Der düstere Wald
Am Horizont tauchte ein Trupp Reiter auf.
Schwarze Gestalten zeichneten sich gegen den rötlichen Himmel des späten Nachmittags ab. Martin erspähte sie als erster, und Arutha befahl anzuhalten. Martin kniff die Augen zusammen. »Aus dieser Entfernung kann ich nicht allzuviel erkennen, aber ich glaube, sie sind bewaffnet. Söldner, vielleicht?«
»Oder Gesetzlose«, meinte Gardan.
»Oder etwas anderes«, sagte Arutha. »Laurie, du bist von uns am weitesten im Land herumgekommen, gibt es noch einen anderen Weg?«
Der Sänger schaute sich prüfend um. Er deutete auf den Wald hinter einem schmalen Streifen Felder. »Ostwärts von hier, ein Ritt von einer Stunde etwa, gibt es einen alten Weg, der ins Calastiusgebirge hochführt. Er diente einst den Bergleuten, wird heutzutage jedoch nur noch selten benutzt. Er wird uns zur Straße ins Landesinnere bringen.«
»Dann sollten wir uns schleunigst auf den Weg dorthin machen.
Es sieht ganz so aus, als wäre dieser Reitertrupp es leid, auf uns zu warten«, warf Jimmy ein.
Nun bemerkte auch Arutha, daß die Reiter am Horizont in ihre Richtung aufgebrochen waren.
»Gut. Laurie, übernimm die Führung.«
Sie verließen die Landstraße und ritten auf die Steinmauer zu, die den Bauernhof schützte. »Da!« schrie Jimmy.
Aruthas Begleiter sahen, daß der andere Trupp die Pferde zum Galopp angespornt hatte. Im orangefarbenen Glühen des beginnenden Sonnenuntergangs hoben die Reiter sich schwarz gegen einen graugrünen Hang ab.
Arutha und die anderen sprangen mühelos über die erste Mauer, während Jimmy fast vom Pferd fiel. Es gelang ihm noch, sich am Zaumzeug festzuklammern und nicht allzuweit hinter den anderen zurückzubleiben. Er schwieg, wünschte sich jedoch inbrünstig, daß sich nicht noch weitere Mauern zwischen ihnen und dem Wald befänden. Irgendwie glückte es ihm, sich im Sattel zu halten und Aruthas Trupp nicht zu lange am Waldrand warten zu lassen.
Laurie vermutete: »Da sie uns nicht einholen können, versuchen sie es jetzt parallel zu uns, in der Hoffnung, uns mehr nördlich abzufangen!« Dann lachte er. »Unser Weg führt aber nordostwärts, also werden unsere unbekannten Freunde ein gutes Stück durch dichtes Unterholz reiten müssen, um unseren Pfad zu erreichen.«
»Trotzdem müssen wir uns beeilen«, gab Arutha zu bedenken.
»Es wird bald dunkel sein, und selbst am hellichten Tag ist es im Wald nicht gerade sicher. Wie weit ist es bis zu der Straße?«
»Wir dürften sie etwa zwei Stunden nach Sonnenuntergang erreichen, möglicherweise ein bißchen eher«, antwortete Laurie.
Arutha bedeutete ihm vorauszureiten. Laurie trieb sein Pferd an, und alle drangen tiefer in den Wald ein.
Aufragende Baumstämme drängten sich zu beiden Seiten. In der Düsternis – dem Schein der beiden Monde, des mittleren und großen, gelang es kaum, das dichte Laubwerk der hohen Wipfel zu durchdringen – erschien der Wald ringsum wie eine undurchdringliche Mauer. Die ganze Nacht hindurch hatten ihre Pferde vorsichtig Schritt über Schritt auf etwas gesetzt, was Laurie als Pfad bezeichnete. Für den Jungen sah der Boden hier überall gleich aus, außer vielleicht, daß sich auf der von Laurie gewählten Schlangenlinie etwas weniger Gestrüpp als anderswo befand. Immer wieder blickte Jimmy über die Schulter nach Anzeichen möglicher Verfolger.
