Der Weg führt nordwärts
Ein einsamer Reiter galoppierte herbei.
Arutha blickte über die Schulter, als Martin ihn auf den näher kommenden Reiter aufmerksam machte. Laurie wendete sein Pferd und zog sein Schwert, während Martin laut zu lachen begann.
»Wenn es der ist, wie ich glaube, dann nehme ich ihm seine Ohren!«
»Dann wetz schon mal dein Messer, Bruder«, sagte Martin grinsend. »Denn sieh nur mal, wie diese Ellbogen beim Reiten geradezu flattern.«
Wenige Augenblicke später erwies Martins Vermutung sich als richtig, ein grinsender Jimmy zugehe sein Pferd. Arutha gab sich keine Mühe, seinen Ärger zu verbergen. Er wandte sich an Laurie:
»Hast du mir nicht versichert, daß er sich mit Gardan und Dominic auf dem Schiff nach Krondor befinde?«
Sichtlich verblüfft antwortete der Sänger: »Er war auch auf dem Schiff, das schwöre ich!«
Jimmy blickte die drei an. »Nun, will mich denn niemand begrüßen?«
Martin bemühte sich um eine ernste Miene, doch selbst er, der bei den Elben gelernt hatte, seine Gefühle zu verbergen, hatte nun seine Not damit. Jimmy sah sie mit dem treuherzigen Blick eines Hündchens an – eine Pose, die so gespielt war wie seine meisten anderen. Und Arutha kämpfte sichtlich um Strenge. Laurie verbarg sein Lachen hinter einer schnell erhobenen Hand und einem Hüsteln.
Arutha schüttelte den Kopf. Schließlich sagte er: »Also gut, was hast du für eine Entschuldigung?«
»Nun, zunächst einmal, ich schwor einen Eid. Vielleicht bedeutet er Euch nicht viel, aber er ist trotzdem ein Eid, und er bindet uns, ›bis die Katze gehäutet ist‹. Und da war noch eine Kleinigkeit.«
»Was?« fragte Arutha scharf.
»Ihr wurdet beschattet, als Ihr von Sarth aufgebrochen seid.«
Arutha setzte sich im Sattel zurück. Er war über den gleichmütigen Ton des Jungen genauso überrascht wie über die Neuigkeit. »Wie kannst du dessen sicher sein?«
»Erstens einmal kannte ich den Burschen. Er ist ein Kaufmann aus Questors Sicht namens Havram, der für die Spötter als Schmuggler arbeitete. Er wurde nicht mehr gesehen, seit man dem Aufrechten über die Einschleusung der Nachtgreifer berichtete. Und er war in der Schenke, in der Gardan, Dominic und ich auf das Schiff warteten. Ich ging mit dem guten Hauptmann und dem Mönch an Bord, stahl mich jedoch über die Reling, ehe der Anker gelichtet wurde.
Dann, zweitens, war der Mann ohne seine üblichen Gehilfen, die er stets um sich hatte, wenn er seiner Arbeit nachging. Er ist allseits als gesprächig und leutselig bekannt und einer, der gern auf sich aufmerksam macht, wenn er den Kaufmann spielt. In Sarth jedoch hatte er die Kapuze seines Umhangs tief ins Gesicht gezogen und hielt sich möglichst in dunklen Winkeln. Er würde in einer Schenke seine übliche Rolle nicht aufgeben, zwängen ihn nicht außerordentliche Umstände dazu. Und er folgte Euch aus der Schenke, bis er sicher sein konnte, welchen Weg Ihr genommen habt.
Und was ebenfalls von Bedeutung ist, er steckte früher viel mit Lachjack und Golddase zusammen.«
Martin warf ein: »Havram! Das war der Mann, von dem Lachjack behauptete, er habe ihn und Dase für die Nachtgreifer angeworben!«
»Nun, da sie dich nicht mehr mit Magie finden können, setzen sie Menschen zur Beschattung ein«, fügte Laurie hinzu. »Da ist es klar, daß sie jemanden beauftragt hatten, in Sarth auf dich zu warten, bis du vom Kloster herunterkamst.«
»Hat er dich aufbrechen sehen?« fragte der Fürst. Jimmy lachte.
»Nein, aber ich ihn!« Alle blickten ihn fragend an, und der Junge fuhr fort: »Ich habe mich schon um ihn gekümmert!«
»Was hast du getan?«
Jimmy sah sehr zufrieden mit sich aus. »Selbst eine so kleine Stadt wie Sarth hat seine Unterwelt, die man schnell findet, wenn man sie zu suchen versteht. Ich benutzte meinen Ruf als Spötter von Krondor, gab mich zu erkennen und bewies, daß ich war, wer ich zu sein behauptete. Einigen Leuten, die nicht wollten, daß bekannt würde, wer sie wirklich waren, gab ich zu verstehen, daß ich durchaus bereit sei, mich ihretwegen nicht an die Gesetzeshüter zu wenden, wenn sie mir einen kleinen Dienst erwiesen. Da sie glaubten, ich stünde bei den Spöttern noch in gutem Ansehen, entschieden sie sich, mich nicht in der Bucht zu versenken, vor allem wohl auch, weil ich ihnen das Geschäft mit einem kleinen Beutel Gold, den ich bei mir trug, schmackhafter machte. Dann erwähnte ich, daß im ganzen westlichen Reich nicht ein einziger einen gewissen Kaufmann vermissen würde, der gegenwärtig in einer bestimmten Schänke säße. Der falsche Kaufmann ist vermutlich bereits auf seinem Weg nach Kesh über die durbische Sklavenroute und lernt schwerere Arbeit als bisher kennen.«
Laurie schüttelte bedächtig den Kopf. »Der Junge weiß, was getan werden muß!«
Arutha seufzte tief. »Es sieht ganz so aus, als stünde ich wieder einmal in deiner Schuld, Jimmy.«
Der Junge ging nicht darauf ein, sondern fuhr fort: »Etwa eine Stunde hinter uns kommt von der Küste eine kleine Karawane. Wenn wir langsam reiten, holt sie uns noch vor Einbruch der Nacht ein.
Wir könnten uns vermutlich als zusätzliche Wächter anwerben lassen und reisen so mit den Wagen und anderen Wächtern, während Murmandamus nach den drei Reitern Ausschau halten läßt, die Sarth verließen.«
Arutha lachte. »Was soll ich nur mit dir tun?« Ehe Jimmy den Mund aufbrachte, fügte er noch hastig hinzu: »Aber sag ja nicht wieder, daß du Herzog von Krondor werden möchtest!« Als er sein Pferd gewendet hatte, blickte er noch einmal, über die Schulter diesmal, auf Jimmy: »Und verrat mir lieber nicht, woher du das Pferd hast.«
Das Schicksal oder die Wirksamkeit des ishapischen Talismans half Arutha und seinen drei Begleitern, jedenfalls hatten sie keinerlei Schwierigkeiten auf ihrem Weg nach Ylith. Jimmys Hinweis, daß eine Karawane sie einholen würde, erwies sich als richtig. Sie stellte sich als eine recht armselige heraus, mit nur fünf Wagen und zwei Banditen als Wächtern. Sobald der Kaufmann, dem sie gehörte, überzeugt war, daß sie kein lichtscheues Gesindel waren, hieß er sie als Reisebegleiter willkommen – schließlich gewann er vier zusätzliche Beschützer, die ihn nur die Mahlzeiten kosteten.
