Kriegsherr
In der Zelle hing der Geruch von modrigem Stroh.
Pug versuchte sich zu bewegen und stellte fest, daß seine Hände mit Needrahautketten an der Wand festgemacht waren. Die Haut der schwerfälligen, sechsbeinigen Lasttiere der Tsuranis war so behandelt worden, daß sie dem Stahl an Härte nichts nachstand, und die Kette war fest in der Wand verankert. Pugs Kopf schmerzte von der Einwirkung des eigenartigen, zauberverhindernden Gerätes.
Doch da war noch etwas. Er kämpfte gegen seine geistige Sperre an und blickte auf seine Fesseln. Als er begann, den Zauber zu sprechen, der die Ketten auflösen würde, kam es zu einer plötzlichen Verkehrtheit – ein anderes Wort dafür fiel ihm nicht ein. Sein Zauber wirkte nicht.
Pug lehnte sich an die Wand zurück. Es bestand kein Zweifel, daß über die Zelle ein Zauber verhängt war, der jede andere Magie verhinderte. Natürlich, dachte er. Wie sollte man auch sonst einen Magier im Gefängnis festhalten können?
Er schaute sich um. Es war ein winziger, dunkler Raum, in den nur von einem vergitterten Fenster über der Tür ein Lichtschimmer fiel. Etwas Kleines machte sich eifrig neben Pugs Fuß im Stroh zu schaffen. Er trat danach, und es huschte davon. Die Wände waren feucht, woraus er schloß, daß seine Gefährten und er sich unter der Erdoberfläche befanden. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie bereits hier eingesperrt waren, noch wo sie sich befanden. Kelewan war groß, und diese Zelle mochte irgendwo sein.
Meecham und Dominic waren an die gegenüberliegende Wand gekettet, und Hochopepa an die rechts von Pug, dem sofort klar wurde, daß das Schicksal des Reiches bedroht war, da man es gewagt hatte, sich an Hochopepa zu vergreifen. Einen Gesetzlosen gefangenzunehmen war eine Sache, doch einen Erhabenen des Reiches in den Kerker zu werfen, etwas ganz anderes. Von Rechts wegen hatte der Kriegsherr keinerlei Gerichtsbarkeit über einen Erhabenen. Vom Kaiser abgesehen, konnten nur die Erhabenen eine Entscheidung des Kriegsherrn in Frage stellen. Kamatsu hatte also recht. Der Kriegsherr beabsichtigte einen entscheidenden Zug im Spiel des Hohen Rates. Jedenfalls bewies die Gefangennahme eines Erhabenen Verachtung gegenüber Recht und Gesetz.
Meecham ächzte und sah mühsam auf. »Mein Kopf«, stöhnte er.
Als er feststellte, daß er angekettet war, zerrte er an seinen Fesseln.
»Verdammt!« brummte er und blickte Pug an. »Was nun?«
Den Kopf schüttelnd erwiderte der Magier seinen Blick und entgegnete: »Wir müssen abwarten.«
Drei oder vier Stunden verstrichen, dann öffnete sich die Tür, und ein Schwarzgewandeter trat ein in Begleitung eines Soldaten in der Reichsuniform. Hochopepa fauchte ihn an: »Ergoran! Seid Ihr wahnsinnig? Laßt mich sofort frei!«
Der Schwarzgewandete wies den Soldaten an, Pug von den Fesseln zu befreien. Zu Hochopepa sagte er: »Was ich tue, geschieht zum Wohl des Reiches. Ihr steckt mit unseren Feinden im Bunde. Ich werde die Vereinigung von Eurem Verrat unterrichten, sobald wir die Bestrafung dieses falschen Magiers vollzogen haben.«
Pug wurde aus der Zelle gezerrt, und der Magier namens Ergoran sagte zu ihm: »Milamber, was du dir vor einem Jahr bei den Reichsspielen geleistet hast, ist Grund genug, auf dich zu achten und dir eine Sonderbehandlung angedeihen zu lassen – eine, die verhindert, daß du wieder um dich wütest.« Zwei Soldaten legten ihm Metallbänder um die Handgelenke. »Der Schutzbann um die Verliese verhindert jeglichen Zauber in ihrem Innern. Und bist du erst außerhalb, wirken diese Armbänder jeglichem Zauberversuch deinerseits entgegen.« Er bedeutete den Wächtern, ihm mit Pug zu folgen, und einer versetzte ihm einen Stoß.
Pug wußte, daß es sinnlos wäre, etwas gegen Ergoran unternehmen zu wollen. Von allen Magierschützlingen des Kriegsherrn war Ergoran der eifrigste. Er gehörte zu den wenigen, die die Ansicht vertraten, die Vereinigung müßte dem Hohen Rat angeschlossen werden. Manche vertraten die Ansicht, es sei Ergorans Ziel, die Vereinigung zum Hohen Rat zu machen. Und das Gerücht war umgegangen, daß der hitzköpfige Almecho zwar nach außen hin geherrscht hatte, doch Ergoran hinter ihm gestanden und er es gewesen war, der gewöhnlich die Politik der Kriegspartei bestimmt hatte.
Über eine lange Treppe brachte man Pug ins Freie. Nach der Düsternis der Zelle blendete die Sonne ihn, doch während man ihn über den Innenhof eines Gebäudes stieß, paßten seine Augen sich an.
Nun führte man ihn eine breite Treppe hoch, und er blickte verstohlen über die Schulter. Er erkannte genug von der Umgebung, um zu wissen, wo sie sich befanden. Er sah den Gagajin, der vom Hohen Wall, dem Gebirge im Norden, nach Jamar floß und die bedeutendste Nord-Süd-Verbindung für die mittleren Provinzen des Kaiserreichs darstellte. Also war er in Kentosani, der Heiligen Stadt und Hauptstadt des Reiches von Tsuranuanni. Und nach den zahllosen weißgekleideten und bewaffneten Wächtern zu schließen, war dies hier der Palast des Kriegsherrn.
Pug wurde durch einen langen Gang gestoßen, bis sie zu einer bemalten Tür aus Holz und Leder kamen, die für sie geöffnet wurde.
Dahinter befand sich eine Ratskammer, in der der Kriegsherr wichtige Gefangene zu verhören pflegte.
Ein Schwarzgewandeter stand in der Mitte der Kammer vor einem Mann, der in eine Schriftrolle vertieft war. Diesen Magier kannte Pug nur flüchtig, er hieß Elgahar. Aber er wußte, daß er keine Hilfe von ihm zu erwarten hatte, nicht einmal für Hochopepa, denn Elgahar war Ergorans Bruder. Die magische Begabung war in ihrer Familie erblich, doch war es Ergoran, der den Ton angab.
Der Lesende, der auf einem Kissenberg saß, war ein Mann mittleren Alters. Er trug ein weißes Gewand mit einer Goldborte am Hals und an den Ärmeln. Als Pug an den vorherigen Kriegsherrn Almecho dachte, konnte er sich keinen größeren Gegensatz vorstellen. Dieser Mann, Axantucar, war vom Äußeren her das genaue Gegenteil seines Onkels.
Während Almecho ein stiernackiger, stämmiger Recke gewesen war, sah sein Neffe wie ein Gelehrter oder Lehrer aus. Seine Hagerkeit ließ an einen Asketen denken, und sein Gesicht wirkte fast zerbrechlich fein. Doch dann hob er den Blick von dem Pergament, in dem er gelesen hatte, und nun bemerkte Pug doch eine Ähnlichkeit: Aus seinen Augen sprach der gleiche Machthunger, derselbe Größenwahn wie seinerzeit aus denen seines Onkels.
Bedächtig die Schriftrolle zur Seite legend, sagte der Kriegsherr: »Milamber, durch deine Rückkehr beweist du zwar Mut, doch keine Klugheit. Du wirst hingerichtet werden, doch ehe wir dich hängen, möchten wir gern eines wissen: Weshalb bist du zurückgekommen?«
»Auf meiner Heimatwelt wächst eine Macht, eine finstere, böse Wesenheit, deren Ziel die Vernichtung meines Heimatlandes ist.«
Der Kriegsherr horchte interessiert auf und bat Pug weiterzusprechen. Pug erzählte ohne Ausschmückung und Übertreibung und ohne etwas auszulassen alles, was er wußte.