Arutha ließ anhalten. »Nichts deutet darauf hin, daß wir noch verfolgt werden. Möglicherweise haben wir die Burschen abgeschüttelt.«
Martin saß ab. »Unwahrscheinlich. Wenn sie einen erfahrenen Fährtenleser bei sich haben, müssen sie unsere Spur gefunden haben.
Sie werden jetzt ebenfalls nur langsam vorwärtskommen, aber uns auf den Fersen bleiben.«
Nun schwang auch Arutha sich aus dem Sattel. »Wir rasten hier eine Weile. Jimmy, gib den Pferden Hafer von dem aus Lauries Sattelbeutel.« Heimlich brummelnd gehorchte der Junge. Schon in der ersten Nacht unterwegs hatte man ihm klargemacht, daß er als Junker für seines Lehnsherrn Pferd zu sorgen hatte – und für die der anderen ebenfalls.
Martin schwang sich den Bogen um die Schulter. »Ich werde ein Stück zurückschleichen, um zu sehen, ob die Burschen schon in der Nähe sind. In einer Stunde bin ich wieder da. Wenn nicht, ist etwas dazwischengekommen, so wartet nicht auf mich, wir treffen uns dann morgen abend im Ishap-Kloster.« Er verschwand in der Dunkelheit.
Arutha setzte sich auf seinen Sattel, den er ins Moos geworfen hatte, während Jimmy die Pferde versorgte. Gardan hielt Wache und spähte in die Düsternis zwischen den Bäumen.
Die Zeit verging, und Arutha hing seinen Gedanken nach. Jimmy beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Laurie bemerkte es. Er trat neben den Jungen und striegelte mit ihm Gardans Pferd. »Du machst dir Sorgen um ihn, nicht wahr?« flüsterte er.
Jimmy nickte nur, was im Dunkel fast nicht zu sehen war. Dann wisperte er: »Ich habe keine Familie, Sänger, auch nicht viele Freunde. Er… Er ist – wichtig. Ja, ich mache mir Sorgen.«
Als er seine Arbeit beendet hatte, ging er zu Arutha, der blicklos in die Dunkelheit starrte. »Die Pferde sind gefüttert und gestriegelt.«
Aus seinem Grübeln gerissen, sagte der Fürst: »Gut, dann ruh dich ein bißchen aus. Wir brechen früh im Morgengrauen auf. Wo ist Martin?«
Der Junge blickte den Pfad zurück. »Irgendwo dort.«
Aruthas Blick folgte dem seinen.
Jimmy ruhte mit dem Kopf auf seinem Sattel und hatte eine Decke um die Schultern gezogen. Er starrte noch lange in die Nacht, ehe er einschlief.
Etwas weckte Jimmy. Zwei Gestalten kamen näher. Er machte sich schon daran aufzuspringen, als er Martin und Gardan erkannte.
Da erinnerte er sich, daß Gardan ja Wache gestanden hatte. Die beiden erreichten leise das kleine Lager.
Jimmy weckte die anderen, Arutha vergeudete keine Zeit und fragte, als er sah, daß sein Bruder zurückgekehrt war: »Hast du irgendwelche Zeichen von Verfolgung entdeckt?«
Martin nickte. »Einigen Meilen von hier. Eine Schar – Männer?