Zwei Wochen reisten sie dahin und kaum, daß die Eintönigkeit je unterbrochen wurde. Fahrende Händler, Trödler und Karawanen aller Größen mit bis zu zwanzig Söldnern als Wachmannschaft begegneten ihnen in beiden Richtungen entlang der Küste zwischen Questors Sicht und Sarth. Wirklich nur zufällig hätte ein Spitzel des Gegners sie unter all den Wächtern auf der vielbefahrenen Straße erkennen können.
Gegen Sonnenuntergang tauchten die Lichter von Ylith in der Ferne auf. Arutha ritt an der Spitze mit den beiden Wächtern des Kaufmanns Yanov. Er zugehe sein Pferd, bis der vorderste Wagen ihn erreichte. »Wir sind bald in Ylith, Yanov.«
Der Wagen rollte an ihm vorüber, und der dicke Kaufmann, ein Tuch- und Seidenhändler von Krondor, winkte glücklich.
Arutha war sehr erleichtert gewesen, als ihm klargeworden war, daß Yanov, ein recht überschwenglicher Mann, kaum auf irgend etwas achtete, das andere sagten, so hatte er sich auch nicht um die von Arutha schnell erfundene Geschichte geschert. Soweit der Fürst es festzustellen vermochte, hatte Yanov ihn nie zuvor gesehen.
Martin war der erste, der Arutha einholte, als der letzte Wagen der Karawane an ihm vorüberholperte. »Ylith!« sagte Arutha und trieb sein Pferd wieder an.
Jimmy und Laurie, die auf der anderen Seite der Wagen geritten waren, lenkten ihre Pferde herbei, als Martin meinte: »Bald können wir uns von der Karawane trennen und uns frische Pferde besorgen.
Diese hier müssen sich dringend ausruhen.«
»Ich bin froh, wenn ich Yanov nicht mehr sehe«, brummte Laurie.
»Er quasselt unaufhörlich wie ein Fischweib.«
Jimmy schüttelte in spöttischem Mitgefühl den Kopf. »Und er läßt kaum jemanden am Lagerfeuer eine Geschichte erzählen.«
Laurie funkelte ihn an. »Genug!« mahnte Arutha. »Wir werden uns weiterhin als einfache Reisende ausgeben. Würde Baron Talanque erfahren, daß ich hier bin, machte er gleich eine Staatssache daraus. Er würde, uns zu Ehren Bankette und Empfänge geben, Turniere und Jagden veranstalten, und jedermann zwischen den Großen Nordbergen und Kesh würde erfahren, daß ich in Ylith bin. Talanque ist ein feiner Kerl, aber er liebt Festlichkeiten.«
Jimmy lachte. »Da ist er nicht der einzige.« Mit einem Freudengebrüll trieb er sein Pferd an. Arutha, Laurie und Martin blickten ihn erstaunt an, dann stellte sich auch bei ihnen die Erleichterung ein, daß sie Ylith bald erreichen würden, und sie jagten hinter dem Jungen her.
Als Arutha an dem vordersten Wagen vorübergaloppierte, rief er: »Gute Geschäfte, Meister Yanov!«
Der Kaufmann blickte ihnen nach, als hätten sie den Verstand verloren. Er hätte ihnen in allem Anstand eine Kleinigkeit geben müssen, da sie schon für ihren Wachdienst nichts verlangt hatten.
Vor dem Stadttor zugehen sie die Pferde, denn eine Karawane von beachtlicher Größe fuhr gerade hindurch, und es wartete schon eine Reihe weiterer Reisender, ebenfalls in die Stadt zu kommen. Jimmy hielt hinter einem Heuwagen an und wendete sein Pferd, um seinen Freunden entgegenzublicken, die lachend herbeiritten. Wortlos schlossen sie sich ihm an und sahen zu, wie die Wächter den Wagen hindurchwinkten. In einer so friedlichen Zeit durchsuchten die Soldaten kaum ein Fuhrwerk oder jemanden, der in die Stadt wollte.
Jimmy schaute sich neugierig um, denn Ylith war die erste große Stadt, in die sie kamen, seit sie Krondor verlassen hatten, und die Geschäftigkeit hier ließ ihn sich fast wie zu Hause fühlen. Da bemerkte er eine einsame Gestalt nahe dem Tor, die heimlich, aber aufmerksam alle beobachtete, die das Tor durchschritten. Aus seinem großkarierten Schultertuch und dem Lederbeinkleid zu schließen, war er ein Hadati aus den Bergen. Sein Haar fiel über die Schultern, aber ein Büschel war am Oberkopf zu einem Kriegerknoten gebunden, und er trug ein schmal zusammengelegtes Tuch um die Stirn. Aus seiner Gürtelschärpe ragten zwei hölzerne Scheiden, die die scharfen Schneiden eines schmalen Langschwerts und eines kurzen Halbschwerts, wie es bei seinem Volk üblich war, schützten.
Das Auffälligste an dem Mann war sein Gesicht, das um die Augen herum von der Stirn bis zu den Wangenknochen ebenso wie sein Kinn unterhalb des Mundes kreideweiß bemalt war. Er musterte den Fürsten eingehend, als er vorbeiritt, dann wartete er, bis Jimmy, Martin und Laurie hinter Arutha das Tor passierten, ehe er selbst darauf zuging.
Jimmy lachte plötzlich laut, als hätte Martin einen Witz erzählt, und warf einen schnellen Blick über die Schulter.
Martin fragte: »Der Hadati?« Als der Junge nickte, sagte er: »Du hast ein gutes Auge. Folgt er uns?«
»Ja. Wollen wir ihn abhängen?«
Martin schüttelte den Kopf. »Das können wir immer noch. Wenn es sein muß.«
Überall, wo sie durch die schmalen Straßen ritten, war die Wohlhabenheit unverkennbar, denn in den Läden brannte helles Licht, während die Händler den Kauflustigen, die durch den kühlen Abend bummelten, ihre Waren anpriesen.
Obwohl die Dunkelheit noch nicht eingebrochen war, herrschte gehobene Stimmung unter den Vergnügungssuchenden. Zahlreiche Karawanenwächter und Seeleute ließen ihren Lohn und ihre Heuer in den Taschen klimpern, bis sie gefunden hatten, wonach sie Ausschau hielten. Eine Schar lärmender Bewaffneter, offenbar Söldner, drängte sich über die Straße, vermutlich auf dem Weg von einer Schenke zur anderen. Einer rempelte dabei Lauries Pferd an und schrie in sichtlich gespieltem Grimm: »He, paß doch auf, wohin du das Tierchen lenkst! Oder muß ich dir Manieren beibringen?« Er tat, als wolle er sein Schwert ziehen, zur lauthalsen Freude seiner Kameraden. Laurie lachte mit ihnen, während Martin, Arutha und Jimmy die Augen offenhielten.
