Vermählung
Jimmy streifte durch den Thronsaal, der festlich geschmückt war.
Die anderen Junker beaufsichtigten die Pagen und Dienstleute, die die letzten Vorbereitungen trafen.
Aller Gedanken weilten bei der Trauung, die in nicht ganz einer Stunde stattfinden würde. Da Jimmy von seinen Junkerpflichten entbunden war, hatte er nun nichts zu tun. Und Arutha wollte ihn jetzt ganz sicher nicht um sich haben, also blieb ihm nichts übrig, als sich selbst eine Beschäftigung zu suchen.
Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß in dem gegenwärtigen Trubel kaum noch jemand an die Gefahren dachte, die den Fürsten bedroht hatten. Die Grauen im Weidenhaus waren unter der Fülle von Blumen und dem festlichen Schmuck vergessen.
Jimmy spürte einen finsteren Seitenblick von Junker Jerome und machte gereizt einen drohenden Schritt in die Richtung des Bürschchens. Sofort fiel Jerome offenbar ein, daß er woanders gebraucht wurde, und er eilte davon.
Ein Lachen erklang hinter Jimmy. Er drehte sich um und sah einen grinsenden Junker Locklear, der einen riesigen Blumenkranz trug. Der Tsuraniwächter untersuchte ihn sorgfältig, ehe er den Jungen weitergehen ließ. Von allen anderen Junkern schien nur Locky Jimmy zu mögen. Den anderen war er entweder gleichgültig, oder sie zeigten sogar ihre offene Feindseligkeit. Jimmy mochte Locky ebenfalls, obwohl der Junge seine Zeit damit vergeudete, über die unwichtigsten Dinge zu plaudern. Er ist sicher der Jüngste in seiner Familie, dachte Jimmy, und der verwöhnte Liebling seiner Mutter. Auf der Straße würde er keine fünf Minuten überleben.
Trotzdem hob er sich erfreulich von den anderen ab, die Jimmy langweilig fand. Jimmy belustigte es, wie welterfahren sie sich gaben. Nein, Arutha und seine Freunde waren weit interessanter als die Junker mit ihren schlüpfrigen Witzen, ihren lüsternen Blicken, die dieser oder jener Dienstmagd galten, und ihren kleinen Ränken.
Jimmy winkte Locky freundschaftlich zu und ging auf eine Tür zu.
Ein mit Blumen beladener Mann kam gerade hindurch, und ein kleiner Strauß fiel herab. Jimmy bückte sich danach, und als er ihn dem Dienstmann gab, wurde ihm plötzlich etwas bewußt: die weißen Chrysanthemen schimmerten schwach bernsteinfarben!
Jimmy blickte in die Höhe. Im Kuppeldach, so hoch wie drei Stockwerke, befanden sich viele Buntglasfenster, deren Farben kaum erkennbar waren, wenn die Sonne nicht direkt darauf schien.
Eingehend studierte er diese Fenster, denn wieder einmal meldete sich sein Gefühl, daß nicht alles so war, wie es sein sollte. Da wurde es ihm klar. Jedes Fenster war in eine nicht weniger als fünf oder sechs Fuß tiefe Wölbung eingelassen, die ein gutes Versteck für einen Assassinen bieten konnte. Aber wie könnte jemand dort hinauf gelangen? Um die Fenster zu putzen, mußte extra ein Gerüst aufgestellt werden. Und in dem Saal hatte in den vergangenen Tagen so gut wie immer ein buntes Treiben geherrscht.
Schnell verließ er den Thronsaal, ging einen Verbindungsgang entlang und in den Garten, der unmittelbar an den Thronsaal anschloß.
Ein Wächterpaar, das seine Runde zwischen der Außenmauer und dem Hauptgebäude zog, kam ihm entgegen, und Jimmy hielt die beiden auf. »Seid so gut und gebt den anderen Bescheid: Ich habe vor, mich auf der Kuppel des Thronsaals umzusehen.«
Die beiden wechselten Blicke, aber Hauptmann Gardan hatte den Befehl erlassen, daß der seltsame Junker nicht aufgehalten werden dürfe, wenn man ihn auf den Dächern herumklettern sah. Also salutierte einer. »Ist gut, Junker, wir werden es den Bogenschützen auf der Mauer mitteilen, damit sie Euch nicht als Zielscheibe benutzen.«
Jimmy hielt sich an der Wand des Thronsaals. Betrat man das Schloß durch den Haupteingang, so befand sich dieser Garten links vom Saal. Wäre ich ein Assassine, wo würde ich hochklettern? fragte sich Jimmy. Er schaute sich um und entdeckte ein Blumengitter an der Wand des Verbindungsgangs. Von dort zum Dach des Verbindungsgangs zu gelangen, war nicht schwierig, dann…
Statt weitere Überlegungen anzustellen, beschloß Jimmy, sofort zu handeln. Er studierte die Beschaffenheit der Außenwand, während er aus den verhaßten Stiefeln schlüpfte. Dann kletterte er das Blumengerüst hoch und lief das Dach des Verbindungsgangs entlang.
Von dort sprang er auf ein Gesims, das die ganze Länge des Thronsaals entlangführte. Mit bewundernswerter Flinkheit kroch er, das Gesicht dicht auf dem Stein, zum hinteren Saalende. Auf etwa halbem Weg zur Ecke blickte er auf. Ein Stockwerk höher befand sich die Unterkante der Fenster verlockend nah. Aber er wußte, daß er eine bessere Klettermöglichkeit brauchte, so kroch er weiter bis zum letzten Drittel der Wand. Hier, außerhalb des Saalteils, wo sich das Thronpodest befand, wölbte das Gebäude sich nach außen und gab Jimmy so zwei zusätzliche Fuß Wand im rechten Winkel zu der, an die er sich hielt. Hier in dieser Ecke mußte es möglich sein, emporzuklimmen. Jimmy tastete sich hoch, bis seine Finger eine Ritze zwischen den Steinen fanden. Nun kam ihm seine Erfahrung sehr zustatten. Er verlagerte sein Gewicht und suchte mit den Zehen nach dem nächsten Halt. Nur langsam kam er höher und schien in der Ecke zwischen den beiden Wänden dem Gesetz der Schwerkraft zu spotten. Es war ein schwieriges Unterfangen und bedurfte gespannter Aufmerksamkeit. Und endlich, nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, berührten seine Finger das Sims unter den Fenstern. Es war nur einen Fuß breit und das alles eine möglicherweise tödliche Unternehmung, denn die geringste Unachtsamkeit, und Jimmy konnte drei Stockwerke tief abstürzen. Er klammerte sich fest an den Rand und ließ die andere Hand los. Kurz hing er an einer, bis er sich mit der anderen ins Sims krallte und mit einer geschmeidigen Bewegung ein Bein hochgeschwungen hatte.