»Durch magische Hilfe kam ich darauf, daß diese Macht von Kelewan stammt. Irgendwie ist das Schicksal beider Welten wieder miteinander verknüpft.«
Als er geendet hatte, sagte der Kriegsherr: »Ein interessantes Garn, das du da spinnst.« Ergoran schien Pugs Geschichte als unglaubhaft abtun zu wollen, während Elgahar ehrlich besorgt wirkte. Der Kriegsherr fuhr fort: »Es ist wahrhaft bedauerlich, daß du uns während des Verrats genommen wurdest. Wärst du geblieben, hätten wir dich vielleicht als Geschichtenerzähler anstellen können.
Eine große Macht der Finsternis aus einem vergessenen Winkel unseres Reiches! Welch herrliche Mär!« Das Lächeln des Hageren schwand. Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie, während er Pug durchdringend ansah.
»Und nun die Wahrheit. Diese armselige Schauermär ist ein lächerlicher Versuch, mir Angst einzujagen, damit mir die wahren Gründe deiner Rückkehr entgehen. Die Partei der Blauen Räder und ihre Verbündeten haben im Hohen Rat kaum noch etwas zu sagen.
Deshalb bist du zurückgekommen, um denen zu helfen, die dich früher auf ihrer Seite zählten. Sie sind verzweifelt, da sie wissen, daß der uneingeschränkten Herrschaft der Kriegspartei so gut wie nichts mehr im Weg steht. Du und Hochopepa, ihr habt euch wieder mit jenen zusammengetan, die während der Invasion deiner Welt den Kriegsblock verrieten. Ihr fürchtet die neue Ordnung, für die wir stehen. Bereits in einigen Tagen werde ich den Hohen Rat auflösen, und du bist gekommen, das zu verhindern, habe ich recht? Ich weiß nicht, was du vorhast, aber wir werden die Wahrheit aus dir herausbekommen, vielleicht nicht sogleich, aber doch bald. Und du wirst die Namen jener nennen, die sich gegen uns stellen!
Außerdem wirst du uns genau erklären, wie man von einer Welt zur anderen gelangen kann. Wenn das Reich erst fest in meiner Hand ist, werden wir zu deiner Welt zurückkehren und schnell das hinter uns bringen, was schon unter meinem Onkel hätte getan werden müssen.«
Pug blickte von einem zum anderen und erkannte die Wahrheit.
Pug hatte Rodric, den vom Irrsinn heimgesuchten König, gesehen und mit ihm gesprochen. Des Kriegsherrn Geist war vielleicht nicht ganz so umnachtet, wie es des Königs gewesen war, aber es bestand auch kein Zweifel, daß der Größenwahn ihm den klaren Verstand geraubt hatte. Und hinter ihm stand einer, dessen Miene wenig verriet, und doch genug für Pug, um zu erkennen, daß er derjenige war, den er wirklich zu fürchten hatte, denn er war der wahre Kopf hinter der Überlegenheit der Kriegspartei. Er würde der heimliche Herrscher von Tsuranuanni sein und eines Tages vielleicht sogar offen regieren.
Ein Bote betrat die Ratskammer, verbeugte sich vor dem Kriegsherrn und händigte ihm ein Pergament aus. Axantucar las es rasch, dann sagte er: »Ich muß zum Rat. Der Foltermeister soll sich bereithalten. Ich brauche seine Dienste in der vierten Nachtstunde. Wachen, bringt diesen Burschen in seine Zelle zurück!«
Als die Wächter Pug in ihre Mitte nahmen, wandte der Kriegsherr sich noch einmal an ihn: »Denk daran, Milamber, du wirst auf jeden Fall sterben, aber es liegt an dir, ob langsam oder schnell. Wie auch immer, wir werden die Wahrheit aus dir herausholen.«
Pug beobachtete, wie Dominic sich in sich selbst zurückzog. Der Magier hatte seinen Gefährten von dem Gespräch mit dem Kriegsherrn berichtet. Hochopepa hatte eine Weile getobt und war danach verstummt. Wie alle anderen Träger des Schwarzen Gewandes fand er die Vorstellung unglaublich, daß jemand seine Wünsche und Stellung unbeachtet ließ. Diese Gefangenschaft war einfach eine Unverschämtheit! Meecham hatte auf den Bericht mit seinem üblichen Schweigen reagiert, während der Mönch ihn offenbar ungerührt entgegennahm. Sie hatten nur ein paar Worte darüber verloren.
Bald darauf hatte Dominic mit seinen geistigen Übungen begonnen, was Pug in hohem Maße beeindruckte, und nun versank er offensichtlich in geistiger Entrückung. Pug dachte über Dominics Vorbild nach. Selbst in dieser Zelle, in ihrer scheinbar hoffnungslosen Lage, bestand kein Grund, sich der Furcht hinzugeben und den Kopf zu verlieren. Pug ließ die Gedanken in die Vergangenheit wandern. Er entsann sich seiner Kindheit in Crydee, seiner Verzweiflung im Unterricht bei Kulgan und Tully, als er vergebens eine Magie zu erlernen suchte, die, wie er Jahre später erfuhr, nicht seine Art von Zauberei war. Auf Stardock hatte er vieles erfahren und beobachtet, dem er die Überzeugung verdankte, daß die Geringere Magie von Midkemia bedeutend weiter entwickelt war als die von Kelewan. Vermutlich lag das daran, daß es auf Midkemia nur diese eine Art der Zauberei gab.
Zur Ablenkung versuchte er einen Zauber, den Kulgan ihm als Lehrling beizubringen versucht, den er jedoch nie vollbracht hatte.
Hmm, dachte er, Zauber des Geringeren Pfades sind hier nicht von dem Bann betroffen. Er spürte den inneren Widerstand dagegen und mußte unwillkürlich lächeln. Als Junge hatte er ihn gefürchtet, weil er sein Versagen ankündete. Nun wußte er, daß es ganz einfach sein auf den Erhabenen Pfad eingestellter Geist war, der die Magie des Geringeren ablehnte. Doch die Wirkung des über die Zelle verhängten Schutzbanns ließ ihn das Problem aus neuer Sicht angehen. Er schloß die Augen und stellte sich das eine vor, wie er es so oft und immer vergebens versucht hatte. Sein Gehirnmuster scheute vor dieser Magie zurück, doch während es zu seinem üblichen Zustand überwechselte, prallte es von dem Schutzbann ab und…
Pug setzte sich auf, die Augen weit aufgerissen. Einen flüchtigen Herzschlag lang hatte er fast verstanden!
Er unterdrückte seine Erregung, schloß die Augen wieder, senkte den Kopf und sammelte sich. Wenn er bloß diesen Moment, diesen einen klaren Augenblick wiedergewinnen könnte, in dem er halb verstanden hatte – dieser Moment, der viel zu schnell vergangen war… In dieser modrigen, dunklen Zelle war er nahe daran gewesen, die bedeutendste Entdeckung in der Geschichte tsuranischer Magie zu machen. Wenn er diesen Augenblick nur zurückholen könnte…
Da öffnete sich die Zellentür. Pug blickte auf, Hochopepa und Meecham ebenfalls. Dominic verharrte in seiner Entrückung. Elgahar trat ein. Er wies einen Wächter an, die Tür hinter ihm zu schließen.
Pug stand auf, um dem Krampf in seinen Beinen Herr zu werden, der sich eingestellt hatte, während er völlig in seine Gedanken versunken auf dem kalten Stein unter der dünnen Strohschicht gesessen hatte.
»Was Ihr sagt, ist beunruhigend.« Im Gegensatz zu seinem Bruder und dem Kriegsherrn benutzte Elgahar die Höflichkeitsanrede.
»Wie es auch sein soll, denn es stimmt.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht, selbst wenn Ihr es für wahr haltet. Ich möchte alles darüber hören.«
Pug bot dem Magier einen Platz auf dem Boden an, doch der Schwarzgewandete schüttelte den Kopf. Schulterzuckend setzte Pug sich und erzählte seine Geschichte. Als er zu Rogens Zweitem Gesicht kam, unterbrach Elgahar Pug aufgeregt und stellte eine Reihe von Fragen. Pug beantwortete sie und fuhr mit seinem Bericht fort. Als er geendet hatte, erkundigte sich Elgahar: »Sagt mir, Milamber, gibt es auf Eurer Heimatwelt viele, die hätten verstehen können, was zu diesem Seher mittels seines Zweiten Gesichts gesagt wurde?«
»Nein, nur ich und ein oder zwei andere hätten es verstehen können. Und nur die Tsuranis und LaMut hätten dieses Tsuranisch als die uralte Tempelhochsprache erkannt.«
»Es besteht eine erschreckende Möglichkeit. Ich muß wissen, ob Ihr sie in Erwägung gezogen habt.«
»Welche?«
Elgahar beugte sich zu Pug hinüber und flüsterte ihm ein einziges Wort ins Ohr. Pug erbleichte und schloß die Augen. Schon auf Midkemia hatte er seiner Eingebung bei der Überprüfung alles ihm Bekannten freien Lauf gelassen. Unbewußt war ihm die ganze Zeit klar gewesen, wie die Antwort lauten mußte. Mit einem langen Seufzer gestand er: »Ja, doch scheute ich davor zurück, mir diese Möglichkeit einzugestehen, obwohl sie allgegenwärtig war.«
»Wovon sprecht ihr?« warf Hochopepa ein.
