Fortgang
Die Reiter hielten an und bewunderten die Berggipfel, die die Grenze ihres Landes anzeigten, die mächtigen Gipfel des Hohen Walles. Zwei Wochen lang waren zwölf Reiter einem Weg durchs Gebirge gefolgt, bis sie die übliche Strecke der Tsuranistreifen oberhalb der Baumgrenze überschritten hatten. Nun näherten sie sich allmählich einem Paß, den zu finden sie drei Tage gebraucht hatten – etwas, das seit unendlicher Zeit kein Tsurani mehr gesucht hatte, einen Weg durch den Hohen Wall in die nördliche Tundra.
Es war kalt in den Bergen. Für die meisten der Reiter, abgesehen von jenen, die während des Spaltkriegs auf Midkemia gekämpft hatten, war Kälte ungewohnt. Für die jüngeren Soldaten der Shinzawai- Leibgarde war diese Kälte, allein schon durch ihre Fremdheit, erschreckend. Doch sie ließen sich ihr Unbehagen nicht anmerken, außer vielleicht dadurch, daß sie sich enger in ihre Umhänge hüllten, während sie die seltsamen weißen Kappen der Gipfel, Hunderte Fuß über ihren Köpfen, betrachteten. Sie waren schließlich Tsuranis!
Pug, der auch jetzt das schwarze Gewand des Erhabenen trug, wandte sich an seinen Begleiter. »Es dürfte nicht mehr sehr weit sein, Hokanu.«
Der junge Offizier nickte und winkte seinen Trupp heran. Seit Wochen hatte der jüngere Sohn des Herrn der Shinzawai diesen Begleittrupp weit über die Nordgrenze des Reiches hinausgeführt.
Sie waren dem Gagajin bis zu seiner Quelle gefolgt, einem namenlosen See in den Bergen, und über die Pfade hinaus, die die üblichen Streifen der Tsuranis patrouillierten. Hier befanden sie Sich in der zerklüfteten Wildnis, den trostlosen Landen zwischen dem Reich und der nördlichen Tundra, dem Zuhause der Thunnomaden.
Selbst in Begleitung eines Erhabenen fühlte Hokanu sich nicht sehr wohl in seiner Haut.
Sie kamen um eine Biegung, und der schmale Paß vor ihnen bot ihnen einen Blick auf die Ebene. Zum ersten Mal konnten sie die unendliche Weite der Tundra sehen. Verschwommen war in der Ferne auch eine lange weiße Kette zu erkennen. »Was ist das?« erkundigte sich Pug.
Hokanu zuckte mit den Schultern, während sein Gesicht eine unbewegte Maske blieb. »Ich weiß es nicht, Erhabener. Ich nehme an, es ist ein weiterer Gebirgszug. Vielleicht ist es aber auch dieser Wall aus Eis, den Ihr beschrieben habt.«
»Ein Gletscher.«
»Was immer auch«, sagte Hokanu, »es liegt im Norden, wo Ihr glaubt, daß die Beobachter sind.«
Pug blickte über die Schulter auf die zehn schweigsamen Reiter, ehe er fragte: »Wie weit ist es?«
Hokanu lachte nun. »Weiter als einen Monat. Wir werden des öfteren auf Jagd gehen müssen.«
»Ich bezweifle, daß es hier viel Wild gibt.«
»Mehr als Ihr denkt, Erhabener. Die Thun bemühen sich zwar, jeden Winter ihre südlichen Gebirgszüge zu erreichen – das Land, das seit über tausend Jahren in unserer Hand ist –, aber trotzdem überstehen sie auch die Winter hier. Jene von uns, die auf Eurer Welt überwintern mußten, haben gelernt, auch im Schnee nicht zu verhungern. Es wird Wild geben wie Eure Hasen und Rehe, sobald wir unterhalb der Baumgrenze sind. Wir werden überleben.«
