Zusammenstoß
Sie zögerten einen Augenblick.
Dominics Warnung folgte ein Schrei Micahs, und alle hasteten die Treppe hinunter. Auf halbem Weg zum Erdgeschoß schwankte Bruder Dominic plötzlich auf den Füßen. »Etwas naht!«
Unten angelangt, rannten Arutha und die anderen zur Tür und spähten hinaus. Über ihnen rasten mit unglaublicher Geschwindigkeit weitere der hellglühenden Objekte über den Himmel. Von einer Richtung kamen sie, dann aus einer anderen, und ihr seltsames, unheildrohendes Dröhnen und Zischen erfüllte die Nacht. Schneller, immer schneller schossen sie durch die Luft, glühende Streifen in Blau und Grün und Gelb und Rot zerrissen die Dunkelheit.
»Was ist das?« schrie Jimmy, um das Zischen zu übertönen.
»Eine Art magischer Wächter«, antwortete der Abt. »Ich spüre, daß sie das Gebiet absuchen, über das sie hinwegsausen.«
Langsam änderte sich die Bewegung. Statt unmittelbar über ihnen vorbeizuziehen, begannen sie abzubiegen und tangential zu ihrem ursprünglichen Kurs zu fliegen. Von unten sah man nun, daß sie langsamer wurden und die Kurven immer enger, bis die glühenden Objekte hoch oben in großen Bogen durch die Nacht zischten. Dann verminderte ihre Geschwindigkeit sich noch weiter, und man konnte sie deutlicher erkennen. Es waren große Kugeln, die von innen heraus pulsierend leuchteten und in denen seltsame dunkle Schatten zu bemerken waren – beunruhigend in ihrem Aussehen. Weiter bremsten sie ab, bis sie sich schwebend drehten und einen Kreis über dem Klosterhof bildeten. Sobald der Kreis geschlossen war, sah man zwölf glühende Kugeln lautlos und reglos über dem Hof hängen.
Und plötzlich, mit einem tiefen reißenden Laut und einem Summen, das die Ohren schmerzte, schossen Strahlen heraus und überbrückten den Zwischenraum je eines Paares, und sechs Linien verbanden den Ring. Dann formte sich eine Linie um den äußeren Rand, so daß die Kugeln jetzt ein Zwölfeck bildeten.
»Was sind dies für Objekte?« fragte sich Gardan laut.
»Die Zwölf Augen«, antwortete der Abt erschüttert. »Es ist ein uralter, legendärer Zauber. Kein Lebender dürfte die Macht haben, ihn zu rufen. Die Zwölf Augen dienen sowohl der Beobachtung als auch als Waffe.«
Da begannen die Kugeln sich langsam zu bewegen. Immer schneller werdend woben sie ein verwirrendes Muster, dem das Auge nicht mehr zu folgen vermochte. Immer rascher wirbelten sie, bis sie zu einem verschwommenen, leuchtenden Ganzen zu werden schienen. Ein Strahl schoß aus der Mitte herab und prallte von einer unsichtbaren Barriere oberhalb der Dächer der Klostergebäude ab.
Dominic schrie vor Schmerzen auf. Er taumelte und mußte von Martin gestützt werden. Der Mönch preßte die Hände an die Schläfen und stöhnte: »So gewaltig… Ich kann es kaum glauben.« Er öffnete die tränenden Augen und murmelte: »Der Schutzschirm hält stand!«
Vater John erklärte: »Bruder Dominics Geisteskräfte sind der Ursprung des unsichtbaren Schildes über dem Kloster. Sie werden über alle Maßen angegriffen.«
Erneut schoß ein Strahl herab und wurde wie ein bunter Regen über den ganzen Schutzschirm verstreut. Wie Scherben und Splitter eines Regenbogens glitt der verstreute Strahl die Seiten des Schirmes herab, so daß seine Kuppelform nun wahrzunehmen war.
Noch immer hielt der Schild stand. Doch immer weitere Strahlen schossen herab, und schon bald war zu erkennen, daß der Schirm bei jedem neuen Angriff tiefer gedrückt wurde. Und jedesmal schrie Dominic vor Schmerzen auf. Und dann drang mit ungeheurer Wucht ein Strahl blendend weißen Lichts durch den Schild und versengte zischend und beißenden Gestank verursachend den Boden.
Bei diesem Treffer erstarrte Bruder Dominic in Martins Arm und ächzte. »Es dringt ein!« hauchte er, ehe er die Besinnung verlor.
Martin legte den Mönch behutsam auf den Boden nieder. Vater John rief: »Ich muß ins Allerheiligste. Bruder Micah, haltet es auf!«
»Was immer da draußen ist«, wandte Micah sich an die kleine Gruppe, »hat einen mystischen Schutzschirm durchdrungen, der an Stärke dem unseres Vatertempels gleichkommt. Nun muß ich mich ihm stellen.« Und dem Ritual entsprechend fügte er hinzu: »Ishap bewaffnet und schützt mich.« Er löste den Streithammer an seinem Gürtel.
Ein Brüllen von unvorstellbarem Ausmaß – noch am ehesten dem von tausend Löwen gleich – erschütterte das Kloster. Es begann mit einem die Zähne schmerzenden Kreischen und rannte die Tonleiter abwärts, bis es am Stein des Gebäudes zu mahlen schien. Strahlen blitzten scheinbar blindlings in alle Richtungen, und wo sie einschlugen, ließen sie Vernichtung zurück. Steine zerbröckelten, was brennbar war, ging in Flammen auf, Wasser verdampfte in dichten Schwaden.
Sie blickten Micah nach. Er verließ das Gebäude und schritt auf den Hof hinaus, bis er unter dem wirbelnden Gebilde stand. Er hob den Hammer, als hätte er den herabsausenden Strahl erwartet, der jene an der Tür blendete. Nachdem das Glühen nachgelassen und sie wieder sehen konnten, stand Micah immer noch da, den Hammer erhoben, hoch aufgerichtet, und nun von einem wahren Feuerwerk knisternder und prasselnder Funken in allen Regenbogenfarben umgeben. Der Boden rings um seine Füße rauchte und versengte, doch er selbst war unverletzt. Da hielt der Strahlenstrom an, und in Blitzesschnelle hatte Micah den Hammer zurückgeschwungen und warf ihn. Fast zu rasch für das Auge, ihm zu folgen, sauste der Hammer aus seiner Hand und wurde selbst zum verschwommenen blauweißen Strahl, so hell und blendend wie sein Ziel. Höher als ein Mensch ihn werfen könnte, schoß dieser Strahl und traf das leuchtende Gebilde genau in der Mitte. Er schien davon abzuprallen und kehrte in Micahs Hand zurück.