Auf dem schmalen Sims bog Jimmy um die Ecke über dem hinteren Teil des Thronpodests und schaute durch das Fenster. Er wischte das Fenster sauber, so gut es ging, und wurde flüchtig von der Sonne geblendet, die sich in diesem Fenster spiegelte und in einem an der Wand, die er gerade verlassen hatte. Er wartete, bis seine Augen sich der Düsternis im Saal angepaßt hatten, während er sie vor der Sonne abschirmte. Da spürte Jimmy plötzlich, wie das Glas unter seinen Fingern sich bewegte, und unvermutet legten sich kräftige Hände auf seinen Mund und um den Hals.
Erschrocken über den unerwarteten Angriff, erstarrte Jimmy sekundenlang, und als er sich zu wehren begann, hielten die Hände ihn bereits zu fest. Da traf ihn auch noch ein Schlag auf die Schläfe, und alles schien sich um ihn zu drehen.
Als sich die Schleier der Benommenheit von seinen Augen lösten, sah er das höhnische Gesicht Lachjacks vor sich. Der verräterische Spötter lebte nicht nur, er befand sich auch im Schloß, und aus seiner Miene und der Armbrust neben sich zu schließen, war er bereit zu töten. »Ah, du kleiner Hundesohn«, zischte er, als er einen Knebel fester in Jimmys Mund drückte. »Du bist einmal zu oft da aufgetaucht, wo du nichts verloren hast! Ich würde dich ja am liebsten gleich abstechen, aber ich darf kein unnötiges Risiko eingehen.« Er rückte in der Enge zwischen dem Glas und dem freien Raum über dem Thronsaal zur Seite, den die Wölbung bot. »Aber habe ich erst getan, was getan werden muß, dann werfe ich dich da hinunter, Bürschchen.« Er deutete in den Thronsaal. Nun wickelte er Stricke um Jimmys Hand- und Fußgelenke und verschnürte sie schmerzhaft fest. Jimmy versuchte hinter dem Knebel Laute hervorzustoßen, doch sie gingen im Gemurmel der Gäste unten verloren. Wieder schlug Jack ihm auf den Schädel. Jimmy sah noch, wie der Assassine in den Saal hinunterspähte, dann verließen ihn die Sinne.
Als Jimmy wieder zu sich kam, vernahm er die Gebete der Priester, die soeben den Thronsaal betraten. Er wußte, daß der König und Arutha erscheinen würden, sobald die Priester ihre Plätze eingenommen hatten.
Panik erfaßte den Jungen. Da er seinen Junkerpflichten entbunden worden war, würde seine Abwesenheit, bei all der Aufregung unten, niemandem auffallen. Jimmy versuchte, sich von den Fesseln zu befreien. Aber Jack, der Spötter, wußte, wie man sie knüpfte. Mit genügend Zeit würde Jimmy sich schließlich doch befreien können.
Zeit jedoch war etwas, was er absolut nicht hatte. Jedenfalls aber gelang es ihm mit seinem Hin- und Herzerren, sich so zu drehen, daß er einen Blick durch das Fenster werfen konnte. Er bemerkte, daß ein größeres Scheibenstück so bearbeitet war, daß es sich zur Seite ziehen ließ. Jemand mußte sich schon vor Tagen mit diesem Fenster beschäftigt haben.
Der neu angestimmte Gesang unten verriet Jimmy, daß Arutha und die anderen ihre Plätze eingenommen hatten und Anita nun den langen Mittelgang entlangzuschreiten begann. Verzweifelt schaute er sich nach einer Möglichkeit um, entweder seine Fesseln zu lösen oder genug Lärm zu schlagen, daß man unten im Thronsaal darauf aufmerksam wurde. Doch der Gesang war so laut, daß er selbst eine Schenkenschlägerei übertönt hätte. Außerdem würde auch der unbeholfenste Tritt nach dem Glas ihm einen weiteren Schlag auf den Kopf von Jack einbringen. Während einer kurzen Pause im Gesang vernahm er ein Geräusch in der Nähe. Es verriet ihm, daß Jack einen Bolzen in die Armbrust einlegte.
Nun verstummte das Singen ganz, und Jimmy konnte hören, wie Tully zu Braut und Bräutigam sprach. Jack richtete die Armbrust auf das Podest. Jimmy war in der Enge zusammengekrümmt und wurde durch den knienden Jack gegen das Glas gedrückt. Der Assassine warf dem Jungen, der sich zu drehen versuchte, einen flüchtigen Blick zu. Leider war Jimmy nicht einmal in der Lage, nach Jack zu treten, der sich offenbar überlegte, ob er zuerst schießen oder lieber zunächst Jimmy ganz zum Verstummen bringen sollte. Trotz all des Pomps war die Trauung selbst kurz, also hielt Jack es offenbar für besser, sich einstweilen noch nicht um den Jungen zu kümmern.
Jimmy war jung, wieder in bester körperlicher Verfassung und durch seine Kletterkunststücke auf den Dächern Krondors ein wahrer Akrobat. Er handelte, ohne lange zu überlegen, und spannte lediglich seinen ganzen Körper, so daß er sich nach oben bog und Kopf und Füße sich gegen die Seiten der Wölbung stemmten. Halb rollte, halb schnellte er sich, und mit einem Mal saß er mit dem Rücken zum Fenster. Jack wirbelte zu dem Jungen herum und fluchte stumm. Er konnte es sich nicht leisten, seinen Schuß zu vergeuden. Ein schneller Blick nach unten versicherte ihm, daß niemand durch die Bewegung des Jungen alarmiert worden war. So hob Jack erneut seine Armbrust und zielte.