Pug ließ sich die Möglichkeiten durch den Kopf gehen, ehe er sagte: »Ich bin mir nicht so sicher, Hokanu. Vielleicht habt Ihr recht, doch wenn das, was ich zu finden hoffe, nur Sage ist, haben wir alle Mühen umsonst auf uns genommen. Ich kann durch meine Magie zu Eures Vaters Landsitz zurückkehren und auch ein paar von euch mitnehmen, etwa drei oder sogar vier. Aber den Rest? Nein, ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, daß wir uns trennen.«
Davon wollte Hokanu nichts wissen, denn sein Vater hatte ihm befohlen, Pug zu beschützen. Andererseits war Pug ein Erhabener, dem er sich nicht widersetzen durfte. So sagte er schließlich widerstrebend: »Euer Wunsch ist mir Befehl, Erhabener.« Er winkte seinen Leuten. »Laßt die Hälfte eurer Wegzehrung hier.« Zu Pug gewandt: »Wenn Ihr es Euch einteilt, werdet Ihr für ein paar weitere Tage nicht zu hungern brauchen, Erhabene r.« Als der Mundvorrat in zwei großen Reisebeuteln verstaut und hinter Pugs Sattel gehängt war, bedeutete Hokanu seinen Leuten zu warten.
Der Magier und der Offizier ritten ein kurzes Stück gemeinsam weiter, und der Sohn der Shinzawai sagte: »Erhabener, ich habe über die Warnung, die Ihr uns übermittelt habt, und über Euer Unternehmen nachgedacht.« Es schien ihm schwerzufallen, auszudrücken, was er dachte. »Durch Euch hat meine Familie viel erlebt, und nicht nur Gutes. Doch wie mein Vater, war ich immer überzeugt, daß Ihr ein Ehrenmann seid und ohne Falsch. Wenn Ihr glaubt, dieser legendäre Feind stecke hinter all den Schwierigkeiten auf Eurer Heimatwelt, und wenn Ihr annehmt, daß er kurz davorsteht, Eure Welt und unsere zu finden, so muß ich es ebenfalls glauben. Ich gestehe, daß ich Angst habe, Erhabener. Ich schäme mich.«
Pug schüttelte den Kopf. »Es besteht kein Grund, Euch zu schämen, Hokanu. Dieser Feind ist etwas, was über unser Begriffsvermögen hinausgeht. Ich weiß, Ihr haltet alles für eine Schauermär, etwas, worüber gesprochen wurde, als Eure Lehrer Euch als kleinen Jungen in Geschichte zu unterrichten begannen.
Selbst ich, der ich ihn durch das mystische Gesicht eines anderen sah, begreife ihn nicht und weiß von ihm nur, daß er die größte, überhaupt denkbare Gefahr für unsere Welten darstellt. Nein, Hokanu, Ihr braucht Euch wahrhaftig nicht zu schämen. Ich fürchte sein Kommen. Ich fürchte seine Macht und seinen Wahnsinn, denn er ist von vernunftloser Wut und irrem Haß. Ich würde an dem Verstand jener zweifeln, die ihn nicht fürchteten.«
Hokanu senkte den Kopf, dann blickte er dem Magier in die Augen. »Milamber – Pug, ich danke Euch für den Seelenfrieden, den Ihr meinem Vater geschenkt habt.« Er meinte damit die Botschaft, die Pug von Kasumi gebracht hatte. »Mögen die Götter beider Welten Euch beschützen, Erhabener.« Er verneigte sich als Zeichen der Hochachtung, dann wendete er stumm sein Pferd.
Kurz darauf saß Pug allein am Rand des Passes, auf dem seit undenklicher Zeit kein Tsurani mehr gewandelt war. Unter ihm lagen die Wälder des Nordhangs des Hohen Walles, davor das Land der Thun. Und jenseits der Tundra? Ein Traum oder eine Sage, vielleicht.