Ein neuer funkensprühender Angriff auf Micah begann, und wieder schützten ihn die geheimnisvollen Kräfte des Hammers.
Erneut schleuderte er ihn, als der Funkenregen erstarb, und wieder traf er genau die Mitte. Als der Hammer zurückkehrte, konnten jene im Innern des Klosters sehen, daß das Gebilde nun im Drehen schwankte. Ein drittes Mal schmetterte Micah den Hammer und traf.
Ein Reißen, ein Bersten war zu hören, so laut, daß Arutha und die anderen die Hände auf die Ohren pressen mußten.
Die kreisenden Kugeln zersprangen, und aus der Mitte einer jeden stürzten kleine fremdartige Kreaturen. Platschend schlugen sie auf dem Boden auf, wanden sich merkwürdig, und Rauch stieg von ihnen auf. Gellende Schreie durchschnitten die Nacht, ehe die Wesen in blendendem Feuer vergingen. Niemand vermochte die wahre Gestalt dieser Kreaturen aus den Kugeln zu erkennen, aber Arutha fühlte, daß dies auch besser so war, denn in dem Augenblick, da sie entflammten, sahen sie auf erschreckende Weise verunstalteten Kleinkindern ähnlich.
Dann wurde die Nacht still, und ein Regen von in allen Farben glitzernden Splittern, wie Stäubchen gläserner Sterne, fiel auf das Kloster herab. Ein Funken nach dem anderen verglühte, bis der alte Mönch stumm auf dem Hof stand, den Streithammer vor sich in der Hand haltend.
Jene im Schutz des Klosters blickten einander staunend an.
Eine lange Weile schwiegen sie, dann begannen sie sich allmählich zu entspannen. »Das war – unglaublich«, murmelte Laurie. »Ich weiß nicht, ob ich die Worte finden könnte, es zu beschreiben.«
Auch Arutha wollte etwas sagen, da fiel ihm auf, wie Jimmy und Martin lauschend den Kopf schräg legten. »Ich höre etwas«, flüsterte Jimmy. Alle hielten den Atem an, und nun vernahmen sie ein fernes Geräusch, wie der Flügelschlag eines großen Vogels oder einer Fledermaus.
Noch bevor jemand ihn aufhalten konnte, rannte Jimmy aus dem Haus und wirbelte schier herum, um in alle Richtungen zu schauen.
Als er über das Klosterdach nordwärts blickte, weiteten sich seine Augen. »Banath!« rief er und raste zu dem alten Bruder Micah, der immer noch stumm und reglos dastand, als wären seine Gedanken anderswo. Jimmy faßte ihn am Arm und schüttelte ihn. »Seht doch!« schrie er, als der Mönch endlich die Augen öffnete.
Micahs Blick folgte dem deutenden Finger. Etwas, hinter dem der ganze große Mond verschwand, flog mit gewaltigen kräftigen Schwingen auf das Kloster zu. Sofort schob Micah den Jungen zur Seite. »Lauf!«
Der Stoß schickte Jimmy in die dem Kloster entgegengesetzte Richtung. So raste er über den Hof zu einem mit Viehfutter beladenen Wagen und tauchte unter ihn. Er rollte sich herum, lag ganz still und beobachtete.
Etwas Grauenvolles, Schreckenerregendes kam vom Himmel herab. Schwingen mit einer Spannweite von gut fünfzig Fuß flatterten gemächlich, als es sich zu dem alten Mönch hinabließ. Es war eine zwanzig Fuß große Mischung aus allem, was den Ekel eines normalen Sterblichen erregen mußte. Schwarze Krallen ragten aus merkwürdigen Vogelzehen an Beinen wie die einer Ziege. Wo die Schenkel sein sollten, schwabbelten gewaltige Fettwülste, die bis zu einer menschenähnlichen Brust reichten.
Über den Rumpf sickerte etwas Schleimiges in einzelnen Rinnsalen. Aus der Mitte der Brust starrte ein blaues, aber ansonsten völlig menschlich wirkendes Gesicht mit grauengeweiteten Augen, das unentwegt zuckte und wie zur Begleitung des eigenen Gebrülls des Ungeheuers schrie und wimmerte. Die Arme des Schreckenswesens waren muskulös, lang und ähnlich denen von Affen. Ein schwacher Schein ging von ihm aus, der in rascher Reihenfolge die Farbe wechselte: rot zunächst, dann orange, gelb, das ganze Spektrum durch, bis es wieder rot war. Und ein Gestank ging von ihm aus, als wären alle üblen Gerüche von Verwesendem, Verrottendem und Schwärendem zusammengemischt und der Kreatur verdichtet eingegeben worden.
Das Schrecklichste von allem aber war der Kopf, denn in unüberbietbarer Grausamkeit hatte der Schöpfer dieses gräßlichen Ungeheuers es mit einem Frauenkopf ausgestattet, zu groß, um zu dem Körper zu passen, doch ansonsten normal. Und damit hatte sein Schöpfer sich den schlimmsten Spaß erlaubt, er hatte ihm die Züge von Prinzessin Anita verliehen! Wilde Strähnen schienen in alle Richtungen zu flattern und rahmten das Gesicht in einer Wolke roten Haares ein. Und der Ausdruck des Gesichts war der einer billigen Hure, lüstern und lasterhaft, während das Ungeheuer geil die Lippen leckte und Arutha mit rollenden Augen anblickte. Die blutroten Lippen öffneten sich zu einem breiten Grinsen, das statt menschlicher Eckzähne lange Fänge offenbarte.
Ein solcher Ekel stieg in Arutha hoch, daß er jeden klaren Gedanken verdrängte und nur den einen Wunsch hatte, dieses abscheuliche Ungeheuer zu töten. »Nein!« schrie er und griff nach seinem Degen.
Sofort stürzte Gardan sich auf ihn, warf ihn zu Boden und setzte seine ganze Kraft ein, ihn festzuhalten. »Gerade das ist es, was sie wollen!« schrie er.