»Tut mir leid, Freund«, entschuldigte sich Laurie. Der Betrunkene verzog das Gesicht halb zur Grimasse, halb zum Lachen und tat erneut, als zöge er das Schwert.
Ein anderer aus der Söldnerschar schob ihn rauh zur Seite. »Geh und trink was!« herrschte er ihn an. Dann lächelte er zu Laurie hoch: »Kannst immer noch genausowenig reiten wie singen, eh Laurie?«
Sofort sprang Laurie vom Pferd und umarmte den Mann überschwenglich. »Roald! Du alter Hurensohn!«
Sie schlugen sich gegenseitig auf die Schulter, drückten einander an sich, bis Laurie den Söldner seinen Begleitern vorstellte. »Dieser finstere Kerl ist Roald, ein Freund seit meiner Kindheit, der mich auf so mancher Wanderung begleitete. Sein Vater hatte einen Hof gleich neben dem meines Vaters.«
Der Mann lachte. »Und unsere Väter warfen uns fast am gleichen Tag aus dem Haus.«
Laurie nannte Martins und Jimmys Namen, doch Arutha stellte er wie vereinbart als Arthur vor. »Freut mich, deine Freunde kennenzulernen, Laurie«, sagte Roald.
Arutha schaute sich um. »Wir versperren die Straße. Suchen wir uns erst mal Unterkunft.«
Roald winkte ihnen zu, ihm zu folgen. »Ich habe eine Kammer in einem Gasthof in der übernächsten Straße. Es ist dort gar nicht so übel!«
Jimmy trieb sein Pferd vorwärts und musterte diesen Jugendfreund des Sängers mit erfahrenem Auge. Alles an dem Mann wies darauf hin, daß er ein erprobter Söldner war, der lange genug durch das Schwert gelebt hatte, daß er meisterhaft damit umzugehen wußte, denn sonst läge er sicher längst irgendwo begraben. Jimmy bemerkte, daß Martin verstohlen über die Schulter schaute, und fragte sich, ob der Hadati ihnen noch folgte.
Das Gasthaus hieß Zum Nordland und war für eine Wirtschaft so nahe am Hafen recht bürgerlich. Ein Stallbursche stand von seinem Mahl auf, um sich der Pferde anzunehmen. Roald bat ihn: »Versorg sie gut, Junge.« Offenbar kannte der Bursche ihn. Martin warf ihm ein Silberstück zu.
Jimmy sah, wie der Junge die Münze in der Luft auffing. Als er ihm die Zügel seines Pferdes gab, steckte er den Daumen seiner Rechten zwischen Zeige- und Mittelfinger, so, daß der Junge es sehen konnte. Die beiden wechselten einen Blick, und der Junge nickte Jimmy flüchtig zu.
In der Gaststube bestellte Roald Bier für sie bei einer vorübereilenden Schankmaid und deutete zu einem Tisch nahe der Tür zum Hinterhof mit der Stallung und etwas abseits vom üblichen Gedränge der anderen Gäste. Roald rückte sich einen Stuhl zurecht und zog die schweren Lederhandschuhe aus. Er sprach nun leiser, daß nur die an seinem Tisch ihn verstehen konnten: »Laurie, wie lange ist es her, daß ich dich das letzte Mal sah? Sechs Jahre? Du bist mit einer Streife von LaMut geritten, um nach Tsuranis zu suchen, über die du Lieder machen wolltest. Und jetzt bist du hier mit…« Er deutete auf Jimmy. »… diesem jungen Dieb.«
Jimmy verzog das Gesicht. »Das Hochzeichen?«
»Das Hochzeichen«, bestätigte Roald. Als die anderen verwirrt dreinsahen, erklärte er: »Dieser Jimmy hier machte ein Zeichen für den Stallburschen, damit die hiesigen Diebe die Pfoten von seinen Sachen lassen. Es bedeutete hauptsächlich, daß ein Dieb aus einer anderen Stadt angekommen und bereit ist, die Regeln zu beachten und seinerseits das gleiche für sich erwartet. Richtig?«
Jimmy nickte. »Stimmt. Es versichert ihnen, daß ich nicht ohne ihre Erlaubnis – arbeiten werde. Dadurch gibt es keine Unannehmlichkeiten. Der Bursche wird dafür sorgen, daß die Betreffenden es erfahren.«
Ruhig fragte Arutha: »Woher kennt Ihr das Zeichen?«
»Ich bin kein Gesetzloser, aber ein Heiliger genausowenig. Im Lauf der Jahre hatte ich Kameraden aller möglichen Art, obgleich ich im Grund genommen ein einfacher Soldat bin. Bis vor einem Jahr gehörte ich der yabonesischen Freischar an. Wir kämpften für König und Land – für ein Silberstück pro Tag und die Verpflegung.« Sein Blick schien in weite Fernen zu schweifen. »Wir waren sieben Jahre fast ständig im Fronteinsatz. Von den Jungs, die im ersten Jahr mit unserem Kapitän ausliefen, überlebte von fünfen nur einer. Jeden Winter bezogen wir unser Quartier in LaMut, und der Käpten heuerte neue Leute an. Und jedes Frühjahr kehrten wir mit weniger Mann ins Feld zurück.« Er senkte den Blick zu dem Krug vor sich. »Ich habe gegen Banditen und Gesetzlose gekämpft, gegen Abtrünnige aller Art. Ich diente auf einem Kriegsschiff, das Piraten jagte. Ich war am Schnitterspaß dabei, wo dreißig von uns zweihundert Kobolde aufhielten, bis Brian Lord Hohenburg mit Verstärkung anrückte. Ich glaubte nicht, daß ich den Tag noch erleben würde, da die verfluchten Tsuranis endlich genug hatten! Ich bin wirklich froh, daß ich jetzt den Wächter bei so armseligen Karawanen mache, die nicht einmal die hungrigsten Banditen interessieren. Mein größtes Problem heutzutage ist wach zu bleiben!« Der Söldner lächelte. »Von allen meinen alten Freunden warst du der beste, Laurie. Dir würde ich mein Leben anvertrauen, vielleicht sogar meine Weiber und mein Geld. Trinken wir eine Runde auf alte Ze iten, dann können wir anfangen, Lügen aufzutischen.«
Arutha gefiel die Offenheit des Söldners. Die Schankmaid brachte eine zweite Runde, die Roald trotz Lauries Widerspruch bezahlte.
»Ich bin heute erst mit einer langsamen Karawane von den Freien Städten angekommen. Mein Mund ist noch voll vom Straßenstaub eines ganzen Monats, und mein Gold würde ich sowieso früher oder später ausgeben. Warum also nicht jetzt?«
Martin lachte. »Nur diese Runde, Freund Roald. Die nächste übernehmen wir.«
Jimmy fragte: »Habt Ihr einen Hadati herumlungern sehen?«
Roald winkte abfällig ab. »Hadati sind überall. Irgendein ganz bestimmter?«
»Einer mit grün-schwarz kariertem Schultertuch und weißer Gesichtsbemalung.«
Roald überlegte. »Grün und Schwarz – ein Clan aus dem hohen Nordwesten, aber ich wüßte jetzt nicht welcher. Doch die weiße Bemalung…« Er und Laurie wechselten einen Blick.