Pug schüttelte den Kopf. »Nein, alter Freund. Noch nicht. Ich möchte gern, daß Elgahar über das nachdenkt, was er selbst schloß, ohne deine oder meine Meinung zu kennen. Vielleicht überlegt er sich dann auch, zu welcher Seite er wirklich ge hört.«
»Möglich«, gestand der Schwarzgewandete ihm zu. »Doch selbst wenn, verändert das nicht unbedingt unsere gegenwärtige Lage.«
Wütend brauste Hochopepa auf. »Wie könnt Ihr so etwas sagen?
Welche Umstände können angesichts der Verbrechen des Kriegsherrn denn noch wichtig sein? Seid Ihr schon soweit, daß Ihr jeglichen freien Willen eingebüßt habt und nur noch nach der Pfeife Eures Bruders tanzt?«
»Hochopepa«, entgegnete Elgahar, »Ihr von allen, die das Schwarze Gewand tragen, müßtet es verstehen, denn Ihr wart es und Fumita, die jahrelang in den Großen Spielen mit der Partei der Blauen Räder spieltet.« Er bezog sich dabei auf die Rolle dieser beiden Magier, als sie den Kaiser in seiner Bemühung, den Spaltkrieg zu beenden, unterstützten. »Zum ersten Mal in der Geschichte des Reiches befindet der Kaiser sich in einer bespiellosen Lage. Durch den Verrat der Friedensverhandlungen kam er zur absoluten Befehlsgewalt, während er gleichzeitig sein Gesicht verlor.
Er setzt vielleicht seinen Einfluß nicht ein und wird sich nie wieder seiner Befehlsgewalt bedienen. Die Kriegsherrn von fünf Clans starben durch diesen Verrat – die fünf, die am ehesten für den Posten des obersten Kriegsherrn in Frage kamen. Viele Familien verloren durch ihren Tod ihre Vertretung im Hohen Rat. Sollte er erneut versuchen, über die Clans zu bestimmen, könnte es durchaus sein, daß man sich ihm widersetzt.«
»Das kommt dem Kaisermord gleich!« rief Pug erschrocken.
»Es wäre nicht das erste Mal, Milamber. Doch würde es zum Bruderkrieg kommen, da es keinen Thronfolger gibt. Das Licht des Himmels ist jung und hat noch keine Söhne, sondern bisher lediglich drei Töchter. Der Kriegsherr erstrebt ausschließlich die Festigung des Reiches, nicht den Sturz der Dynastie, die über zweitausend Jahre alt ist. Ich empfinde weder Zuneigung noch Abneigung für diesen Kriegsherrn. Aber der Kaiser muß veranlaßt werden einzusehen, daß er lediglich das geistige Oberhaupt ist, die Befehlsgewalt jedoch dem Kriegsherrn zusteht. Dann kann Tsuranuanni einem Zeitalter uneingeschränkter Blüte entgegensehen.«
Hochopepa lachte bitter. »Daß Ihr solch einen Unsinn glauben könnt, beweist schlagend, daß unsere Auswahl für die Vereinigung nicht streng genug ist.«
Ohne der Beleidigung zu achten, fuhr Elgahar fort: »Sobald die innere Ordnung des Reiches unerschütterlich ist, können wir jeder möglichen Bedrohung entgegentreten, auch einer solchen, auf die Ihr hinweist, Milamber. Doch selbst wenn das, was Ihr sagt, wahr ist und meine Vermutung sich als richtig erweisen sollte, mag es noch Jahre dauern, bis wir uns damit auf Kelewan befassen müssen – also ist genügend Zeit, sich dagegen zu wappnen. Ihr dürft nicht vergessen, wir von der Vereinigung haben Höhen der Macht erlangt, von denen sich unsere Vorfahren nichts hätten träumen lassen. Was für sie Schreck und Grauen gewesen sein mochte, mag sich für uns bloß als lästig erweisen.«
»In Eurem Hochmut irrt Ihr Euch gewaltig, Elgahar – Ihr alle.
Hocho und ich haben uns schon früher darüber unterhalten. Daß Ihr Euren Vorfahren überlegen seid, ist reines Wunschdenken. Ihr seid ihnen noch nicht einmal ebenbürtig! Unter den Werken von Macros dem Schwarzen fand ich Schriften, die auf die Kräfte und Mächte hinweisen, von denen die Vereinigung in ihren tausend Jahren des Bestehens nicht einmal etwas ahnte.«
Diese Vorstellung machte Elgahar offensichtlich nachdenklich, denn er schwieg eine geraume Weile. Schließlich sagte er bedächtig: »Vielleicht habt Ihr recht.« Er ging zur Tür, wo er sich noch einmal umwandte. »Zumindest habt Ihr eines erreicht, Milamber: Ihr habt mich überzeugt, daß es wichtig ist, Euch länger am Leben zu lassen als es dem Kriegsherrn gefällt. Ihr verfügt über Wissen, das wir erfahren müssen. Was alles andere betrifft – darüber muß ich nachdenken.«
»Ja, Elgahar, tut das«, riet ihm Pug. »Und denkt an das, was Ihr mir ins Ohr geflüstert habt!«
Elgahar schien noch etwas sagen zu wollen, doch dann rief er nach dem Wächter vor der Tür und ließ sie öffnen. Ohne ein weiteres Wort verließ er die Zelle.
Hochopepa blickte ihm nach. »Er ist wahnsinnig!«
»Nein«, widersprach Pug. »Er glaubt lediglich, was sein Bruder ihm sagt. Wer in Axantucars und Ergorans Augen blicken und glauben kann, daß sie auch nur an das Wohl des Reiches denken, ist ein Tor, ein gläubiger Phantast, doch nicht wahnsinnig. Ergoran ist der, den wir wirklich zu fürchten haben!«
Sie schwiegen und hingen wieder ihren eigenen Gedanken nach.
Pug dachte über das nach, was Elgahar ihm ins Ohr geflüstert hatte.
Allein die Möglichkeit, die damit zusammenhing, war zu erschreckend, um sie sich auszumalen, so wandte er sich wieder dem Augenblick zu, in dem er zum ersten Mal in seinem Leben den Weg zur wahren Beherrschung des Geringeren Pfades, obgleich nur flüchtig, wahrgenommen hatte.
Die Zeit verstrich. Pug schätzte, daß es inzwischen vier Stunden nach Sonnenuntergang war, die Zeit also, die der Kriegsherr zum Verhör angesetzt hatte. Wächter betraten die Zelle und lösten Meecham, Dominic und Pug die Fesseln. Um Hochopepa kümmerten sie sich nicht.
Die drei Gefährten wurden in eine Folterkammer gebracht. Der Kriegsherr, in prächtiger grüner und goldbestickter Gewandung, unterhielt sich mit dem Magier Ergoran. Ein Mann, dessen Kopf unter einer roten Kapuze verborgen war, wartete stumm, während die Gefangenen so an Säulen in der Kammer gekettet wurden, daß sie einander sehen konnten.
»Entgegen meiner ursprünglichen Absicht überzeugten Ergoran und Elgahar mich, daß es vorteilhafter sei, dich am Leben zu lassen, obgleich die Gründe der beiden verschieden sind. Elgahar scheint geneigt zu sein, deine Geschichte zu glauben, zumindest insoweit, um noch mehr darüber wissen zu wollen. Ich und Ergoran sind anderer Ansicht, aber interessiert daran, bestimmte Dinge von dir zu erfahren. Deshalb wollen wir mit dem Verhör beginnen, und wir werden uns vergewissern, daß du nichts als die Wahrheit sprichst!«
Der Kriegsherr winkte dem Foltermeister zu, der Dominic das Hantukamapriestergewand vorn Leibe riß und ihm nur das Lendentuch ließ. Danach öffnete der Foltermeister einen versiegelten Tiegel und holte mit einem Spachtel eine weißliche Salbe heraus, von der er etwas auf Dominics Brust strich. Der Mönch zuckte zusammen. Die Tsuranis, die kaum Metalle auf ihrer Heimatwelt kannten, hatten Folterarten entwickelt, die sich zwar von jenen auf Midkemia unterschieden, doch nicht weniger wirkungsvoll waren.