Die fremdartigen Geschöpfe, die jeder Magier flüchtig als Gesicht bei seiner Abschlußprüfung sah, ehe ihm das Schwarze Gewand zuteil wurde – diese Geschöpfe, die nur als Beobachter bekannt waren. Es war Pugs große Hoffnung, daß sie etwas über den Feind wußten, etwas, was sich im bevorstehenden Kampf als ausschlaggebend erweisen mochte. Denn während Pug auf seinem Pferd am windgepeitschten Paß des gewaltigsten Berges auf Kelewans größter Landmasse verharrte, war er sicher, daß eine große Auseinandersetzung begonnen hatte – eine, die die Vernichtung von zwei Welten bedeuten könnte.
Er trieb sein Pferd an, und es tat vorsichtig Schritt um Schritt hinunter in die Tundra und ins Unbekannte.
Pug zügelte sein Pferd. Seit dem Abschied von Hokanu und seinem Trupp, und während er bergab geritten war, hatte er nichts als Fels und karge Pflanzen gesehen. Nun, einen Tagesritt seit Verlassen der Vorberge galoppierte eine Schar Thun auf ihn zu.
Die zentaurähnlichen Wesen brüllten ihren Kampfgesang hinaus, und ihre Hufe hämmerten auf die Tundra. Doch im Gegensatz zu den sagenumwobenen Zentauren sah der obere Teil dieser Geschöpfe aus, als wäre eine Echsenart zur Menschengestalt aus dem Rumpf eines schweren Gauls oder Maultiers gewachsen. Wie alle einheimischen Lebensformen auf Kelewan waren sie jedoch sechsbeinig, und wie bei jener anderen von hier stammenden, intelligenten Rasse, den insektoiden Cho-Ja, hatten sich die vorderen Gliedmaßen zu Armen entwickelt mit menschenähnlichen, doch sechsfingrigen Händen.
Pug wartete ruhig ab, bis die Thun ihn fast erreicht hatten, dann errichtete er einen magischen Schutzschirm und beobachtete, wie sie dagegenprallten. Sie waren ausschließlich männlichen Geschlechts – Pug konnte sich allerdings nicht einmal vorstellen, wie die weiblichen Thun aussahen – und große, kräftige Krieger. Und sie benahmen sich trotz ihres fremdartigen Aussehens so, wie Pug es unter denselben Umständen von jungen menschlichen Kriegern erwartet hätte, verwirrt und wütend. Einige schlugen wirkungslos auf den Schild ein, andere wichen ein Stück zurück, um abzuwarten. Pug nahm den Umhang ab, den der Herr der Shinzawai ihm für die Reise gegeben hatte. Durch die dunstige Trübe des magischen Schirms sah einer der jungen Thun, daß er das Schwarze Gewand trug. Er rief seinen Begleitern etwas zu. Alle machten kehrt und flohen.
Drei Tage folgten sie ihm in achtungsvollem Abstand. Einige liefen davon, und eine Zeitlang schlossen sich den übrigen andere an.
Dieses Weglaufen und Zurückkehren wiederholte sich regelmäßig.
Des Nachts errichtete Pug eine magische Kuppel um sich und sein Pferd, und wenn er am Morgen erwachte, beobachteten die Thun ihn, als hätten sie selbst in der Nacht nicht geschlafen. Dann, am vierten Tag, waren die Thun endlich zu einer friedlichen Verständigung bereit.
Ein einzelner Thun trottete auf ihn zu, die Hände unbeholfen über den Kopf haltend – das tsuranische Zeichen, daß eine Unterhandlung gewünscht wurde. Als er näher heran war, erkannte Pug, daß man ihm einen der Älteren geschickt hatte.
»Ehre Eurem Stamm«, sagte Pug in der Hoffnung, das Geschöpf beherrsche Tsuranisch.
Ein beinahe menschliches Schmunzeln antwortete ihm. »Zum ersten Mal geschieht das, Schwarzer. Menschen haben nie Ehre mir gewünscht.« Der Akzent war seltsam, doch verständlich, und die ungewöhnlichen Züge waren erstaunlich ausdrucksvoll. Der Thun war unbewaffnet, doch deuteten viele alte Narben darauf hin, daß er einst ein mächtiger Krieger gewesen sein mußte. Nun hatte das Alter ihm viel seiner Kraft geraubt.
