Elbenheim
Stille lag über dem Wald.
Mächtige Zweige, älter denn Menschengedenken, vereinten sich hoch über den Köpfen zu einem Laubdach, das nur wenig des Sonnenscheins hindurchließ. Ringsum breitete sich ein sanft leuchtendes Grün aus, ohne unmittelbaren Schatten, doch sich auf kaum erkennbaren Pfaden verlierend, die sich durch die Bäume dahinschlängelten.
Sie waren nun schon zwei Stunden im Elbenwald, seit dem Vormittag, und noch hatten sie keine Spur von Elben entdeckt, dabei hatte Martin angenommen, sie würden gleich nach der Überquerung des Crydees auf irgendwelche stoßen.
Baru trieb sein Pferd an, bis er Martin und Arutha erreichte, die nebeneinander ritten. »Ich glaube, wir werden beobachtet«, wisperte er.
Flüsternd bestätigte Martin: »Bereits seit einigen Minuten. Vor einer kurzen Weile bemerkte ich etwas.«
»Wenn die Elben uns entdeckt haben, warum zeigen sie sich uns dann nicht?« fragte Jimmy.
»Vielleicht, weil die Beobachter keine Elben sind«, gab Martin zu bedenken. »Wir werden nicht sicher sein können, bis wir die Grenzen von Elbenheim erreicht haben. Seid vorsichtig!«
So ritten sie noch einige Minuten dahin, bis selbst das Zwitschern und Trillern der Vögel verstummte. Es war, als hielte der Wald den Atem an. Martin und Arutha drängten ihre Pferde schmale Pfade entlang, die kaum breit genug für einen Fußgänger waren. Plötzlich brach ein lärmendes Heulen, von Kreischen übertönt, die Stille. Ein Stein flog an Barus Kopf vorbei, gefolgt von Zweigen, Knüppeln und Kieseln. Dutzende von kleinen, haarigen Gestalten sprangen hinter Bäumen und aus Büschen hervor, heulten grauenerregend und bewarfen die Reiter mit allerlei Geschossen.
Arutha trieb sein Pferd an, während er es gleichzeitig zu beruhigen suchte, so wie es die anderen mit ihren Tieren taten. Er lenkte es zwischen den Bäumen hindurch und duckte sich unter den tieferen Ästen, dabei trabte er auf vier oder fünf der kleinen Geschöpfe zu, die furchterfüllt aufschrieen und in verschiedene Richtungen davonsprangen. Arutha nahm sich eines als Ziel und ritt darauf zu. Das Wesen fand sich einer Barriere aus gefällten Bäumen, Buschwerk und einem Felsblock gegenüber. Verzweifelt drehte es sich um und sah sich dem Fürsten gegenüber.
Arutha hatte seinen Degen zum Streich erhoben und sein Pferd gezügelt. Doch der sich ihm bietende Anblick dämpfte seinen Grimm. Das Geschöpf machte keine Anstalten, ihn anzugreifen, sondern wich so weit wie nur möglich in das Dickicht zurück, und sein Gesicht verriet unendliche Angst.
Es war ein kleines, sehr menschenähnliches Gesicht mit großen sanften, braunen Augen. Eine kurze, doch ebenfalls menschliche Nase ragte über einen breiten Mund. Die gefletschten Lippen entblößten perlweiße Zähne, doch aus den weit aufgerissenen Augen sprach Furcht, und dicke Tränen rollten über die behaarten Wangen.
Ansonsten sah es wie ein kleiner Menschenaffe aus.
Lärm brach um Arutha und das weinende Geschöpf aus, als weitere der kleinen menschenähnlichen Wesen sie umringten. Sie brüllten kreischend und stampften heftig auf den Boden, aber Arutha sah, daß ihre ganze Wildheit nur Getue war und sie keine echte Bedrohung darstellten. Einige taten, als wollten sie angreifen, flohen jedoch kreischend, wenn Arutha ihnen auch nur einen Blick zuwandte.
Seine Begleiter kamen hinter ihm herangeritten, und das kleine Geschöpf, das der Fürst in die Enge getrieben hatte, wimmerte erbärmlich. Baru zügelte sein Pferd neben Arutha und sagte: »Kaum seid Ihr diesem Kleinen da nachgejagt, flohen die anderen hinter Euch her.«
Die Reiter sahen, daß die Geschöpfe es aufgaben, Grimm vorzutäuschen, und daß sie nun sehr besorgt wirkten. Sie plapperten aufeinander ein, und es hörte sich tatsächlich an, als bedienten sie sich einer richtigen Sprache.
Arutha steckte seinen Degen ein. »Wir tun euch nichts.«
Als verstünden sie ihn, beruhigten die Wesen sich ein wenig. Das gestellte Kerlchen beobachtete sie wachsam.
»Was sind das für Wesen?« erkundigte sich Jimmy.
»Keine Ahnung«, antwortete Martin. »Fast mein ganzes Leben lang jagte ich in diesen Wäldern, doch nie sah ich ihresgleichen.«
»Es sind Gwali, Martin Langbogen.«
Die Reiter wandten sich in den Sätteln und sahen sich einem Trupp von fünf Elben gegenüber. Eines der kleinen Geschöpfe rannte auf ihn zu. Es deutete auf die Reiter und beklagte sich im Singsangton: »Calin, Menschen kommen. Tun Ralala weh. Mach, ihr nicht mehr weh tun.«
Martin saß ab und ging auf die Elben zu. »Wie schön, Euch zu treffen, Calin.« Er und Calin umarmten sich, und die anderen Elben begrüßten ihn ebenfalls. Dann führte Martin sie zu seinen wartenden Begleitern. »Calin, Ihr erinnert Euch doch an meinen Bruder?«
»Seid gegrüßt, Fürst von Krondor.«
»Seid auch Ihr gegrüßt, Elbenprinz.« Arutha warf einen Blick auf die ihn umzingelnden Gwali. »Ihr habt uns davor bewahrt, überwältigt zu werden.«
Calin lächelte. »Das bezweifle ich. Ihr seht mir ganz so aus, als wüßtet ihr euch sehr wohl selbst zu beschützen.« Er ging auf Arutha zu. »Es ist lange her, seit wir das letzte Mal miteinander sprachen, Arutha. Was führt Euch in unsere Wälder? Und noch dazu mit einem so ungewöhnlichen Gefolge? Wo ist Eure Leibgarde, und wo habt Ihr Eure Banner zurückgelassen?«
»Das ist eine lange Geschichte, Calin, und eine, die ich auch Eurer Mutter und Tomas erzählen möchte.«
Calin nickte. Für einen Elben gehörte Geduld zum Leben.
