Sarth


Das Kloster wirkte verlassen.

Auf dem Hof fanden sie die Bestätigung ihrer Vermutung, daß dies hier einst eine Festung gewesen war – und auch als Kloster noch war. Um den alten Turm herum waren ein größeres einstöckiges Gebäude sowie zwei Nebengebäude der ursprünglichen Festung hinzugefügt worden. Eines der Nebengebäude, das ein Stück seitwärts hinter dem Turm hervorragte, schien eine Stallung zu sein.

Doch nichts rührte sich irgendwo.

Da überraschte sie eine Stimme von hinter einem der Eingänge.

»Willkommen im Ishap-Kloster von Sarth.«

Arutha zog seinen Degen aus der Scheide, doch ehe er halb frei war, fügte die Stimme hinzu: »Ihr habt nichts von uns zu befürchten.«

Der Sprecher trat aus dem Eingang, Arutha schob seine Waffe zurück. Während die anderen absaßen, musterte der Fürst den Mann.

Er war untersetzt, kräftig, von mittlerem Alter, doch mit jugendlichem Lächeln. Sein braunes Haar war kurz und ungleichmäßig geschnitten, und sein Gesicht bartlos. Er trug eine braune Kutte, um die Mitte mit einem Lederband gerafft, und davon hingen ein Beutel und ein heiliges Zeichen herab. Er war unbewaffnet, Arutha fand jedoch, daß er sich wie einer bewegte, der mit Waffen sehr wohl umzugehen vermochte. Schließlich machte er sich bekannt: »Ich bin Arutha, Fürst von Krondor.«

Des Mönches Miene wirkte leicht belustigt, obwohl er nicht lächelte. »So seid denn willkommen im Ishap-Kloster von Sarth, Hoheit.«

»Glaubt Ihr meinen Worten nicht?«

»O doch, Hoheit. Es ist nur so, daß wir vom Ishap-Orden wenig Verbindung mit der Außenwelt haben und kaum Besuch bekommen, schon gar nicht von hoch gestellten Edlen. Verzeiht, wenn Eure Ehre es erlaubt, eine mögliche Kränkung. Seid versichert, sie war unbeabsichtigt.«

Arutha saß ab. Seine Stimme verriet seine Müdigkeit. »Ich bin es, der um Vergebung bitten muß…?«

»Bruder Dominic. Doch bitte keine Entschuldigungen. Aus den Umständen Eurer Ankunft ist deutlich ersichtbar, daß Ihr hart bedrängt wart.«

Martin erkundigte sich: »Haben wir Euch für dieses geheimnisvolle Licht zu danken?«

Der Mönch nickte. Arutha sagte: »Ich glaube, wir haben eine Menge zu besprechen, Bruder Dominic.«

»Ich fürchte, Ihr werdet auf die Beantwortung der meisten Eurer Fragen auf den Vater Abt warten müssen, Hoheit. Bitte folgt mir zur Stallung. «

Aruthas Ungeduld ließ nicht zu, auch nur eine Minute zu vergeuden. »Ich komme in einer äußerst dringenden Angelegenheit. Ich muß mit Eurem Abt sprechen. Sofort.«

Der Mönch spreizte die Hände, um anzudeuten, daß es nicht an ihm war, dies zu entscheiden. »Vater Abt ist für zwei weitere Stunden nicht abkömmlich. Er weilt mit den anderen Brüdern in der Kapelle zur Andacht, deshalb bin auch nur ich allein hier, Euch zu begrüßen. Bitte, kommt mit.«

Arutha schien widersprechen zu wollen, doch Martins Hand auf seiner Schulter brachte ihn zur Besinnung. »Ich muß mich noch einmal entschuldigen, Bruder Dominic. Wir werden uns selbstverständlich wie Gäste benehmen.«

Dominics Miene verriet, daß Aruthas Ungeduld von keiner Bedeutung für ihn war. Er führte den kleinen Trupp zu dem zweiten der kleineren Nebengebäude hinter dem Turm. Wie vermutet, war es tatsächlich eine Stallung. Es waren dort nur ein Pferd und ein kräftiger kleiner Esel untergebracht, die den Neuankömmlingen gleichgültig entgegenblickten. Während sie ihre Pferde versorgten, erzählte Arutha von ihren unerfreulichen Erlebnissen in den vergangenen Wochen. Nachdem er geendet hatte, fragte er: »Wie gelang es Euch, die schwarzen Reiter zu schlagen?«

»Ich bin der Torhüter, Hoheit. Ich darf jeden ins Kloster einlassen, doch niemand mit bösen Absichten kann die Schwelle ohne meine Erlaubnis überschreiten. Sobald jene, die euch nach dem Leben trachteten, sich auf dem Klosteranwesen befanden, unterstanden sie meiner Macht. Sie gingen ein großes Risiko ein, Euch auf Klosterbesitz anzugreifen – ein Risiko, das sich als tödlich für sie erwies. Doch für weitere Gespräche darüber und über anderes muß ich Euch ersuchen, auf Vater Abt zu warten.«

»Wenn alle anderen bei der Andacht sind, werdet Ihr Hilfe brauchen, Euch der Leichen zu entledigen. Sie haben die unangenehme Eigenschaft, wieder zum Leben zu erwachen.«

»Ich danke Euch für Euer Angebot, aber ich schaffe es schon. Und sie werden diesmal tot bleiben. Die Magie, die sie besiegte, befreite sie von dem sie lenkenden Bösen. Doch nun müßt Ihr Euch alle ausruhen.«

Sie verließen die Stallung, und der Mönch führte sie in einen kasernenähnlichen Bau. »Es sieht sehr militärisch hier aus, Bruder«, stellte Gardan fest.