Pug äußerte eine Vermutung: »Ihr seid das Opfer?«
»Mein Leben Eures ist zu nehmen. Bringt herab Euer Himmelsfeuer, wenn das ist Euer Wunsch. Doch nein, nicht Euer Wunsch, glaube ich.« Wieder das unverkennbare Schmunzeln.
»Schwarze, die Thun standen gegenüber. Und warum einen im Alter nahe dem Scheiden solltet Ihr nehmen, wenn Himmelsfeuer verbrennen kann eine ganze Schar? Nein, Eure eigenen Gründe Euch hierherbrachten, nicht wahr? Jene zu beunruhigen, die bald kämpfen müssen gegen die Eisjäger, die Rudeltöter, das ist Euer Sinn nicht.«
Pug musterte den Thun. Er hatte ein Alter erreicht, daß er bald nicht mehr würde Schritt mit den anderen halten können und sein Stamm ihn den Raubtieren der Tundra überlassen würde.
»Euer Alter hat Euch weise gemacht. Ich will keinen Streit mit den Thun, sondern lediglich weiter gen Norden ziehen.«
»Thun ein Tsuraniwort. Lasura sind wir, das Volk. Schwarze habe ich gesehen. Schlimm sind sie. Fast gewonnen hatten wir den Kampf, dann Himmelsfeuer brachten die Schwarzen. Tsuranis tapfer kämpfen, und eine große Trophäe ist ein Tsuranikopf. Aber Schwarze? Lasura in Frieden zu lassen, wollt ihr gewöhnlich nicht. Warum unser Land überqueren möchtet Ihr?«
»Es besteht eine ernste Gefahr aus uralter Zeit. Eine Gefahr für alle auf Kelewan, für die Thun nicht weniger als für die Tsuranis. Ich glaube, es gibt solche, die wissen, wie man dieser Gefahr begegnen kann, solche, die hoch im Eis leben.« Pug deutete nordwärts.
Der alte Krieger bäumte sich auf wie ein erschrockener Hengst, und Pugs Pferd scheute zurück. »Dann wahnwitziger Schwarzer, nordwärts geht. Tod wartet dort! Das herausfinden werdet Ihr! Jene, die leben im Eis, keinen willkommen heißen, und die Lasura keinen Streit mit Wahnsinnigen suchen. Denn, wer einem Irren etwas tut, den die Götter strafen. Berührt von den Göttern Ihr seid!« Er rannte davon.
Pug verspürte Erleichterung und Furcht gleichermaßen. Denn daß die Thun ›jene, die leben im Eis‹ kannten, wies darauf hin, daß die Beobachter doch nicht bloß Sagengestalten oder längst ausgestorben waren. Aber die Warnung des Thun ließ ihn für sein Unternehmen fürchten. Was erwartete ihn hoch oben im Eis des Nordens?
Er machte sich wieder auf den Weg, als die Thunschar am Horizont verschwand. Der Wind nahte vom Eis her, und Pug zog den Umhang enger um sich. Noch nie hatte er sich so allein gefühlt.
Wochen waren vergangen, und das Pferd hatte die Strapazen nicht überstanden. Nicht zum ersten Mal ernährte sich Pug von Pferdefleisch. Er bediente sich seiner Zauberkräfte, um sich über kürzere Strecken zu versetzen, doch den größten Teil des Weges ging er zu Fuß. Mehr als jede mögliche Gefahr beunruhigte es ihn, daß er nicht wußte, wieviel Zeit verstrich, obwohl er nicht das Gefühl hatte, daß der Angriff des Feindes unmittelbar bevorstand. Es konnten noch Jahre vergehen, bis er Midkemia erreichte. Ganz gewiß verfügte er nicht mehr über die gewaltige Macht wie zur Zeit der goldenen Brücke, denn sonst hätte er sie längst auf Midkemia bewiesen, und nichts auf dieser Welt hätte ihn aufzuhalten vermocht.