Jimmys Blickfeld schien sich zusammenzuziehen, und er sah nur noch Jacks Finger am Abzug der Armbrust. Als dieser Finger sich zu krümmen begann, stieß er mit den gefesselten Füßen heftig zu. Die nackten Sohlen glitten von dem Assassinen ab, und der Schuß ging los. Erschrocken drehte Jack sich um, und wieder trat Jimmy mit beiden Füßen nach ihm. Einen Augenblick noch schien Jack ruhig am Rand der Fensterkuppel zu sitzen, dann begann er nach außen zu fallen, und seine Hände griffen wild nach dem Sims.
Jacks gegen die Seiten der Wölbung gepreßte Hände hielten den Fall auf. Er hing in der Luft, bewegte sich einen Augenblick nicht, doch dann fingen seine Handflächen an dem Stein zu rutschen an.
Jimmy fiel auf, daß irgend etwas seltsam war, bis ihm klar wurde, daß der Gesang, der mit der Zeremonie wieder eingesetzt hatte, nun verstummt war. Während Jacks Hände weiterglitten, klangen Geschrei und Rufe aus dem Thronsaal herauf.
Dann spürte Jimmy einen Ruck, und sein Kopf schlug auf den Stein. Seine Beine fühlten sich an, als würden sie ihm ausgerissen.
Jack hatte nach dem einzigen gegriffen, was er noch erreichen konnte: Jimmys Fußgelenke. Der Junge wurde nach außen gezerrt, als Jacks Gewicht sie beide in den Tod zu ziehen drohte. Jimmy stemmte sich mit aller Kraft gegen die Wölbung und krümmte sich, um weniger schnell zu rutschen, aber es nutzte ihm so wenig, als hätte er Eisen an den Füßen hängen gehabt. Knochen und Muskeln schmerzten, aber er konnte sich nicht von Jack befreien. Langsam wurde er nach außen gezogen. Seine Beine, Hüften und der Rücken schleiften über den Stein, doch der Stoff seiner Hose und des Wappenrocks schützte seine Haut. Dann riß Jack ihn aus dem Gleichgewicht, er war plötzlich aufrecht und hing am Rand der Wölbung.
Und nun fielen sie. Jack ließ den Jungen los, doch Jimmy bemerkte es nicht. Der Steinboden raste ihnen entgegen, um sie in seiner harten Umarmung zu zermalmen. Da glaubte Jimmy, daß zu guter Letzt sein Verstand versagte, denn mit einemmal wurde der Steinboden viel langsamer, als dehne eine höhere Gewalt die letzten Sekunden des Jungen unendlich aus. Und schließlich wurde ihm klar, daß tatsächlich eine Kraft ihn erfaßt hatte, die seinen Sturz milderte.
Er landete zwar nicht gerade sanft auf dem Boden, aber er lebte, und seine Knochen schienen heil geblieben zu sein, nur ein wenig benommen war er.
Wächter und Priester umgaben ihn, und Hände hoben ihn hoch, während er noch über das Wunder staunte. Er sah, wie der Magier Pug die Hände in der Luft bewegte, und spürte wie die seltsame Verlangsamung endete. Gardisten schnitten seine Fesseln auf. Er krümmte sich vor Schmerzen, als das Blut brennend in Hände und Füße zurückfloß. Fast hätte er wieder die Besinnung verloren. Zwei Wachen griffen nach seinen Armen und verhinderten, daß er zusammensackte. Mit wieder klarerem Blick sah er, daß etwa sechs Gardisten Jack am Boden festhielten, während weitere nach dem schwarzen Giftring oder sonstigen Selbstmordmitteln suchten.
Nun schaute Jimmy sich um. Alle im Saal schienen wie erstarrt.
Pater Tully stand an Aruthas Seite, und Tsurani-Wachen umgaben den König. Sie spähten wachsam in alle Ecken. Alle anderen blickten auf Anita, die der kniende Arutha wie ein Kind auf den Armen hielt.
Ihre Schleier und das Gewand waren um sie ausgebreitet. Im Spätnachmittagslicht bot sie ein Bild in jungfräulichem Weiß – von dem roten Flecken abgesehen, der auf ihrem Rücken immer größer wurde.
Arutha hatte einen tiefen Schock erlitten. Er saß mit den Ellbogen auf den Knien nach vorn gebeugt und starrte ins Leere. Die anderen, die sich mit ihm im Vorgemach befanden, bemerkte er nicht. Er sah nur immer wieder die letzten Minuten der Trauung vor seinem inneren Auge.
Anita hatte gerade ihr Gelöbnis abgelegt, und Arutha lauschte Tullys abschließendem Segen. Plötzlich hatte Anitas Miene sich seltsam verzogen, und sie stolperte, als wäre sie von hinten gestoßen worden. Er hatte sie aufgefangen und merkwürdig gefunden, daß sie fiel, denn sie war von Natur aus so anmutig und behende. Er machte einen freundlichen Scherz, um die Spannung zu brechen, weil er wußte, daß sie ihr Stolpern peinlich fand. Und sie sah so ernst aus mit den schreckgeweiteten Augen und dem halb geöffneten Mund, als wolle sie etwas Wichtiges fragen. Da hörte er den ersten Schrei.
Er blickte auf und sah den Mann aus der kleinen Fensterkuppel über dem Podest hängen. Alles schien gleichzeitig zu geschehen. Die Hochzeitsgäste schrieen und deuteten nach oben, Pug rannte herbei und sprach dabei einen Zauber. Und Anita brachte es nicht fertig, auf den Füß en zu stehen, so sehr er ihr dabei auch half. Da erst bemerkte er das Blut.
Arutha vergrub das Gesicht in den Händen und weinte. Bisher war er sein Leben lang imstande gewesen, seine Gefühle zu beherrschen.