Als sie glaubte, nichts mehr zu befürchten zu haben, rannte die kleine, von Arutha gestellte Gwali zu ihren Brüdern, die aufmerksam in der Nähe standen. Einige untersuchten sie, strichen ihr über das weiche Fell und tätschelten sie tröstend. Nachdem sie sich vergewissert hatten, daß sie unverletzt war, beruhigten sie sich und betrachteten die Menschen weniger mißtrauisch.
Martin fragte: »Calin, was sind dies für Geschöpfe?«
Calin lachte, daß sich kleine Fältchen an den Winkeln seiner blaßblauen Augen bildeten. Er war so groß wie Arutha, doch noch schlanker als der ohnehin nahezu hagere Fürst. »Wie ich sagte, nennt man sie Gwali. Dieser Racker hier heißt Apalla.« Er strich über den Kopf des Kleinen, der hilfesuchend zu ihm gelaufen war. »Er ist so etwas wie ein Führer unter ihnen, obgleich ich bezweifle, daß sie es so sehen. Möglicherweise ist er lediglich etwas redseliger als die anderen.« Jetzt erst schenkte er Aruthas Begleitern Beachtung.
»Und in wessen Begleitung seid Ihr?«
Arutha übernahm die Vorstellung. Calin grüßte sie: »Seid in Elbenheim willkommen!«
»Was ist ein Gwali?« erkundigte sich Roald.
»Sie sind eben Gwali«, erwiderte Calin. »Und das ist die einzige Antwort, die ich euch geben kann. Sie haben schon früher bei uns gelebt, doch dies ist ihr erster Besuch seit einer Generation. Es sind einfache Leutchen, frei von Bosheit. Sie sind scheu und meiden Fremde. Wenn sie sich fürchten, reißen sie aus, außer sie werden in die Enge getrieben, dann tun sie wild, als wollten sie einen mit Haut und Haaren auffressen. Doch laßt euch von ihren gefährlich aussehenden Zähnen nicht täuschen sie brauchen sie, um Nüsse aufzubeißen und Insektenpanzer zu knacken.« Er wandte sich an Apalla. »Weshalb habt ihr versucht, diese Männer zu verscheuchen?«
Der Gwali hüpfte aufgeregt hin und her. »Powula machen klein Gwali.« Er grinste. »Sie nicht bewegen. Wir Angst, Männer tun weh Powula und klein Gwali.«
»Sie sind sehr besorgt um ihre Jungen«, erklärte Calin verständnisvoll. »Hättet ihr tatsächlich versucht, Powula und ihrem Kleinen etwas anzutun, würden sie vermutlich wirklich den Mut aufgebracht haben, euch anzugreifen. Hätte die Geburt nicht stattgefunden, hättet ihr sie nie zu Gesicht bekommen.« Zu Apalla gewandt: »Es ist alles gut. Diese Männer sind Freunde. Sie werden weder Powula noch ihrem Kleinen weh tun.«
Als sie dies hörten, kamen weitere Gwali hinter den schützenden Bäumen und aus dem Dickicht hervor und musterten die Fremden mit unverhohlener Neugier. Sie zupften an der Kleidung der Reiter, die so ganz anders war als die grünen Kittel und braunen Beinkleider der Elben. Arutha duldete diese Untersuchung ein Weilchen. »Wir sollten zusehen, daß wir umgehend an den Hof Eurer Mutter gelangen, Calin. Haben Eure Freunde ihre Neugier nun gestillt?«
»Himmel«, murmelte Jimmy und schob naserümpfend einen Gwali zur Seite, der von einem Ast neben ihm hing. »Baden diese Kerlchen denn nie?«
»Bedauerlicherweise, nein«, antwortete Calin. Er wandte sich an die Gwali. »Genug jetzt, wir müssen weiter.« Offenbar ohne sich gekränkt zu fühlen, verschwanden die Kleinen zwischen den Bäumen. Nur Apalla, der etwas selbstbewußter zu sein schien, ließ sich Zeit. »Sie würden den ganzen Tag damit verbringen, erlaubte man es ihnen, aber sie nehmen es einem nicht übel, wenn man sie verscheucht. Kommt.« Zu Apalla sagte er: »Wir begeben uns nach Elbenheim. Kümmere dich um Powula. Und besuche uns, wenn du Lust hast.«
Der Gwali grinste und nickte eifrig, dann rannte er hinter seinen Brüdern her. Sekunden später gab es nichts mehr, was auf die Anwesenheit von Gwali in näherer oder weiterer Umgebung hinwies.
Calin wartete, bis Martin und Arutha ihre Pferde wieder bestiegen hatten. »Bis Elbenheim brauchen wir höchstens einen halben Tag«, erklärte er. Er und die anderen Elben machten sich auf den Rückweg.
Von Martin abgesehen, staunten die Reiter über die Geschwindigkeit der Elben. Sie war erträglich für die Pferde, aber ein menschlicher Läufer hätte sie kaum einen halben Tag durchhalten können.
Nach einer Weile lenkte Arutha sein Pferd neben Calin, dem keine Anstrengung anzumerken war. »Woher kommen diese kleinen Geschöpfe?« erkundigte er sich.
»Das weiß niemand, Arutha «, rief Calin laut, um den Hufschlag zu übertönen. »Sie sind ein rätselhaftes Völkchen und scheinen von irgendwo aus dem Norden zu stammen, vielleicht von jenseits der Großen Nordberge. Sie lassen sich hier ein Vierteljahr oder auch ein halbes Jahr blicken, dann verschwinden sie wieder. Wir nennen sie auch kleine Waldgeister. Selbst unsere Fährtenleser können ihnen nicht folgen, wenn sie sich zurückgezogen haben. Seit dem heutigen und ihrem letzten Besuch sind fünfzig Jahre vergangen, und davor zweihundert.« So schnell er auch lief, atmete Calin ruhig und regelmäßig.
»Wie geht es Tomas?« fragte Martin.
»Der Prinzgemahl hat keinen Grund zur Klage.«
»Und dem Kind?«
»Es geht ihm gut. Es ist ein gesunder, hübscher Junge. Aber es könnte schwierig mit ihm werden. Seine Erbanlagen sind – gemischt.«
»Und der Königin?«
»Die Mutterschaft bekommt ihr«, antwortete ihr älterer Sohn lächelnd.