»Heraus mit der Sprache!« forderte Martin.
»Er ist auf Blutrache aus!« antwortete Laurie nun.
Roald bestätigte es. »Eine persönliche Sache. Hat etwas mit Clanehre oder dergleichen zu tun. Und laßt euch sagen, sie sind in dieser Hinsicht so uneinsichtig wie diese verdammten Tsuranis in LaMut. Vielleicht sucht er Vergeltung für irgendeine Untat, oder er zahlt eine Schuld für seinen Stamm zurück. Doch was immer es auch ist, nur ein Narr würde sich einem Hadati auf Blutrache in den Weg stellen. Sie sind ziemlich schnell mit dem Schwert bei der Hand!«
Roald leerte seinen Krug, und Arutha fragte: »Dürfen wir Euch zum Abendessen einladen?«
Der Söldner lächelt e. »Ich kann nicht verleugnen, daß ich hungrig bin.«
Die Bestellung wurde aufgegeben und das Mahl bald aufgetischt.
Zur Unterhaltung gaben Laurie und Roald Erlebnisse zum besten.
Roald hatte mitgerissen zugehört, während Laurie von seinen Abenteuern im Spaltkrieg erzählt hatte. Seine Verbindung zur Königsfamilie und seine Verlobung mit des Königs Schwester erwähnte er jedoch nicht.
»Ich habe noch nie einen Spielmann gekannt, der nicht aufgeschnitten hat, und du bist in dieser Beziehung der ärgste, Laurie, aber deine Geschichte ist so erstaunlich, daß ich sie dir sogar glaube. Es ist unvorstellbar!«
Laurie sah ihn gekränkt an. »Ich aufschneiden?«
Der Wirt kam an den Tisch und wandte sich an ihn. »Ich sehe, daß Ihr ein Spielmann seid.« Laurie hatte in alter Gewohnheit seine Laute bei sich. »Würdet Ihr dieses Haus mit einem Eurer Lieder ehren?«
Arutha wollte schon für ihn ablehnen, aber Laurie sagte: »Gern.«
Und zu Arutha: »Wir können ja ein wenig später aufbrechen, Arthur.
In Yabon erwartet man von einem Sänger, selbst wenn er sein Mahl bezahlt, daß er etwas zum besten gibt, wenn man ihn bittet. Dadurch habe ich was gut. Wenn ich je wieder hierherkomme, kann ich singen und essen, auch wenn ich kein Geld habe.«
Er ging zu einer kleinen Bühne nahe des Eingangs und setzte sich auf einen Hocker. Er stimmte seine Laute, bis der Klang jeder einzelnen Saite richtig war, dann begann er ein Lied mit einfacher Weise, das im ganzen Königreich gesungen wurde und allen bekannt war, die in Schenken und Gaststuben sangen. Es schien auch hier sehr beliebt zu sein. Es war eine angenehme Melodie, doch die Worte waren arg rührselig.
Arutha schüttelte den Kopf. »Das ist ja entsetzlich!« Die anderen lachten. »Stimmt«, bestätigte Roald, »aber genau das, was man hier gern hört.« Er deutete auf die anderen Gäste. »Laurie spielt, was beliebt ist, und das muß nicht immer gut sein. So kommt er zu was«, erklärte Jimmy.
Stürmischer Beifall dankte Laurie, und er stimmte eine andere Weise an, ein etwas zotiges Seemannslied vom Bitteren Meer, das von der Begegnung eines Seemanns mit einer Nixe erzählte. Eine Gruppe Seeleute auf Landurlaub klatschte im Takt dazu, und einer holte eine Holzflöte aus der Tasche und begleitete ihn gekonnt. Da die fröhliche und lockere Stimmung sich noch erhöhte, sang Laurie ein weiteres schlüpfriges Seemannslied, das erzählte, was eine Kapitänsfrau treibt, während ihr Mann auf See ist. Die Seeleute klatschten begeistert, und der Flötenspieler sprang spielend vor dem Schanktisch hin und her.
Während es immer noch vergnügter und lauter wurde, betraten drei Männer die Gaststube durch den Vordereingang. Jimmy beobachtete sie, als sie durch die Stube gingen, und murmelte:
»Gleich gibt es Ärger!«
Martin folgte Jimmys Blick. »Kennst du sie?«
»Nein, aber ihresgleichen. Der Große wird anfangen.« Der Betreffende war ganz offensichtlich der Anführer der drei, ein großer rotbärtiger Kämpfer, ein Söldner mit einem Oberkörper wie ein Faß, dessen Muskeln unter Schichten von Fett lagen. Bewaffnet war er lediglich mit zwei Dolchen. Sein Lederwams spannte über dem Bauch. Die beiden hinter ihm waren zweifellos ebenfalls Söldner.
Einer trug einen ganzen Satz Messer, angefangen mit einem dünnen Stilett bis zu einem langen Dolch. Der andere hatte ein großes Jagdmesser im Gürtel.
Der Rotbärtige führte seine Begleiter auf Aruthas Tisch zu und schob jeden, der ihm im Weg stand, fluchend grob zur Seite. Er war jedoch nicht nur unfreundlich, sondern wechselte laute rauhe Witze mit mehreren Männern, die ihn offenbar kannten. Alsbald standen die drei vor Aruthas Tisch. Sie blickten die vier dort an, und Rotbart verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. Seine Sprechweise verriet, daß er von einer der südlichen Freien Städte stammte. »Das ist mein Tisch!« erklärte er.
Er beugte sich über die Platte, stemmte die Fäuste zwischen die noch halbvollen Teller und fuhr fort: »Aber ich verzeihe euch, weil ihr hier fremd seid.« Jimmy wich unwillkürlich zurück, denn der Atem, der ihm von dem Mann entgegenschlug, stank schier umwerfend nach Bier und schlechten Zähnen. »Wenn ihr Ylither wärt, dann wüßtet ihr, daß Longly jeden Abend an diesem Tisch sitzt, wenn er in der Stadt ist. Steht jetzt auf, dann bringe ich euch nicht um.« Er warf den Kopf zurück und lachte schallend.
Jimmy war als erster auf den Füßen. »Das wußten wir nicht, mein Herr.« Er lächelte schwach, während die anderen Blicke wechselten.
Arutha ließ durchblicken, daß er den Tisch verlassen wollte, um eine Prügelei zu vermeiden. Jimmy tat, als hätte der fette Söldner ihm einen Mordsschrecken eingejagt. »Wir suchen uns einen anderen Tisch.«
Der Mann namens Longly faßte Jimmys Arm über dem Ellbogen.
»So ein hübscher Junge, nicht wahr?« Er lachte und schaute seine Begleiter an. »Oder vielleicht ist er ein Mädchen, das als Junge verkleidet ist, hübsch wie er ist.« Wieder lachte er schallend und blickte Roald an. »Ist der Junge dein Freund? Oder dein Liebling?«
Jimmy rollte die Augen himmelwärts. »Ich wollte, das hättet Ihr nicht gesagt.«
Arutha langte über den Tisch und legte die Hand auf des Rothaarigen Arm. »Laßt den Jungen in Ruhe.«
Longly versetzte dem Fürsten mit der freien Hand einen Schlag, daß Arutha nach hinten taumelte.