Nun kam auch Martin Gardan zu Hilfe. Gemeinsam zerrten sie den Fürsten von der Tür weg. Das Ungeheuer blickte durch die Tür und spreizte abwesend die Krallen. Schmollend wie ein kleines Mädchen schaute es Arutha an, dann streckte es die Zunge heraus und rollte sie auffordernd. Schließlich richtete es sich mit schallendem Gelächter zu seiner vollen Größe auf, brüllte zu den Sternen empor und streckte die Arme über den Kopf. Mit nur einem Schritt hatte es fast die Tür erreicht, wo der Fürst wartete. Doch plötzlich schwankte es, schrie gellend vor Schmerzen und drehte sich um.
Arutha und seine Begleiter sahen einen blauweißen Blitz zu Bruder Micahs Hand zurückkehren. Er hatte zugeschlagen, als das Ungeheuer abgelenkt war. Erneut schmetterte er seinen Hammer. Er traf den gewaltigen schwabbeligen Bauch. Wieder stieß das Ungeheuer einen Schmerzens- und Wutschrei aus, als dampfendes, schwarzes Blut zu Boden zu rinnen begann.
»So etwas!« erklang eine Stimme erstaunt hinter Arutha.
Laurie sah, daß Bruder Anthony von den Gewölben heraufgekommen war und nun interessiert die Kreatur betrachtete.
»Was ist das für ein Ungeheuer?« fragte Laurie ihn.
Offenbar ohne jegliche andere Gefühlsregung als Neugier antwortete der Archivar: »Ich glaube, es ist ein durch Zauber entstandenes Geschöpf oder künstlich hergestellt aus allem möglichen und dann mit Magie belebt. Wir haben Dutzende verschiedener Werke, die beschreiben, wie es bewerkstelligt wird.
Allerdings könnte es auch eine natürliche Monstrosität sein, aber das erscheint mir denn doch zu unwahrscheinlich.«
Martin stand auf und überließ es wieder Gardan allein, Arutha festzuhalten. Er spannte seinen Bogen und legte einen Pfeil an die Sehne. Das Ungeheuer näherte sich Bruder Micah, als Martin schoß.
Martins Augen weiteten sich, als er bemerkte, wie der Pfeil wirkungslos durch den Hals der Kreatur drang.
Bruder Anthony nickte. »Ja, es ist eine Zauberkreatur. Weltliche Waffen können ihr nichts anhaben!«
Das Ungeheuer schmetterte eine mächtige Faust auf Bruder Micah hinab. Der alte Mönch hob lediglich den Hammer. Einen ganzen Fuß über dem Hammer prallte die Faust zurück, als wäre sie auf Widerstand gestoßen. Die Kreatur brüllte ihren Ärger hinaus.
Martin wandte sich an Bruder Anthony. »Wie kann man dieses Wesen töten?«
»Das weiß ich nicht. Jeder von Micahs Hieben entzieht dem für seine Schöpfung benutzten Zauber ein wenig Kraft. Doch es ist ein gewaltiger Zauber, den aufzuheben einen Tag und länger dauern kann. Sollten Micahs Kräfte nachlassen…«
Aber der alte Mönch stand fest auf den Füßen. Er parierte jeden Hieb des Ungeheuers und schien es zu verletzen. Doch obgleich jede Hammerwunde ihm offensichtlich Schmerzen verursachte, sah es nicht geschwächt aus.
»Wie schafft man ein solches Wesen?« fragte Martin Bruder Anthony. Arutha wehrte sich nicht mehr, aber Gardan kniete noch neben ihm und hielt die Hand auf seiner Schulter.
Anthony, den Martins Frage einen Augenblick offenbar überraschte, sagte: »Wie man eines erschafft? Nun, das ist ziemlich umständlich…«
Das Ungeheuer wurde immer wütender über Micahs Hiebe. Wild, aber nutzlos hämmerte es auf den Mönch ein. Dann wurde es dieser Taktik müde. Es ließ sich auf die Knie fallen, schlug von oben herab auf Micah, als wolle es einen Nagel mit einem Hammer einhauen, doch im letzten Moment zog es die Faust zur Seite und schmetterte sie mit aller Gewalt auf den Boden neben dem Mönch.
Dadurch stolperte Micah unwillkürlich, und das war alles, was die Kreatur brauchte. Sie schwang einen Arm seitwärts, und Micah flog über den Hof. Er schlug schwer auf, rollte halb herum und blieb betäubt liegen, während der Hammer seiner Hand entglitt und davonholperte.
Dann bewegte das Ungeheuer sich wieder auf Arutha zu. Gardan sprang auf und zog das Schwert, während er vorwärtsstürmte, um seinen Fürsten zu beschützen. Dann stand der Hauptmann vor der Kreatur, die abstoßend grinsend zu ihm hinabblickte. Daß sie Anitas Züge hatte, machte alles noch schlimmer. Wie eine Katze, die mit der Maus spielt, stupste das Ungeheuer Gardan an.
Da kehrte Vater John durch eine Innentür zurück. Er hielt einen langen Metallstab, dessen Spitze ein merkwürdiges, siebenseitiges Etwas krönte. Damit stellte er sich vor Arutha, der Gardan zu Hilfe eilen wollte, und gebot dem Fürsten Einhalt: »Nein! Ihr könnt nichts tun!«
Widerstrebend wich er einen Schritt zurück. Der Abt wandte sich der beschworenen Kreatur zu.
Jimmy kroch unter dem Wagen hervor und sprang auf. Ihm war klar, daß es sinnlos wäre, seinen Dolch zu ziehen, aber als er Bruder Micah reglos auf dem Boden liegen sah, rannte er zu ihm. Der alte Mönch war noch bewußtlos, so zerrte Jimmy ihn zum Wagen, wo sie verhältnismäßig sicher waren. Gardan schlug weiter vergebens auf das Ungeheuer ein, das nach wie vor nur mit ihm spielte.
Da sah Jimmy Bruder Micahs Hammer auf der anderen Hofseite liegen. Er sprang danach, bekam den Schaft im Flug zu fassen, ehe er auf dem Bauch landete, ohne den Blick von der Kreatur zu nehmen.
Glücklicherweise hatte sie nicht bemerkt, daß der Junge sich der Waffe bemächtigt hatte. Jimmy war erstaunt über das Gewicht des Hammers. Er war gut doppelt so schwer, als er gerechnet hatte. So bewaffnet rannte er auf das Ungeheuer zu und blieb hinter seinem gräßlichen, fellbewachsenen Hinterteil in Deckung. Es beugte gerade den Kopf, um nach Gardan zu greifen.