Die Salbe war stark ätzend und löste, kaum aufgetragen, die Haut in Fetzen ab. Dominic schloß die Augen und unterdrückte einen Schmerzensschrei.
»Wir glauben, daß du uns die Wahrheit am ehesten sagen würdest, wenn wir uns deine Begleiter als erste vornehmen. Aus dem, was wir von deinen früheren Freunden wissen und nach deinem unverzeihlichen Eingreifen beim Reichsspiel zu schließen, hast du eine mitleidige Seele, Milamber. Willst du uns nun die Wahrheit sagen?«
»Alles, was ich sagte, ist die reine Wahrheit, Kriegsherr! Daran ändert sich nichts, auch wenn Ihr meine Freunde martert!«
»Gebieter!« erklang eine hörbar erstaunte Stimme.
Der Kriegsherr blickte seinen Foltermeister an. »Was gibt es denn?«
»Dieser Mann – seht!« Dominics Gesicht war nicht länger mehr schmerzverzerrt, sondern verriet seligen Frieden.
Ergoran stellte sich vor den Mönch und untersuchte ihn. »Er scheint in einer Art Trance zu sein.«
Sowohl der Kriegsherr als auch der Magier blickten Pug an, und Ergoran fragte: »Welcher Tricks bedient dieser falsche Priester sich, Milamber?«
»Er ist kein Priester Hantukamas, das ist richtig, wohl aber ist er ein Geistlicher meiner Welt. Er vermag seinem Geist Frieden zu schenken, ganz gleich, was mit seinem Körper geschieht.«
Der Kriegsherr gab dem Foltermeister ein Zeichen, der daraufhin ein scharfes Messer von einem Tisch hob. Damit stellte er sich vor den Mönch und brachte ihm mit einer schnellen Bewegung einen tiefen Schnitt in der Schulter bei. Dominic rührte sich nicht im geringsten. Nunmehr holte der Foltermeister mit einer Zange eine glühende Kohle aus einem Becken und drückte sie auf die Schnittwunde. Auch diesmal zuckte Dominic nicht einmal zusammen.
Der Mann legte die Zange zur Seite und wandte sich an den Kriegsherrn: »Es ist sinnlos, Gebieter. Sein Geist ist vom Körper getrennt. Wir hatten schon einmal ein ähnliches Problem mit einem Priester.«
Unwillkürlich zog Pug die Brauen hoch. Zwar wandten die Tempel sich nicht völlig von der Politik ab, waren jedoch äußerst vorsichtig in ihrem Umgang mit dem Hohen Rat. Wenn der Kriegsherr Priester verhört hatte, deutete es zumindest auf eine Unstimmigkeit der Tempel mit einem Verbündeten der Kriegspartei hin. Da Hochopepa offenbar davon nichts wußte, konnte es nur bedeuten, daß der Kriegsherr bereits heimlich intrigierte und so seiner Opposition voraus war. Das bewies Pug nicht weniger als alles andere, in welcher Lage das Reich sich befand und wie erschreckend nah es einem Bürgerkrieg war. Der Angriff auf die Kaisertreuen stand zweifellos dicht bevor.
»Der hier ist sicher kein Priester.« Ergoran trat vor Meecham und blickte ihn an. »Er ist ein einfacher Sklave, sollte sich also als ansprechbar erweisen.«
Meecham spuckte ihm ins Gesicht. Ergoran, der die einem Erhabenen ge zollte Ehrfurcht, ja Furcht, gewohnt war, sah wie vom Blitz getroffen aus. Er taumelte rückwärts und wischte sich den Speichel von der Wange. Zutiefst ergrimmt sagte er kalt: »Du hast einen langsamen, qualvollen Tod verdient, Sklave!«
Meecham lächelte, zum ersten Mal, seit Pug sich erinnern konnte, und dieses Lächeln war eher ein höhnisches Grinsen. Durch die Narbe auf seiner Wange wirkte sein Gesicht nahezu dämonisch.
»Das war es wert, du geschlechtsloses Maultier!«
In seinem Ärger hatte Meecham in der Königszunge gesprochen, doch dem Magier genügte der Ton, die Worte als Beleidigung zu erkennen. Er langte nach dem scharfen Messer auf dem Tisch und zog es über Meechams Brust. Meecham erstarrte. Sein Gesicht verlor jegliche Farbe, während die Wunde zu bluten begann. Grinsend stand Ergoran vor ihm. Da spuckte Meecham ihn erneut an. Der Foltermeister wandte sich an den Kriegsherrn: »Gebieter, der Erhabene pfuscht mir ins Handwerk!«
Der Magier trat einen Schritt zurück. Er ließ das Messer fallen und wischte sich wieder den Speichel vom Gesicht, als er sich an die Seite des Kriegsherrn begab. Mit haßerfüllter Stimme knurrte er: »Beeile dich nicht zu sehr damit, zu sagen, was du weißt, Milamber. Ich wünsche diesem Hund eine lange Qual!«
Pug kämpfte gegen die magieabwehrenden Kräfte seiner Armbänder an, doch vergebens. Der Foltermeister machte sich daran, Meecham zu martern, doch diesem entrang sich nicht ein einziger Schrei. Eine halbe Stunde lang widmete der Mann in der roten Kapuze sich seinem blutigen Handwerk, bis Meecham in ein würgendes Ächzen ausbrach und halb bewußtlos wurde.
»Warum bist du zurückgekehrt, Milamber?« fragte der Kriegsherr.
Pug, der Meechams Schmerzen fühlte, als wären es seine eigenen, antwortete: »Ich habe Euch die Wahrheit gesagt.« Er blickte Ergoran an. »Ihr wißt, daß das stimmt!« Ihm war klar, daß seine Worte auf taube Ohren stießen, denn der wütende Zauberer wollte schon allein aus Rachsucht, daß Meecham litt, und ihn interessierte im Augenblick überhaupt nicht, was Pug sagte.
Der Kriegsherr bedeutete dem Foltermeister, nun mit Pug zu beginnen. Der Mann in der roten Kapuze riß Pugs Gewand auf, öffnete den Tiegel mit der Ätzsalbe und gab ein wenig davon auf Pugs Brust. Jahre harter Arbeit als Sklave in den Sümpfen hatten Pug zum hageren, aber muskulösen Mann gemacht, und sein Körper spannte sich, als der Schmerz einsetzte. Zunächst schien die Salbe keine Wirkung zu haben, doch dann brannte sie sich ins Fleisch. Des Kriegsherrn Stimme drang durch den Schmerz: »Warum bist du zurückgekehrt? Mit wem hast du Verbindung aufgenommen?«
Pug schloß die Augen. Er suchte Zuflucht in der beruhigenden Übung, die Kulgan ihn als Geselle gelehrt hatte. Pugs Geist lehnte sich gegen die Qualen auf, und er versuchte sich in die Magie zu retten. Immer wieder warf er sich gegen die Barriere, die von den zauberverhindernden Armbändern ausging. In seiner Jugend hatte er seinen Pfad zur Magie nur in größter Bedrängnis gefunden. Seinen ersten Zauber hatte er zu wirken vermocht, als sein Leben durch Trolle gefährdet wurde. Und als er gegen Junker Roland kämpfte, hatte er unbewußt mit Magie zugeschlagen. Die Reichsspiele hatte er vernichtet, als seine Wut und Empörung übermächtig wurden. Nun war sein Geist wie ein gefährliches wildes Tier, das sich gegen die Stäbe eines magischen Käfigs warf, und wie ein Tier handelte er ohne zu überlegen – immer wieder warf er sich gegen die Barriere, entschlossen, entweder freizukommen oder zu sterben.
Glühende Kohlen wurden auf seine Haut gepreßt, und er schrie.
Ein tierischer Schrei war es, aus Schmerz und Wut gemischt, und sein Geist schlug zu. Vor seinen Augen verschwamm alles. Ihm war, als befände er sich in einer Gegend mit widerspiegelnder Oberfläche, nein, in einem wirbelnden Spiegelsaal, und jeder Spiegel zeigte ihm ein anderes Ich. In einem sah er sich als der Küchenjunge von Crydee; in einem anderen als Kulgans Schüler; in einem dritten war er der neugebackene Junker; im vierten ein Sklave im Sumpflager der Shinzawai. Doch in den Spiegelungen hinter den Spiegelungen, den Spiegeln in den Spiegeln, in ihnen allen sah er etwas Neues.