Sie hatten gerade einen länglichen Schlafsaal betreten, und der Mönch sagte: »Diese Festung gehörte in alter Zeit einem Raubritter.

Sowohl das Königreich als auch Kesh lagen weit genug entfernt, daß er keinen Gesetzen als seinen eigenen zu unterstehen glaubte. So raubte, brandschatzte und schändete er ohne Furcht vor Vergeltung.

Nach einiger Zeit jedoch stellten die Bürger der von ihm heimgesuchten Städte und Dörfer sich mit dem Mut der Verzweiflung gegen ihn und vertrieben ihn. Das Land unterhalb und rund um diesen Felsen wurde von den umliegenden Bauern bestellt, doch so eingewurzelt waren Angst und Haß, daß niemand etwas mit dieser Festung zu tun haben wollte. Als ein Bettelmönch unseres Ordens der Wanderer sie entdeckte, schickte er eine Botschaft zum Tempel in Kesh. Die Nachkommen jener, die den Raubritter dereinst vertrieben, hatte nichts dagegen, daß wir die Festung zum Kloster machten. Heutzutage erinnern sich nur noch jene, die hier dienen, an die Geschichte dieses Ortes. In den Städten und Dörfern an der Bucht der Schiffe ist man der Meinung, dies sei immer schon das Ishap-Kloster gewesen.«

»Ich nehme an, das hier war das Kasernengebäude«, sagte Arutha.

»Stimmt, Hoheit«, bestätigte Dominic. »Wir benutzen es als Spital und für Gäste. Macht es Euch bequem. Ich muß Euch leider allein lassen, um meiner Arbeit nachzugehen. Vater Abt wird Euch bald begrüßen.« Müde seufzend ließ Jimmy sich, nachdem der Mönch gegangen war, auf eine Pritsche nieder.

Martin begutachtete den kleinen Ofen in einer Ecke. Ein Kessel mit sprudelndem Wasser stand darauf, und gleich daneben alles, was für würzigen Tee benötigt wurde. Unter einem Tuch fand er Brot, Käse und Obst. Alle bedienten sich.

Laurie überzeugte sich, ob seine Laute den gefährlichen Ritt gut überstanden hatte und begann sie zu stimmen. Gardan ließ sich dem Fürsten gegenüber nieder.

Arutha seufzte lange und tief. »In mir kribbelt alles vor Ungeduld.

Ich fürchte, diese Mönche wissen ebenfalls nichts über Silberdorn.«

Einen Moment verrieten seine Augen seine Seelenqual, doch dann wirkte sein Gesicht wieder unbewegt.

Martin legte den Kopf schief, während er offenbar laut dachte:

»Tully scheint anzunehmen, daß sie eine ganze Menge wissen!«

Laurie legte die Laute zur Seite. »Wann immer ich mich Magie nahefand, ob nun priesterlicher oder anderer, ließen Unannehmlichkeiten nie lange auf sich warten!«

Jimmy blickte Laurie an. »Dieser Pug schien mir für einen Magier sehr nett zu sein. Ich hätte mich gerne näher mit ihm unterhalten, aber…« Er ließ lieber ungesagt, was ihn daran gehindert hatte.

»Zumindest äußerlich scheint nichts sonderlich Bemerkenswertes an ihm zu sein, doch ganz offenbar empfinden die Tsuranis Ehrfurcht, wenn nicht Furcht vor ihm, und am Hof munkelt man über ihn.«

»Es gibt eine Geschichte über ihn, die vertont gehört«, antwortete der Sänger. Er erzählte Jimmy von Pugs Gefangenschaft und Erhöhung bei den Tsuranis. »Jene auf Kelewan, die magische Kräfte beherrschen, haben ihre eigenen Gesetze, und was auch immer einer von ihnen befiehlt, wird ohne Zaudern und Widerspruch ausgeführt.

Deshalb diese Ehrfurcht der Tsuranis von LaMut vor ihm. Alte Gewohnheiten sind hartnäckig!«

»Dann mußte er wohl viel aufgeben, um nach Midkemia zurückzukehren!« meinte Jimmy.

»Er hatte nicht gerade eine Wahl«, entgegnete Laurie lachend.

»Wie ist Kelewan?« erkundigte sich der Junge.

Farbig malte Laurie seine Abenteuer auf jener Welt aus, mit einem Gespür für Einzelheiten, wie es zu seinem Handwerk kaum weniger gehörte als seine gute Stimme und das geschickte Lautenspiel. Die anderen machten es sich gemütlich, entspannten sich und tranken Tee, während sie ihm lauschten. Sie alle kannten Lauries und Pugs Geschichte und ihre Rolle im Spaltkrieg. Doch wenn Laurie sie erzählte, war sie immer wieder ein mitreißendes Erlebnis, das keiner der großen Sagen nachstand.