Moredhel? Ich konnte es nicht erkennen. Ihr Feuer war fast niedergebrannt. Zumindest einer ist ganz sicher ein Moredhel. Von ihm abgesehen, steckten alle ausnahmslos in schwarzer Rüstung mit schwarzen Umhängen. Jeder trug einen eigenartigen Helm, der den ganzen Kopf bedeckt. Das genügte mir anzunehmen, daß sie uns nicht als Freunde entgegentreten wollen. Ich legte eine falsche Spur, quer zu unserer. Die dürfte sie eine Weile ablenken. Aber wir sollten sofort aufbrechen.«
»Was ist mit diesem einen Moredhel? Du sagst, er sei nicht wie die anderen gekleidet?«
»Richtig. Und er war der größte, verdammte Moredhel, der mir je untergekommen ist. Sein Oberkörper war nackt, von einer ärmellosen, knappen Weste abgesehen; sein Schädel rings um eine lange Skalplocke, die wie ein Pferdeschwanz herunterhing, kahlgeschoren. Der Feuerschein fiel auf ihn, darum konnte ich ihn so deutlich sehen. Und wenn mir auch noch nie einer wie er begegnet ist, habe ich doch von seinesgleichen gehört.«
»Vom Yabonbergclan!« warf Laurie ein.
Arutha blickte ihn fragend an. Der Sänger erklärte: »Als ich in der Nähe von Tyr-Sog aufwuchs, hörte ich von Überfällen der nördlichen Bergclans. Sie sind anders als die Waldbewohner. Seiner Skalplocke nach zu urteilen, ist der Bursche ein Häuptling und ein bedeutender noch dazu.«
»Er ist von weither gekommen«, meinte Gardan.
»Ja, und das läßt darauf schließen, daß sich seit dem Spaltkrieg einiges geändert hat. Wir wissen, daß viele der von den Tsuranis nordwärts vertriebenen Moredhels versuchten, sich ihren Brüdern in den Nordlanden anzuschließen, doch nun hat es ganz den Anschein, als hätten sie auch einige ihrer Vettern mit sich zurückgebracht.«
»Es könnte auch sein, daß sie sich seinem Befehl unterstellt haben«, gab Arutha zu bedenken.
»Wenn es dazu gekommen ist…«, begann Martin.
»Müssen die einzelnen Moredhelstämme sich miteinander verbündet haben«, beendete Arutha den Satz für ihn. »Etwas, was wir immer befürchteten! Kommt, es wird schon hell. Wir können uns darüber unterwegs weiter den Kopf zerbrechen.«
Sie sattelten ihre Pferde und erreichten bald die Waldstraße, die Hauptinlandverbindung zwischen Krondor und dem Norden. Doch benutzten nur wenige Karawanen sie, denn obwohl sie Zeit einsparte, war der Weg durch Krondor und an der Küste entlang sicherer.
Laurie meinte, daß sie sich nun etwa in der Höhe der Bucht der Schiffe befanden und noch einen Tagesritt vom Ishap-Kloster bei Sarth entfernt. Die Stadt Sarth selbst erhob sich auf einer Halbinsel am Nordende der Bucht, während das Kloster nordöstlich der Stadt im Gebirge lag. Sie würden also den Weg über die Straße zwischen dem Kloster und der Stadt abschneiden. Wenn sie keine Zeit verloren, konnten sie das Kloster kurz nach Sonnenuntergang erreichen. Aus dem Wald schien keine Gefahr zu drohen, trotzdem war Martin sicher, daß die schwarze Schar bereits näher kam. Unter den natürlichen Lauten des erwachenden Tags hörte er im Wald hinter ihnen hier unübliche Geräusche heraus.
Er ritt an Aruthas Seite hinter Laurie. »Ich werde ein Stück zurückreiten, um zu sehen, ob unsere Freunde uns noch folgen.«
Jimmy warf einen Blick über die Schulter und sah durch die Bäume schwarzgekleidete Gestalten. »Zu spät! Sie haben uns fast eingeholt!« schrie er.
Arutha und seine Begleiter gaben ihren Pferden die Sporen. Der Donner der Hufe hallte durch den Wald. Alle beugten sich tief über den Hals ihrer Tiere, und Jimmy blickte immer wieder zurück. Der Abstand zu den Schwarzgerüsteten wurde größer, wie er erleichtert feststellte.
Nach wenigen Minuten gelangten sie zu einer tiefen Schlucht, über die die Pferde unmöglich springen konnten, doch eine feste Holzbrücke führte darüber. Sie nahmen sie im Galopp, dann zügelte Arutha sein Roß.