Hinter dem Küchenjungen sah er einen Mann, einen Diener, doch bestand kein Zweifel, wer dieser Mann war: Pug ohne Magie, ohne Ausbildung, zum Erwachsenen als einfacher Angehöriger des Burggesindes geworden. Hinter dem Bild des Junkers sah er einen Edlen des Königreichs, mit Prinzessin Carline als seine Frau in den Armen. In seinem Kopf drehte es sich. Verzweifelt suchte er etwas.
Er betrachtete eindringlich das Bild von Kulgans Schüler. Hinter ihm stand ein erwachsener Jünger des Niedrigeren Pfades. Mit aller Kraft seines Geistes suchte Pug nach dem Ursprung dieses Spiegelbilds eines Spiegelbilds, dem Pug, der zum Meister der Niedrigeren Magie geworden war. Dann entdeckte er diesen Ursprung: Eine mögliche Zukunft, die sich nicht verwirklicht hatte, da eine Laune des Schicksals sein Leben von dieser Möglichkeit abgelenkt hatte. Doch in dieser anderen, nicht eingetroffenen Wahrscheinlichkeit fand er, was er suchte. Er fand einen Ausweg. Plötzlich verstand er. Ein Weg öffnete sich ihm, und sein Geist floh diesen Pfad entlang.
Er öffnete die Augen und blickte am rotvermummten Kopf des Foltermeisters vorbei. Meecham stöhnte, wieder voll bei Bewußtsein, während Dominics Geist noch von seinem Körper getrennt zu sein schien.
Pug benutzte eine besondere Geistesgabe, um die Wunden nicht mehr zu spüren, die man seinem Körper geschlagen hatte Mit einem Mal stand er schmerzfrei da und griff mit dem Geist nach dem schwarzgewandeten Ergoran. Der Erhabene des Reiches schwankte, als Pugs Blick sich mit seinem maß. Zum ersten Mal überhaupt benutzte ein Magier des Erhabenen Pfades eine Begabung jener des Niedrigeren Pfades, und Pug zwang Ergoran zum Willenskampf.
Mit geisterschütternder Kraft überwältigte Pug den Magier und betäubte ihn. Der Schwarzgewandete begann zusammenzusacken, bis Pug die Kontrolle über seinen Körper übernahm. Die eigenen Augen schließend, sah Pug nun durch Ergorans. Er paßte seine Sinne an und hatte jetzt absolute Gewalt über den tsuranischen Erhabenen.
Ergorans Hand schoß vorwärts. Funken sprangen von seinen Fingern und trafen den Foltermeister am Rücken. Rote und purpurne Kraftlinien tanzten über des Mannes Körper, als er sich krümmte und schrie. Und dann hüpfte der Foltermeister durch die Kammer, wie die Puppe eines wahnsinnigen Puppenspielers, mit ruckhaften Bewegungen, seine Qual hinausbrüllend.
Der Kriegsherr stand wie gelähmt, dann schrie er: »Ergoran! Seid Ihr des Wahnsinns?« Er packte den Magier am Gewand, gerade als der Foltermeister gegen die Wand prallte und auf den Steinboden sackte. In dem Augenblick, da der Kriegsherr den Magier berührte, hörten die schmerzhaften Kräfte auf, den Foltermeister zu quälen, und sprangen statt dessen auf den Kriegsherrn über. Axantucar wand sich unter diesem Angriff und stürzte.
Der Foltermeister kam mühsam auf die Beine, schüttelte die Benommenheit ab und taumelte auf die Gefangenen zu. Er nahm ein schmales Messer vom Tisch und näherte sich Pug, denn er ahnte, daß dieser ehemalige Erhabene hinter diesem Spuk steckte. Doch ehe er ihn erreichte, griff Meecham nach seinen Ketten und zog sich daran hoch, dann schnellte er die Beine vor und legte sie um des Foltermeisters Hals. Mit aller Kraft drückte er zu. Der Foltermeister hieb mit dem Messer nach Meechams Beinen und schlug immer wieder damit zu, doch Meecham preßte die Beine noch fester zusammen. Verzweifelt wehrte der Foltermeister sich mit der Klinge, bis Meechams Beine von seinem eigenen Blut überströmt waren.
Glücklicherweise konnte der Foltermeister ihm mit dem kleinen Messer keine tiefen Wunden zufügen. Plötzlich stieß Meecham einen Schrei aus und zerquetschte des Mannes Gurgel. Als der Foltermeister zusammenbrach, war auch Meecham mit seiner Kraft am Ende. Er ließ sich fallen, und nur die Ketten hielten ihn noch aufrecht. Er lächelte Pug schwach zu.
Pug beendete die magische Zauberkraft. Der Kriegsherr löste sich von Ergoran und stürzte rücklings. Pug befahl dem Magier, sich ihm zu nähern. Unter Pugs magischer Kontrolle wurde der Geist des Erhabenen gefügig, und irgendwie brachte Pug es fertig, ihn zu lenken und doch gleichzeitig seinen eigenen Körper zu beherrschen.
Der Magier machte sich daran, Pug von seinen Ketten zu befreien, während der Kriegsherr sich mühte, auf die Füße zu kommen. Eine Hand Pugs war frei. Axantucar schwankte zur Tür. Pug mußte eine Entscheidung treffen. War er von seinen Banden frei, konnte er es mit jeder Zahl Wächtern aufnehmen, die der Kriegsherr rief, aber er konnte nicht zwei Männer lenken, und er glaubte nicht, daß er den Magier lange genug zu leiten vermochte, bis er den Kriegsherrn getötet und ihn selbst befreit hatte. Oder doch? Da erkannte Pug die Gefahr. Diese neue Magie erwies sich als schwierig, und er verlor sein Urteilsvermögen. Weshalb gestattete er dem Kriegsherrn, sich in Sicherheit zu bringen? Der Schmerz der Folterwunden und die ungeheure geistige Anstrengung forderten ihren Tribut. Er spürte, wie seine Kräfte nachließen. Der Kriegsherr riß die Tür auf und rief nach Wärtern. Dann ergriff er einen Speer und stieß ihn Ergoran in den Rücken. Die Wucht warf den Magier auf die Knie, ehe er Pugs andere Hand losgebunden hatte. Der Schock der Tat des anderen traf Pug, er schrie auf, gemeinsam mit dem Sterbenden. Schleier schienen sich um Pugs Verstand zu legen. Dann barst etwas in ihm, und seine Gedanken wurden zu einem Gewirr glitzernder Splitter, als die Spiegel seiner Erinnerung zersprangen. Fetzen vergangener Unterrichtsstunden, Bilder seiner Familie, Gerüche und vertraute Laute überschlugen sich in seinem Bewußtsein.
Lichter tanzten vor seinen Augen; Funken verstreuten Sternenscheins, Spiegelungen, neue Aussichten, das alles formte sich zu einem Muster: einem Kreis, einem Tunnel, dann zu einem Weg.
Er stürzte sich darauf und fand sich auf einer neuen Bewußtseinsebene wieder, mit neuen Möglichkeiten, neuen Erkenntnissen. Jenen Pfad, der sich ihm zuvor nur mit Schrecken und Schmerzen eröffnet hatte, vermochte er jetzt nach Belieben zu nehmen. Nun endlich war er imstande, die Kräfte zu nutzen, die sein Erbe waren.
Sein Blick wurde klar. Er sah Soldaten auf der Treppe kämpfen.
Doch ehe er sich mit ihnen beschäftigte, nahm er sich die Armfesseln vor, die Ergoran nicht mehr hatte lösen können. Er erinnerte sich an Kulgans Unterricht und machte mit einem Streicheln seiner Gedanken die stahlharte Lederkette weich und geschmeidig. Jetzt konnte er sich mühelos von der Säule befreien.
Nun lenkte er seine Kräfte auf die zauberverhindernden Armbänder – sie brachen auseinander und fielen zu Boden. Er blickte zurück auf die Treppe. Jetzt erst wurde ihm voll bewußt, was sich dort getan hatte. Der Kriegsherr und seine Leibgardisten waren aus der Folterkammer geflohen, als sie Kampfgetümmel auf dem Stockwerk über ihnen gehört hatten. Ein Soldat in der blauen Rüstung des Kanazawai-Clans lag tot neben einem Reichsweißen.