Carline legte die Arme um ihn. Sie drückte ihn an sich, und ihre Tränen vereinten sich mit den seinen. Sie war nicht von seiner Seite gewichen, seit Lyam und drei Wächter ihn von Anita gewaltsam hatten wegzerren müssen, damit die Priester und Ärzte sich um sie bemühen konnten. Prinzessin Alicia hatte sich gramgebeugt in ihre Gemächer zurückgezogen. Gardan war mit Martin, Kasumi und Vandros unterwegs, um persönlich nach den Wachen zu sehen, die Schloß und Gelände nach weiteren möglichen Eindringlingen absuchten. Auf Lyams Befehl war das Schloß innerhalb vo n Minuten nach dem Anschlag abgeriegelt worden. Nun ging der König ruhelos und stumm in dem Gemach hin und her, während Volney, Laurie, Brucal und Fannon sich leise in einer Ecke besprachen. Sie alle warteten auf den ärztlichen Befund.
Die Tür zur äußeren Halle wurde geöffnet. Ein Tsurani ließ Jimmy ein. Schwerfälligen Schrittes kam der Junge herbei, denn seine Beine wiesen schmerzhafte Schürfwunden auf, und seine Knöchel waren obendrein verstaucht. Lyam und die anderen blickten ihn an, als Jimmy vor Arutha stehen blieb.
Der Junge versuchte zu sprechen, doch er brachte keinen Laut hervor. Wie Arutha hatte er jeden Augenblick des Anschlags wieder und immer wieder im Geist nacherlebt, während ein Akolyth von Nathans Orden seine Beine verbunden hatte. Seine Erinnerung hatte ihm arg zu schaffen gemacht, wenn er abwechselnd Aruthas Gesicht sah, wie es ihn angeblickt hatte, als der Fürst vor Tagen über ihre Freundschaft gesprochen hatte; und dann wie er kniend Anita in den Armen hielt und der Schock seine Züge gezeichnet hatte. Und zwischendurch schob Anitas Bild sich vor sein inneres Auge: Anita auf dem Weg zur Anprobe ihres Hochzeitsgewandes. Dieses Bild schwand, und er sah Arutha sie behutsam auf den Boden legen und die Priester an ihre Seite eilen.
Arutha blickte zu ihm auf, und wieder versuchte Jimmy zu sprechen. Die Augen des Fürsten richteten sich auf ihn, und er murmelte stockend: »Oh – Jimmy… Ich – habe dich dort gar nicht gesehen.«
Jimmy las den Schmerz und das Leid aus den dunkelbraunen Augen und spürte etwas in sich zerbrechen. Wider Willen glänzten Tränen in seinen Augen, und er flüsterte: »Ich – ich versuchte…« Er schluckte schwer. Etwas schien ihm die Kehle zuzuschnüren. Seine Lippen bewegten sich stumm. Schließlich würgte er: »Es – es tut mir leid.« Plötzlich kniete er vor Arutha. »Es tut mir so leid!«
Verständnislos blickte Arutha ihn an, ehe er den Kopf schüttelte.
Er legte die Hand auf Jimmys Schulter und sagte: »Es war doch nicht deine Schuld.«
Mit dem Kopf in den Händen auf Aruthas Knien vergraben, schluchzte er laut, während Arutha ihn unbeholfen zu trösten suchte.
Nun kniete sich Laurie neben ihn und sagte: »Du hättest nicht mehr tun können.«
Jimmy hob den Kopf und blickte Arutha an. »Aber ich hätte es tun müssen.«
Carline beugte sich zu ihm. Sanft trocknete sie ihm die Tränen.
»Du hast dich umgesehen, wo niemand sonst daran gedacht hatte.
Wer weiß, was noch alles passiert wäre, hättest du es nicht getan!«
Sie ließ den Gedanken offen, daß Arutha jetzt tot sein konnte, hätte Jimmy Lachjack nicht getreten, als er abdrückte.
Jimmy war nicht zu trösten. »Ich hätte mehr tun müssen!«
Auch Lyam schloß sich nun Laurie, Carline und Arutha um Jimmy an und kniete sich ebenfalls neben den Jungen, als Laurie ihm Platz machte. »Sohn, ich habe Männer, die nicht vor einem Kampf mit Kobolden zurückschreckten, erbleichen sehen, allein bei dem Gedanken so klettern zu müssen, wie du es getan hast. Jeder von uns hat seine eigenen Ängste«, fuhr er leise fort. »Doch immer, wenn etwas Schreckliches geschehen ist, denkt ein jeder, er hätte mehr tun müssen.« Er legte die Hand auf Aruthas, die immer noch auf Jimmys Schulter ruhte. »Ich mußte soeben den Tsurani-Wachen, die für die Sicherheit des Thronsaals verantwortlich waren, verbieten, sich selbst das Leben zu nehmen. Zumindest hast du nicht dieses verdrehte Ehrgefühl.«
Jimmy meinte es ernst, als er murmelte: »Ich würde mit der Prinzessin tauschen, wenn ich es könnte.«
»Ich weiß, daß du das tätest, Sohn«, sagte Lyam nicht weniger ernst. »Das weiß ich.«
Aruthas Stimme klang wie von weither: »Jimmy – damit du nicht glaubst, ich sei dir nicht dankbar. Du hast es gut gemacht.« Er bemühte sich um ein Lächeln.
Mit Tränen auf den Wangen drückte Jimmy Aruthas Knie ganz fest, dann lehnte er sich zurück, fuhr über sein Gesicht und erwiderte Aruthas Lächeln. »Ich habe nicht geweint, seit jenem Tag, an dem ich sah, wie meine Mutter ermordet wurde.«
Unwillkürlich legte Carline die Hand auf den Mund, und ihr Gesicht wurde bleich.
Die Tür des Vorgemachs öffnete sich, und Nathan trat ein. Er hatte seine Amtsrobe abgelegt, als er sich der Prinzessin annahm, und trug nun nur den weißen, knielangen Unterkittel. Seine Wangen wirkten eingefallen, und er wischte sich die Hände an einem Tuch ab. Arutha stand zitternd auf. Lyam stützte ihn. Grimmiger Miene sagte Nathan: »Sie lebt, allerdings ist ihre Verletzung ernst, doch glücklicherweise streifte der Bolzen sie in einem Winkel, der die Wirbelsäule nicht beschädigte. Hätte er sie voll getroffen, würde sie sofort tot gewesen sein. Sie ist jung und gesund, aber…«
»Aber was?« fragte Lyam.