Als Laurie geendet hatte, sagte Jimmy: »Ein Besuch auf Kelewan wäre ein echtes Abenteuer!«

»Auf Kelewan zu gelangen, ist nicht mehr möglich«, bemerkte Gardan. »Glücklicherweise!«

»Aber wenn es einmal möglich sein konnte, warum dann nicht wieder?« meinte Jimmy.

Martin wandte sich an Arutha. »Du warst doch bei Pug, als Kulgan Macros’ Erklärung las, weshalb er den Spalt geschlossen hatte.«

Arutha nickte. »Raumspalte sind etwas kaum Erklärliches, sie überbrücken ein undenkbares Nichts zwischen Welten, vielleicht die Zeit ebenfalls. Doch irgendwie ist es unmöglich, vorherzusehen, wohin sie führen. Und wenn einer besteht, scheinen ihm andere ganz einfach zu folgen, und zwar in etwa demselben Gebiet. Doch dieser erste ist der, der sich nicht lenken läßt. Soviel habe ich jedenfalls verstanden. Du mußt schon Kulgan oder Pug nach näheren Einzelheiten fragen.«

Gardan lachte. »Dann frag schon lieber Pug. Von Kulgan bekommst du gleich einen ganzen Vortrag.«

»Also haben Pug und Macros den ersten geschlossen, um den Krieg zu beenden?« fragte Jimmy.

»Nicht nur deshalb«, antwortete Arutha.

Jimmy blickte fragend von einem zum ändern. Laurie erklärte es ihm. »Nach Pug gab es in uralter Zeit eine ungeheuerliche finstere Macht, die die Tsuranis jedoch nur als den ›Feind‹ kannten. Macros schrieb, daß diese Macht den Weg zu den beiden Welten finden würde, bliebe der Spalt offen, denn er zöge sie an wie ein Magnet Eisen. Dieser Feind war eine Wesenheit von furchterregender Macht, die mühelos ganze Armeen vernichtet und große Magier in die Knie gezwungen hatte. So zumindest erklärte Pug es.« Jimmy legte den Kopf schief. »Dann ist dieser Pug also ein bedeutender Magier?«

Wieder lachte Laurie. »Wenn man Kulgan so reden hört, ist Pug der mächtigste Magier überhaupt, seit Macros’ Tod. Und der ist ein Vetter des Herzogs, des Fürsten und des Königs.«

Jimmys Augen weiteten sich.

»Das stimmt«, bestätigte Martin. »Unser Vater nahm Pug in unsere Familie auf.«

Arutha warf ein: »Jimmy, so wie du fragst, scheinst du noch nie etwas mit Magiern zu tun gehabt zu haben.«

»Ich kann nur sagen, was ich weiß. Es gibt durchaus einige Zauberer in Krondor, doch wohl recht fragwürdige. Unter den Spöttern gab es einmal einen Dieb, den man wegen seiner beispiellosen Geschmeidigkeit und Lautlosigkeit Tigerkatze nannte.

Er war sehr kühn in seinem Gewerbe und stahl eines Tages irgendein Kleinod von einem Zauberer, was diesem gar nicht gefiel.«

»Und?« fragte Laurie. »Was geschah?«

»Jetzt ist er eine Tigerkatze.«

Die vier Zuhörer saßen einen Augenblick stumm, dann verstanden sie. Gardan, Laurie und Martin lachten laut. Sogar Arutha schüttelte lächelnd den Kopf.

Alle fühlten sich entspannter und zum ersten Mal, seit sie Krondor verlassen hatten, auch sicher.

Die Glocken des Hauptgebäudes schlugen. Gleich darauf trat ein Mönch in den Schlafsaal. Er bedeutete den Männern stumm, ihm zu folgen. »Wir sollen mitkommen?« erkundigte sich Arutha. Der Mönch nickte. »Zum Abt?« Wieder nickte der Ordensbruder.

Alle Müdigkeit vergessend, sprang Arutha von der Pritsche auf.

Er war nach dem Mönch der erste an der Tür.

Die Kammer des Abtes paßte zu einem, der sein Leben der Vergeistigung gewidmet hatte. Sie war nüchtern in jeder Beziehung, erstaunlich waren allerdings die Bücherregale an den Wänden, Dutzende von Werken an jeder Seite. Der Abt, Vater John, war ein offensichtlich freundlicher Mann reiferen Alters, schlank, ja fast hager. Sein Haar und der Bart waren silbergrau und bildeten einen starken Gegensatz zu der dunklen Haut, die mit ihren Runzeln und Falten sorgfältig geschnitztem Mahagoni ähnelte. Hinter ihm standen zwei Mönche: Bruder Dominic und ein Bruder Anthony, ein Männchen mit hängenden Schultern und von unbestimmbarem Alter, der ständig zu Fürst Arutha schielte.