Roald und Martin tauschten schicksalsergebene Blicke, als Jimmy das rechte Bein hob, um den Dolch im Stiefelschaft zu erreichen. Ehe noch einer sich rühren konnte, drückte der Junge bereits die Dolchspitze gegen Longlys Rippen. »Ich glaube, es ist besser, du suchst dir einen anderen Tisch, Freundchen.«
Der fette Kämpfer blickte hinunter auf den Dieb, der ihm kaum bis zum Kinn reichte, und auf den Dolch. Mit donnerndem Lachen grölte er: »Bürschchen, du bist sehr komisch!« Seine freie Hand schoß vor und packte Jimmys Handgelenk mit unerwarteter Flinkheit. Mit nicht allzu großer Mühe nahm er ihm den Dolch ab.
Schweiß perlte über Jimmys Gesicht, als er sich dem zwingengleichen Griff des Rotbärtigen zu entziehen suchte. Auf der Bühne sang Laurie unbeschwert weiter. Er ahnte nicht, was am Tisch seiner Freunde vorging. Die in der Nähe, die wußten, womit man in Hafenkneipen rechnen mußte, machten eilig Platz.
Benommen von dem unerwarteten Schlag saß Arutha auf dem Boden und lockerte schließlich den Degen in seiner Scheide.
Roald nickte Martin zu. Beide standen bedächtig auf und hielten die Hände sichtbar, um darauf aufmerksam zu machen, daß sie nicht nach Waffen griffen. Roald sagte: »Hört zu, wir wollen keinen Streit. Hätten wir gewußt, daß dies Euer Stammtisch ist, hätten wir uns nicht hierhergesetzt. Wir suchen uns einen anderen. Laßt den Jungen los.«
Rotbart warf erneut den Kopf zurück und lachte. »Ha! Ich glaube, ich behalte ihn. Ich weiß, Fettquegan, der Händler, gibt mir für so einen hübschen Jungen hundert Goldstücke.« Mit plötzlich finsterer Miene schaute er sich um den Tisch um, dann stierte er Roald an.
»Du kannst gehen. Wenn der Junge sagt, daß es ihm leid tut, weil er Longly in die Rippen gestochert hat, laß ich ihn vielleicht auch gehen. Oder ich bring ihn zu Fettquegan.«
Arutha erhob sich langsam. Es war schwer zu sagen, ob Longly es auf einen echten Streit abgesehen hatte, aber der Fürst hatte jetzt genug von dem Burschen. Die Einheimischen kannten Longly offenbar. Wenn er wirklich bloß eine harmlose Schenkenschlägerei wollte und Arutha als erster die Klinge zog, mochte er sich ihren Grimm zuziehen. Die beiden Begleiter des Burschen schauten wachsam zu.
Wieder wechselte Roald einen Blick mit Martin und hob seinen Krug, als wolle er ihn leertrinken. Mit einem plötzlichen Ruck schüttete er Longly das Bier ins Gesicht, dann schmetterte er dem Messerträger den Zinnkrug an die Schläfe. Der Mann sackte auf den Boden. Den dritten lenkte Roalds unerwarteter Angriff ab, so sah er nicht, daß Martins Faust auf ihn herabsauste. Sie warf ihn rückwärts auf den Nachbartisch. Die ängstlicheren Gäste machten sich daran, die Wirtsstube zu verlassen. Laurie hörte zu spielen auf und erhob sich auf der Bühne, um zu sehen, was da vor sich ging.
Ein Schankbursche, dem es egal war, wer für die Schlägerei verantwortlich war, sprang über den Schanktisch und landete auf dem nächstbesten, der zufällig Martin war. Longly ließ Jimmys Handgelenk nicht los und wischte sich das Bier vom Gesicht. Laurie legte seine Laute behutsam auf die Bühne. Mit einem weiten Satz sprang er von dort auf einen Tisch und auf Longlys Rücken. Die Arme um dessen dicken Hals schlingend, begann er ihn zu würgen.
Longly kippte unter der Wucht leicht nach vor, gewann jedoch, immer noch mit Laurie auf dem Rücken, schnell sein Gleichgewicht wieder. Ohne sich um den Sänger zu kümmern, sagte er zu Roald, der bereit war zu kämpfen: »Du hättest Longly nicht das Bier ins Gesicht gießen dürfen. Jetzt bin ich wütend.«
Der schraubstockgleiche Griff schmerzte Jimmy so sehr, daß sein Gesicht weiß wurde. Laurie rief: »So helft mir doch. Dieser Riese hat einen Holzklotz als Hals.«
Arutha sprang nach rechts, gerade als Roald Longly ins Gesicht schlug, der blinzelte, dann warf er Jimmy auf Roald, daß dieser heftig gegen Arutha prallte. Alle drei stürzten übereinander auf den Boden. Mit der anderen Hand griff er über die Schulter und packte Laurie am Kragen. Er schwang ihn über den Kopf und ließ ihn auf einen Tisch fallen. Das Tischbein unmittelbar neben Jimmy knickte, und Laurie rollte von der Platte auf Roald und Arutha, als die sich gerade auf die Füße plagten.
Martin hatte mit dem Schankburschen gerungen und beendete den Kampf, indem er ihn zurück über den Schanktisch warf. Dann streckte er die Hand aus, faßte Longly bei der Schulter und drehte ihn herum. Des Rotbärtigen Augen leuchteten auf, offenbar freute er sich über einen ebenbürtigen Gegner. Mit seinen sechs Fuß und vier Zoll war Martin größer als er, wog jedoch nicht soviel. Erfreut aufschreiend griff Longly nach Martin, und schon hatte ein jeder eine Hand um den Nacken des Gegners und die andere um dessen Handgelenk. Eine lange Weile standen sie so ein wenig schwankend, dann bewegten sie sich leicht, um den anderen besser werfen zu können.
Laurie setzte sich auf und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht menschlich«, murmelte er. Da erst wurde ihm bewußt, daß er auf Roald und Arutha saß, und versuchte aufzustehen.
Jimmy gelang es, aber seine Knie waren etwas zittrig. Laurie blickte sitzend zu dem Jungen hoch, während Arutha aufstand. »Was glaubtest du zu erreichen, als du den Dolch zogst?« fragte der Sänger. »Wolltest du, daß wir alle umgebracht werden?«
Wütend blickte Jimmy zu den beiden großen Männern, von denen noch keiner den geringsten Vorteil über den anderen erzielt hatte.
»Keiner darf so über mich reden! Ich bin niemandes Schoßjüngelchen!«
»Du darfst nicht alles so ernst nehmen«, besänftigte Laurie und versuchte erneut aufzustehen. »Er will bloß spielen.« Lauries Knie gaben unter ihm nach, und er mußte sich an Jimmy festhalten.