»Der Bolzen war in Gift getaucht, Eure Majestät: ein Gift mit finsteren Künsten gemischt, unter Benutzung von schwarzen Zaubersprüchen verstärkt. Wir waren nicht imstande, ihm entgegenzuwirken. Weder Alchimie noch Magie vermögen etwas dagegen auszurichten.«
Arutha blinzelte. Er schien in seinem Zustand nicht zu verstehen.
Mit tiefem Kummer blickte Nathan Arutha an. »Es tut mir leid, Hoheit. Sie liegt im Sterben.«
Das Verlies befand sich unter der Meereshöhe. Der Geruch von Algen und Moder war schier unerträglich. Ein Wächter machte Platz, und ein anderer öffnete eine knarrende Tür für Lyam und Arutha.
Martin wartete in einer Ecke der Folterkammer und redete gedämpfter Stimme mit Vandros und Kasumi. Die Folterkammer war seit langem, schon vor Prinz Erlands Zeit, nicht mehr benutzt worden, abgesehen von der kurzen Spanne, da Jocko Radburns Geheimdienst hier während Bas-Tyras Herrschaft Gefangene recht unsanft befragt hatte.
Die üblichen Folterinstrumente waren fortgeschafft, aber ein Kohlebecken wieder hergebracht worden. In ihm begannen Eisen zu glühen, während einer von Gardans Männern das Feuer schürte.
Lachjack war mit den Händen hoch über dem Kopf an eine Steinsäule gekettet. Rund um ihn standen sechs Tsuranis so dicht, daß der ächzende Gefangene sie berührte, wenn er sich bewegte. Alle sechs hatten das Gesicht nach außen gewandt und hielten so aufmerksam Wache, daß selbst die getreuesten von Aruthas Leibgarde sich nicht mit ihnen messen konnten.
In einem anderen Teil der Kammer wandte Pater Tully sich von einigen weiteren Priestern ab, die alle an der Trauung teilgenommen hatten. Er sagte zu Lyam: »Wir haben die allerstärksten Schutzzauber errichtet.« Er deutete auf Jack. »Aber etwas versucht an ihn heranzukommen. Wie geht es Anita?«
Lyam schüttelte düster den Kopf. »Der Bolzen war in ein Gift von Schwarzer Magie getaucht. Nathan meint, ihr bleibe nicht mehr viel Zeit.«
»Dann müssen wir uns mit der Befragung des Gefangenen beeilen«, sagte der alte Priester. »Wir kennen unseren eigentlichen Feind nicht.«
Jack stöhnte laut. Aruthas Grimm würgte ihn schier. Lyam schob sich an seinem Bruder vorbei und bedeutete einem Wächter, zur Seite zu treten, ehe er dem Assassinen in die Augen blickte. Lachjack erwiderte seinen Blick mit furchtgeweiteten Pupillen. Sein Körper glänzte, und Schweiß tropfte von der Hakennase. Bei jeder Bewegung ächzte er. Die Tsuranis waren offenbar nicht sehr sanft mit ihm umgesprungen, als sie ihn durchsucht hatten. Jack bemühte sich zu sprechen. Er benetzte die Lippen, dann stöhnte er: »Bitte…«
Seine Stimme war ein Krächzen. »Laßt nicht zu, daß er von mir Besitz ergreift.«
Lyam trat dicht vor ihn hin und legte die Hand wie einen Schraubstock um Jacks Gesicht. »Welches Gift hast du verwendet?«
Jack antwortete den Tränen nahe: »Ich weiß es nicht, das schwöre ich!«
»Wir werden die Wahrheit von dir erfahren! Antworte lieber freiwillig, denn es würde dir nicht gefallen, was wir sonst mit dir tun müßten.« Lyam deutete auf die glühenden Eisen.
Jack versuchte zu lachen, aber es wurde nur ein blubbernder Laut.
»Glaubt Ihr, ich fürchte mich vor Eisen? Hört zu, König dieses verdammten Königreichs: Mit Vergnügen lasse ich mir von Euch die Leber ausbrennen, wenn Ihr mir nur versprecht, daß Ihr ihn mich nicht übernehmen laßt!« Seine Stimme überschlug sich fast.
Lyam schaute sich in der Kammer um. »Von wem sprichst du?«
Tully warf ein: »Seit über einer Stunde fleht er uns an, ihn vor
›ihm‹ zu schützen.« Die Miene des Priesters verriet seinen plötzlichen Gedanken. »Er hat einen Pakt mit den finsteren Mächten geschlossen, und nun fürchtet er sich davor, zu bezahlen.«
Mit weit aufgerissenen Augen nickte Jack heftig. Der Laut, den er nun von sich gab, war halb Lachen, halb Schluchzen. »Ja, Priester, und Euch würde es nicht besser ergehen, wärt Ihr einmal von dieser Finsternis berührt worden.«
Lyam faßte Jack am strähnigen Haar und riß seinen Kopf zurück.
»Wovon redest du da?«
Jacks Augen weiteten sich noch mehr. »Murmandamus«, flüsterte er.
Plötzlich griff Eiseskälte in den Raum. Die Kohlen im Becken und die Fackeln an den Wänden verloren an Leuchtkraft und drohten zu erlöschen. »Er ist hier!« schrillte Jack. Ein Priester fing zu beten an, und nach einem Moment wurde das Licht wieder heller.
Tully blickte Lyam an. »Das war – erschreckend!« Sein Gesicht wirkte angespannt, und seine Augen waren geweitet. »Es hat ungeheuerliche Kräfte! Beeilt Euch, Majestät, aber sprecht den Namen nicht aus, denn das würde ihn erst recht zu seinem Diener hier ziehen.«
»Was war das für ein Gift?« fragte Lyam scharf.