Die Zeit verlief eintönig für Pug, während er immer weiter nordwärts zog. Er stapfte dahin, bis er auf eine Anhöhe gelangte.
Dort prägte er sich einen fernen Punkt ein und versetzte sich dahin.
Doch das war anstrengend und auch nicht ganz ungefährlich.
Erschöpfung stumpfte seine Sinne ab, dabei konnte jeder Fehler in seinem Zauber, die nötige Kraft für seine Versetzung zu sammeln, ihm sehr schaden, ja sogar den Tod bringen. Also wanderte er gewöhnlich dahin, bis er sich ausreichend wach fühlte und einen Ort erreichte, der für eine solche Magie geeignet war.
Dann, eines Tages, hatte er etwas Seltsames in der Ferne entdeckt.
Von den Eishöhen schien etwas Merkwürdiges aufzuragen, doch war es so weit entfernt, daß er es nur verschwommen sehen konnte. Er setzte sich nieder. Es gab einen Zauber der Fernsicht, dessen sich die Magier des Niedrigeren Pfades bei Bedarf bedienten. Er erinnerte sich daran, als habe er soeben erst darüber nachgelesen. Doch dieser Zauber verhinderte seine eigene Magie, und ihm fehlte jetzt der Anreiz, die Todesfurcht nämlich, die ihm damals gestattet hatte, Niedrigere Magie anzuwenden. So vermochte er es nicht, den Zauber wirksam zu machen. Seufzend stand er auf und schleppte sich weiter nordwärts.
Vor drei Tagen hatte er die Eisspitze gesehen, die sich über dem Rand eines gewaltigen Gletschers erhob. Jetzt kämpfte er sich eine Erhebung hinauf und schätzte die Entfernung ab. Sich an einen unbekannten Ort zu versetzen, ohne ein Hilfsmuster, nach dem er sich richten konnte, war gefährlich, außer er sah sein Ziel. So entschied er sich für eines, das wie ein Sims vor einem Höhleneingang aussah, und sprach seinen Zauber.
Sofort stand er vor einer richtigen Tür in einem Eisturm, der offenbar auf magische Weise errichtet war. Da erschien vor ihm eine vermummte Gestalt. Sie bewegte sich lautlos und anmutig und war hochgewachsen, doch unter der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze waren ihre Züge nicht zu erkennen.
Pug wartete schweigend ab. Die Thun hatten zweifellos Angst vor diesen Geschöpfen. Zwar fürchtete er nicht für sich selbst, doch konnte der geringste Fehler ihm die einzige Hilfsquelle verschließen, die ihm Erkenntnis über den Feind vermitteln mochte. Trotzdem war er bereit, sich zu verteidigen, falls es sich als nötig erwies.
Als ein Windstoß den Schnee um ihn aufwirbelte, bedeutete der Vermummte Pug, ihm in den Turm zu folgen.
Im Innern waren Stufen in die Wand geschlagen. Der Turm selbst schien aus Eis geformt zu sein, doch seltsamerweise war es hier nicht kalt. Im Gegenteil, es schien nach dem bitteren Wind der Tundra warm zu sein. Die Stufen führten hinunter ins Eis. Der Vermummte verschwand die Treppe abwärts und war bereits fast außer Sicht, als Pug eintrat und ebenfalls hinunterstieg. Immer tiefer kamen sie, als läge ihr Ziel weit unter dem Gletscher. Als sie stehenblieben, war Pug überzeugt, daß sie sich Hunderte von Fuß unterhalb der Oberfläche befanden.
Am Fuß der Treppe gelangten sie zu einer großen Tür aus demselben Eis wie die Wände. Der Vermummte trat hindurch, und wieder folgte Pug ihm. Doch dann blieb er wie angewurzelt stehen und blinzelte ungläubig.