Rasch befreite Pug Meecham und half ihm auf die Beine. Der Bärtige blutete stark aus seinen Wunden. Der Magier sandte Dominic eine Botschaft: Kehrt zurück! Sogleich öffneten sich des Mönchs Augen, und seine Ketten fielen ab. »Kümmert Euch um Meecham«, bat Pug ihn. Wortlos wandte Dominic sich dem Verwundeten zu, um ihn zu behandeln.
Pug eilte die Treppe hinauf zu der Zelle, in der Hochopepa noch eingesperrt war. Der verblüffte Erhabene fragte: »Was ist geschehen? Ich hörte Kampflärm.«
Pug beugte sich über ihn und verwandelte die Ketten in weiches Leder. »Ich weiß es nicht. Verbündete, vermutlich. Ich nehme an, die Partei der Blauen Räder versucht uns zu befreien.« Er zog Hochopepas Hände aus den jetzt geschmeidigen Fesseln.
Der Magier fühlte sich geschwächt, und er mußte sich an die Wand stützen. »Wir müssen ihnen beistehen, uns zu helfen«, sagte er entschlossen. Dann erst dachte er über seine Befreiung und die plötzlich weichen Ledergurte nach. »Milamber, wie hast du das vollbracht?«
An der Tür schaute Pug zurück und antwortete: »Ich weiß es nicht, Hocho. Auch das ist etwas, womit wir uns später beschäftigen müssen!«
Er eilte die Treppe hinauf zum oberen Palastgeschoß. Auf der Galerie war es zu einem Handgemenge gekommen. Soldaten in Rüstungen kämpften gegen die weißgerüstete Leibgarde des Kriegsherrn. Pug entdeckte Axantucar, der sich an zwei Kämpfenden vorbeistehlen wollte, während zwei seiner Gardisten ihn deckten.
Pug schloß die Augen und schickte seine Kraft aus. Als er die Augen öffnete, konnte er die für andere unsichtbare Hand sehen, die er geschaffen hatte, und er spürte sie wie seine eigenen Hände. Wie ein Kätzchen am Genick packte diese Geisthand den Kriegsherrn, riß ihn hoch und brachte den um sich schlagenden Mann zu Pug. Beim Anblick des Kriegsherrn hielten die Soldaten im Kampf inne.
Axantucar schrie gellend vor Entsetzen über die unsichtbare Kraft, die ihn nicht losließ.
Pug zog ihn ganz zu sich und Hochopepa heran. Einige der Leibgardisten erholten sich von ihrem Schrecken und beschlossen, dem Kriegsherrn beizustehen.
Da rief jemand laut: »Hoch lebe Ichindar, unser Kaiser!«
Sofort warf jeder Soldat, gleichgültig, auf welcher Seite er kämpfte, sich auf den Boden und drückte die Stirn auf den Stein, während die Hauptleute tief den Kopf neigten. Nur Hochopepa und Pug blieben aufrecht stehen und beobachteten, wie eine Gruppe Clan-Kriegsherren – in der Rüstung jener, aus denen sich die Partei der Blauen Räder zusammensetzte – auf die Galerie trat. Der vorderste – in einer Rüstung, wie sie seit Jahren nicht mehr gesehen worden war – war Kamatsu, erneut zeitweilig der Kriegsherr des Kanazawei-Clans. Die Gruppe bildete nun eine Ehrengasse für den Kaiser. Ichindar, das Oberhaupt des Reiches, schritt hindurch, prächtig in seiner Rüstung. Er ging auf Pug zu, vor dem der Kriegsherr noch in der Luft hing, und schaute sich um. »Erhabener, es scheint, daß sich immer so allerhand tut, wenn Ihr Euch zeigt.« Er blickte zu dem Kriegsherrn auf. »Wenn Ihr ihn freigebt, können wir der Sache auf den Grund gehen.«
Pug ließ Axantucar auf den Boden sinken.
»Das ist eine wahrhaft erstaunliche Geschichte, Milamber«, sagte Ichindar zu Pug. Der Kaiser hatte es sich auf dem Kissenhaufen bequem gemacht, auf denen früher am Tag der Kriegsherr gesessen hatte, und nippte an einem Becher von Axantucars Chocha. »Es wäre einfach zu sagen, daß ich Euch glaube und vergebe, aber die Schmach, die jene auf mich häuften, die Ihr Elben und Zwerge nennt, ist unmöglich zu vergessen.« Er war umgeben von den Kriegsherren der Clans der Blauen Räder, und der Erhabene Elgahar stand neben ihm.
Hochopepa warf ein: »Wenn das Licht des Himmels gestattet?
Habt die Güte, daran zu denken, daß sie nur Werkzeug waren, Soldaten, quasi Spielfiguren in einer Partie Schach. Daß dieser Macros dadurch das Eindringen des Feindes verhindern wollte, ist etwas, womit wir uns noch beschäftigen müssen. Worum es jetzt geht, ist die Tatsache, daß der Verrat sein Werk war, und das enthebt Euch von der Verantwortung, andere als ihn dafür zu bestrafen. Da Macros aber vermutlich tot ist, erledigt sich die Sache von selbst.«
»Hochopepa, Eure Zunge ist so glatt wie die einer Relli. Natürlich werde ich nicht ohne guten Grund bestrafen, aber andererseits bin ich auch nicht so ohne weiteres bereit, meine frühere versöhnliche Haltung gegenüber dem Königreich wieder einzunehmen.«
»Majestät«, warf Pug ein. »Das wäre im Augenblick auch gar nicht angebracht.« Als Ichindar ihn dieser Bemerkung wegen erstaunt anblickte, fuhr Pug fort: »Sosehr ich hoffe, daß unsere Völker eines Tages Frieden und Freundschaft schließen, verlangen gegenwärtig dringendere Angelegenheiten unsere volle Aufmerksamkeit. In der nächsten Zeit muß es so sein, als gäbe es nie wieder Verbindung zwischen den beiden Welten.«
Der Kaiser richtete sich auf. »Nach dem, was ich davon verstehe, muß ich Euch zustimmen. Wichtigeres hat den Vorrang. Ich habe in Kürze eine Entscheidung zu treffen, die den Lauf der tsuranischen Geschichte vielleicht für immer bestimmen wird.« Er verstummte, und nachdem er eine Weile seinen Gedanken nachgehangen hatte, sagte er: »Als Kamatsu und die anderen zu mir kamen und von Eurer Rückkehr und Eurem Verdacht einer dunklen Macht tsuranischen Ursprungs auf Eurer Welt berichteten, wollte ich mich nicht damit belasten. Mich scherten weder Eure Probleme noch die Eurer Welt.
Nicht einmal die Möglichkeit eines neuen Einfalls in Euer Land interessierte mich. Ich hatte Angst, erneut zu handeln, denn ich hatte nach dem Angriff auf Eure Welt viel meines Gesichts vor dem Hohen Rat verloren.« Wieder schien er seinen Gedanken nachzuhängen, bevor er fortfuhr: »Eure Welt ist schön, soviel ich vor der Schlacht davon sah.« Er seufzte, und seine Augen richteten sich fest auf Pug. »Milamber, wäre Elgahar nicht zu mir gekommen und hätte bestätigt, was Eure Verbündeten in der Partei der Blauen Räder berichteten, wärt Ihr jetzt vermutlich tot, und ich wäre Euch bestimmt bald gefolgt, während Axantucar einen blutigen Bürgerkrieg entfacht hätte. Er hatte das Weiß und Gold seiner Macht lediglich der Empörung über den Verrat zu verdanken. Ihr habt meine Ermordung, wenn nicht ein schlimmeres Unheil für das Reich verhindert. Ich würde sagen, das bedarf der Berücksichtigung, allerdings müßt Ihr wissen, daß die Unruhen im Reich nun erst richtig beginnen.«
Pug entgegnete: »Aufgrund meiner Ausbildung und meines Aufenthalts im Reich ist mir durchaus klar, daß die Ränke des Rates nun nur noch heftiger werden.«
Ichindar blickte durchs Fenster. »Ich werde die Geschichtskundigen bemühen, aber ich bin ziemlich sicher, daß Axantucar der erste Kriegsherr ist, der von einem Kaiser gehenkt wurde.« Hängen war die entehrendste Strafe für einen Krieger.