»Haltet an!« befahl er. Sie drehten ihre Pferde herum, denn schon war der Hufschlag ihrer Verfolger zu hören.
Arutha wollte gerade Anweisungen zum Angriff auf die Verfolger erteilen, als Jimmy vom Pferd sprang, nach dem Bündel hinter seinem Sattel griff, zum diesseitigen Ende der Brücke rannte und sich niederkniete. »Was machst du da?« brüllte Arutha.
»Bleibt, wo ihr seid!« war des Jungen Antwort.
Der Hufschlag kam näher. Martin schwang sich vom Pferd und riß seinen Langbogen von der Schulter. Er hatte ihn bereits gespannt und einen Pfeil angelegt, als der erste schwarze Reiter in Sicht kam. Ohne Zögern schoß er den Pfeil ab, und zielsicher schlug er mit Wucht in die Brust des Gegners. Der Reiter stürzte rücklings aus dem Sattel.
Der zweite Schwarzgewandete konnte ihm ausweichen, doch der dritte wurde abgeworfen, als sein Pferd über die Leiche stolperte.
Arutha wollte zur Brücke zurückreiten, um den zweiten Reiter aufzuhalten, der sie gerade erreichte. »Nein!« brüllte Jimmy. »Bleibt zurück!« Als der schwarze Reiter sie überquerte, raste der Junge davon und ließ die Brücke hinter sich. Der Reiter hatte die Stelle fast erreicht, wo Jimmy gekniet hatte, als ein lautes Zischen erklang, begleitet von einer gewaltigen Rauchwolke. Das Pferd des Schwarzen scheute, tänzelte auf der schmalen Brücke, bäumte sich auf und warf seinen Reiter ab, während das Pferd mit den Vorderhufen durch die Luft schlug, dann schlug der Reiter klatschend auf den Steinen der Schluchtsohle auf.
Aruthas und die Pferde seiner Begleiter waren glücklicherweise weit genug entfernt, um nicht ebenfalls durchzugehen. Allerdings mußte Laurie die Zügel von Jimmys Pferd fassen, während Gardan Martins hielt, der einen Pfeil nach dem ändern auf die Näherkommenden abschoß, deren Tiere scheuten und sich aufbäumten und nicht beruhigen lassen wollten.
Mit einer kleinen Flasche in der Hand hastete Jimmy jetzt zur Brücke zurück. Er zog den Stöpsel und warf das Fläschchen in den Rauch. Plötzlich flammte der ganze vordere Teil der Brücke auf.
Hastig zugehen die schwarzen Reiter ihre Pferde, die beim Anblick des Feuers ängstlich scheuten. Die Tiere tänzelten im Kreis, als ihre Reiter sie über die Brücke drängen wollten.
Gardan fluchte plötzlich: »Die Gefallenen erheben sich!«
Durch den Rauch und die Flammen konnten sie den ersten Getroffenen noch mit dem Pfeil in der Brust auf die Brücke zutorkeln sehen, während sich ein zweiter, den Martin erschossen hatte, gerade auf die Füße kämpfte.
Jimmy erreichte sein Pferd und saß auf. Arutha fragte ihn: »Was war das alles?«
»Das erste eine Rauchbombe, die ich aus alter Gewohnheit immer bei mir trage. Viele Spötter benutzen sie, um Verwirrung zu stiften und so entfliehen zu können. Sie verursachen ein kleines Feuer und sehr viel Rauch…«
»Und was war in der Flasche?« erkundigte sich Laurie, bevor Jimmy selbst eine Erklärung abgeben konnte.