Die gigantische Pranke hob den Hauptmann hoch und führte ihn zum Maul, das sich weit öffnete. Da zielte Vater John mit seinem Stab. Breite grüne und purpurne Strahlen schossen auf die Kreatur zu und hüllten sie ein. Sie heulte vor Schmerzen und drohte Gardan in ihrer Pranke zu zermalmen, der daraufhin ebenfalls aufschrie.
»Hört auf!« schrie Martin. »Es zerquetscht Gardan!«
Der Abt hielt mit seinem Zauber inne. Das Ungeheuer schnaubte und schleuderte Gardan von sich, um seine Peiniger zu treffen. Der Hauptmann schmetterte gegen Martin, Bruder Anthony und den Abt, daß sie alle zu Boden stürzten. Arutha und Laurie konnten seitwärts ausweichen. Der Fürst sah, wie das gräßliche Zerrbild von Anitas Gesicht sich zur Tür herabbeugte. Die breiten Schwingen verhinderten ihr Eindringen, aber die Kreatur streckte die langen Arme durch die Tür nach Arutha aus.
Martin kam auf die Füße und half dem erschütterten Abt und Bruder Anthony, sich zu erheben. Der Archivar murmelte: »Ja! Natürlich! Das Gesicht in seiner Brust! Tötet es dort!«
Sofort hatte Martin einen Pfeil an der Sehne, aber durch seine gebückte Haltung verbarg das Ungeheuer die Brust. Die Arme waren Arutha schon nahe, als es sich heulend auf die Kehrseite setzte.
Dadurch wurde das Gesicht in der Brust sichtbar. »Kilian lenke meinen Pfeil!« betete Martin und schoß. Gleich darauf ragte der Schaft aus der Stirn des blauen Gesichts. Die Augen rollten und schlossen sich, als rotes Menschenblut aus der Wunde quoll. Das Ungeheuer erstarrte.
Während alle die Kreatur mit schreckgeweiteten Augen beobachteten, erbebte sie. Sofort wurden ihre Farben leuchtender und wechselten noch schneller. Sie wurde durchsichtig, unstofflich, etwas, das nur aus farbig glühendem Rauch und Gasen bestand, die sich heftig wirbelnd im Nachtwind auflösten. Das Leuchten schwand, und der Klosterhof war wieder leer und still.
Arutha und Laurie beugten sich über Gardan, der bei Bewußtsein war. »Was ist passiert?« fragte der Hauptmann mit schwacher Stimme.
Aller Augen wandten sich Martin zu, der jedoch auf Bruder Anthony deutete. »Der Herzog fragte, wie so ein Zauberwesen geschaffen wird. Nun, dazu gehört in jedem Fall ein Tier oder Mensch als Ausgangspunkt«, erklärte der Archivar. »Das blaue Gesicht war alles, was von dem Bedauernswerten übrigblieb, der in diesem Fall hatte herhalten müssen. Es war der einzige sterbliche und damit verwundbare Teil. Als er getötet wurde, löste die Magie sich auf.«
»Ich konnte diesen Treffer nur anbringen, weil die Kreatur plötzlich nach hinten kippte.«
»Ein wahres Glück«, murmelte der Abt.
»Glück hatte wenig damit zu tun!« warf der nun herbeikommende Jimmy grinsend ein. Er hielt Bruder Micahs Hammer in der Hand.
»Ich habe ihn dem Ungeheuer auf den Hintern gehauen!« Er deutete auf Micah. »Er kommt schon wieder zu sich.« Er gab Vater John den Hammer.
Arutha war noch immer zutiefst erschüttert, daß die Kreatur Anitas Züge gehabt hatte, während Laurie mit schwachem Lächeln bat: »Vater dürften wir einen Schluck Wein haben? Das war der gräßlichste Gestank, den ich je erdulden mußte!«
»Pah!« rief Jimmy. »Ihr hättet erst hinter dem Scheusal stehen müssen!«
Arutha beobachtete den Sonnenaufgang über dem Calastiusgebirge. In den Stunden nach dem Angriff war wieder so etwas wie Ordnung und Ruhe im Kloster eingekehrt, doch Aruthas Innerstes war noch aufgewühlt. Wer oder was auch immer hinter diesen Anschlägen auf ihn steckte, es war weit mächtiger, als er sich vorgestellt hatte, trotz der deutlichen Warnung Vater Nathans und der Hohepriesterin von Lims-Kragma. In seiner Hast, ein Heilmittel für Anita zu finden, war er unvorsichtig geworden, was seinem Wesen eigentlich fremd war. Wenn nötig, konnte er kühn sein, und diese Kühnheit hatte ihm mehrere Siege eingebracht. Doch in letzter Zeit war er nicht kühnen Mutes, sondern lediglich starrsinnig und unüberlegt gewesen. Er spürte etwas ihm Fremdes, wie seit seiner Kindheit nicht mehr, er verspürte Zweifel! So voll Selbstvertrauen war er bei seinen Plänen gewesen, aber Murmandamus hatte entweder jeden seiner Züge vorhergesehen, oder er konnte jedem seiner Schritte mit unglaublicher Flinkheit begegnen. Arutha blickte auf, als er Jimmy neben sich sah. Der Junge schüttelte den Kopf. »Es ist, wie ich es immer sagte.«
Trotz seiner Sorgen mußte Arutha über Jimmys Ton lächeln.
»Und das wäre?«
»Egal für wie klug man sich hält, es kann immer was daherkommen, und schon sitzt man auf seinem Hintern. Dann erst denkt man: Das war was, das ich vergessen habe! ›Adleräugige Spätsicht‹ nannte Alvarny der Flinke es.«
Arutha fragte sich, ob der Junge seine Gedanken gelesen hatte.
Jimmy fuhr fort: »Die Ishapier sitzen hier herum, murmeln Gebete und sind überzeugt, daß sie eine echte magische Festung haben – ›nichts kann unsere magische Verteidigung durchbrechen‹«, spöttelte er. »Und dann kommen diese Glühkugeln und das fliegende Ungeheuer – und hops! ›An das und dies haben wir nicht gedacht !‹ Seit einer Stunde diskutieren sie darüber, was sie hätten tun sollen. Nun, ich nehme an, sie werden hier bald etwas Wirkungsvolleres haben.«
Jimmy lehnte sich an die Steinmauer vor dem Rand der steilen Felswand. Hinter der Mauer hob das Kloster sich aus den Schatten, als die Sonne höherstieg.