Unter dem gewaltigen Eisgebilde in der Eisöde des kelewanesischen Nordpols erstreckte sich ein Wald, wie es ihn sonst nirgendwo auf Kelewan gab. Pugs Herz schlug schneller, als er die mächtigen alten Eichen und Ulmen, Eschen, Fichten und Tannen sah.
Erde, nicht Eis war unter seinen Füßen, und weiches Licht ging von grünen Zweigen und Blättern aus. Pugs Führer deutete auf einen Pfad und ging wieder voraus. Tief im Wald gelangten sie zu einer großen Lichtung. Ein ähnlicher Anblick hatte sich ihm noch nie geboten, doch wußte er, daß es einen Ort, einen sehr fernen Ort gab, der diesem gleichen mußte. In der Mitte der Lichtung erhoben sich gigantische Bäume mit großen Plattformen dazwischen, die miteinander verbunden waren. Silbrige, weiße, goldfarbene und grüne Blätter schienen aus sich heraus in geheimnisvollem Licht zu glühen.
Pugs Führer hob die Hände an die Kapuze und schlug sie zurück.
Staunend weiteten sich Pugs Augen, denn vor ihm stand ein Geschöpf, wie es keinem Midkemier fremd war. Ungläubig starrte Pug das Wesen an und brachte keinen Ton hervor. Der Fremde war ein alter Elb, und nun sagte er mit einem Lächeln: »Willkommen in Elvardein, Milamber von der Vereinigung. Oder ist es Euch lieber, wenn wir Euch Pug von Crydee nennen? Wir haben Euch erwartet.«
»Ich ziehe Pug vor«, flüsterte dieser, kaum seiner Stimme mächtig. Er kämpfte um seine Fassung, denn nie hätte er erwartet, Midkemias Zweitälteste Rasse in diesem Wald, tief im Eis einer fremden Welt vorzufinden. »Was ist dies hier? Wer seid Ihr? Und woher wußtet Ihr, daß ich kommen würde?«
»Wir wissen vieles, Sohn von Crydee. Ihr seid hier, weil die Zeit für Euch gekommen ist, Euch dem schlimmsten aller Schrecken zu stellen, dem, den Ihr den Feind nennt. Ihr seid hierhergekommen, um zu lernen. Wir sind hier, um zu lehren.«
»Wer seid Ihr?«
Der Elb bedeutete Pug, ihm zu einer riesigen Plattform zu folgen.
»Es gibt viel, was Ihr lernen müßt. Ein Jahr werdet Ihr bei uns bleiben, und wenn Ihr uns dann verlaßt, werdet Ihr über Macht und Einsicht verfügen, die Ihr jetzt nur ahnt. Ohne das, was Ihr bei uns lernen werdet, würdet Ihr nicht imstande sein, die kommende Auseinandersetzung zu überleben. Doch mit diesem Wissen seid Ihr vielleicht in der Lage, zwei Welten zu retten.«
Er nickte, als Pug herbeikam, und schritt neben ihm her. »Wir sind eine Elbenrasse, die schon vor langer Zeit von Midkemia verschwand. Wir sind die älteste Rasse jener Welt und waren die Diener der Valheru, die die Menschen Drachenherren nennen. Ja, es ist lange her, daß wir auf diese Welt kamen, und aus Gründen, die Ihr noch erfahren werdet, entschlossen wir uns hierzubleiben. Wir halten Wache und schauen nach jenem aus, was Euch zu uns geführt hat. Wir bereiten uns auf den Tag vor, da der Feind zurückkehrt. Wir sind die Eldar.«
In seinem Staunen brachte Pug kein Wort hervor. So betrat er schweigend die Zwillingsstadt von Elbenheim, diesen Ort hier tief im Eis, den der Eldar Elvardein genannt hatte.
Arutha eilte den Korridor entlang. Lyam schritt an seiner Seite.