Schweigen setzte ein, denn Arutha empfand es beschwerlich, ein Gespräch zu führen, während er auf den schmalen Pfad achten mußte, obwohl das Calin keinerlei Mühe zu machen schien.
So durchquerten sie rasch den Wald, und jede Minute brachte sie Elbenheim näher und der Erfüllung oder Enttäuschung ihrer Hoffnung.
Alsbald lag das Ziel ihrer Reise vor ihnen. Kaum hatten sie den dichten Wald hinter sich gelassen, erreichten sie freies Feld. Dies war für alle, außer Martin, der erste Blick auf Elbenheim.
Gigantische Bäume in vielen Farben erhoben sich hoch aus dem Wald ringsum. Bunt schimmerten die obersten Blätter, wo die goldene Nachmittagssonne auf ihnen lag. Einige der gewaltigen Bäumen waren einmalig, ihresgleichen gab es nur hier. Ihr Laub war von glitzerndem Silber, Gold, ja sogar Weiß. Und als die Schatten des allmählich endenden Tages sich vertieften, war zu erkennen, daß es aus sich heraus schwach leuchtete. In Elbenheim wurde es nie völlig dunkel.
Beim Überqueren des freien Feldes hörte Arutha die Ausrufe und Bemerkungen seiner staunenden Begleiter.
»Hätte ich das gewußt…«, seufzte Roald ehrfürchtig. »Ihr hättet mich anbinden müssen, um mich daran zu hindern mitzukommen!«
»Das wiegt all die Wochen im Wald auf!« hauchte Laurie.
»Nicht einmal die Lieder unserer Barden vermögen diese Schönheit zu beschreiben!« schwärmte Baru.
Nun fehlte nur noch eine Bemerkung Jimmys, aber auf sie wartete Arutha vergebens. So drehte er sich um. Er sah, wie Jimmy stumm dahinritt, völlig verzaubert von diesem Anblick, der so ganz anders als alles war, was er in seinem Leben bisher gesehen hatte. Und so hatte es selbst dem sonst so schlagfertigen Jungen die Sprache verschlagen.
Sie erreichten den äußeren Rand von Elbenheim, das wieder von riesigen Bäumen eingeschlossen war, und nun sahen und hörten sie, daß überall eifrige Betriebsamkeit herrschte. Aus einer anderen Richtung näherte sich ein Jagdtrupp mit einem erlegten kapitalen Hirsch, der zum Ausnehmen und Häuten zu einem extra dafür abgegrenzten Platz gebracht wurde.
Die Reiter saßen ab. Calin wies seine Begleiter an, sich der Pferde anzunehmen. Er selbst führte Aruthas Trupp eine Wendeltreppe hoch, die in den Stamm der größten Eiche gehauen war, die der Fürst und seine Begleiter je gesehen hatten. Die Treppe endete an einer Plattform, auf der Elbenhandwerker Pfeile schnitzten und befiederten. Einer grüßte Martin, der den Gruß erwiderte und fragte, ob er ihre Großzügigkeit beanspruchen dürfe. Der Schnitzer schenkte Martin ein ganzes Bündel der feingearbeiteten Pfeile, die der Herzog in seinen fast leeren Köcher steckte. Er bedankte sich herzlich in der Elbensprache und ging mit seinen Begleitern weiter.
Calin führte sie eine andere steile Treppe zu einer weiteren Plattform hinauf. »Von hier an mag der eine oder andere von euch sich schwertun. Haltet euch in der Mitte der Pfade und Plattformen und blickt nicht in die Tiefe, wenn ihr nicht schwindelfrei seid«, mahnte er. »Manche Menschen leiden unter Höhenangst.« Letzteres fügte er in einem Ton hinzu, als fände er selbst so etwas unvorstellbar.
Sie überquerten auch die zweite Plattform und stiegen eine dritte Treppe hoch, auf der ihnen Elben begegneten, die ihrer Arbeit nachgingen. Viele trugen wie Calin die einfachen Kittel und Beinkleider des Waldläufers, doch andere lange bunte Gewänder aus kostbaren Stoffen oder auch farbige Wämser und Hosen. Die Frauen waren alle liebreizend, doch von einer fremdartigen, unirdischen Schönheit. Die meisten Männer sahen jung aus, etwa so alt wie Calin. Doch Martin wußte, daß der Schein trog. Manche der vorüberkommenden Elben waren tatsächlich erst zwanzig oder dreißig, doch andere, die ebenso jung aussahen, waren bereits mehrere hundert Jahre alt. Calin beispielsweise, der jünger aussah als Martin, zählte über hundert Jahre, und er hatte dem jetzigen Herzog das Jagen beigebracht, als Martin noch ein Junge war.
Sie folgten einem fast zwanzig Fuß breiten Weg entlang mächtiger Äste, bis sie zu einem Kreis aus Stämmen kamen. Inmitten der Bäume war eine gewaltige Plattform errichtet, nahezu sechzig Fuß breit. Laurie fragte sich, ob auch nur ein einziger Regentropfen sich einen Weg durch das dichte Laubdach bahnen konnte. Sie hatten den Hof der Königin erreicht.
Über diese Plattform schritten sie zu einem Podest mit zwei Thronsesseln. Auf dem ein wenig höheren saß eine Elbenfrau, deren heitere Gelassenheit ihre ohnehin makellose Schönheit noch erhöhte.
Die blaßblauen Augen beherrschten das Gesicht mit den geschwungenen Brauen und der edel geformten Nase. Ihr Haar war von einem hellen Rotbraun mit goldenen Strähnen – genau wie Calins –, was den Eindruck erweckte, als sei das Sonnenlicht darin eingefangen. Sie trug keine Krone, nur einen einfachen Goldreif, der ihr Haar aus der Stirn hielt. Trotzdem bestand kein Zweifel, daß sie Aglaranna, die Elbenkönigin, war.
Auf dem Thron zu ihrer Linken saß ein Mann. Er war von beeindruckender Gestalt, noch um zwei Zoll größer als Martin. Sein Haar war sandigblond, und sein Gesicht wirkte jung und war doch von einer undeutbaren Alterslosigkeit. Beim Anblick der Besucher lächelte er, was ihn noch jünger erscheinen ließ. Sein Gesicht glich dem der Elben, doch gab es Unterschiede. Seinen Augen schien die Farbe zu fehlen, so daß sie fast grau wirkten, und seine Brauen waren weniger stark geschwungen. Sein Gesicht war nicht so eckig, das Kinn kräftig, die Ohren, von denen das Haar durch einen goldenen Reif zurückgehalten wurde, waren zwar leicht spitz, aber nicht so hochstehend wie die der Elben. Und die Schultern waren breiter als die eines Elben.