»Glaube ich.«
Longly stieß eine Reihe von Grunzlauten aus, während er sich mit Martin maß. Martin dagegen verhielt sich völlig ruhig. Er beugte sich nach vorn und begegnete Longlys größerer Masse mit mehr Geschick. Was als möglicher blutiger Streit begonnen hatte, entwickelte sich zum fast freundschaftlichen Ringkampf, einem ziemlich rauhen allerdings. Longly zog plötzlich rückwärtsgehend, doch Martin folgte. Er ließ den Nacken des anderen los, ohne dessen Handgelenk freizugeben. Und dann war er bereits hinter dem stämmigen Mann und hielt Longlys Arm in schmerzhafter Haltung hinter dessen Kopf. Der Rotbärtige verzog das Gesicht, als Martin Druck auf den Arm ausübte und den Mann allmählich auf die Knie zwang.
Laurie half Roald auf die Füße, und sein alter Freund bemühte sich, die Benommenheit abzuschütteln. Als er wieder ohne Schleier vor den Augen sehen konnte, meinte er: »Das kann nicht sehr bequem sein.«
»Deshalb dürfte wohl sein Gesicht so blau anlaufen«, sagte Jimmy.
Roald wollte darauf antworten, doch etwas veranlaßte ihn, das Gesicht plötzlich Arutha zuzuwenden. Jimmys und Lauries Augen folgten seinem Blick und weiteten sich.
Arutha, der sah, daß die drei erschrocken in seine Richtung blickten, wirbelte herum. Eine Gestalt in schwarzem Umhang hatte sich während der Schlägerei unbemerkt dem Tisch genähert. Sie stand steif hinter Arutha und hielt einen Dolch zum Stoß erhoben in der Rechten. Die Augen des Mannes stierten geradeaus, und seine Lippen bewegten sich wortlos.
Aruthas Hand schoß vor und schlug dem Meuchler die Waffe aus den Fingern, doch sein Blick hing an dem Mann hinter dem Schwarzgewandeten. Der Hadatikrieger, den Jimmy und Martin am Tor bemerkt hatten, hielt sein Schwert zu einem zweiten Hieb bereit.
Er hatte den Meuchler lautlos von hinten getroffen und dadurch den sonst zweifellos erfolgreichen Anschlag auf den Fürsten vereitelt.
Als der Sterbende zusammenbrach, steckte der Hadati rasch sein schmales Schwert ein und sagte: »Kommt, da sind noch andere!«
Jimmy untersuchte eilig den Toten und hielt einen schwarzen Greifvogelanhänger an einem Kettchen hoch. Arutha wandte sich zu seinem Bruder um. »Martin! Nachtgreifer! Mach Schluß!«
Martin nickte. Dann, mit einer Drehung, die Longly fast die Schulter ausrenkte, zwang er ihn endgültig auf die Knie. Longly blickte zu Martin auf und schloß ergeben die Augen, als der Herzog die rechte Hand hob. Doch im Schlag hielt Martin inne. »Was soll’s?« brummte er und gab dem Stiernackigen einen Stoß nach vorn.
Longly fiel aufs Gesicht, doch er setzte sich schnell auf und rieb sich die schmerzende Schulter. »Ha!« Nun lachte er laut. »Komm wieder einmal hierher, großer Jäger. Du hast’s Longly ganz schön gegeben, bei den Göttern!«
Sie hasteten aus der Gaststube zur Stallung. Der Stallbursche fiel beim Anblick so vieler auf ihn zustürmender Bewaffneter fast in Ohnmacht. »Wo sind unsere Pferde?« rief Arutha ihm zu. Der Bursche deutete auf den hinteren Teil des Stalles.
»Sie werden einen längeren Ritt heute nacht nicht durchhalten können«, gab Martin zu bedenken.
Arutha bemerkte ausgeruht aussehende und offenbar gerade gefütterte Pferde nahe dem Eingang. »Wem gehören sie?« erkundigte er sich.
»Meinem Herrn«, antwortete der Junge. »Aber sie sollen nächste Woche bei der Versteigerung verkauft werden.«
Arutha bedeutete den anderen, diese frischen Tiere zu satteln.
Mit weit aufgerissenen Augen, in denen Tränen zu glänzen begannen, flehte der Stallbursche: »Bitte, Herr, tötet mich nicht.«
»Weshalb sollten wir dich töten wollen, Junge?« beruhigte ihn Arutha. Der Stallbursche drückte sich in eine Ecke, während die anderen die Tiere sattelten. Der Hadati nahm sich einen Sattel, der offenbar zur Stallausrüstung gehörte, und gab ihn auf ein sechstes Pferd. Arutha saß auf und warf dem Jungen einen prallen Beutel zu.
»Nimm das und sag deinem Herrn, er soll unsere Pferde verkaufen. Eine zusätzliche Entschädigung findet er in diesem Beutel. Behalt auch du etwas davon für dich.«
Dann ritten sie durch das Hoftor und eine schmale Straße entlang.
Wenn Alarm geschlagen wurde, würde man die Stadttore schließen.
Ein Tod bei einer Kneipenschlägerei mochte eine Verfolgung nach sich ziehen oder nicht, je nachdem, welcher Offizier der Stadtwache Dienst hatte, und von anderen Umständen konnte es ebenfalls abhängen. Arutha beschloß, kein Risiko einzugehen, und so eilten sie zum Westtor.
Die Stadtwächter achteten kaum auf die sechs Reiter, die durchs Tor trabten und dann die zu den Freien Städten führende Landstraße entlanggaloppierten. Also war bisher kein Alarm gegeben worden.
Als die Lichter von Ylith ein fernes Glühen in der Nacht hinter ihnen waren, zügelte Arutha sein Pferd und gab den anderen ein Zeichen anzuhalten.
Er wandte sich an den Hadati. »Wir müssen miteinander reden.«
Sie saßen ab, und Martin führte sie zu einer kleinen Lichtung unweit der Straße. Während Jimmy die Pferde anpflockte, fragte Arutha: »Wer seid Ihr?«
»Ich bin Baru, der Schlangentöter genannt«, antwortete der Hadati.
Ehrfurchtsvoll sagte Laurie: »Das ist ein mächtiger Name.« Er erklärte Arutha: »Baru tötete einen Lindwurm, so verdiente er sich diesen Namen.«
Arutha blickte Martin an. »Um Drachen und ihre Brut zu erlegen, braucht man Mut, einen starken Arm und Glück.« Lindwürmer waren mit den Drachen nahe verwandt. Der Unterschied lag nur in der Größe. Sich einem zu stellen, bedeutete, sich Geifer, Krallen, Fängen, Flinkheit zu stellen.