Der Abt lächelte, und die Runzeln um seine Augen- und Mundwinkel vertieften sich. Unwillkürlich dachte Arutha bei seinem Anblick an Bilder mit dem alten Vater Winter, einem legendären Wohltäter, der den Kindern zum Festtag der Wintersonnenwende Süßigkeiten brachte. Mit tiefer, jugendlicher Stimme sagte der Abt: »Hoheit, seid mit Euren Begleitern im Ishap-Kloster willkommen. Wie können wir Euch behilflich sein?«

Rasch gab Arutha einen kurzen Überblick über die Ereignisse der letzten Wochen.

Bei Aruthas Bericht schwand des Abtes Lächeln. Als er geendet hatte, entgegnete der Abt: »Wir sind zutiefst betroffen über diese Totenerweckung. Und was dieses schreckliche Unglück betrifft, das Eurer jungen Gemahlin widerfuhr – sagt uns, wie wir Euch helfen können.«

Plötzlich fiel es Arutha schwer weiterzusprechen, als überwältige ihn nun die Furcht, daß es keine Hilfe für Anita geben könne. So berichtete Martin: »Der im Auftrag handelnde Assassine behauptet, das verwendete Gift von einem Moredhel bekommen zu haben, und es sei durch Zauberkunst hergestellt. Er nannte es Silberdorn.«

Der Abt lehnte sich zurück, tiefes Mitgefühl sprach aus seiner Miene. »Bruder Anthony?«

»Silberdorn?« murmelte das Männchen. »Ich werde sofort im Archiv nachsehen, Vater.« Schlurfend verließ er die Kammer.

Die anderen schauten ihm nach. Arutha fragte: »Wie lange kann das dauern?«

»Das kommt darauf an«, erwiderte der Abt. »Bruder Anthony hat die erstaunliche Fähigkeit, Wissen geradezu aus der Luft zu ziehen, denn sein Gedächtnis ist schier einmalig. Er erinnert sich selbst an Dinge, die er nebenbei vor vielen Jahren las. Deshalb ist er auch zu unserem Hauptarchivar geworden, unserem Hüter des Wissens. Trotzdem kann die Suche Tage dauern.«

Ganz offensichtlich verstand der Fürst nicht, wovon der Abt sprach, so sagte der alte Geistliche: »Bruder Dominic, habt die Güte und zeigt dem Fürsten und seiner Begleitung ein wenig von dem, was wir hier in Sarth tun.« Er erhob sich, verbeugte sich knapp vor dem Fürsten, als Dominic zur Tür ging. »Dann bringt ihn zum Turm.« Zu Arutha gewandt, fügte er hinzu: »Ich werde Euch in Kürze dort treffen, Hoheit.«

Sie folgten dem Mönch auf den Hauptgang des Klosters. Dominic führte sie durch eine Tür, dann eine Treppe hinunter zu einem Absatz mit Zugang zu vier Korridoren und vorbei an einer Reihe von Türen.

Im Gehen sagte er: »Dieser Berg ist nicht wie die anderen ringsum, wie ihr sicher auf dem Herweg bemerkt habt. Er besteht hauptsächlich aus festem Felsgestein. Als die ersten Mönche nach Sarth kamen, entdeckten sie diese Gänge und Räume unter der Festung.«

»Wozu dienen sie?« erkundigte sich Jimmy.

Dominic blieb vor einer Tür stehen, brachte einen Ring mit vielen Schlüsseln zum Vorschein und machte sich daran, das alte Schloß aufzusperren. Knarrend schwang die schwere Tür auf, und als sie hindurchgetreten waren, schloß er sie hinter sich. »Der Raubritter benutzte diese aus dem Felsen gehauenen Räume als Lager für seine reichlichen Vorräte, die er für den Fall einer Belagerung zu benötigen glaubte, aber auch für sein Plündergut, seine gehorteten Schätze. Er muß in seiner Wachsamkeit sehr nachlässig geworden sein, daß die Unterdrückten ihn erfolgreich belagern konnten. Hier ist jedenfalls Platz genug, Vorräte für Jahre aufzubewahren. Unser Orden ließ dann noch weitere Räumlichkeiten in den Felsen hauen, bis der gesamte Berg mit Gängen und Räumen durchzogen war.«

»Wozu?« fragte Arutha.

Dominic bedeutete ihnen, ihm durch eine weitere Tür zu folgen, die nicht verschlossen war. Sie kamen in ein riesiges Gewölbe mit Regalen an den Wänden sowie mit freistehenden in der Mitte, und in allen reihten sich Bücher dicht an dicht. Dominic trat an ein Regal, nahm ein Buch heraus und reichte es Arutha.

Der Fürst betrachtete das alte Werk. Die eingebrannte Schrift des Einbands war mit jetzt verblaßtem Gold nachgezogen. Er öffnete es vorsichtig und spürte einen leichten Widerstand, als wäre es seit Jahren nicht mehr aufgeschlagen worden. Auf der ersten Seite sah er fremdartige Buchstaben einer unbekannten Sprache, in feiner, steiler Schrift. Er hob das Buch vors Gesicht und roch daran. Ein schwacher und doch beißender Geruch stieg ihm in die Nase.