»Ein Naphthadestillat. Ich kenne einen Alchimisten in Krondor, der es an die Bauern verkauft. Sie benutzen es, um Feuer zu legen, wenn sie ein Waldstück roden wollen.«
»Das ist ein verdammt gefährliches Zeug, um es bei sich zu tragen!« sagte Gardan. »Hast du es immer bei dir?«
»Nein«, antwortete Jimmy. »Aber gewöhnlich reise ich auch nicht irgendwohin, wo ich es mit irgendwas zu tun kriege, das sich nur durch Rösten aufhalten läßt. Doch nach unserem Erlebnis im Hurenhaus dachte ich, so etwas könnte doch recht nützlich sein. Ich habe noch mehr in meinem Sattelbeutel.«
»Dann wirf es doch!« schrie Laurie. »Die Brücke brennt noch nicht richtig.«
Jimmy riß die andere Flasche heraus, trieb sein Pferd näher zur Brücke, und warf sie zielsicher in die Flammen.
Das Feuer loderte gute zehn bis zwölf Fuß hoch, als es die gesamte Holzbrücke erfaßte. Zu beiden Seiten der Schlucht wieherten die Pferde, als die Flammen immer höher stiegen.
Arutha blickte hinüber zu den Feinden, die geduldig darauf warteten, daß das Feuer sich selbst verzehre. Hinter ihnen kam ein weiterer angeritten, der große Moredhel mit der Skalplocke. Er hielt an und beobachtete Arutha und die anderen mit ausdrucksloser Miene. Arutha spürte geradezu, wie der Blick aus den blauen Augen sich in seine Seele bohrte. Und er fühlte Haß. Hier also sah er zum ersten Mal seinen Feind, sah einen von jenen, die Anita beinahe getötet hatten! Martin begann wieder auf die Schwarzgerüsteten zu schießen, da führte der große Moredhel diese in den Schutz der Bäume zurück.
Martin saß auf und ritt an die Seite seines Bruders, der dem Moredhel nachblickte, bis er zwischen den Stämmen verschwunden war. Arutha sagte: »Er kennt mich! Wir hielten uns für so klug, dabei wußte er die ganze Zeit, wo ich war!«
»Aber wie?« fragte Jimmy. »Wir legten doch so viele falsche Fährten!«
»Schwarze Magie«, meinte Martin. »Eine finstere Macht hat ihre Hand im Spiel!«
»Kommt!« forderte Arutha seine Begleiter auf. »Sie werden zurückkehren. Das hier hält sie nicht auf. Wir haben allenfalls ein wenig Zeit gewonnen!«
Laurie führte sie den Weg zurück zur Straße nach Norden. Keiner wandte sich zu dem nun laut prasselnden Feuer um.
Sie gönnten sich kaum eine Rast, während sie den Rest des Tages weiterritten. Ihre Verfolger sahen sie nicht mehr, aber Arutha fühlte, daß sie ganz in der Nähe sein mußten. Gegen Sonnenuntergang kam leichter Nebel auf, als sie sich wieder der Küste näherten, wo die Straße an der Bucht der Schiffe nach Osten bog. Nach Lauries Schätzung mußten sie das Kloster nach Sonnenuntergang erreichen.
Martin trieb sein Pferd an, um neben Gardan und Arutha zu reiten.
Letzterer starrte in die Schatten und lenkte geistesabwesend sein Pferd. »Denkst du an die Vergangenheit?«
Arutha blickte seinen Bruder nachdenklich an. »An einfachere Zeiten, Martin. Nur an einfachere Zeiten. Alles in mir drängt danach, dieses Rätsel Silberdorn schnellstens zu lösen, damit ich Anita wieder zurückbekomme. Nach nichts sehne ich mich mehr!« sagte er heftig. Dann seufzte er, und seine Stimme wurde sanfter. »Ich frage mich, was Vater an meiner Stelle getan hätte.«
Martin warf einen flüchtigen Blick auf Gardan. Der Hauptmann bemerkte: »Das gleiche, was Ihr jetzt tut, Arutha. Als Junge und Mann kannte ich Lord Borric, und so weiß ich, daß kein anderer ihm im Wesen ähnlicher ist als Ihr. Ihr alle seid wie er: Martin in seiner Art, wie er alles genau beobachtet. Und Lyam ist so, wie er in seiner unbeschwerten Zeit war, als seine Lady Catherine noch bei ihm weilte.«
»Und ich?« fragte Arutha.