Der Hadati lächelte zum ersten Mal. »Ihr seid ein Jäger, so wie Euer Bogen es verrät, Herzog Martin.« Bei diesem Titel weiteten sich Roalds Augen. »Am meisten braucht man Glück!«
Roald starrte Martin an. »Herzog Martin…« Sein Blick wanderte zu Arutha. »Dann müßt Ihr…«
»Er ist Fürst Arutha«, warf der Hadati ein. »Lord Borrics Sohn und unseres Königs Bruder. Wußtet Ihr das nicht?«
Roald schüttelte heftig verneinend den Kopf. Nun erst schaute er Laurie strafend an. »Das ist das erste Mal, daß du je nur einen Teil einer Geschichte erzählt hast!«
»Es ist auch eine sehr lange Geschichte«, erwiderte Laurie. Zu Baru sagte er: »Ich sehe, daß Ihr aus dem hohen Norden seid, aber Euer Clan ist mir nicht bekannt.«
Der Hadati legte eine Hand auf sein Schultertuch. »Das zeigt an, daß ich zu Ordwins Familie vom Eisenbergclan gehöre. Meine Sippe wohnt in der Nähe des Ortes, den Ihr Stadtleute Himmelssee nennt.«
»Ihr seid auf Blutrache?«
Der Hadati deutete auf sein Stirntuch. »Ich suche. Ich bin Wegfinder.«
Roald warf ein: »Er ist so etwas wie ein heiliger Mann… Hoheit.«
»Ein seiner Aufgabe geweihter Krieger«, erklärte Laurie. »Das Tuch führt die Namen aller seinen Ahnen auf. Sie können keine Ruhe finden, bis seine Aufgabe erfüllt ist. Er hat den Schwur geleistet, Blutrache zu üben oder zu sterben.«
»Woher kennt Ihr mich?« fragte Arutha den Mann.
»Ich sah Euch auf dem Weg zum Friedenstreffen mit den Tsuranis am Ende des Krieges. Diese Tage wird keiner meines Clans vergessen.« Er blickte in die Nacht. »Als unser König uns rief, kamen wir, um gegen die Tsuranis zu kämpfen, und über neun Jahre taten wir es. Sie waren starke Gegner, bereit für ihre Ehre zu sterben – Männer, die ihren Platz am Ewigen Rad kannten. Es war ein würdiger Kampf. Dann, im Frühjahr des letzten Kriegsjahres, kamen die Tsuranis in großer Zahl. Drei Tage und drei Nächte kämpften wir unentwegt. Wir fügten dem Feind schwere Verluste zu für jeden Fuß Boden, den wir aufgeben mußten. Am dritten Tag wurden wir umzingelt. Jeder, aber auch jeder streitbare Mann unseres Clans bot dem Gegner die Stirn und wäre gestorben, hätte nicht Lord Borric uns gerettet, als er sah, in welcher Lage wir uns befanden. Ohne Eures Vaters Durchbruch zu uns wären unsere Namen ein Flüstern im Wind von gestern.«
Arutha erinnerte sich, daß Lyams Brief über den Tod ihres Vaters Hadati erwähnt hatte. »Was hat meines Vaters Tod mit mir zu tun?«
Baru zuckte die Schultern. »Das weiß ich nicht. Ich stellte einige Fragen am Tor. Viele kommen dort aus allen Windrichtungen hindurch, und ich dachte, ich fände nützliche Hinweise. Dann sah ich Euch. Es reizte mich zu erfahren, weshalb der Fürst von Krondor eine seiner eigenen Städte als einfacher Krieger betrat. Es herauszufinden würde mir die Zeit vertreiben, bis ich auf meine eigenen Fragen Antwort bekam. Da tauchte der Assassine auf, und ich konnte doch nicht untätig zusehen, wie er Euch meuchelte! Euer Vater rettete die Männer meines Clans und ich Euch Euer Leben. Vielleicht ist damit wenigstens ein kleiner Teil der Schuld beglichen. Wer kann schon wissen, wie das Ewige Rad sich dreht?«
»Im Gasthof sagtet Ihr, daß da noch andere wären…«
»Der Mann, der Euch zu töten versuchte, folgte Euch in die Wirtsstube, beobachtete Euch kurz, dann kehrte er ins Freie zurück und sprach mit einem Straßenjungen. Er gab ihm Geld, und das Bürschchen rannte los. Da kamen die drei herbei, mit denen ihr alle die Schlägerei hattet. Er hielt sie auf, sprach mit ihnen – was, konnte ich nicht verstehen – und deutete auf den Gasthof. Gleich darauf traten die drei ein.«
»Dann war die Schlägerei also von vornherein geplant!« sagte Arutha.
Jimmy warf ein: »Ich glaube eher, er kannte Longlys Gemütsart und erzählte ihm, daß jemand an seinem Stammtisch saß, um sicher zu sein, daß er auch wirklich das Nordland besuchte und nicht irgendeine andere Schenke.«
»Vielleicht wollte er, daß wir anderweitig beschäftigt und abgelenkt würden, bis seine Verstärkung kam, doch dann glaubte er eine gute Gelegenheit gekommen, die er sich nicht entgehen lassen wollte«, meinte Laurie.
»Wärt Ihr nicht dort gewesen, hätte er wohl auch kaum eine bessere Gelegenheit finden können«, sagte Arutha.
Der Hadati verstand dies als Dank, wie es gemeint war, und entgegnete: »Es ist keine Verpflichtung damit verbunden. Wie ich sagte, bin wahrscheinlich ich es, der eine Schuld abträgt.«
»Nun, da jetzt alles geklärt ist, kann ich ja nach Ylith zurückreiten«, meinte Roald.
Arutha wechselte einen Blick mit Laurie. Der Spielmann wandte sich an seinen alten Freund: »Roald, ich glaube, du solltest deine Pläne ändern.«
»Was soll das?«
»Es könnte sein, daß man dich in des Fürsten Begleitung gesehen hat, und das ist sehr wahrscheinlich, denn immerhin befanden sich wenigstens vierzig Gäste in der Wirtsstube, als es zur Schlägerei kam. Da wäre es durchaus möglich, daß jene, die ihn suchen, beschließen, dich zu fragen, wohin wir reiten.«
Mit gespielter Gleichmütigkeit brummte Roald: »Das sollen sie nur versuchen!«
»Lieber nicht«, rief nun Martin. »Sie können sehr hartnäckig sein.
Ich habe meine Erfahrungen mit Moredhels und weiß, daß sie alles andere denn sanft mit anderen umspringen.«
Roalds Augen weiteten sich. »Die Bruderschaft des Düsteren Pfades?«
Martin nickte, und Laurie sagte: »Außerdem bist du gegenwärtig frei.«
»Und das beabsichtige ich auch zu bleiben!«
Arutha versuchte es in schärferem Ton: »Ihr sagt nein zu Eurem Fürsten?«
»Es liegt keine Mißachtung darin, Hoheit, aber ich bin ein freier Mann. Ich stehe nicht in Euren Diensten, und ich habe keine Gesetze gebrochen. Ich unterstehe Euch nicht.«
»Hör zu«, versuchte es Laurie. »Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß diese Assassinen sich viel Mühe geben werden, jemanden zu finden, der mit uns gesehen wurde. Obwohl ich weiß, daß du zäh wie eine Stiefelsohle bist, habe ich Angst um dich, denn ich weiß, wozu diese Kerle imstande sind. Ich jedenfalls möchte mich nicht allein von ihnen erwischen lassen.« Doch auch das brachte, Roalds Entschluß nicht ins Wanken.
»Selbstverständlich würden wir für Eure Dienste bezahlen«, versicherte ihm Martin da.
»Wieviel?« erkundigte sich Roald nun gar nicht mehr ablehnend.