Als Arutha es zurückgab, erklärte der Mönch: »Ein Schutzmittel. Jedes Buch hier wurde behandelt, um den Zerfall zu verhindern.« Er gab das Buch nun Laurie.

Der weitgereiste Sänger sagte: »Ich beherrsche diese Sprache nicht, aber ich glaube, es ist Keshianisch, obwohl die Schrift anders als jede des Reiches ist, die ich kenne.«

Dominic lächelte. »Das Buch stammt aus einer südlichen Gegend von Groß-Kesh, nahe der Grenze des keshianischen Staatenbundes. Es ist das Tagebuch eines leicht verrückten, unwichtigen Edlen aus einer unbedeutenden Dynastie, und in Niederdelkianisch verfaßt. Hochdelkianisch war, soweit wir wissen, eine Geheimsprache der Priester irgendeines kaum bekannten Ordens.«

»Was ist das hier?« erkundigte sich Jimmy.

»Wir, die wir Ishap hier in Sarth dienen, sammeln Werke, Bücher, Handschriften, Schriftrollen, Pergamente, ja selbst Fragmente. In unserem Orden sagt man: Jene in Sarth dienen dem Gott Wissens und das ist gar nicht so unrichtig. Wo immer einer des Ordens auch nur einen beschrifteten Fetzen findet, wird dieser oder eine Abschrift desselben hierhergeschickt. Wie in diesem Raum sind in allen anderen Räumen unter dem Kloster Regale wie diese aufgestellt, und alle sind sie voll, von Seite zu Seite, vom Boden zur Decke. Und ständig werden neue Räume aus dem Felsen gehauen. Von der Bergoberfläche bis zum tiefsten Geschoß gibt es über tausend ähnliche Räume mit jeweils mehreren hundert Büchern. Einige der größeren Gewölbe fassen sogar einige tausend. Bei der letzten Zählung waren es fast eine halbe Million Werke.«

Arutha war baff erstaunt. Seine eigene Bibliothek, die er mit dem Thron geerbt hatte, umfaßte nicht einmal tausend. »Wie lange tragt ihr diese Bücher denn schon zusammen?«

»Seit etwas länger als drei Jahrhunderten. Viele von unserem Orden tun nichts anderes, als umherzureisen und jegliche Schrift, die sie finden, zu erwerben oder Abschriften davon anfertigen zu lassen.

Einige sind uralt, andere in unbekannten Sprachen und drei sogar von einer anderen Welt – wir erhielten sie von den Tsuranis in LaMut. Es sind Zauberschriften darunter, Wahrsagungen und andere Werke geheimer Künste, in die nur die allerhöchsten Brüder unseres Ordens Einblick nehmen dürfen.« Er schaute sich im Gewölbe um. »Und immer noch gibt es so viel, was wir nicht verstehen!«

»Wie wißt ihr, was ihr alles habt, und wo es zu finden ist?« fragte Gardan interessiert.

»Wir haben Brüder, deren einzige Aufgabe es ist, alle Werke zu katalogisieren. Sie arbeiten unter Bruder Anthonys Leitung. Die Kataloge werden ständig auf dem laufenden gehalten. In dem Gebäude über uns und in einem Gewölbe des tiefsten Untergeschosses sind nichts als Karteien und Regale mit Aufstellungen. Braucht ihr ein Werk eines bestimmten Sachgebiets, findet ihr es in der Auflistung, die euch sagt, in welchem Bibliotheksraum es aufbewahrt wird – wir befinden uns hier in Gewölbe 17 –, dazu die Nummer des Regals und des Faches. Wir versuchen jetzt auch noch, jedes Werk zusätzlich nach dem Verfasser – wo bekannt – und dem Titel aufzulisten. Das ist eine sehr langwierige Arbeit und wird bestimmt noch ein Jahrhundert dauern.«

Wieder war Arutha überwältigt, von der Größe eines solchen Vorhabens diesmal. »Zu welchem Zweck sammelt ihr all diese Schriftwerke?«

Dominic antwortete: »Nun, zunächst einmal, um des Wissens als solches wegen. Doch gibt es noch einen anderen Grund. Aber den zu erklären, überlasse ich dem Abt. Kommt, gehen wir jetzt wieder zu ihm.«

Jimmy verließ das Gewölbe als letzter und schaute an der Tür noch einmal auf die Bücher zurück. Er hatte das Gefühl, irgendwie einen Blick in Welten und Vorstellungen zu werfen, von denen er zuvor nicht einmal etwas geahnt hatte. Er bedauerte, daß er nie auch nur einen Teil von allem, was unter dem Kloster lag, ganz verstehen würde. Diese Erkenntnis kränkte sein Selbstbewußtsein. Zum ersten Mal empfand Jimmy seine Welt als klein, hinter der sich eine viel größere verbarg, die er erst noch entdecken mußte.

 

Arutha und seine Begleiter warteten in einem großen Gemach auf den Abt. Mehrere Fackeln warfen tanzende Schatten an die Wände.

Eine andere Tür als die, durch die sie gekommen waren, öffnete sich.