Es war Martin, der antwortete: »Du denkst wie er, kleiner Bruder.
Mehr als Lyam oder ich. Ich bin dein ältester Bruder, und ich höre auf dich – nicht, weil du als Fürst von Krondor höhergestellt bist denn ich als Landesvater von Crydee, sondern weil du besser als jeder, seit Vater, die richtigen Entscheidungen triffst.«
Aruthas Blick weilte in weiter Ferne, als er sagte: »Ich danke dir. Das ist ein großes Lob.«
Vom Weg hinter ihnen kam ein Geräusch – gerade laut genug, um es zu hören, doch ohne sich ein Bild machen zu können, woher es rührte. Laurie bemühte sich, die anderen so schnell wie möglich weiterzuführen, doch Dunkelheit und Nebel machten selbst seinem Richtungssinn zu schaffen. Die Sonne war schon fast untergegangen, so drang kaum Licht in die Tiefe des Waldes. Laurie vermochte nur ein kurzes Stück des Weges vor sich zu sehen. Zweimal mußte er sogar anhalten, um sich zu vergewissern, daß er nicht versehentlich auf einen abzweigenden Pfad geraten war. Arutha ritt an seine Seite und mahnte: »Laß dir Zeit, lieber kriechen wir dahin, als daß wir uns verirren.«
Gardan wartete, bis Jimmy ihn erreicht hatte. Der Junge spähte unentwegt um sich, um vielleicht etwas hinter den Bäumen zu entdecken, doch es waren nur graue Nebelschwaden zu sehen.
Da brach donnernd ein Pferd aus dem Unterholz. Vor einem Augenblick war es noch nicht da gewesen, im nächsten warf es Jimmy fast aus dem Sattel. Das Pferd des Jungen wurde herumgerissen, als der Schwarzgerüstete sich vorbeidrängte. Gardan schlug zu spät nach ihm und verfehlte ihn.
»Hierher!« brüllte Arutha und versuchte sich an einem zweiten Gegner vorbeizudrängen, der den Weg überquerte, und sah sich dem großen Moredhel Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er erblickte zum ersten Mal die drei tiefgeschnittenen Narben in jeder Wange des düsteren Bruders. Die Zeit schien stehenzubleiben, während die beiden sich ansahen. Arutha wußte, vor ihm stand sein fleischgewordener Feind. Nicht länger hatte er es mit im Dunkeln unsichtbaren Assassinen zu tun oder mit geheimnisvollen finsteren, unstofflichen Mächten. Hier war jemand, den er mit gutem Grund mit all seinem aufgestauten Grimm bedenken konnte. Stumm schwang der riesenhafte Moredhel einen kraftvollen Streich nach Aruthas Kopf. Der Fürst entging seiner Enthauptung nur, indem er sich schnell über den Hals seines Pferdes duckte. Fast gleichzeitig stieß er mit dem Degen zu und spürte, daß die Spitze einen fleischigen Körper durchbohrte. Er kam hoch und sah, daß sie dem Moredhel tief durch die narbenverunstaltete Wange geschnitten hatte. Doch nur ein gequälter Laut, halb Gurgeln, halb Würgen, entrang sich ihm. Da wurde Arutha klar, daß der Mann keine Zunge hatte. Der düstere Bruder blickte ihn noch einen kurzen Moment an.
»Versucht durchzukommen!« brüllte Arutha und gab seinem Pferd die Sporen. Schon hatte er den Trupp durchbrochen und die anderen dicht hinter ihm.
Einen Augenblick hatte es den Anschein, als wäre der moredhelgeführte Trupp zu verblüfft, um zu handeln, doch dann nahm er die Verfolgung auf. Von allen Wahnsinnsritten in Aruthas Leben erschien ihm dieser der irrste. Durch die Finsternis der Nacht und den Nebel jagten sie zwischen den Bäumen hindurch, auf einer Straße, die kaum breiter als ein Pfad war. Laurie überholte Arutha und übernahm wieder die Führung.