Calin verneigte sich. »Mutter und Königin, Prinz und Heerführer, Gäste geben uns die Ehre.«
Beide Herrscher aus Elbenheim erhoben sich und gingen ihrem Besuch entgegen. Voll Zuneigung begrüßten die Königin Aglaranna und der Prinz Tomas Martin und die anderen mit warmer Höflichkeit. Tomas sagte zu Arutha: »Hoheit, seid uns willkommen.«
Arutha antwortete: »Ich danke Ihrer Majestät und Seiner Hoheit.«
Um das Thronpodest saßen weitere Elben. Arutha erkannte den alten Ratgeber Tathar von seinem Besuch in Crydee verjähren.
Schnell wurden Anwesende und Besucher miteinander bekannt gemacht, dann bat die Königin alle, sie zum Empfangshof zu begleiten, wo man sich formlos setzte. Erfrischungen – Speisen und Wein – wurden aufgetischt, und Aglaranna sagte: »Wir freuen uns, alte Freunde wiederzusehen«, sie nickte Martin und Arutha zu, »und heißen neue willkommen«, sie blickte die anderen an. »Doch es kommt selten vor, daß Menschen uns ohne Grund besuchen. Was führt Euch her, Fürst von Krondor?«
Während sie saßen, erzählte Arutha seine Geschichte, die Elben lauschten ihm stumm. Als er geendet hatte, sagte die Königin:
»Tathar?«
Der alte Ratgeber nickte. »Die hoffnungslose Suche.«
Erschrocken fragte Arutha: »Heißt das, daß ihr nichts über Silberdorn wißt?«
»Nein«, beruhigte ihn Aglaranna. »›Die hoffnungslose Suche‹ ist eine Sage unseres Volks. Wir kennen die Pflanze Aelebera, und wir kennen ihre Eigenschaften. Darüber berichtet uns die Sage von der hoffnungslosen Suche. Bitte erzählt sie, Tathar.«
Der alte Elb, der erste, wie Jimmy und die anderen bemerkten, der Spuren von Alter aufwies – kleine Fältchen um die Augen, und das Haar so hell, daß es weiß zu sein schien –, berichtete: »Nach dieser Sage unseres Volkes gab es einst einen Prinzen von Elbenheim, dem eine Maid versprochen war. Ein Moredhelkrieger machte ihr den Hof, sie aber wies ihn ab. In seinem Zorn vergiftete der Moredhel sie mit einem Trank, den er aus der Aelebera braute, woraufhin sie in einen todesähnlichen Schlaf fiel. Da machte der Prinz sich auf ›die hoffnungslose Suche‹ nach dem, was sie heilen könnte: der Aelebera, dem Silberdorn. Ihre Eigenschaft ist derart, daß sie sowohl heilen als auch töten kann. Doch wächst die Aelebera nur an einem bestimmten Ort, am Moraelin oder in Eurer Sprache dem Schwarzen See. Es ist ein Ort der Macht, ein heiliger Ort für die Moredhel, den kein Elb betreten darf. Die Sage berichtet, daß der Prinz von Elbenheim um Moraelin herumwanderte, bis er eine Schlucht eingetreten hatte, denn an Moraelin kann er nicht heran, und fort von dort will er nicht gehen, ehe er nicht das gefunden hat, was seine Liebste retten kann. Und so soll er immer noch dort umherwandeln.«
»Ich bin kein Elb!« entgegnete Arutha. »Ich werde mich zum Moraelin begeben, wenn Ihr die Güte habt, mir den Weg zu weisen.«
Tomas’ Blick wanderte über die Anwesenden. »Das werden wir tun, Arutha, doch nicht, bevor Ihr Euch ausgeruht und wir uns besprochen haben. Wir werden euch nun zeigen, wo ihr bis zum Abendmahl ruhen könnt.«
Die Elben zogen sich zurück und ließen Calin, Tomas und die Königin mit den Gästen allein.
»Dürften wir Euren Sohn sehen?« fragte Martin.
Mit seinem breiten Lächeln lud Tomas sie ein, mitzukommen. Er führte sie durch einen laubdachgeschützten Gang zu einem Gemach in einer riesigen Ulme, wo ein Baby in einer Wiege schlummerte.
Dem Anschein nach war es noch kein halbes Jahr alt. Es schien zu träumen, und seine kleinen Finger bewegten sich leicht. Martin betrachtete es und verstand, was Calin mit den gemischten Erbanlagen gemeint hatte. Der Junge sah eher menschlich als elbisch aus. Seine Ohren liefen nur ganz leicht spitz zu und hatten Läppchen, etwas, was unter echten Elben unbekannt war. Sein Gesicht war rund und pausbäckig wie das eines jeden anderen gesunden Babys auch, aber es hatte einen Zug an sich, der Martin verriet, daß er mehr das Kind seines Vaters als das seiner Mutter war. Aglaranna beugte sich über ihn und strich ihm zärtlich über den Kopf.
»Was habt ihr ihm für einen Namen gegeben?« fragte Martin.
Zärtlich antwortete die Königin: »Calis.« Martin nickte. In der Elbensprache bedeutete das ›Kind des Grüns‹, also soviel wie Leben und Wachstum – ein bedeutungsvoller Name.
Nachdem sie das Baby bewundert hatten, wurden die Besucher zu Gemächern in der Baumstadt Elbenheim geführt, wo sie Wannen voll Wasser und Schlafmatten vorfanden. Bald schliefen alle. Nur Arutha fand keine Ruhe, denn das Bild der kranken Anita wechselte vor seinem inneren Auge mit dem einer silbernen Pflanze ab, die am Ufer eines schwarzen Sees wuchs.
Martin genoß den ersten Abend seines ersten Besuchs in Elbenheim seit einem Jahr. Fast mehr noch als in der Burg Crydee war er hier zu Hause, wo er als Junge gespielt hatte und eins mit den Elbenkindern gewesen war.