Der Abt trat mit Bruder Dominic und einem zweiten Mann ein, der Arutha unbekannt war. Ein alter Mann, groß und straffe Haltung, der trotz seiner Kutte eher an einen Soldaten als einen Mönch denken ließ – ein Eindruck, den der Streithammer an seinem Gürtel noch erhöhte. Sein graumeliertes schwarzes Haar war schulterlang, aber ordentlich geschnitten und gepflegt wie sein Bart. »Es ist Zeit, offen zu sprechen«, sagte der Abt.

»Das würden wir zu schätzen wissen«, entgegnete Arutha mit bitterem Unterton.

Der nicht vorgestellte Mönch grinste breit. »Ihr habt Eures Vaters Gabe, zu sagen, was Ihr meint, Arutha.«

Überrascht über dessen Worte, betrachtete Arutha den Mann erneut. Da erst erkannte er ihn. Seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte, waren zehn Jahre oder mehr vergangen. »Dulanic!«

»Nicht mehr, Arutha. Nun bin ich ganz einfach Bruder Micah, Beschützer des Glaubens – was bedeutet, daß ich jetzt für Ishap Schädel einschlage, wie ich es früher für Euren Onkel Erland getan habe.« Er tätschelte den Hammer an seiner Seite.

»Wir hielten Euch für tot!« Herzog Dulanic, ehemaliger Feldmarschall von Krondor, war verschwunden, als Guy du Bas-Tyra während des letzten Jahres des Spaltkriegs die Herrschaft über Krondor an sich gerissen hatte.

Der jetzt Micah genannte Mann schien überrascht zu sein. »Ich dachte, jeder wüßte es. Mit Guy auf dem Thron von Krondor und Erland dem Tod durch die Hustenkrankheit nah, befürchtete ich einen Bürgerkrieg. Ich trat von meinem Amt zurück, um nicht gegen Euren Vater auf dem Feld kämpfen oder meinen König verraten zu müssen, sowohl das eine wie das andere wäre undenkbar für mich gewesen. Aber ich machte kein Geheimnis aus meinem Rücktritt.«

»Da Lord Barry tot war, wurde angenommen, ihr wäret beide durch Guys Hand gefallen. Niemand wußte, was aus Euch geworden war.«

»Sehr seltsam! Barry starb an einem Herzanfall, und ich selbst sagte Bas-Tyra, daß ich vorhatte, den heiligen Eid abzulegen, Radburn stand an seiner Seite, als ich mein Amt niederlegte.«

»Das erklärt es!« warf Martin ein. »Jocko Radburn ertrank an der keshianischen Küste, und Guy ist des Landes verwiesen. Wer wäre da sonst noch im Land, der die Wahrheit kennt?«

»Als sorgengeprüfter Mann kam Bruder Micah durch einen Ruf Ishaps zu uns«, sagte der Abt nun. »Wir nahmen ihn zur Probe auf, und er erwies sich als würdig. So gehört nun sein früheres Leben als Edler des Königreichs der Vergangenheit an. Ich bat ihn, an dieser Unterredung teilzunehmen, da er sowohl ein geschätzter Ratgeber ist als auch ein Mann mit großem militärischem Geschick, der uns vielleicht helfen kann zu verstehen, welche Kräfte jetzt am Werk sind.«

»Sehr gut. Nun, worum geht es noch, abgesehen davon, daß wir ein Heilmittel für Anita finden müssen?«

»Darum, das zu erkennen und zu verstehen, was für ihre Verwundung verantwortlich ist und was Euch nach dem Leben trachtet, nur um erst einmal anzufangen«, antwortete Micah.

Arutha blickte ihn beschämt an. »Natürlich. Verzeiht, daß ich immer zuerst daran denke. Selbstverständlich würde ich alles begrüßen, was ein bißchen Sinn in den Wahnsinn bringt, zu dem mein Leben in diesem letzten Monat geworden ist.«

»Bruder Dominic hat Euch einen Einblick in unsere Arbeit hier gegeben«, erklärte der Abt. »Vielleicht hat er erwähnt, daß wir viele Bücher mit Wahrsagungen und andere Werke von Propheten in unserer Sammlung haben. Manche sind so verläßlich wie die Stimmungen eines Kindes, also so gut wie gar nicht. Einige wenige aber sind wahre Werke jener, denen Ishap die Gabe des Blickes in die Zukunft gegeben hat. In mehreren unserer glaubwürdigsten finden sich Hinweise auf ein Himmelszeichen. Daraus entnehmen und befürchten wir, daß eine gewaltige Macht sich auf unserer Welt erhoben hat. Was sie ist und wie sie sich bekämpfen läßt, wissen wir noch nicht. Doch eines ist sicher, es ist eine grausame, finstere Macht, und wenn nicht wir sie schließlich vernichten können, wird sie uns vernichten. Etwas anderes gibt es nicht!« Der Abt deutete in die Höhe.

»Den Turm über uns benutzen wir als Sternwarte, um die Planeten, Monde und Sterne zu beobachten, und zwar mit Hilfe von Instrumenten, die einige der begabtesten Handwerker im Königreich und in Groß-Kesh für uns herstellten. Diese Geräte ermöglichen es uns, die Bewegung der Himmelskörper zu berechnen und einzutragen. Wir sprachen von einem Zeichen. Kommt, wir zeigen es euch.«

Er führte sie alle eine steile Treppe zum Dachgeschoß des Turms hoch, wo sich ungewöhnliche, verwirrende Gerätschaften befanden.