»Der alte Anthony hat mir gesagt, daß für die nächtlichen Ereignisse viel anstrengender und zeitraubender Zauber benötigt wurde, also meint er, daß wir eine Weile von weiterem verschont bleiben. Sie fühlen sich wieder stark in ihrer Festung – bis was anderes daherkommt, für das ihr Schutz nicht vorhanden ist.«
»Du bist ja ein richtiger Philosoph!« Arutha lächelte, als Jimmy mit den Schultern zuckte.
»Ich habe soviel Angst, daß ich mir fast in die Hose mache«, gestand er. »Und es würde nicht schaden, wenn Ihr auch Angst hättet. Diese Untoten in Krondor waren schon schlimm, aber die vergangene Nacht! Ich weiß nicht, wie Ihr darüber denkt, aber wenn ich an Eurer Stelle wäre, würde ich es mir sehr überlegen, ob ich nicht nach Kesh auswandern und meinen Namen ändern würde.«
Arutha lächelte düster, denn Jimmy hatte ihm vor Augen geführt, was er sich selbst nicht eingestanden hatte. »Um ehrlich zu sein, Jimmy, ich habe bestimmt nicht weniger Angst als du.«
Der Junge blickte ihn überrascht an. »Wirklich?«
»Wirklich. Schau, nur ein Geistesgestörter würde sich vor solchen Gegnern, wie wir sie gegen uns haben, nicht fürchten. Doch wichtig ist nicht, ob man Angst hat oder nicht, sondern was man tut. Mein Vater sagte einmal, daß ein Held ganz einfach jemand ist, dessen Angst zu groß war, daß er noch hätte klar denken und davonlaufen können, und der dann irgendwie überlebt hat.« Jimmy lachte, und die jungenhafte Fröhlichkeit ließ ihn so jung erscheinen, wie er tatsächlich war, und nicht um so vieles älter, wie er gewöhnlich wirkte. »Das stimmt auch. Ich persönlich tu am liebsten schnell, was getan werden muß, damit ich mich dann wieder vergnügen kann. Dieses Aufopfern für ein hehres Ziel ist was für Sagen und Legenden.«
»Na siehst du, es steckt also doch etwas von einem Philosophen in dir«, meinte Arutha lächelnd. »Übrigens, du hast vergangene Nacht schnell und mutig gehandelt. Wenn du das Ungeheuer nicht abgelenkt hättest, daß Martin es töten konnte…«
»Wären wir jetzt auf dem Rückweg nach Krondor mit Euren Gebeinen, falls das Ungeheuer sie nicht verschlungen hätte«, beendete Jimmy den Satz mit trockenem Humor.
»Schau nicht so zufrieden drein bei dieser Vorstellung.«
Jimmy lächelte. »Ich wäre es bestimmt nicht, gewiß! Ihr gehört zu den wenigen, die ich gern um mich habe. Im Grunde genommen sind wir eine fröhliche Schar, nur daß eben die Zeiten grimmig sind. Trotzdem macht es mir Spaß, wenn ich ehrlich sein soll.«
»Du hast ja eine seltsame Vorstellung von Spaß!«
Jimmy schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Wenn einem schon Angst eingejagt wird, sollte man sie wenigstens voll ausschöpfen.
Wißt Ihr, das ganze Leben eines Diebes ist so. Man bricht in stockfinsterer Nacht in ein Haus ein und weiß nicht, ob seine Bewohner nicht vielleicht wach sind und einen mit einem Knüppel oder Schwert erwarten, um einem den Schädel einzuschlagen, sobald man den Kopf durchs Fenster steckt. Oder man wird von der Stadtwache durch die Straßen gejagt. Das ist kein Spaß, aber irgendwie doch, versteht Ihr? Jedenfalls ist es aufregend. Und außerdem, wie viele können sich damit brüsten, dem Fürsten von Krondor das Leben gerettet zu haben, indem sie einem Dämon einen Hammer in den Hintern schlugen?«
Nun mußte Arutha laut lachen. »Ich glaube es nic ht! Das ist das erste Mal, daß ich wieder richtig lachen konnte, seit – seit der Trauung.« Er legte die Hand auf Jimmys Schultern. »Du hast dir wahrhaftig eine Belohnung verdient, Junker James. Was wünschst du dir?«
Der Junge verzog das Gesicht, als überlege er schwer. »Ich hätte nichts dagegen, wenn Ihr mich zum Herzog von Krondor machen würdet.«
Nichts hätte Arutha mehr verblüffen können. Er öffnete den Mund, doch er brachte keinen Laut heraus. Martin, der aus dem Krankensaal kam, bemerkte seinen wahrlich ungewöhnlichen Gesichtsausdruck. »Was hast du denn?« fragte er ihn.
Arutha deutete auf Jimmy. »Er möchte Herzog von Krondor werden!«
Martin lachte schallend. Als er sich beruhigt hatte, sagte Jimmy: »Warum nicht; Dulanic ist hier, also wißt Ihr, daß er auf seinen Titel verzichtet hat. Und Volney will ihn nicht. Wem wollt Ihr ihn also sonst geben? Ich bin nun wirklich nicht gerade dumm, und ein paar Gefallen habe ich Euch auch getan.«
Martin lachte wieder, während Arutha entgegnete: »Dafür wurdest du bezahlt!« Der Fürst war zwischen Entrüstung und Belustigung hin und her gerissen. »Hör zu, du Bandit! Vielleicht lasse ich dir von Lyam einen kleinen Landstrich überschreiben – einen sehr kleinen! –, um den du dich dann selbst kümmern kannst, wenn du volljährig bist, aber bis dahin sind es noch gut drei Jahre. Inzwischen mußt du dich schon mit dem Titel Oberjunker des Hofes abfinden.«
Martin schüttelte mißbilligend den Kopf. »Er wird aus den Junkern eine Straßenbande machen!«
»Nun, zumindest werde ich das Vergnügen haben, Jeromes verdutztes Gesicht zu sehen, wenn deLacy es bekanntgibt.«
Martin unterdrückte sein Lachen. »Ich dachte, es würde euch interessieren, daß Gardan sich wieder erholt, so wie Bruder Micah auch. Dominic ist bereits wieder auf den Beinen.«
»Was ist mit dem Abt? Und mit Bruder Anthony?«
»Der Abt ist irgendwo und tut, was immer Äbte wohl tun müssen, wenn ihre Klöster entweiht wurden. Und Bruder Anthony sucht weiter nach Hinweisen auf Silberdorn. Er läßt dir ausrichten, daß er im Gewölbe siebenundsechzig ist – falls du mit ihm sprechen möchtest, Arutha.«
»Das möchte ich allerdings«, erwiderte der Fürst begierig.