Weiche Elbenschritte ließen ihn sich umdrehen. »Galain!« rief er erfreut, als er den jungen Elben, Calins Vetter, kommen sah. Er war Martins ältester Freund. Sie umarmten einander, und Martin gestand: »Ich hatte eigentlich erwartet, dich früher zu sehen.«
»Ich bin soeben erst vom Streifendienst am Nordrand des Waldes zurückgekehrt. Allerhand Seltsames tut sich dort. Ich höre, daß du vielleicht ein bißchen Licht in die Sache bringen kannst.«
»Vermutlich nicht mehr als das eines Kerzenflämmchens«, entgegnete Martin. »Doch daß Böses dort im Spiel ist, daran besteht kein Zweifel.«
Er weihte Galain ein, und der junge Elb sagte: »Schreckliche Geschehnisse, Martin.« Als er Anitas Zustand bedauerte, schien er wirklich ergriffen zu sein. »Dein Bruder?« Auf elbische Weise enthielt diese Frage verschiedene Feinheiten der Betonung, von denen jede eine andere von Aruthas Schwierigkeiten betraf.
»Irgendwie hält er durch. Manchmal verdrängt er alles, doch hin und wieder überwältigt es ihn schier. Ich weiß nicht, wie er es schafft, bei Sinnen zu bleiben. Er liebt sie so sehr.« Martin schüttelte den Kopf.
»Du hast nie geheiratet, Martin. Warum nicht?«
Martin zuckte mit den Schultern. »Ich bin der Richtigen nie begegnet.«
»Du bist bedrückt.«
»Arutha ist manchmal schwierig, aber er ist mein Bruder. Ich erinnere mich, daß er selbst als Kind nicht so leicht jemanden an sich heranließ. Vielleicht lag es daran, daß seine Mutter starb, als er noch sehr klein war. Er zog sich in sich zurück. Und trotz seiner Zähigkeit und seiner Härte sich selbst gegenüber ist er leicht verwundbar.«
»Ihr seid euch sehr ähnlich.«
»Das ist richtig«, bestätigte Martin.
Galain blieb eine Weile ruhig neben Martin stehen. »Wir werden helfen, so gut wir können.«
»Wir müssen zum Moraelin.«
Galain erschauderte, was selbst für einen noch verhältnismäßig unerfahrenen Elben ungewöhnlich war. »Das ist ein schlimmer Ort, Martin. Daß man ihn ›Schwarzer See‹ nennt, hat nichts mit der Farbe des Wassers zu tun. Er ist eine Quelle des Wahnsinns. Die Moredhel suchen ihn auf, um von Macht zu träumen. Er liegt am Finsteren Pfad.«
»War er ein Ort der Valheru?«
Galain nickte.
»Tomas?« Wieder trug die Frage eine vielfältige Bedeutung.
Galain stand Tomas besonders nahe. Er hatte im Spaltkrieg an seiner Seite gekämpft.
»Er wird euch nicht dorthin begleiten. Er hat erst seit kurzem einen Sohn. Calis wird nicht lange so klein bleiben, nur ein paar Jahre. Diese Zeit sollte ein Vater bei seinem Söhnchen bleiben. Ganz abgesehen davon ist die Gefahr für ihn besonders groß.« Mehr bedurfte es nicht, Martin verstand auch so. Er war dabeigewesen in jener Nacht, als Tomas fast dem Wahnsinn des Valheru in sich verfallen wäre. Und damals hatte nicht viel gefehlt, und es hätte Martins Leben gekostet. Es würde noch eine gute Weile dauern, ehe Tomas sich seines Selbst sicher genug war, um zu wagen, dieses schreckliche Wesen in sich wieder zu wecken. Und so würde er einen heiligen Ort der Valheru vernünftigerweise nur dann besuchen, wenn die Umstände keine andere Wahl zuließen.
Martin verzog das Gesicht zu seinem leicht schiefen Lächeln.
»Dann werden wir Menschen mit unseren unbedeutenden Fähigkeiten uns allein dorthin begeben.«
Nun lächelte auch Galain. »Ihr mögt alles mögliche sein, aber daß ihr nur über unbedeutende Fähigkeiten verfügt, das nehme ich euch nicht ab.« Doch sein Lächeln schwand schnell. »Trotzdem würdet ihr gut daran tun, euch vor eurem Aufbruch von den Zauberwirkern beraten zu lassen. Finstere Macht ist am Moraelin am Werk, und nicht immer nutzen Mut und Kraft gegen Magie.«
»Das werden wir«, versicherte Martin ihm. Er blickte einem näher kommenden Elben entgegen, dem Arutha und die anderen folgten.
»Vielleicht schon jetzt. Kommst du mit?«
»Ich habe keinen Sitz im Kreis der Ältesten. Außerdem habe ich seit einem Tag nichts mehr in den Bauch bekommen, und ausruhen muß ich mich ebenfalls. Komm mich später besuchen, wenn du reden möchtest.«
»Das werde ich.«
Martin schloß sich Aruthas Gruppe an, die der Elb zurück zum Rat führte. Als alle vor Aglaranna und Tomas saßen, forderte die Königin Tathar auf: »Sprecht für die Zauberwirker und sagt, welchen Rat Ihr für Fürst Arutha habt.«
Tathar trat in die Mitte des Hofkreises. »Seltsames tut sich seit einigen Drehungen des Mittelmondes. Wir erwarteten, daß die Moredhel und Kobolde gen Süden in ihre Heimat zurückkehren würden, aus der sie im Spaltkrieg vertrieben worden waren. Doch dem ist nicht so. Unsere Kundschafter im Norden fanden die Fährten vieler Scharen von Kobolden – und sahen sie manchmal auch –, die über die Großen Nordberge in die Nordlande zogen. Und Moredhelspäher kamen unseren Grenzen ungewöhnlich nahe.
Die Gwali suchten uns wieder auf, weil es ihnen dort, wo sie lebten, nicht mehr gefällt. So jedenfalls deuten wir es, denn sie sind schwer zu verstehen. Aber jedenfalls wissen wir, daß sie aus dem Norden stammen.
Was Ihr uns erzählt, Fürst Arutha, weckte tiefe Besorgnis in uns.
Erstens, weil wir Euer Leid teilen. Zweitens, weil die Geschehnisse, über die Ihr uns berichtet, auf eine gewaltige Macht der Finsternis deuten, die ihre Helfer überall zu haben scheint. Drittens und hauptsächlich unserer eigenen frühen Geschichte wegen.