Arutha schaute sich staunend um und meinte: »Es ist nur gut, daß Ihr Euch mit alldem auskennt, Vater, denn ich verstehe gar nichts davon.«

»Wie die Menschen«, erklärte der Abt, »haben auch die Sterne und Planeten sowohl stoffliche wie geistige Eigenschaften. Wir wissen, daß andere Welten ihre Bahn um andere Sterne ziehen. Daß dies der Wahrheit entspricht, dafür haben wir einen lebenden Zeugen.« Er deutete auf Laurie. »Einer, der eine längere Weile auf einer fremden Welt verweilte, ist gegenwärtig unter uns.« Der Abt fuhr lächelnd fort: »So sehr sind wir auch nicht von der Welt abgeschieden, daß wir nicht von Euren Erlebnissen auf Kelewan gehört hätten, Laurie von Tyr-Sog.« Zu seiner eigentlichen Erklärung zurückkehrend, sagte er dann: »Doch dies ist die stoffliche Seite der Himmelskörper. Sie verraten jedoch jenen, die ihre Stellung, ihre Anordnung und Bewegung beobachten, auch Geheimnisse. Was immer der Grund dafür ist, eines wissen wir sicher: Manchmal kommt eine klare Botschaft vom nächtlichen Firmament, und wir, die wir unser Wissen immer mehr erweitern wollen, verschließen uns einer solchen Botschaft nicht. Keine Wissensquelle ist uns zu gering, auch nicht solche, über die manche den Kopf schütteln mögen.

Sich mit diesen Gerätschaften zurechtzufinden und auch die Sterne zu lesen, bedarf lediglich Zeit und eingehenden Studiums.

Jeder mit hellem Verstand kann es lernen. Diese Geräte«, er machte eine weitausholende Gebärde, »sind in ihrer Benutzung eindeutig, sobald sie erst vorgeführt wurden. Habt die Güte und blickt hier hindurch.« Arutha schaute durch eine seltsame Kugel aus einem ungewöhnlichen metallenen Gitterwerk. »Dies dient zur Aufzeichnung der Bewegungen von Sternen und sichtbaren Planeten.«

»Heißt das, daß es auch unsichtbare gibt?« platzte Jimmy heraus.

»Richtig«, bestätigte der Abt, ohne die Unterbrechung auch nur mit einem Blick zu rügen. »Oder zumindest jene, die wir nicht sehen können, die jedoch aus geringerer Entfernung sichtbar wären. Nun, zur Kunst der Sterndeutung gehört die Erkennung – und das ist eine Wissenschaft für sich – des Zeitpunkts, da eine Prophezeiung eintrifft. Sie ist und bleibt jedoch im besten Fall ein Ratespiel. Es gibt beispielsweise eine Wahrsagung des wahnsinnigen Mönches Ferdinand la Rodez. So, wie es aussieht, hat sie sich bereits zu drei verschiedenen Zeitpunkten erfüllt. Doch kam man zu keiner Übereinstimmung darüber, welcher der war, den er vorhersagte.«

Arutha betrachtete den Himmel durch das kugelförmige Gerät und hörte dem Abt nur mit halbem Ohr zu. Durch das Guckloch sah er ein sternfunkelndes Firmament und darüber ein hauchfeines Netz aus Strichen und Anmerkungen, die, wie er annahm, irgendwie im Innern der Kugel angebracht waren. In der Mitte befand sich eine Anordnung von fünf rötlichen Sternen, einer in der Mitte der anderen, und die Linien, die sie miteinander verbanden, bildeten ein leuchtendrotes X. »Was ist es, was ich da sehe?« fragte er. Er machte für Martin Platz, der nun durch das Gerät blickte.

Der Abt erklärte: »Man nennt diese fünf Sterne die Blutsteine.«

»Ich kenne sie«, murmelte der ehemalige Jagdmeister. »Doch nie habe ich sie in dieser Stellung gesehen.«

»Das werdet Ihr auch in den nächsten elftausend Jahren nicht mehr – das ist allerdings nur eine Schätzung, um sicher sein zu können, müssen wir warten, bis sie wieder eintritt.« Diese lange Zeitspanne beeindruckte ihn offenbar nicht, im Gegenteil, er schien durchaus bereit zu sein, so lange zu warten. »Diese Stellung wird Feuerkreuz oder Kreuz des Feuers genannt. Eine uralte Prophezeiung befaßt sich damit.«