»Aber da er zweifellos eben dieses Schicksal für mich bestimmt hatte, glaube ich nicht, daß es noch nicht zum Aufstand kommen wird, jedenfalls nicht diese Woche.«
Die Kriegsherren des Hohen Rats, die an dieser Besprechung teilnahmen, blickten einander an. Schließlich sagte Kamatsu: »Licht des Himmels, gestattet Ihr? Die Kriegspartei zieht sich zurück. Der Hochverrat durch den Kriegsherrn hat sie jeglicher Verhandlungsgrundlage im Hohen Rat beraubt. Schon in diesem Augenblick dürfte sie sich aufgelöst haben, und ihre Clans und Familie werden sich besprechen, um zu entscheiden, welchen Parteien sie sich anschließen sollen, um wenigstens einen Teil ihres Einflusses zurückzugewinnen. Gegenwärtig sind die Gemäßigten an der Macht.«
Der Kaiser schüttelte den Kopf und sagte in erstaunlich scharfem Ton: »Nein, edler Lord, Ihr täuscht Euch. In Tsuranuanni herrsche ich!« Er erhob sich, und sein Blick wanderte über die Anwesenden.
»Bis die Angelegenheit, deretwegen Milamber zu uns kam, entschieden und das Reich wahrhaft sicher ist oder die Bedrohung sich als Irrtum erwiesen hat, wird der Hohe Rat nicht mehr tagen! Es wird auch keinen neuen Kriegsherrn geben, ehe ich nicht zur Wahl im Rat aufrufe! Und bis ich es anders bestimme, werde ich das Gesetz sein!«
Hochopepa sah ihn an: »Und die Vereinigung, Majestät?«
»Für sie ändert sich nichts. Aber seid gewarnt, Erhabener, achtet auf Eure Brüder! Sollte noch einmal eine Verschwörung aufgedeckt werden, in die ein Schwarzgewandeter verwickelt ist, wird die Vereinigung nicht länger Gesetz sein. Selbst wenn ich mich gezwungen sähe, alle Streitkräfte des Reiches gegen eure magische Macht einzusetzen, und selbst wenn es die völlige Vernichtung des Reiches bedeutete, werde ich nicht mehr zulassen, daß je wieder jemand die Oberherrschaft des Kaisers in Frage stellt! Ist das klar?«
»Selbstverständlich, Eure Majestät«, versicherte ihm Hochopepa.
»Elgahars Selbstverleugnung sowie seines Bruders und des Kriegsherrn Absichten, werden den anderen in der Vereinigung zu denken geben. Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß ich die Sache zur Sprache bringe.«
Nun wandte der Kaiser sich an Pug: »Erhabener, ich kann der Vereinigung nicht befehlen, Euch wieder aufzunehmen, noch würde ich mich ganz wohl fühlen, Euch auf die Dauer um mich zu haben.
Doch bis diese Angelegenheit zu einem Abschluß gebracht ist, steht Euch frei zu kommen und zu gehen, wie Ihr es für erforderlich haltet.
Bevor Ihr wieder auf Eure Heimatwelt zurückkehrt, laßt uns wissen, was Ihr herausgefunden habt. Wir sind bereit, Euch entgegenzukommen und Euch, so gut wir es können, behilflich zu sein, die Vernichtung Eurer Welt zu verhindern. Und nun…« Er ging zur Tür. »…muß ich in meinen Palast zurück. Ich habe ein Reich neu aufzubauen.«
Auch die anderen verabschiedeten sich. Ehe er ihnen folgte, sagte Kamatsu zu Pug: »Erhabener, zumindest im Augenblick sieht alles vielversprechend aus.«
»Im Augenblick, ja, alter Freund. Versucht dem Licht des Himmels zu helfen, denn ihm könnte ein kurzes Leben beschieden sein, wenn seine heutigen Erlasse morgen öffentlich verkündet werden.«
Der Lord der Shinzawai verbeugte sich vor Pug. »Euer Wunsch ist mir Befehl, Erhabener.«
Pug wandte sich an Hochopepa: »Wecken wir Dominic und Meecham und begeben uns zur Vereinigung, Hocho. Es gibt viel zu tun!«
»Einen Augenblick, ich möchte erst Elgahar noch eine Frage stellen.« Der Magier wandte sich an des Kriegsherrn ehemaligen Getreuen. »Weshalb die plötzliche Kehrtwendung? Ich hielt Euch immer für Eures Bruders Werkzeug.«
Der andere Magier antwortete: »Milambers Bericht von der Gefahr auf seiner Heimatwelt gab mir zu denken. Ich nahm mir die Zeit, alle Möglichkeiten abzuwägen, und als ich Milamber die offensichtliche Antwort zuflüsterte, bestätigte er sie. Sie zu mißachten, wäre ein zu großes Risiko. Und verglichen damit, ist alles andere unwichtig.«
Hochopepa wandte sich zu Pug um. »Ich verstehe noch immer nicht. Wovon spricht er?«
Pug ließ die Schultern hängen, aber aus seiner Haltung sprach mehr die Erschöpfung. Eine bisher tief verborgene Angst drängte sich ins Bewußtsein. »Ich zögere, davon auch nur zu sprechen«, murmelte er. »Elgahar schloß etwas, was ich selbst vermutete, jedoch mir einzugestehen Angst hatte.«
Einen Augenblick schwieg er, und alle schienen den Atem anzuhalten. Schließlich erklärte er: »Der FEIND ist zurückgekehrt!«
Pug legte das ledergebundene Buch zur Seite. »Wieder nichts.« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und schloß müde die Augen.
Er hatte so viel zu tun, und es quälte ihn das Gefühl, daß die Zeit knapp wurde, Die Entdeckung seiner Fähigkeiten als Magier des Niedrigeren Pfades behielt er für sich. Das war eine Sache seines Wesens, die er nie vermutet hatte, und er wünschte sich Ruhe, um dieser Entdeckung ungestört nachgehen zu können.
Hochopepa und Elgahar blickten von ihren Büchern auf. Letzterer hatte besonders hart gearbeitet, vielleicht, um seinen Willen zur Wiedergutmachung zu beweisen. »In diesen Unterlagen herrscht ein wirres Durcheinander, Milamber«, sagte er.
Pug pflichtete ihm bei. »Ich erklärte Hocho schon vor zwei Jahren, daß die Vereinigung in ihrem Hochmut nachlässig geworden sei. Diese Unordnung ist nur ein Beispiel.« Pug strich sein schwarzes Gewand glatt. Als die Gründe für seine Rückkehr bekannt geworden waren, hatte man ihm auf Antrag seiner alten Freunde und unterstützt von Elgahar ohne Zögern seine ehemalige Mitgliedschaft wieder zugestanden. Von den Abstimmenden hatten sich nur ein paar der Stimme enthalten, und nicht einer hatte gegen ihn gestimmt. Ein jeder Erhabene hatte einmal auf dem Prüfungsturm gestanden und die finstere Macht des Feindes gesehen.
Shimone, einer von Pugs ältesten Freunden in der Vereinigung und sein ehemaliger Lehrer, trat mit Dominic ein. Seit der Marterung durch des Kriegsherrn Foltermeister am vergangenen Abend hatte der Mönch sich erstaunlich gut erholt. Er hatte seine magischen Heilkräfte an Meecham und Pug angewandt, doch an sich selbst vermochte er es nicht. Glücklicherweise war er jedoch imstande gewesen, die Magier der Vereinigung in der Mischung einer Heilsalbe zu unterweisen, die ein Schwären seiner Schnitt- und Brandwunden verhindert hatte.
»Milamber, dein Priesterfreund ist ein wahres Genie! Er hat uns erklärt, wie wir auf ganz einfache Weise unsere Bücher katalogisieren können.« Shimone strahlte.
»Ich habe nur erzählt, wie wir es in Sarth handhaben«, wehrte Dominic das Lob ab. »Es ist ja wirklich ein ziemliches Durcheinander hier, doch ist es nicht ganz so schlimm, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint.«
Hochopepa reckte sich. »Mich beunruhigt, daß es hier wenig gibt, das wir nicht ohnehin wissen. Es sieht so aus, als wäre, was wir bei der Prüfung auf dem Turm sahen, die früheste Erinnerung an den Feind, und als gäbe es keine anderen Aufzeichnungen.«
»Das könnte schon sein«, meinte Pug. »Die meisten wahrlich großen Magier gingen bei ihrem Einsatz auf der goldenen Brücke zugrunde, nachdem sie ihre Lehrlinge und die Niedrigeren Magier in Sicherheit gebracht hatten. Es können Jahre vergangen sein, bis überhaupt einer daran dachte, das Geschehen niederzuschreiben!«
Meecham trat mit einem riesigen Bündel uralter, in behandelten Häuten gebundener Bände ein. Pug deutete auf den Boden in seiner Nähe, dort setzte Meecham es ab. Pug öffnete das Bündel und verteilte die Werke. Elgahar öffnete ein Buch, dessen Einband regelrecht knarrte. »Ihr Götter von Tsuranuanni!« hauchte er. »Diese Werke sind aber wirklich alt!«
»Sie gehören zu den ältesten im Besitz der Vereinigung«, versicherte ihm Dominic. »Meecham und ich brauchten eine ganze Stunde, bis wir sie entdeckt hatten, und eine weitere, an sie heranzukommen.«
Shimone staunte. »Das ist ja schon eine andere Sprache, so alt ist sie. Es gibt Wortkombinationen und Beugungen, derengleichen ich noch nie hörte.«
Hochopepa blickte von seinem Buch hoch. »Milamber, hör dir das an! Und als die Brücke verschwand, beharrte Avarie trotzdem auf einer Ratssitzung.«
»Die goldene Brücke?« dachte Elgahar laut.