Lange ehe wir die Moredhels aus unseren Wäldern vertrieben, da sie sich dem Düsteren Pfad der Macht zugewandt hatten, waren wir vom Elbenvolk eins. Jene von uns, die wir in den Wäldern lebten, waren unseren Herren, den Valheru, ferner und wurden deshalb weniger angezogen von den berauschenden Machtträumen. Die anderen dagegen, die in größerer Nähe unserer Herren lebten, erlagen den Verlockungen der Träume, und sie wurden zu Moredhel.« Er blickte die Königin und Tomas an. Beide nickten. »Wovon kaum je gesprochen wird, ist der Grund unserer Trennung von den Moredhels, die einst unseresgleichen waren. Und nie zuvor wurde je einem Menschen gegenüber davon gesprochen.
Im finsteren Zeitalter der Chaoskriege kam es zu vielen Veränderungen in den Landen. Aus dem Volk der Elben erhoben sich vier Gruppen.« Martin beugte sich vor, denn obwohl er viel über die Elben wußte, vermutlich mehr als jeder andere Mensch seiner Zeit, war ihm dies alles neu. Bis zu diesem Moment hatte er geglaubt, daß es von der Elbenart nur die Elben selbst und die Moredhels gab. »Die weisesten und mächtigsten – und jene mit den größten Zauberwirkern und Gelehrten – waren die Eldar. Sie waren die Hüter all dessen, was ihre Herren von überall im Kosmos zusammengeplündert hatten: Magische Werke, übersinnliches Wissen, Artefakte und Reichtümer. Sie waren es, die mit der Errichtung der Baumstadt begannen, die jetzt Elbenheim ist, und ihr so manches Magische verliehen. Sie verschwanden während der Chaoskriege, denn sie gehörten zu unserer Herren obersten Dienern und waren ihnen vermutlich sehr nahe. Deshalb ist anzunehmen, daß sie mit ihnen untergingen. Von den Elben und der Bruderschaft des Düsteren Pfades – die Eledhel und Moredhel in unserer Sprache –, wißt ihr so einiges. Doch gab es noch weitere unserer Sippe, nämlich die Glamredhel, was soviel wie ›die Chaotischen‹ und ›die Wahnsinnigen‹ bedeutet. Durch die Chaoskriege veränderte sich ihr Wesen, und sie wurden zu einem Volk besessener, wilder Krieger.
Eine Zeitlang waren die Elben und die Moredhel eins, und sie wurden von den Wahnsinnigen bekriegt. Selbst nachdem die Moredhel aus Elbenheim vertrieben waren, blieben sie die geschworenen Feinde der Glamredhel. Wir reden nicht gern von jenen Tagen, denn ihr dürft nicht vergessen, auch wenn wir von den einzelnen, den Eledehel, Moredhel und Glamredhel sprechen, sind doch alle Elbenarten bis zum heutigen Tag ein und dieselbe Rasse.
Es ist eben nur so, daß einige unseres Volkes sich der Finsternis verschrieben haben.«
Martin war höchst erstaunt. Obwohl er so viel von der Lebensart der Elben wußte, hatte er, wie andere Menschen auch, angenommen, die Moredhel seien eine eigene, andere Rasse, obgleich mit den Elben verwandt. Nun sah er klar, weshalb die Elben immer zurückhaltend gewesen waren, wenn die Frage ihrer Verwandtschaft mit den Moredhel zur Sprache gekommen war. Sie sahen sich als eins mit ihnen. Und nun verstand Martin. Die Elben betrauerten den Verlust ihrer Brüder an die Verlockung des Düsteren Pfades.
Tathar fuhr fort: »Unsere Geschichte berichtet von der Zeit der letzten großen Schlacht im Norden, da die Armeen der Moredhel und ihrer Kobolddiener die Glamredhel vernichteten. Die Moredhel rotteten unsere wahnsinnigen Vettern in einem schrecklichen Völkermord aus. Selbst die Neugeborenen töteten sie, um jegliche Gefahr zu verhindern, daß sie als Erwachsene die Oberherrschaft der Moredhel mit Waffengewalt in Frage stellen könnten. Es ist die schwärzeste Tat in der Geschichte unserer Rasse, daß ein Teil unseres Volkes einen anderen völlig ausrottete.
Doch was euch betrifft, ist folgendes: Der Kern der Moredhelstreitkräfte war eine Kompanie, die man die Schwarzen Kämpfer nannte. Es handelte sich um Moredhelkrieger, die ihrer Sterblichkeit entsagt hatten, um Ungeheuer zu werden mit nur einem Lebenszweck, für ihren Herrn zu töten. Sobald sie den körperlichen Tod gefunden haben, erheben sie sich als Untote, um die Befehle ihres Herrn auszuführen. Als Untote lassen sie sich nur durch Magie, durch völlige Vernichtung ihrer Leiber aufhalten, oder indem man ihnen das Herz aus der Brust schneidet. Jene, die Euch auf dem Weg nach Sarth überfielen, Fürst Arutha, waren Schwarze Kämpfer. Vor dieser letzten Vernichtungsschlacht waren die Moredhel dem Düsteren Pfad bereits weit gefolgt, doch etwas veranlaßte sie, in neue Tiefen des Grauens abzusinken. Sie waren zum Werkzeug eines wahnsinnigen Ungeheuers geworden, eines Führers, der den verschwundenen Valheru nacheiferte und die ganze Welt unter seine Gewalt bringen wollte. Er war es, der die Moredhel um sein Banner gesammelt und die Schwarzen Kämpfer hatte entstehen lassen. Doch in jener Schlacht wurde er tödlich verwundet, und mit seinem Dahinscheiden löste das bisher einige Volk der Moredhel sich auf.
Seine Hauptleute versuchten einen Nachfolger zu ernennen, konnten sich jedoch nicht einigen. Und so zersplitterten sie bald, ähnlich den Kobolden, zu Stämmen, Clans und Familien, und sie waren nie mehr in der Lage, sich lange unter einem Führer zu sammeln. Die Belagerung von Burg Carse vor fünfzig Jahren war nicht mehr als ein Scharmützel, verglichen mit der Macht, die die vereinten Moredhel unter jenem Führer gehabt hatten. Doch wie gesagt, mit seinem Tod endete die große Zeit der Bruderschaft des Düsteren Pfades. Ohne ihn waren sie nichts. Er war ein einmaliges Wesen mit ungewöhnlichen Kräften gewesen, nur durch sie hatte er die Moredhel zusammenhalten können. Der Name dieses Führers war Murmandamus gewesen.«
»Ist es möglich, daß er irgendwie zurückgekehrt ist?« fragte Arutha.