»Vielleicht ist er schon auf etwas gestoßen.«
Bevor er die beiden allein ließ, sagt er noch: »Jimmy, erkläre doch meinem Bruder, weshalb ich dich zum zweitwichtigsten Herzog des Königreichs ernennen soll.«
Arutha machte sich auf den Weg, um den Archivar aufzusuchen.
Martin wandte sich zu Jimmy um, der ihn lächelnd anblickte.
Arutha betrat das riesige Gewölbe, in dem es leicht muffig von den uralten Büchern roch, aber auch nach dem Mittel, mit dem sie gegen den Zerfall geschützt waren. Im flackernden Lampenlicht las Bruder Anthony in einem alten Werk. Ohne aufzublicken sagte er: »Genau wie ich vermutete. Ja, ich wußte, daß es hier sein würde!«
Dann richtete er sich auf. »Diese Kreatur war ähnlich jener, die im Tempel von Tith-Onanka getötet wurde, in den sie vor dreihundert Jahren eindrang. Diesen Quellen zufolge besteht kein Zweifel, daß pantathianische Schlangenpriester sie erschaffen hatten.«
»Was oder wer sind diese Pantathianer, Bruder?« fragte Arutha.
»Ich kenne nur die Geschichte, die man erzählt, um Kindern angst zu machen.«
Der alte Mönch zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, wir wissen selbst nicht viel über sie. Die meisten intelligenten Rassen auf Midkemia können wir zumindest auf gewisse Weise verstehen.
Selbst die Moredhel haben manches mit den Menschen gemein. Ihr wißt, daß sie einem sehr strengen Ehrenkodex frönen, allerdings ist er nach unseren Ehrbegriffen recht merkwürdig. Aber diese Kreaturen…« Er schlug das Buch zu. »Niemand weiß, wo Pantathien liegt. Wir haben Abschriften der Karten, die Macros hinterließ – Kulgan von Stardock schickte sie uns zuvorkommenderweise –, doch selbst darauf ist es nicht eingezeichnet. Sie sind die Erzfeinde der Menschheit, obgleich sie schon des öfteren mit dem einen oder anderen Menschen zusammenarbeiteten. An etwas besteht jedenfalls kein Zweifel, sie sind Geschöpfe des absoluten Bösen. Daß sie diesem Murmandamus dienen, weist, wie nichts anderes es könnte, darauf hin, daß er ein Gegner von allem Guten ist, und außerdem, daß er eine mehr als ernstzunehmende Macht ist.«
»Dann wissen wir jedoch nicht viel mehr als das, was wir bereits durch Lachjack erfuhren«, sagte Arutha.
»Richtig«, bestätigte der Mönch. »Doch unterschätzt nicht den Wert, nun mit Sicherheit zu wissen, daß er die Wahrheit sprach. Zu wissen, was Dinge nicht sind, ist oft genauso wichtig, wie zu wissen, was sie sind.«
»Konntet Ihr trotz all der Aufregung etwas über Silberdorn herausfinden?«
»Ja. Ich wollte euch Bescheid geben, sobald ich diesen Abschnitt gelesen hätte. Ich fürchte, ich kann Euch jedoch nicht viel helfen.«
Bei diesen Worten legte sich eine eiskalte Hand um Aruthas Herz, aber er bedeutete dem alten Mönch fortzufahren. »Der Grund, weshalb mir Silberdorn nicht gleich etwas sagte, ist der, daß der gegebene Name eine Übersetzung des eigentlichen ist, mit dem ich sehr wohl vertraut bin.«
Er öffnete ein anderes Werk, das neben dem ersten lag. »Dies ist das Tagebuch von Geoffrey, Caradaocs Sohn, eines Mönches des Silban-Klosters, westlich von Yabon – das Kloster, in dem Euer Bruder Martin aufwuchs, allerdings einige hundert Jahre später.
Geoffrey war Pflanzenkundiger und verbrachte seine freie Zeit damit, alles, was er über die heimische Pflanzenwelt wußte, niederzuschreiben. Hier fand ich einen Hinweis, der Euch interessieren dürfte. Ich lese es Euch vor: Die Pflanze, die von den Elben Ellebeere genannt wird, ist den Bergmenschen als Funkeldorn bekannt. Wenn richtig angewandt, soll sie Zauberkräfte haben.
Allerdings ist die richtige Weise der Destillierung des Pflanzenauszugs nicht allgemein bekannt, da dazu ein magisches Ritual vonnöten ist, das durchzuführen für normale Sterbliche unmöglich ist. Die Pflanze ist ungemein selten, und nur wenige haben sie heutzutage gesehen. Ich selbst bekam sie nie zu Gesicht, doch jene, die mir von dieser Pflanze berichten, sind zuverlässig, und sie sind sicher, daß es sie gibt.« Er klappte den Buchdeckel zu.
»Ist das alles?« fragte Arutha. »Ich hatte auf ein Gegenmittel gehofft, oder doch zumindest auf einen Hinweis, wie man ein solches finden könnte.«
»Aber es gibt doch einen Hinweis«, meinte der alte Mönch verschmitzt zwinkernd. »Geoffrey, der mehr noch ein Schwätzer als ein Pflanzenkundiger war, gab der Pflanze den Namen ›Ellebeere‹ – ganz offenbar eine ›Übersetzung‹ von aelebera, ein Elbenwort, das soviel wie ›Silberdorn‹ bedeutet. Wenn also irgend jemand sich mit dessen magischen Eigenschaften auskennt und wie dagegen anzukommen ist, dann die Zauberwirker von Elbenheim.«
Arutha schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Ich danke Euch, Bruder Anthony. Ich hatte gehofft, meine Suche erfolgreich hier beenden zu können, doch zumindest habt Ihr mich nicht aller Hoffnung beraubt.«
»Die Hoffnung gibt es immer, Arutha conDoin. Ich nehme an, daß der Abt in all der Aufregung nicht mehr dazu kam, Euch den Hauptgrund für all das hier nennen zu können.« Die Arme weit ausbreitend deutete er auf die Bücher in den Regalen. »Der Grund, weshalb wir all diese Werke sammeln, ist die Hoffnung. Es gibt viele Prophezeiungen und Zeichen, doch eine spricht von dem Ende von allem, was wir kennen. Sie sagt weiterhin, wenn die Mächte der Finsternis alles vernichtet haben, wird nur noch das übrig sein, ›was Sarth war‹. Sollte diese Prophezeiung sich je bewahrheiten, hoffen wir, daß die Saat des Wissens, die wir zusammentrugen, dem Menschen einst von Nutzen sein wird. Dieses Tages wegen sammeln wir alles – und hoffen, daß er nie kommen wird!«
»Ihr ward zu gütig, Bruder Anthony.«
»Man hilft, wo man kann.«
»Noch einmal, danke.« Arutha verließ das Gewölbe und stieg die Treppe hoch. Er ließ sich alles durch den Kopf gehen, was ihn beschäftigte, und überlegte, was zu tun sei, während er dem Hof zustrebte. Laurie hatte sich Jimmy und Martin angeschlossen, ebenso Bruder Dominic, der sich wieder erholt zu haben schien, obgleich er noch sehr bleich war.