Dichtauf folgten ihnen Volney, Vater Nathan und Pater Tully, hinter diesen, dicht gedrängt, Fannon, Gardan, Kasumi, Jimmy, Martin, Roald, Dominic, Laurie und Carline. Der Fürst trug noch seine arg mitgenommene Reisekleidung wie auf dem Schiff von Crydee. Diese Schiffsreise war schnell und glücklicherweise ohne unliebsame Zwischenfälle verlaufen.
Zwei Posten hielten noch außerhalb des Gemachs Wache, über das Pug den Zauber gewirkt hatte. Arutha bedeutete ihnen, die Tür zu öffnen, dann winkte er sie zur Seite und zerschmetterte mit dem Degengriff das Siegel, wie Pug es ihm erklärt hatte.
Der Fürst und die beiden Priester eilten an der Prinzessin Bett.
Lyam und Volney hielten die anderen auf dem Gang zurück. Nathan öffnete das Fläschchen mit dem Heilmittel, das die Elbenzauberwirker hergestellt hatten. Wie verordnet, träufelte er einen Tropfen auf Anitas Lippen. Einen Moment tat sich gar nichts, dann zuckten die Lippen der jungen Fürstin. Sie öffnete den Mund und leckte den Tropfen von den Lippen. Tully und Arutha setzten sie auf. Nathan legte das Fläschchen an ihren Mund und leerte es auf ihre Zunge. Sie schluckte alles.
Vor ihren Blicken kehrte Farbe in Anitas Wangen zurück.
Während Arutha sich an ihre Seite kniete, flatterten ihre Lider, und sie öffnete die Augen. Ganz leicht drehte sie den Kopf und wisperte kaum hörbar: »Arutha.« Sie streckte die Hand aus und strich mit sanften Fingern über seine Wange, als Tränen der Dankbarkeit über sein Gesicht rannen. Er nahm ihre Hand und küßte sie.
Dann kamen Lyam und die anderen ins Gemach. Vater Nathan erhob sich, und Tully keifte: »Aber nur eine Minute! Sie muß sich ausruhen!«
Lyam lachte, und es war wieder sein altes, glückliches Lachen.
»Hört ihn euch an! Tully, der König bin immer noch ich!«
»Selbst wenn sie Euch zum Kaiser von Kesh, zum König von Queg und zum Großmeister der Brüder des Dalaschildes machen, bleibt Ihr für mich einer meiner weniger begabten Schüler. Einen Augenblick nur, und dann wieder hinaus mit euch allen!« Er drehte sich um, doch die Tränen, die ihm nun über die Wangen perlten, konnte er nicht mehr verbergen.
Prinzessin Anita blickte auf all die glückstrahlenden und doch tränenfeuchten Gesichter und fragte erstaunt: »Was ist passiert?« Sie setzte sich auf und zuckte zusammen. »Oh, das tut weh.« Verlegen lächelnd fragte sie: »Arutha, was ist eigentlich geschehen? Ich erinnere mich nur, daß ich mich bei der Trauung dir zuwandte…«
»Ich erkläre es dir später. Jetzt ruhst du dich erst einmal aus, dann komme ich wieder.«
Sie lächelte, konnte jedoch ein Gähnen nicht unterdrücken.
Schnell legte sie die Hand vor den Mund. »Entschuldige, aber ich bin wirklich müde.« Sie kuschelte sich ins Kissen und schlief rasch ein.
Tully scheuchte alle aus dem Gemach. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, fragte ihn Lyam: »Pater, wann glaubt Ihr, können wir die Hochzeit zu Ende führen?«
»Schon in ein paar Tagen«, versicherte ihm Tully. »Die Genesungskräfte dieses Elbenmittels sind erstaunlich.«
»Wir machen eine Doppelhochzeit daraus«, warf Carline ein.
»Ich wollte mit deiner Trauung warten, bis wir in Rillanon zurück sind«, sagte Lyam.