»Alles ist möglich, Fürst Arutha. So zumindest erscheint es einem, der schon so lange lebt wie ich«, antwortete Tathar. »Es könnte sein, daß einer versucht, die Moredhel wieder zu vereinen, indem er diesen uralten Namen beschwört und sie um ein Banner sammelt.
Dann ist da diese Sache mit dem Schlangenpriester. So sehr verabscheut man die Pantathier, daß selbst die Moredhel sie umbringen, wenn sie auf sie stoßen. Doch daß einer von ihnen ein Diener dieses Murmandamus ist, läßt auf ein finsteres Bündnis schließen – das warnt uns, daß wir mit unerwarteten Kräften rechnen müssen. Wenn sich die Völker des Nordens erheben, steht uns eine Machtprobe bevor, die von nicht geringerer Gefahr sein dürfte als die zwischen uns Midkemiern und den Tsuranis im Spaltkrieg.«
Baru erhob sich auf Hadatiweise und bedeutet so, daß er um das Wort bat. Tathar nickte ihm zu, und Baru sagte: »Von der Geschichte der Moredhel weiß mein Volk wenig. Fest steht nur, daß die düsteren Brüder unsere Todfeinde sind. Ich möchte jedoch hinzufügen, daß Murad als großer Häuptling angesehen wird, einer, der den Befehl über Hunderte von Kriegern führen mag. Daß er mit den Schwarzen Kämpfern reitet, spricht für Murmandamus’ Macht. Murad würde nur einem dienen, den er fürchtet. Und einer, der Murad Angst einzuflößen vermag, ist wahrhaftig einer, den man fürchten muß!«
»Ich wies bereits die Ishapier darauf hin«, warf nun Arutha ein,
»daß viel von alldem reine Vermutung ist. Meine Hauptsorge ist, Silberdorn zu finden.« Doch selbst während er diese Worte sprach, war Arutha klar, daß es mehr als Vermutung war. Zuviel deutete darauf hin, daß die Bedrohung aus dem Norden Wirklichkeit war.
Die Kobolde überfielen die Bauern im Norden nicht auf gut Glück.
Sie waren eine Hilfstruppe für eine noch weit gewaltigere Invasion als seinerzeit die der Tsuranis. Angesichts dieser Tatsache erwies sich sein Beharren, alles andere auf seiner Suche nach einem Heilmittel für Anita zu mißachten, als das, was es war: eine Besessenheit!
»Das gehört vermutlich dazu, Hoheit«, meinte Aglaranna. »Es sieht so aus, als trachte ein Wahnsinniger danach, die Oberherrschaft über die Moredhel sowie ihre Diener und Verbündeten zu gewinnen.
Damit es ihm gelingt, muß er dafür sorgen, daß sich eine Prophezeiung erfüllt, er muß den Schrecken der Finsternis vernichten. Und was hat er erreicht? Er hat Euch gezwungen, zu dem einen Ort zu kommen, an dem er Euch finden kann.«
Jimmy richtete sich mit weit aufgerissenen Augen auf. »Er wartet auf Euch!« platzte er heraus, ohne das Protokoll zu achten. »Er ist an diesem Schwarzen See!«
Laurie und Roald legten beruhigend die Hände auf seine Schultern. Verlegen setzte Jimmy sich nieder.
Tathar erwiderte: »Von den Lippen der Jugend… Ich und die anderen haben alles in Betracht gezogen, und nach unserer Meinung muß es so sein, Fürst Arutha. Da der ishapische Talisman Euch nun beschützt, muß Murmandamus sich eine andere Möglichkeit einfallen lassen, Euch zu finden, will er nicht die Gefahr eingehen, daß seine Verbündeten sich zurückziehen. Wie andere auch, sind die Moredhel auf ihre Landwirtschaft und Viehzucht angewiesen.
Braucht Murmandamus zu lange zur Erfüllung der Prophezeiung, verlassen sie ihn vielleicht, abgesehen von jenen, die den finsteren Schwur geleistet haben, wie die Schwarzen Kämpfer. Von seinen Spitzeln wird er gehört haben, daß Ihr von Sarth aufgebrochen seid, und inzwischen werden auch seine Spione in Krondor erfahren haben, daß Ihr Euch auf der Suche nach einem Heilmittel für Eure Gemahlin befindet. Und er wird wissen, daß es Silberdorn ist, hinter dem Ihr her seid. Und so dürfte wohl kaum ein Zweifel bestehen, daß er oder einer seiner Hauptleute, Murad beispielsweise, Euch am Moraelin auflauern wird.«
Arutha und Martin blickten eina nder an. Martin zuckte mit den Schultern. »Wir hatten auch nicht damit gerechnet, daß es einfach sein würde.« Arutha wandte sich der Königin, Tomas und Tathar zu.
»Ich danke euch für eure hilfreichen Worte. Aber wir werden zum Moraelin reiten.«
Arutha blickte auf, als Martin in seiner Nähe stehenblieb. »Du grübelst?« fragte der ältere Bruder.
»Ich – überlege nur einiges, Martin.«
Martin setzte sich neben Arutha auf den Rand der Plattform außerhalb der ihnen zugeteilten Gemächer. Des Nachts glühte Elbenheim in einem sanften Licht, das die Elbenstadt wie in weiche Magie hüllte. »Und was ist dieses ›einiges‹?«
»Daß ich, indem ich immer nur an Anita dachte, meine Pflicht vernachlässigte.«
»Zweifel?« fragte Martin. »Nun, zumindest sprichst du jetzt offen.
