?

Was nützt es dir,

wenn deine Eltern dich mit allem versorgen, aber kein Verständnis und keine Zeit für dich haben?

Was nützt uns ein gigantisches Chemiewerk,

wenn ringsum Welt und Menschen grau sind?

Was nützen uns komfortable Wohnungen,

wenn wir unseren Nachbarn nicht mehr kennen?

Was nützen uns große Neubaugebiete,

wenn sie ohne Poesie sind?

|239|Was nützen uns renovierte Kirchen,

wenn wir dort nicht Geborgenheit und Gemeinschaft finden können?

Was nützen uns unsere Glaubensüberzeugungen,

wenn sie uns und andere nicht frei machen?

Was nützen uns alle klugen Gedanken der Welt,

wenn wir nicht den Mut und die Kraft haben, sie durchzusetzen?

Was nützt uns alles Wissen über Gott und die Menschen,

wenn wir nicht LIEBE haben?18