Pug und die anderen hielten in ihrer Arbeit inne und hörten zu, als Hochopepa weiterlas. »Nur dreizehn waren von den Alstwanabi übrig, zu ihnen gehörten Avarie, Marlee, Caron – dann sind noch weitere Namen aufgezählt«, sagte der Magier und las weiter: »Und wenig Trost hatten sie, doch dann sprach Marlee ihre Worte der Macht und stillte ihre Furcht. Wir sind auf dieser Welt, die Chakakan – könnte das die alte Form von ›Chochocan‹ sein? – für uns erschaffen hat, und wir werden es durchstehen. Jene, die beobachteten, sagen, wir seien sicher vor der Finsternis. Finsternis? Kann es wahrhaftig sein?«
Pug las diesen Absatz noch einmal stumm. »Es ist dasselbe Wort, das Rogen nach seinem Zweiten Gesicht aussprach. Es kann nicht bloß Zufall sein! Hier haben wir unseren Beweis! Der Feind hat irgendwie etwas mit den Anschlägen auf Fürst Arutha zu tun!«
»Da ist noch etwas«, darauf wies Dominic hin.
»Richtig«, bestätigte Elgahar. »Wer sind jene, die beobachteten?«
Pug schob das Buch beiseite. Die Anstrengungen der letzten Tage übermannten auch ihn. Von allen, die den ganzen Tag unzählige Bücher durchgesehen hatten, war nun nur noch Dominic wach geblieben. Der ishapische Mönch schien imstande zu sein, seine Erschöpfung völlig zu verdrängen.
Pug schloß die Augen, um sie eine Weile ausruhen zu lassen.
Seine Gedanken hatten sich mit vielem beschäftigt, und vieles hatte er unbeachtet gelassen. Nun huschten Bilder vor seinem inneren Auge vorüber, doch keines wollte konkret Gestalt annehmen.
Es dauerte nicht lange, da hatte der Schlaf sich seiner bemächtigt, und während er schlief, träumte er.
Wieder stand er auf dem Dach des Gebäudes der Vereinigung.
Er trug den grauen Kittel des Schülers, und Shimone deutete auf die Turmtreppe. Er wußte, er mußte sie wieder erklimmen, mußte sich erneut dem Sturm stellen, mußte wieder die Prüfung bestehen, aus der er als Erhabener hervorgehen würde.
In seinem Traum begann er die Treppe hinaufzusteigen, und auf jeder Stufe sah er etwas. Zunächst eine Reihe verschwommener Bilder, dann stieß ein Vogel ins Wasser hinab, seine scharlachroten Schwingen hoben sich leuchtend vom Blau des Himmels und des Wassers ab. Danach wechselten die Bilder in schneller Reihenfolge ab: Heiße Dschungel, in denen Sklaven schufteten; ein Scharmützel, ein sterbender Soldat; Thun, die über die nördliche Tundra rannten; eine junge Frau, die einen Bediensteten ihres Gatten verführte; ein Kaufmann an seinem Stand. Und nun wanderte sein innerer Blick nordwärts und er sah…
Windgepeitschte, grimmig kalte Eisfelder. Von einem Turm aus Eis und Schnee kamen dickvermummte Wesen. Von menschlicher Gestalt waren sie, doch verriet ihr katzenhafter Gang, daß sie nicht wirklich Menschen waren. Sie waren alt und weise auf eine den Menschen unbekannte Art, und sie suchten nach einem Zeichen am Himmel. Sie blickten hinauf und beobachteten das Firmament. Sie beobachteten! Beobachter!
Pug schlug die Augen auf und schreckte hoch. »Was gibt’s?« erkundigte sich Dominic.
»Holt die anderen«, bat Pug. »Jetzt weiß ich es!«
Pug stand vor den anderen, und sein schwarzes Gewand flatterte im Morgenwind. »Du willst wirklich niemanden mitnehmen?« fragte Hochopepa erneut.
»Nein, Hocho, aber du könntest dich nützlich machen, wenn du Dominic und Meecham zu meinem Anwesen bringst, damit sie nach Midkemia zurückkehren können. Ich habe alles, was ich erfahren habe, für Kulgan und die anderen niedergeschrieben und Botschaften für alle zusammengestellt, die erfahren müssen, was wir bisher entdeckten. Ich jage vielleicht einem Irrbild nach, indem ich diese Beobachter im Norden suche. Und du kannst wirklich nicht mehr tun, als daß du meine Freunde zurückbringst.«
Elgahar trat näher. »Wenn es gestattet ist, würde ich gern Eure Freunde auf Eure Welt begleiten.«
»Warum?« fragte Pug.
»Die Vereinigung hat kein großes Interesse an einem Mann, der für den Kriegsherrn arbeitete. Und Ihr habt erwähnt, daß an Eurer Akademie Erhabene weilen, die noch ausgebildet werden müssen.
Nennt es Buße, wenn Ihr wollt. Ich werde zumindest eine Weile dort bleiben und den Schülern Unterricht erteilen, so gut ich es kann.«
Pug dachte nach. »Nun gut. Kulgan wird Euch erklären, was zu tun ist. Doch bedenket, daß der Rang eines Erhabenen auf Midkemia nichts bedeutet. Ihr werdet lediglich einer unter vielen sein. Das dürfte sich als keine leichte Umstellung erweisen.«
»Ich werde mir Mühe geben«, versicherte ihm Elgahar.
Da sagte Hochopepa: »Das ist eine großartige Idee! Ich habe mich oft gefragt, wie es in diesem barbarischen Land zugeht, von dem du stammst, Milamber. Und ich möchte neue Erfahrungen sammeln. Ich werde ebenfalls mitgehen!«
»Hocho!« Pug warnte. »In der Akademie findest du keine der üblichen Bequemlichkeiten vor!«
»Das macht nichts. Milamber, du brauchst Verbündete auf deiner Welt. Deine Freunde benötigen Hilfe, und zwar schnell, der Feind ist etwas, über den keiner von uns Genaueres weiß. Wir fangen am besten sogleich an, ihn zu bekämpfen. Und was den Mangel an Bequemlichkeiten betrifft, nun, ich werde auch ohne sie auskommen.«
»Außerdem«, meinte Pug, »reizt dich Macros’ Bibliothek, seit ich davon sprach.«
Meecham schüttelte den Kopf. »Das kann was werden! Er und Kulgan! Zwei Erbsen in einem Topf.«
»Was ist eine Erbse?« erkundigte sich Hochopepa.
»Das wirst du bald erfahren, alter Freund.« Pug umarmte Hocho und Shimone, schüttelte Meecham und Dominic die Hände und verneigte sich vor den anderen Mitgliedern der Vereinigung. »Folgt bei der Öffnung des Spalts genau meinen Anweisungen, wie ich sie für euch aufgeschrieben habe. Und schließt ihn, sobald ihr ihn durchschritten habt. Der Feind könnte immer noch nach einem Spalt suchen, um unsere Welten zu betreten.
Ich begebe mich zum Shinzawai- Landsitz, dem nördlichsten Punkt, den ich über ein Muster erreichen kann. Dort besorge ich mir ein Pferd und überquere die Thunische Tundra. Wenn es die Beobachter noch gibt, werde ich sie finden und von ihnen erfahren, was sie über den Feind wissen. Mit diesem Wissen kehre ich nach Midkemia zurück, und dann sehen wir uns wieder. Paßt bis dahin gut aufeinander auf, meine Freunde.«
Pug sprach den erforderlichen Zauber, verschwamm vor den Blicken der anderen und war verschwunden.
Sie verharrten noch eine Weile. Schließlich drängte Hochopepa: »Kommt, wir müssen unsere Vorbereitungen treffen.« Er blickte Dominic, Meecham und Elgahar an. »Gehen wir, meine Freunde.«