Jack schluchzte. »Ich weiß es nicht. Dieser Koboldkumpan, der düstere Bruder, gab es mir. Ich schwöre es!«
Die Tür schwang auf. Pug trat ein, gefolgt von einem weiteren Magier mit buschigem grauen Bart. Pugs dunkle Augen spiegelten den ernsten Ton, als er sagte: »Kulgan und ich errichteten Schutzzauber um diesen Teil des Schlosses, aber etwas wirft sich mit aller Kraft dagegen, selbst in diesem Augenblick.«
Kulgan, der aussah, als hätte er Schwerstarbeit hinter sich, fügte hinzu: »Was immer einzudringen versucht, ist fest entschlossen. Mit mehr Zeit, glaube ich, könnten wir etwas seines Wesens ergründen, aber…«
Tully führte Kulgans Gedankengang zu Ende: »es wird unseren Schutz durchbrechen, ehe wir dazu imstande sind. Es mangelt uns an Zeit.« Wieder bat er Lyam: »Beeilt Euch!«
»Dieses Etwas oder diese Person, der du dienst, was immer es auch ist, sag uns, was du darüber weißt. Weshalb will es den Tod meines Bruders?«
»Eine Abmachung!« schrie Jack. »Ich sage Euch, was ich weiß, alles, nur laßt nicht zu, daß er mich übernimmt!«
Lyam nickte knapp. »Wir werden ihn dir fernhalten.«
»Ihr wißt ja nicht, wie es ist!« schrillte Jack, dann senkte seine Stimme sich zu einem Halbschluchzen. »Ich war tot. Versteht Ihr?
Dieser Hundesohn erschoß mich statt Jimmy, und ich starb!« Sein Blick schweifte über die Anwesenden. »Keiner von euch kann sich vorstellen, wie das ist! Ich spürte, wie mir das Leben entglitt – und dann kam er! Als ich fast tot war, brachte er mich an jenen kalten finsteren Ort, und er – er tat mir weh. Er zeigte mir – so manches. Er sagte, wenn ich ihm diente, würde er mir das Leben zurückgeben.
Wenn nicht, würde er mich sterben und dort zurücklassen. Er konnte mir damals nicht helfen, denn ich gehörte nicht ihm. Aber jetzt bin ich sein. Er ist – böse.« Julian, der Lims-Kragma-Priester, kam hinter dem König herbei. »Er hat dich angelogen, Mann! Dieser kalte finstere Ort entsprang seiner Phantasie. Die Liebe unserer Herrin bringt Trost allen jenen, die sie zu sich holt. Dir wurde ein Trugbild gezeigt!«
»Er ist der Vater der Lüge und Täuschung! Doch nun bin ich seine Kreatur.« Jack schluchzte. »Er befahl mir, mich ins Schloß zu stehlen und den Fürsten zu töten. Er sagte, ich sei der einzige, den er noch hier habe, und die anderen würden zu spät ankommen, erst in einigen Tagen. Also müßte ich es tun. Ich versprach es ihm, doch – ich habe versagt, und jetzt will er meine Seele!« Die letzten Worte waren wie ein mitleiderregender Schrei, ein Flehen um Erbarmen, das zu geben über des Königs Macht ging. Lyam wandte sich an Julian. »Können wir etwas tun?«
»Es gibt ein Ritual, aber…« Julian blickte Jack an. »Du wirst sterben, das weißt du. Du bist bereits gestorben und nur aufgrund eines unheiligen Paktes hier. Was sein muß, muß sein. Du wirst noch in dieser Stunde sterben. Verstehst du?«
Unter Tränen schluchzte Jack: »Ja.«
»Dann wirst du unsere Fragen wahrheitsgetreu beantworten, uns sagen, was du weißt, und willig sterben, um deine Seele zu retten?«
Jack preßte die Lider zusammen und weinte wie ein Kind, aber er nickte.
»So sag uns, was du über die Nachtgreifer und dieses Komplott gegen meinen Bruder weißt«, verlangte Lyam.
Jack holte keuchend Atem. »Vor sechs oder sieben Monaten erzählte mir Dase, daß er auf etwas gestoßen sei, das uns reich machen könnte.« Während Jack sprach, schwand allmählich der hysterische Klang aus seiner Stimme. »Ich hab ihn gefragt, ob er es mit dem Nachtmeister abgesprochen hat, aber er sagt, es habe nichts mit den Spöttern zu tun. Ich war mir selbst nicht klar, ob es so eine gute Idee sei, was hinter dem Rücken der Gilde zu tun, aber so ‘ne extra Goldkrone war auch nicht zu verachten. Also hab ich gesagt:
›Warum nicht?‹ Und bin mit ihm gegangen. Wir haben uns mit diesem Burschen Havram getroffen, der schon mal mit uns gearbeitet hat. Er hat eine Menge Fragen gestellt, ohne selbst welche zu beantworten. Also wollt ich schon das Ganze aufgeben, doch da stellt er den Beutel Gold auf den Tisch und sagt, daß es noch weiteres gibt, wo der herkommt.«
Jack schloß die Augen wieder, und ein würgendes Schluchzen entrang sich seiner Kehle. »Ich folgte Golddase und Havram durch die Kanalisation zum Weidenhaus. Fast hätt ich mir in die Hosen gemacht, wie ich da die zwei Koboldkumpane im Keller gesehen hab. Aber sie hatten Gold, und für Gold nehm ich ‘ne Menge hin.
Also sagen sie mir, ich muß dies und das tun und die Ohren offenhalten, was vom Aufrechten kommt und vom Nachtmeister und vom Tagmeister, und es ihnen melden. Ich sagte ihnen, das kann mich das Leben kosten, da ziehen sie ihre Schwerter und sagen, daß es mich ganz sicher das Leben kostet, wenn ich es nicht tu. Ich dachte mir, ich sage jetzt ja und hetze dann später meine Schläger auf sie. Aber da haben sie mich in eine Kammer im Weidenhaus gebracht, und da war dieser Kerl. Er war ganz vermummt, daß ich nicht einmal sein Gesicht sehen konnte. Aber seine Stimme klang seltsam, und er hat gestunken. Ich kannte diesen Gestank, denn ich hatte ihn schon mal gerochen, wie ich noch ein Kind war, und ich konnte ihn nie vergessen.«
»Was war es?« fragte Lyam.