Hör zu, Arutha, ich hatte, was diese Reise betrifft, von Anfang an Bedenken, aber wenn man zweifelt, erreicht man nichts. Du mußt tun, was du für richtig hältst.«
»Und wenn es falsch ist, was ich tue?«
»Dann ist es eben falsch.«
Arutha senkte den Kopf. »Das Problem ist das des Einsatzes. Handelte ich als Kind falsch, verlor ich das Spiel. Jetzt könnte es dazu kommen, daß ich mein ganzes Volk verliere.«
»Möglich, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß du nach bestem Wissen und Gewissen handeln mußt.«
»Die Dinge geraten außer Kontrolle. Ich frage mich, ob es nicht das beste wäre, nach Yabon zurückzukehren und Vandros’ Streitkräfte in die Berge zu schicken.«
»Möglich. Aber andererseits gibt es Orte, wohin sechs Männer sich begeben können, eine Armee jedoch nicht.«
Arutha lächelte. »Nicht sehr viele.«
Martins erwiderndes Lächeln glich wie ein Spiegelbild dem seines Bruders. »Stimmt, aber wohl doch ein paar. Nach dem, was Galain über Moraelin erzählte, sind List und Unauffälligkeit wichtiger als Stärke. Was wäre, wenn Vandros’ Armee dorthin marschierte und feststellte, daß Moraelin auf der anderen Seite einer Straße läge, wie die, die zum Ishap-Kloster von Sarth führt? Erinnere dich, Gardan meinte, sie ließe sich von sechs mit Besen bewaffneten Großmüttern bewachen! Ich wette, Murmandamus hat mehr als ›sechs Großmütter‹ dort. Selbst wenn die Soldaten gegen Murmandamus’
Horden kämpfen und sie besiegen, könntest du einem Soldaten befehlen, sein Leben zu geben, damit Anita ihres nicht verliere?
Nein. Du und dieser Murmandamus spielt ein Spiel, eines um einen sehr hohen Einsatz, aber eben ein Spiel. Solange Murmandamus glaubt, er kann dich zum Moraelin locken, haben wir eine Chance, uns dorthin zu schleichen und Silberdorn zu finden.«
Arutha blickte seinen Bruder an, »Wirklich?« fragte er und kannte bereits die Antwort.
»Natürlich. Solange wir die Falle nicht zuschlagen, bleibt sie offen. Das haben Fallen so an sich. Wenn sie nicht wissen, daß wir bereits da angekommen sind, wohin wir wollten, können wir vielleicht auch wieder zurück.« Martin blickte einen Augenblick still gen Norden, dann sagte er: »Es ist so nahe! Gleich in den Bergen da oben, eine Woche von hier, nicht mehr. So nahe!« Er lachte Arutha an. »Es wäre eine Schande, dem Ziel so nahe zu kommen und dann aufzugeben.«
»Du bist verrückt!« brummte Arutha.
»Vielleicht. Aber vergiß nicht: Das Ziel ist so nahe!«
Arutha gab sich geschlagen. »Also gut. Wir brechen morgen auf.«
Mit dem Segen der Elbenkönigin und Tomas’ machten die sechs Reiter sich am nächsten Morgen auf den Weg. Calin, Galain und zwei weitere Elben liefen neben den Reitern her. Ein Stück vom Hof entfernt schwang ein Gwali sich von Baum zu Baum und rief:
»Calin!«
Der Elfenprinz bat anzuhalten. Der Gwali ließ sich herabfallen und fragte grinsend: »Wohin Menschen mit Calin gehen?«
»Wir bringen sie bis zur Nordstraße, Apalla. Von dort reiten sie allein weiter zum Moraelin.«
Aufgeregt schüttelte der Kleine seinen pelzigen Kopf. »Nicht gehen, Menschen! Bös Ort. Kleinolnoli von bös Ding fressen.«
»Was für ein böses Ding?« fragte Calin. Doch der Gwali rannte kreischend vor Angst davon, ohne eine Antwort zu geben.
»Es geht nichts über einen fröhlichen Abschied«, sagte Jimmy und blickte hinter Apalla her.
»Lauf ihm nach, Galain«, bat Calin, »und trachte, daß du etwas Verständliches aus ihm herauskriegst.«
»Ich werde es versuchen, dann folge ich euch.« Im Laufen winkte Galain dem kleinen Trupp zu, während Arutha mit den anderen wieder aufbrach.
Drei Tage begleiteten die Elben die Menschen bis an den Rand ihres Waldes und bis zum Vorgebirge der Großen Nordberge. Am Mittag des vierten Tages gelangten sie an einen Bach, an dessen gegenüberliegendem Ufer ein Weg zu sehen war, der durch lichte Waldung zu einer Schlucht führte. »Hier ist die Grenze unseres Landes«, sagte Calin.
»Was ist mit Galain?« fragte Martin.
»Vielleicht hat er nichts von Bedeutung erfahren, oder er hat einen Tag und länger gebraucht, Apalla zu finden. Die Gwali können sich sehr gut verbergen, wenn sie sich nicht aufspüren lassen wollen.
Wenn wir auf ihn stoßen und er etwas für euch Wichtiges erfahren hat, schicken wir ihn euch nach. Er wird euch einholen, sofern ihr bis dahin nicht bereits mitten in Moraelin seid.«
»Und wie erkennen wir das?« erkundigte sich Arutha.
»Folgt dem Weg dort drüben zwei Tage lang, bis ihr in ein kleines Tal gelangt. Durchquert es, dann kommt ihr an der Nordwand zu einem Wasserfall. Dort führt ein Weg zu einem Plateau, von dem aus es nicht mehr weit bis zum Überlauf des Wasserfalls ist. Folgt dem Fluß zu seinem Ursprung, einem See, und dem ansteigenden Pfad dort wieder nordwärts. Das ist der einzige Weg nach Moraelin. Ihr werdet auf eine Schlucht stoßen, die rings um den See in einem geschlossenen Kreis führt. Nach der Sage haben die Schritte des trauernden Elbenprinzen, der immer rund um den See wanderte, sie eingetreten. Man nennt sie die Spur des Hoffnungslosen. Es gibt nur einen Weg zum Moraelin, und zwar über eine Brücke der Moredhel.
Wenn ihr die Brücke über die Spur des Hoffnungslosen überquert habt, seid ihr in Moraelin. Dort findet ihr den Silberdorn. Es ist eine Pflanze mit hellen silbergrünen, dreilappigen Blättern und roten Früchten, wie die von Stechpalmen. Ihr werdet sie ohne Mühe erkennen, denn wie schon ihr Name besagt, sind ihre Dornen silbrig.
Seht zu, daß ihr zumindest eine Handvoll der Beeren mitnehmen könnt. Ihr werdet die Pflanze nahe am Ufer finden. Nun geht, und mögen die Götter euch beschützen.«
Nach einem kurzen Abschied ritten die Menschen weiter, mit Martin und Baru an der Spitze, Arutha und Laurie hinter ihnen und Jimmy mit Roald am Schluß. Als sie um eine Kurve bogen, blickte Jimmy zurück, bis er die Elben nicht mehr sehen konnte. Da wurde ihm bewußt, daß sie nun auf sich selbst gestellt waren, ohne Verbündete oder Zuflucht. Er schickte ein stummes Gebet zu Banath.