Laurie rief dem Fürsten entgegen: »Gardan dürfte morgen wieder auf den Beinen sein.«
»Gut, denn wir werden Sarth im Morgengrauen verlassen.«
»Wie geht es weiter?« erkundigte sich Martin.
»Ich werde Gardan auf das erste Schiff, das von Sarth nach Krondor ausläuft, bringen, und wir reiten weiter.«
»Weiter – wohin?« fragte Laurie.
»Nach Elbenheim.«
Martin lächelte. »Ich freue mich, es wieder einmal besuchen zu können.«
Jimmy dagegen seufzte. Arutha blickte ihn an. »Was hast du denn?«
»Ich dachte gerade an Eure Hofköche und an knochige Pferderücken.«
»Nun, du brauchst dir keine weiteren Gedanken darüber zu machen. Du wirst morgen mit Gardan nach Krondor zurückkehren.«
»Was? Damit mir der ganze Spaß entgeht?«
Kopfschüttelnd wandte Laurie sich an Martin. »Dieses Bürschchen hat einen seltsamen Sinn für Spaß!«
Jimmy wollte aufbegehren, als Dominic fragte: »Hoheit, dürfte ich mit Eurem Hauptmann reisen? Ich möchte nach Krondor.«
»Selbstverständlich, aber was ist mit Euren Pflichten hier?«
»Ein anderer wird mein Amt übernehmen, denn ich werde eine längere Zeit nicht fähig sein, diese Pflichten zu erfüllen, und wir können nicht warten. Es ist keine Schande oder Unehre; es ist einfach erforderlich.«
»Dann bin ich sicher, daß sich Jimmy und Gardan über Eure Begleitung freuen werden.«
»Wartet…«, begann Jimmy. Ohne auf den Jungen zu achten, fragte Arutha den Mönch: »Was führt Euch nach Krondor?«
»Nur die Tatsache, daß es auf meinem Weg nach Stardock liegt. Vater John hält es für wichtig, daß wir Pug und die anderen Magier von dem unterrichten, was wir über die Vorgänge hier wissen. Ihrer sind mächtige Künste, die uns verschlossen sind.«
»Das ist eine sehr nützliche Überlegung. Ich hätte selbst daran denken sollen. Ich gebe Euch noch zusätzliche Kunde für sie mit, wenn Ihr nichts dagegen habt, sie zu übermitteln. Und ich werde Gardan beauftragen, Euch nach Stardock zu begleiten.«
»Das wäre sehr gütig von Euch.«
Jimmy hatte versucht, sich Gehör mit seinem Widerspruch zu verschaffen, denn er wollte nicht nach Krondor zurückkehren. Doch Arutha achtete nicht darauf, sondern wandte sich an Laurie: »Nimm unseren nach der Herzogswürde trachtenden jungen Mann mit in die Stadt hinunter und sucht ein Schiff. Wir werden morgen nachkommen. Besorgt uns auch frische Pferde, und seht euch vor, daß ihr nicht in Schwierigkeiten geratet.«
Arutha ging mit Dominic und Martin zum Spitalgebäude. Jimmy, der mit Laurie zurückblieb, versuchte noch immer, sich Gehör zu verschaffen. »A-aber…«, begann er wieder.
Laurie schlug Jimmy auf die Schulter. »Kommt, Ihr o Gnaden. Wenn wir unsere Aufträge rechtzeitig erledigt haben, werden wir sehen, ob wir nicht noch ein Spielchen in einem Gasthof machen können.«
Ein seltsamer Ausdruck huschte über Jimmys Gesicht.
»Spielchen?« fragte er.
»Na, du weißt schon, Pashawa oder Über-unter-dazwischen. Würfel- oder Brettspiel. Glücksspiel eben.«
»Oh!« entgegnete der Junge. »Das werdet Ihr mich aber erst lehren müssen!«
Als er sich zu den Stallungen umwandte, versetzte Laurie ihm einen Tritt, daß er unwillkürlich ein paar Schritte vorwärts stolperte.
»Es dich lehren, ha! Ich bin ja kein Bauerntölpel frisch vom Land. Damit ist man mir einmal gekommen, aber nie wieder!«
Jimmy lief davon und lachte. »Einen Versuch war es jedenfalls wert!«
Arutha betrat die im Dunkel liegende Kammer. Er blickte auf den Liegenden hinunter. »Ihr habt nach mir geschickt?«
Micah setzte sich auf und lehnte sich mit dem Rücken stützend an die Wand. »Ja, ich habe gehört, daß Ihr aufbrechen wollt. Habt Dank für Euer Kommen.« Er bedeutete Arutha, sich auf das Bett zu setzen.