»In einer Höhle hab ich ihn gerochen – er stammte von Schlangen!«
Lyam wandte sich an Tully, der erschrocken Luft holte. »Ein panthatianischer Schlangenpriester!« Die anderen Priester blickten entsetzt auf und begannen leise aufeinander einzureden. »Fahr fort!« drängte Tully. »Die Zeit wird knapp.«
»Dann haben sie Dinge getan, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Ich bin wahrhaftig keine verträumte Unschuld, die die Welt für rein und schön hält. Aber was diese Burschen taten, war schlimmer als alles in meinen Alpträumen. Sie brachten ein Kind herein, ein kleines Mädchen, bestimmt nicht älter als neun. Ich dachte, mich könnte nichts mehr erschüttern. Doch da zieht der Vermummte einen Dolch und…« Jack schluckte und kämpfte offenbar dagegen an sich zu übergeben. »Sie malten Zeichen mit ihrem Blut und leisteten so was wie ‘nen Schwur. Ich bin wirklich nicht gottesfürchtig, aber an hohen Feiertagen habe ich doch immer Ruthia und Banath ein paar Münzen geopfert. Und jetzt bete ich zu Banath, als würde ich die städtische Schatzkammer am hellichten Tage ausrauben. Ich weiß nicht, ob das was damit zu tun hatte, aber mich haben sie den Eid nicht schwören lassen…« Seine Stimme wurde wieder zu einem Schluchzen.
»Mann, sie haben ihr Blut getrunken!« Er holte tief Luft. »Ich sagte, ich würde mit ihnen arbeiten. Alles ging auch gut, bis sie mir befahlen, Jimmy einen Hinterhalt zu stellen.«
»Wer sind diese Männer, und was wollen sie?« fragte Lyam.
»Dieser Koboldfreund hat mir einmal gesagt, daß es eine Prophezeiung über den Lord des Westens gibt. Der Lord des Westens muß sterben, dann erst kann was geschehen.«
Lyam blickte Arutha an. »Du sagtest, sie nannten dich Lord des Westens?«
Arutha hatte seine Fassung wiedergewonnen. »Ja, zweimal.«
Lyam kehrte zur Befragung zurück. »Was sonst?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Jack. »Sie redeten untereinander, aber ich war nicht wirklich einer von ihnen.«
Die Kammer schien zu erzittern, und wieder drohte das Feuer der Kohlen und der Fackeln zu erlöschen.
»Er ist hier!« schrillte Jack.
Arutha kam an Lyams Seite. »Was ist mit dem Gift?« fragte er scharf.
»Ich weiß es nicht«, schluchzte Jack. »Der Koboldkumpan hat es mir gegeben.« Er schien zu überlegen. »Einer der anderen nannte es ›Silberdorn‹.«
Arutha ließ den Blick durch die Kammer wandern, doch keiner schien den Namen je zuvor gehört zu haben. Plötzlich sagte ein Priester: »Es ist da!«
Einige der Priester beteten, dann hielten sie inne, und einer stellte fest: »Es hat unseren Schutz durchbrochen.«
Lyam fragte Tully: »Sind wir in Gefahr?«
»Die finsteren Mächte können nur jene lenken, die sich ihnen verschrieben haben«, versicherte ihm Tully. »Vor direktem Angriff sind wir sicher.«
Es wurde wieder eisig in der Kammer, die Fackeln flackerten wie in einem heftigen Sturm. »Laßt ihn mich nicht holen«, kreischte Jack. »Ihr habt es versprochen!«
Tully blickte Lyam an, der nickte und Vater Julian zu übernehmen bat. Dann befahl er den Tsurani-Wachen, dem Lims-Kragma-Priester Platz zu machen.
Julian stellte sich vor Jack und fragte: »Wünschst du dir aus tiefstem Herzen die Gnade unserer Herrin?«
Vor Furcht brachte Jack keinen Ton hervor. Aber er blinzelte mit tränenvollen Augen und nickte. Julian begann leise zu beten, und die anderen Priester machten schnell Zeichen in die Luft. Tully trat neben Arutha und flüsterte: »Verhaltet Euch ruhig. Der Tod ist unter uns.«
Es war schnell vorbei. In einem Augenblick schluchzte Jack noch hilflos, im nächsten sackte er zusammen, und nur die Ketten verhinderten, daß er auf den Boden stürzte.
Julian wandte sich an alle Anwesenden. »Er ist jetzt sicher bei der Herrin des Todes. Kein Leid kann ihm nun mehr widerfahren.«
Unvermittelt schien etwas an den Mauern zu rütteln. Eine finstere Wesenheit war zu spüren, und ein unmenschlich hohes Schrillen zerriß die Luft, als die Wesenheit ihre Wut hinausschrie, weil sie sich um ihren Diener betrogen fühlte. Alle Priester sowie Pug und Kulgan errichteten einen magischen Schutz gegen den tobenden Geist – und plötzlich war alles totenstill.
Erschüttert sagte Tully: »Es ist geflohen!«
Das Gesicht eine steinerne Maske, so kniete Arutha neben dem Bett. Anita lag auf dem weißen Kissen, und das dunkelrote Haar bauschte sich wie eine Krone. »Sie sieht so schmal aus«, flüsterte er.
Er blickte auf die anderen im Gemach. Carline hatte die Hand um Lauries Arm geklammert, und Martin stand mit Pug und Kulgan neben dem Fenster. Aruthas Augen schienen sie anzuflehen. Alle blickten auf die Prinzessin, außer Kulgan, der offenbar in seine Gedanken vertieft war. Sie hielten die Totenwache, denn Nathan hatte gesagt, die junge Prinzessin würde keine Stunde mehr leben.
Lyam befand sich in einem anderen Gemach und bemühte sich, Anitas Mutter Trost zuzusprechen.