»Was ist sie? Und was hat sie mit mir zu tun?« erkundigte sich Arutha. »Ich sagte schon, daß sie uralt ist, vielleicht aus der Zeit der Chaoskriege. Sie lautet folgendermaßen: ›Wenn das Kreuz des Feuers die Nacht erhellt und der Lord des Westens tot ist, wird die Macht wiederkehren!‹ In der Übersetzung verliert es viel, im Original jedoch klingt es sehr poetisch. Wir sind nunmehr der Meinung, daß etwas, jemand, was immer, Euch töten muß, damit diese Prophezeiung in Erfüllung gehen kann, oder zumindest, um andere überzeugen zu können, daß diese Prophezeiung ihrer Verwirklichung nahe ist. Eine sehr bedeutsame Tatsache ist, daß sie zu den raren Überlieferungen gehört, die wir von dem panthatianischen Schlangenvolk haben. Wir wissen wenig von diesen Wesen, hauptsächlich nur, daß es Unheil nachzieht, wenn sie sich sehen lassen, was selten genug der Fall ist, und daß sie ohne Zweifel Kreaturen des Bösen sind und auf etwas hinarbeiten, das nur sie allein verstehen. Außerdem spricht die Prophezeiung davon, daß der Lord des Westens auch der ›Schrecken der Finsternis‹ genannt wird.«

»Also will jemand Aruthas Tod, weil er vom Schicksal bestimmt ist, ihn oder sie zu vernichten, wenn er am Leben bleibt?« fragte Martin.

»Das glauben sie zumindest«, erwiderte der Abt.

»Aber wer oder was steckt dahinter?« fragte Arutha. »Daß jemand mich tot sehen will, ist mir nicht neu. Was könnt Ihr mir sonst noch sagen?«

»Nicht viel, fürchte ich.«

»Jedenfalls bringt es ein wenig Licht in den Angriff der Nachtgreifer«, meinte Laurie.

»Religiöser Fanatiker«, brummte Jimmy kopfschüttelnd, dann blickte er erschrocken den Abt an. »Verzeiht, Vater.«

Der Abt tat, als habe er die Bemerkung gar nicht gehört. »Wichtig ist zu wissen, daß sie es immer und immer wieder versuchen werden. Ihr werdet keine Ruhe vor ihnen finden, bis der Auftraggeber nicht mehr ist.«

»Wir wissen auch, daß die Bruderschaft des Düsteren Pfades in die Sache verwickelt ist«, warf Martin ein.

»Im Norden«, sagte Micah. Arutha und die anderen blickten ihn fragend an.

»Eure Antwort liegt im Norden, Arutha. Seht Euch dort um.« Aus seiner Stimme klang immer noch der alte Befehlston. »Im Norden sind die Gebirgszüge – alles Barrieren gegen die Bewohner der Nordlande. Im Westen über Elbenheim erheben sich die Großen Nordberge, im Osten der Wächter des Nordens, die Hohe Weite und das Traumgebirge, und über die Mitte erstreckt sich die mächtigste Bergkette überhaupt, die Zähne der Welt – dreizehnhundert Meilen fast unbezwingbarer Felsschroffen. Wer weiß schon, was dahinter liegt? Wer, von Gesetzlosen oder Waffenschmugglern abgesehen, hat sich je dorthin gewagt und ist zurückgekehrt, um von den Nordlanden zu erzählen?

Unsere Vorfahren gründeten vor langer Zeit die jetzt so benannten Baronien, um die Bergpässe Hohenburg, Wächter des Nordens und Eiserner Paß zu sichern. Die Soldaten des Herzogs von Yabon schützen den einzigen weiteren großen Paß zum Westen von der Höllendonnersteppe. Und kein Kobold oder düsterer Bruder wagt es, einen Fuß in die Steppe zu setzen, wenn er nicht lebensmüde ist, denn dort sind die Nomaden unsere Wächter. Kurzum, wir wissen nichts über die Nordlande. Dort jedoch hausen die Moredhels, und dort werdet Ihr Eure Antworten finden.«

»Oder gar nichts«, entgegnete Arutha. »Ihr mögt Euch Gedanken über Prophezeiungen und Zeichen machen, doch ich will nur die Lösung des Rätsels Silberdorn. Ehe nicht Anita gesund ist, werden meine Bemühungen lediglich ihrer Heilung gelten.«

Das schien den Abt zu erschrecken. Arutha fuhr fort: »Ich bezweifle nicht, daß es eine Prophezeiung gibt, auch nicht, daß ein Wahnsinniger mit geheimen Kräften meinen Tod ersehnt. Doch daß dies eine große Gefahr für das Königreich bedeuten soll, finde ich weit hergeholt. Zu weit für mich! Da brauchte ich schon andere Beweise!«

Der Abt öffnete den Mund zu einer Antwort, als Jimmy rief: »Was ist denn das?«

Aller Augen folgten seinem deutenden Finger. Tief am Horizont glühte ein blaues Licht, das heller wurde, als wüchse ein Stern vor ihren Augen. »Es sieht wie eine Sternschnuppe aus!« sagte Martin erstaunt.

Doch dann wurde ihnen allen klar, daß es kein Stern sein konnte.

Ein schwaches Summen begleitete das näherkommende Etwas. Noch leuchtender wurde es und das Summen lauter. Was über den Himmel auf sie zubrauste, war ein blaues Feuer. Und plötzlich war es über dem Turm mit einem Zischen, als tauche man glühendes Eisen in Wasser.

Da brüllte Bruder Dominic: »Schnell! Hinunter vom Turm!«