Lange Minuten flogen sie so durch den Wald dahin und kamen wie durch ein Wunder nicht vom richtigen Weg ab. Da schrie Laurie: »Die Straße zum Kloster!«
Fast hätten Arutha und die anderen hinter Laurie die breitere Straße verfehlt, doch es gelang ihnen noch, auf sie abzubiegen. Und nun schickte auch der aufgehende große Mond seinen ersten Schein herab.
Der Wald lag hinter ihnen, sie galoppierten eine zwischen Äckern hindurchführende Straße entlang. Schaum trat ihren keuchenden Pferden aus, trotzdem mußten sie sie noch weiter antreiben, denn obgleich die schwarzen Reiter den Abstand nicht verringern konnten, fielen sie auch nicht zurück.
Weiter galoppierten sie durch die Dunkelheit, als die Straße sich aus den sanften Hügeln um eine Hochebene wand, die auf das fruchtbare, landwirtschaftlich genutzte Tal nahe der Küste hinabblickte. Als die Straße schmäler wurde, mußten sie hintereinander reiten. Martin drückte sich an die Seite, bis die anderen an ihm vorbei waren.
Der Weg wurde trügerisch, und sie sahen sich gezwungen, langsamer zu reiten, doch jenen hinter ihnen würde es nicht besser ergehen. Arutha gab seinem Pferd zwar wieder die Sporen, doch das Tier hatte bereits alles, was noch an Kraft in ihm gesteckt hatte, bei dem letzten steilen Stück verbraucht.
Die Abendluft war nebelschwer und für die Jahreszeit zu kühl.
Die Hügel hier lagen weit auseinander und hoben sich zu sanften Kuppen. Der höchste, schon fast ein Berg, konnte zweifellos in einer knappen Stunde erklommen werden. Alle waren mit Gras und Gebüsch überwuchert, doch frei von Bäumen, denn auch hier war früher das Land bestellt worden.
Das Kloster duckte sich auf einem zerklüfteten Felsen – kein Hügel, sondern ein Berg mit steilen Granitwänden und oben flach wie eine Tafel.
Gardan blickte nach unten, als sie diesen Berg hocheilten. »Auf diesem Weg möchte ich nicht angreifen müssen, Hoheit. Er ließe sich von sechs mit Besen bewaffneten Großmüttern verteidigen – für immer.«
Jimmy schaute über die Schulter. In der Dunkelheit waren ihre Verfolger jedoch nicht zu sehen. »Dann sagt diesen Großmüttern, sie sollen anfangen damit und die schwarzen Reiter aufhalten!«
Auch Arutha sah sich um. Er befürchtete, jeden Moment von den Verfolgern eingeholt zu werden. Sie bogen nun um eine Kurve, von der aus der Weg geradewegs zum Kloster hinaufführte. Und schon standen sie vor dem Bogentor.
Hinter der Mauer war im Mondschein eine Art Turm zu sehen.
Arutha hämmerte an das Tor und rief: »Hallo! Wir ersuchen um Hilfe!« Dann hörten sie, was sie befürchtet hatten: Hufschlag auf dem harten, glatten Weg. Arutha und seine Begleiter zogen die Waffen und stellten sich ihren Verfolgern entgegen.
Die schwarzen Reiter bogen um die Kurve vor dem Klostertor, und erneut kam es zum Kampf. Die Angreifer schienen von ungewöhnlicher Wildheit zu sein, als dränge sie etwas, Aruthas Trupp umgehend zu bezwingen. Der Narbengesichtige ritt fast Jimmys Pferd über den Haufen, um an Arutha heranzukommen.
Lediglich seiner Nichtachtung verdankte Jimmy sein Leben. Der düstere Bruder hatte es nur auf Arutha abgesehen. Gardan, Laurie und Martin taten ihr Bestes, die schwarzen Reiter in Schach zu halten, doch viel fehlte nicht mehr, daß diese sie überwältigten.