Plötzlich schritt Kulgan um das Bett herum und sagte mit einer Stimme, die durch den gedämpften Ton der anderen hindurch laut klang: »Wenn ihr eine Frage hättet, die ihr nur einmal stellen könntet, wohin würdet ihr gehen?«
Tully blinzelte. »Ein Rätsel?« Kulgans buschige graue Brauen zogen sich über der Nase zusammen, und seine Miene verriet, daß er keineswegs zu irgendwelchen geschmacklosen Scherzen griff. »Es tut mir leid«, entschuldigte sich Tully. »Laß mich überlegen…« Die Furchen vertieften sich in des Priesters Greisengesicht in seiner Anstrengung. Dann blickte er wie in plötzlicher Erleuchtung auf.
»Sarth!«
Kulgan stupste ihm einen Finger in die Brust. »Richtig, Sarth!«
Arutha hatte ihnen zugehört. »Weshalb Sarth?« erkundigte er sich.
»Es ist eine der unbedeutendsten Hafenstädte des Fürstentums.«
»Weil sich dort in der Nähe ein ishapisches Kloster befindet, das mehr Wissen und Weisheit beherbergt als jeglicher andere Ort des Königreichs.«
»Und«, fügte Kulgan hinzu, »wenn es überhaupt einen Ort im Königreich gibt, wo wir erfahren können, was Silberdorn genau ist und wie ihm beizukommen ist, dann ist es das Kloster.«
Arutha blickte hilflos auf Anita. »Aber Sarth… Kein Reiter könnte in weniger als einer Woche dorthin gelangen und zurückkehren, und…«
Pug trat näher ans Bett. »Ich kann vielleicht helfen.« Plötzlich sagte er gebieterisch: »Verlaßt alle das Gemach, ihr alle, mit Ausnahme der Priester Nathan, Tully und Julian.« Dann wandte er sich an Laurie. »Lauf in meine Gemächer, und laß dir von Katala mein großes, in rotes Leder gebundenes Buch geben. Bring es mir sofort.«
Ohne ein Wort rannte Laurie los, während die anderen das Gemach verließen. Leise sagte Pug zu den Priestern: »Könnt ihr die Zeit für sie verzögern, ohne daß es ihr schadet?«
»Ich kann es«, versicherte Nathan. »Das habe ich auch bei dem düsteren Bruder getan, ehe er starb. Aber wir können auf diese Weise nur ein paar Stunden gewinnen.« Er blickte hinab auf Anita, deren Gesicht bereits einen kalten, bläulichen Ton angenommen hatte. Er berührte behutsam ihre Stirn. »Sie fühlt sich bereits kalt an. Ihr Leben schwindet schnell. Wir müssen uns beeilen.«
Hastig zeichneten die drei Priester das Pentagramm und entzündeten die Kerzen. In wenigen Minuten hatten sie alles vorbereitet und bald darauf das Ritual getätigt. Die Prinzessin schlief nun offenbar in einem Bett, das von einem – nur von der Seite sichtbaren – rosigen Glühen umgeben war. Pug führte die Priester aus dem Raum und bat, ihm Siegelwachs zu bringen. Martin erteilte den Befehl, und ein Page eilte davon, um es zu holen. Dann nahm Pug das Buch, das Laurie inzwischen gebracht hatte. Er kehrte damit in das Gemach zurück und las laut daraus, während er hin und her ging. Als er geendet hatte, öffnete er die Tür, trat auf den Korridor und sagte eine Reihe von Zaubersprüchen auf.
Schließlich gab er Siegelwachs auf die Wand neben der Tür. Nun klappte er das Buch zu. »Es ist vollbracht!«
Tully wollte auf die Tür zugehen, doch Pug hielt ihn zurück.
»Tretet nicht über die Schwelle!« Der greise Priester blickte ihn fragend an.
Kulgan schüttelte den Kopf. »Siehst du denn nicht, was der Junge getan hat, Tully?« Unwillkürlich mußte Pug lächeln. Selbst wenn er einmal einen langen weißen Bart haben würde, bliebe er für Kulgan doch ein Junge. »Schau auf die Kerzen!«
Nun blickten alle durch die Tür, und sie verstanden, was der wohlbeleibte Magier meinte. Die Kerzen in den Zacken des Pentagramms brannten, obgleich das im Tageslicht schwer zu erkennen war. Aber wenn man genau hinschaute, bemerkte man, daß die Flammen wie erstarrt wirkten.
Pug erklärte: »Die Zeit vergeht in diesem Gemach so langsam, daß es unmerklich ist. Die Mauern des Schlosses würden zu Staub zerfallen, ehe die Kerzen auch nur um ein Zehntel ihrer Länge niedergebrannt wären. Versuchte jemand über die Schwelle zu treten, wäre er gefangen wie eine Fliege in Bernstein. Es wäre der sichere Tod für ihn. Doch Vater Nathans Zauber verhindert die Folgen der Zeit innerhalb des Pentagramms und schützt die Prinzessin.«
»Wie lange wird dieser Zauber wirken?« fragte Kulgan voll Ehrfurcht vor seinem ehemaligen Schüler.
»Bis das Siegel gebrochen wird.«
Der erste Hoffnungsschimmer flog über Aruthas Gesicht. »Sie wird am Leben bleiben?«
»Sie lebt jetzt«, antwortete Pug. »Arutha, sie lebt zwischen den Augenblicken und wird so bleiben – für immer jung, bis der Zauber aufgehoben wird. Doch dann wird die Zeit für sie wieder vergehen, und sie wird die Heilung brauchen, wenn es eine gibt.«
Kulgan seufzte tief. »Dann haben wir zumindest das gewonnen, was wir am dringendsten brauchen: Zeit.«
»Ja, aber wieviel?« fragte Tully.
Mit fester Stimme sagte Arutha: »Genügend. Ich werde die Möglichkeit, sie zu heilen, finden.«
»Was hast du vor?« fragte Martin.
Arutha blickte seinen Bruder an und war zum ersten Mal an diesem Tag frei von der lähmenden Angst, dem Wahnsinn der Verzweiflung.
Kalt und ruhig antwortete er: »Ich werde nach Sarth reiten.«