»Bleibt bis zum Ende unseres gegenwärtigen Unternehmens, dann bekommt Ihr von mir hundert Goldkronen«, versprach Arutha.
Ohne Zögern sagte Roald: »Einverstanden!« Das war ein guter Viermonatslohn, selbst für einen erfahrenen Karawanenwächter.
Nun blickte Arutha Baru an. »Ihr spracht davon, daß Ihr nach Hinweisen sucht. Können wir Euch irgendwie dabei behilflich sein?«
»Vielleicht. Ich muß einen von jenen finden, die Ihr als die Bruderschaft des Düsteren Pfades kennt.«
Eine Braue hebend, warf Martin Arutha einen flüchtigen Blick zu, ehe er Baru fragte: »Was habt Ihr mit den Moredhel zu tun?«
»Ich suche einen Moredhel aus den Yabonbergen mit einer Skalplocke…« Er zeichnete sie mit den Händen in die Luft. »… und drei Narben auf jeder Wange. Ich hörte, daß er in einer finsteren Mission in den Süden zog. Ich hatte gehofft, von Reisenden etwas über ihn zu erfahren, denn einer wie er hebt sich von den Moredhel des Südens ab.«
»Wenn er keine Zunge hat, dann ist es der, der uns auf dem Weg nach Sarth überfiel.«
»Das ist er!« rief Baru. »Der Zungenlose heißt Murad. Er ist ein Häuptling der Rabenclan-Moredhels, die Erzfeinde meines Clans sind, solange wir uns zurückzuerinnern vermögen. Selbst seine eigenen Brüder fürchten ihn. Die Narben auf seinen Wangen deuten auf einen Pakt mit den finsteren Mächten hin, mehr allerdings ist darüber nicht bekannt. Er wurde jahrelang nicht gesehen, das letzte Mal vor dem Spaltkrieg, als Mooskrieger der Moredhel plündernd die Berggrenze von Yabon überschritten. Er ist der Grund der Blutrache. Vor zwei Monaten tauchte er wieder auf. Mit einem Trupp schwarzgerüsteter Krieger zog er an einem unserer Dörfer vorüber, und dann plötzlich, ohne daß jemand dort ihm Grund dazu gegeben hätte, steckte er sämtliche Häuser in Brand und tötete alle Bewohner. Nur der Hirtenjunge entkam, und der beschrieb ihn mir.
Es war mein Dorf gewesen.« Seufzend meinte er: »Wenn er bei Sarth war, muß ich als nächstes dorthin. Dieser Moredhel hat schon zu lange gelebt.«
Arutha nickte Laurie zu, der sagte: »Wenn Ihr bei uns bleibt, Baru, werdet Ihr ihn am ehesten finden.« Baru blickte den Fürsten fragend an, und Arutha erzählte ihm von Murmandamus und seinen Dienern und von ihrer Suche nach einem Heilmittel für Anita.
Als er geendet hatte, lächelte der Hadati freudlos. »Dann würde ich gern in Euren Dienst treten, Hoheit, wenn Euch das recht ist, denn das Schicksal hat uns zusammengeführt. Ihr werdet von meinem Feind gejagt, und ich werde mir seinen Kopf holen, ehe er an Euch herankommt!«
»Gut«, freute sich Arutha. »Ihr seid uns willkommen, denn wir folgen einem gefährlichen Pfad.«
Martin erstarrte, und im gleichen Moment fast sprang Baru auf und eilte zu den Bäumen im Rücken des Herzogs. Martin legte Schweigen gemahnend einen Finger an die Lippen und verschwand einen Schritt hinter dem Hadati zwischen den Bäumen. Als auch die anderen ihm folgen wollten, hielt Arutha sie wortlos zurück.
Während sie reglos im Dunkeln harrten, hörten sie, was Martin und Baru aufgescheucht hatte, auf der Straße von Ylith hallte Hufschlag durch die Nacht.
Lange Minuten vergingen, dann verlor das Huftrappeln sich in Südwestrichtung. Kurz danach kehrten Martin und Baru zurück.
Martin flüsterte: »Mehr als ein Dutzend Reiter, die wie von Dämonen gehetzt dahinjagten.«
»In schwarzer Rüstung?« erkundigte sich Arutha.
»Nein, es waren Menschen«, antwortete Martin, »und im Dunkeln schwer zu erkennen, aber es scheint eine recht rauhe Meute gewesen zu sein.«
Laurie meinte: »Die Nachtgreifer haben vielleicht Schläger angeworben, derer es in Ylith zahlreiche gibt.«
Jimmy pflichtete ihm bei. »Vielleicht sind es nur ein oder zwei Nachtgreifer, schließlich können bezahlte Klingen genausogut und schnell töten.«
»Sie reiten in die Richtung der Freien Städte«, sagte Baru.
»Sie werden bald umkehren«, prophezeite Roald. Arutha drehte sich zu dem Söldner um, dessen Gesicht nur undeutlich auszumachen war. »Euer Baron Talanque hat ein neues Mauthaus keine fünf Meilen von hier errichtet. Offenbar kam es in letzter Zeit zu allerlei Schmuggel von Natal. Von den Wächtern dort werden sie erfahren, daß wir noch nicht vorübergekommen sind, und sogleich werden sie umdrehen.«
»Dann müssen wir weg sein!« drängte Arutha. »Die Frage ist, auf welchem Weg wir nach Elbenheim gelangen. Ich wollte die Nordstraße bis nach Yabon nehmen und dann westwärts abbiegen.«
Da warf Roald ein: »Von Ylith nordwärts dürfte es sich gar nicht vermeiden lassen, daß Ihr auf einige stoßt, die Euch vom Krieg her kennen, Hoheit. Wäre ich nicht so blind gewesen, hätte selbst ich nach einer Weile darauf kommen müssen.«
»Na gut, aber welchen Weg dann?« fragte der Fürst.
Martin überlegte: »Wir könnten von hier westwärts reiten, dann durch den Südpaß und an der Westseite der Grauen Türme entlang durch das Grüne Herz. Es ist gefährlich, aber…«
»Aber Kobolde und Trolle sind Feinde, die wir kennen. Ja, diesen Weg nehmen wir«, bestimmte Arutha. »Brechen wir auf!«
Sie saßen auf und ritten los mit Martin an der Spitze. Vorsichtig trabten sie durch den stillen dunklen Wald westwärts. Arutha verbarg seinen Ärger und unterdrückte ihn. Der ereignislose Ritt von Sarth nach Ylith hatte ihn eingelullt und vergessen lassen, welche Gefahren drohten. Doch der versuchte Anschlag im Gasthof und nun die Verfolger erinnerten ihn wieder allzusehr daran. Murmandamus und seine Leute waren zwar nicht mehr imstande, ihn durch magische Kräfte aufzuspüren, aber sie hatten ihr weites Netz gespannt, in dem er sich fast verfangen hätte.
Jimmy bildete die Nachhut und spähte immer wieder über die Schulter zurück, hoffte jedoch, nichts von den Verfolgern zu sehen.
Bald blieb die Straße in der Dunkelheit zurück, und des Jungen Blick heftete sich auf Roalds und Lauries Rücken – das einzige, was er vor sich sehen konnte.