Plötzlich fiel helles Licht auf den Weg. Ein blendendes Leuchten wie zehnfach verstärktes Tageslicht hüllte die Kämpfenden ein.
Arutha und die anderen sahen sich gezwungen, die Augen zu bedecken, die zu tränen begonnen hatten. Sie hörten gedämpftes Stöhnen von den Schwarzgerüsteten um sie, dann das Aufklatschen von Leibern auf den Boden. Arutha blinzelte durch die zusammengekniffenen Lider hinter der vorgehaltenen Hand und sah, wie die feindlichen Reiter steif aus ihren Sätteln stürzten – alle, außer dem großen Moredhel, der die Augen gegen das grelle Licht beschirmte, und drei Schwarzgewandeten. Der Zungenlose bedeutete seinen drei noch berittenen Begleitern ihm zu folgen. Sie wendeten ihre Pferde und flüchteten den Weg zurück. Kaum waren die schwarzen Reiter außer Sicht, ließ das grelle Licht allmählich an Leuchtkraft nach.
Arutha wischte sich die Tränen aus den Augen und machte sich an die Verfolgung, doch Martin rief: »Halt! Komm zurück! Wenn du sie wirklich einholst, wäre es dein Tod! Hier haben wir Verbündete!«
Arutha zügelte sein Pferd. Es behagte ihm nicht, seinen Feind entkommen zu lassen, doch er kehrte zu den anderen zurück, die sich die Augen rieben. Martin saß ab und beugte sich über einen gefallenen schwarzen Reiter. Er zog ihm den Helm vom Kopf, dann wich er zurück. »Es ist ein Moredhel, und er stinkt, als wäre er schon einige Zeit tot!« Er deutete auf die Brust der Leiche. »Das ist einer von denen, die ich an der Brücke tötete. Mein abgebrochener Pfeil steckt noch in seinem Herzen.«
Arutha blickte auf das Kloster. »Das Licht ist erloschen. Wer immer auch unser unsichtbarer Wohltäter ist, glaubt zweifellos, daß wir es nicht mehr brauchen.« Das Tor in der Mauer vor ihnen öffnete sich langsam. Martin hob den Helm und reichte ihn Arutha, damit er ihn sich ansehe. Er war von ungewöhnlicher Machart, auf dem Oberkopf war ein Drache in Basrelief gearbeitet, dessen hängende Schwingen die Seiten bedeckten. Der Gesichtsteil wies zwei Augenschlitze und vier kleine Löcher zum Atmen auf. Arutha warf Martin den Helm wieder zu. »Eine nichts Gutes verratende Schmiedearbeit. Nimm ihn mit. Und jetzt wollen wir das Kloster aufsuchen.«
»Kloster!« sagte Gardan, als er näher heranritt. »Es sieht eher wie eine Festung aus!« Das hohe Tor war aus dickem, eisenbeschlagenem Holz. Rechts erstreckte sich eine etwa zwölf Fuß hohe Steinmauer offenbar bis zum anderen Bergrand. Links wich die Mauer zurück am Rand einer Steilwand entlang, die gut hundert Fuß zu einer scharfen Biegung der Straße abfiel. Hinter der Mauer erhob sich ein Turm mehrere Stockwerke hoch. »Wenn das kein Festungsturm ist, habe ich nie einen gesehen!« bemerkte der Hauptmann. »Dieses Kloster möchte ich wahrhaftig nicht stürmen müssen, Hoheit. Eine Festung, die sich besser verteidigen läßt, dürfte es nicht so leicht geben. Seht selbst, nirgends ist mehr als fünf Fuß Abstand zwischen der Mauer und der Steilwand.« Er richtete sich im Sattel auf, augenscheinlich bewundernd in die verteidigungsmäßig unübertreffliche Bauweise der Klosterfestung vertieft.
Arutha lenkte sein Pferd vorwärts. Das Tor war nun weit offen, und da er nichts sah, was dagegen sprach, führte er seine Begleiter hindurch.