»Kommt ja gar nicht in Frage!« begehrte seine Schwester auf.
»Ich gehe kein Risiko mehr ein!«
»Nun, Euer Gnaden«, wandte der König sich an Laurie. »Dann ist es wohl beschlossen.«
»Euer Gnaden?« wunderte sich Laurie.
Lachend sagte Lyam: »Natürlich. Hat sie es dir denn nicht gesagt? Ich kann meine Schwester doch keinem Bürgerlichen geben. Also erhebe ich dich zum Herzog von Salador.«
Laurie wirkte erschütterter als zuvor. »Komm doch, Liebster.«
Carline nahm ihn an der Hand. »Du wirst es schon überleben.«
Arutha und Martin lachten. Martin sagte: »Ist dir auch schon aufgefallen, daß es mit dem Adel in letzter Zeit abwärts geht?«
Arutha drehte sich zu Roald um. »Ihr habt für Gold mitgefochten.
Doch mein Dank geht über Gold hinaus. Ihr sollt mehr haben.
Volney, gebt diesem Mann einen Beutel mit hundert Goldkronen, das war unser abgemachter Preis. Als Belohnung bekommt er zusätzlich zehnmal soviel. Und zum Dank noch tausend weitere Goldstücke.«
Roald strahlte. »Ihr seid sehr großzügig, Hoheit.«
»Außerdem seid Ihr hier mein Gast, solange es Euch gefällt. Vielleicht überlegt Ihr es Euch sogar und tretet in meine Leibgarde ein. Ich habe eine Hauptmannstelle frei.«
Roald salutierte. »Vielen Dank, Eure Hoheit, aber lieber nicht. Ich dachte in letzter Zeit häufig daran, mich irgendwo niederzulassen, vor allem nach diesem letzten Abenteuer, doch war ich lange genug Söldner.«
»Dann seid mein Gast, so lange Ihr wollt. Ich werde dem Haushofmeister Bescheid geben, daß er Gemächer für Euch herrichtet.«
»Ich danke Euch, Hoheit.« Roald strahlte noch mehr.
»Bedeutet diese Bemerkung üb er eine freie Hauptmannstelle, daß ich diesen Dienst hier endlich beenden und mit Seiner Gnade nach Crydee zurückkehren kann?« erkundigte sich Gardan.
Arutha schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Gardan. Sergeant Valid wird Hauptmann meiner Leibgarde werden, doch das heißt nicht, daß Ihr in. den Ruhestand treten könnt. Nach den Berichten Pugs, die Ihr von Stardock mitgebracht habt, werde ich Euch ganz bestimmt hier brauchen. Lyam wird Euch in Kürze zum Feldmarschall von Krondor ernennen.«
Kasumi schlug Gardan auf den Rücken. »Meinen Glückwunsch, Marschall.«
Gardan sagte: »Aber…«
Jimmy räusperte sich erwartungsvoll. Arutha drehte sich zu ihm um. »Ja, Junker?«
»Ich dachte…«
»Du wolltest etwas fragen?«
Jimmy blickte von Aruthas Gesicht zu Martins. »Nun, ich dachte, da Ihr gerade beim Belohnen seid…«
»O ja, natürlich.« Arutha schaute sich um und sah einen der Junker. »Locklear!«
Der Gerufene eilte herbei und verbeugte sich vor seinem Fürsten.
»Hoheit?«
»Begleite Junker Jimmy zu Meister deLacy und unterrichte den Zeremonienmeister, daß Jimmy jetzt Oberjunker ist.«
Jimmy grinste, als er mit Locklear abtrat. Offenbar wollte er noch etwas sagen, doch dann schien er es sich im letzten Moment anders zu überlegen.
Martin legte die Hand auf Aruthas Schulter. »Achte gut auf den Jungen. Er erstrebt offenbar ernsthaft, eines Tages Herzog von Krondor zu werden.«
»Ich will verdammt sein, wenn er es nicht tatsächlich würde.«
Arutha lächelte.