»Wenn ich mich noch ein bißchen ausruhen kann, werde ich in einer Woche wieder ganz bei Kräften sein.«
Er blickte den Fürsten an. »Arutha, Euer Vater und ich waren als junge Burschen Freunde. Caldric fing damals damit an – was sich seither eingebürgert hat –, Junker an den Hof zu holen. Wir waren vielleicht eine Bande! Brucal von Yabon war unser Oberjunker, und er hat uns ganz schön rangenommen. Schneidige, verwegene Burschen waren wir, Euer Vater, ich und Guy du Bas-Tyra.« Bei der Erwähnung dieses Namens erstarrte Arutha, schwieg jedoch. »Ich denke gern, daß wir damals das Rückgrat des Reichs waren. Nun seid Ihr es. Borric hatte Glück mit Euch und Lyam, und mit Martin ebenfalls. Jetzt diene ich Ishap, aber immer noch liebe ich das Königreich, mein Sohn. Ich wollte Euch nur sagen, daß meine Gebete Euch begleiten.«
»Ich danke Euch, mein Lord Dulanic.«
Micah legte sich auf das Kissen zurück. »Nicht mehr. Nun bin ich lediglich ein einfacher Mönch. Übrigens, wer führt die Regierungsgeschäfte während Eurer Abwesenheit in Krondor?«
»Lyam ist dort und wird bis zu meiner Rückkehr bleiben. Volney ist stellvertretender Kanzler.«
Als Micah bei dieser Antwort lachte, ließ der Schmerz ihn leicht zusammenzucken. »Volney! Bei Ishaps Zähnen. Er muß es hassen!«
»Das tut er auch«, versicherte ihm Arutha mit einem Lächeln.
»Werdet Ihr ihn von Lyam zum Herzog ernennen lassen?«
»Ich weiß es noch nicht. Sosehr er auch widerspricht, ist er doch der fähigste verfügbare Verwalter. Wir haben viele gute junge Leute durch den Spaltkrieg verloren.« Plötzlich trat sein bekanntes schiefes Lächeln auf seine Züge. »Jimmy meinte, ich solle ihn zum Herzog von Krondor machen.«
»Unterschätzt den Jungen nicht, Arutha. Laßt ihn gut ausbilden.
Bürdet ihm Verantwortung auf, bis er schier zusammenbricht, und dann ladet ihm noch mehr auf. Erzieht ihn, und seht danach weiter.
Junge Männer wie er sind selten.«
»Warum all das, Micah? Weshalb Eure Sorge um Dinge, die Ihr hinter Euch gelassen habt?«
»Weil ich immer noch ein eingebildeter alter Mann und Sünder bin, trotz aller Buße. Es interessiert mich nach wie vor, wie es meiner Stadt ergeht, auf die ich stolz bin. Und weil Ihr Eures Vaters Sohn seid.«
Arutha schwieg eine Weile, dann sagte er. »Ihr und Vater standet Euch einst sehr nah, nicht wahr?«
»Ja, sehr. Nur Guy stand Borric noch näher.«
»Guy!« Arutha konnte nicht glauben, daß Vaters schlimmster Feind einst sein Freund gewesen war. »Wie ist das möglich?«
Micah blickte Arutha nachdenklich an. »Ich dachte, Euer Vater hätte es Euch offenbart, bevor er starb.« Er schwieg einen Herzschlag lang. »Andererseits war es etwas, das Borric nicht getan hätte.« Er seufzte. »Wir, die wir Freunde von sowohl Eurem Vater als auch Guy waren, leisteten alle einen Eid. Wir schworen, nie von der Schmach zu sprechen, die diese so enge Freundschaft beendete und Guy veranlaßte, jeden Tag, den Rest seines Lebens, Schwarz zu tragen, was ihm schließlich den Namen ›Schwarzer Guy‹ eintrug.«
Arutha sagte leise: »Vater sprach einmal von dieser eigenartigen Tat persönlichen Mutes, ansonsten verlor er jedoch kein gutes Wort über Guy.«
»Verständlich. Ich werde es ebenfalls nicht, solange Guy mich nicht des Schwures entbindet oder bewiesen ist, daß er nicht mehr lebt. Aber soviel darf ich sagen: Vor dieser Trennung waren Borric und er wie Brüder. Ob bei Mädchen, Prügeleien oder im Krieg, sie waren immer in Hörweite voneinander, um sich gegenseitig zu Hilfe eilen zu können.
Doch genug, Arutha. Ihr müßt sehr früh aufstehen und ausgeruht sein. Da ist die Zeit zu kostbar, sie mit längst Vergangenem zu vergeuden. Ihr müßt alles daransetzen, ein Heilmittel für Anita zu finden…« Die Augen des alten Mannes wurden feucht. Jetzt erst erinnerte sich Arutha, daß er in seiner eigenen düsteren Sorge um Anita vergessen hatte, daß Micah zu Erlands Haushalt gehört und Anita seit ihrer Geburt gekannt hatte. Sie mußte ihm ja wie eine Enkelin sein!
Micah schluckte. »Diese verdammten Rippen. Schon bei kräftigerem Atmen kommen die Tränen, als beiße man in rohe Zwiebeln.« Er seufzte tief. »Ich hielt sie in den Armen, als die Priester von Sung der Weißen sie kaum eine Stunde nach ihrer Geburt segneten.« Seine Augen schienen in weite Ferne zu blicken.
»Rettet sie, Arutha!«
»Ich werde eine Heilung für sie finden!«
Seine Gefühlsaufwallung mühsam unterdrückend, flüsterte Micah: »Dann geht, Arutha. Ishap beschütze Euch!«
Arutha drückte dem alten Mönch fest die Hand, erhob sich und verließ die Kammer. Als er durch den Hauptgang des Klosters schritt, bedeutete ein Mönch ihm stumm, ihm zu folgen und brachte ihn zum Gemach des Abtes, wo Vater John und Bruder Anthony ihn erwarteten.
»Es ist gut, daß Ihr Euch Zeit nahmt, Bruder Micah zu besuchen, Hoheit«, begann der Abt.
Plötzlich erschrak Arutha. »Er wird sich doch wieder erholen, nicht wahr?«
»Wenn es Ishaps Wille ist. Er ist ein alter Mann, und was er erduldet hat, wäre selbst für einen Jungen viel.«
Bruder Anthony ergrimmte diese Vorstellung sichtlich, und fast schnaubte er. Der Abt tat, als bemerke er es nicht. »Wir haben über das Problem nachgedacht, dem es sich zu stellen gilt.« Er schob Arutha eine kleine Schatulle über den Tisch zu. Der Fürst nahm sie in die Hand.
Sie war alt und aus kunstvoll geschnitztem Holz. Als er sie öffnete, sah er in das Samtfutter einen Talisman eingebettet, einen Bronzehammer – ein winziges Gegenstück des Streithammers, den Micah getragen hatte. Durch ein winziges Loch oben am Schaft war eine feine Schnur geschlungen.
»Was ist das?« fragte Arutha.
»Ihr habt Euch sicherlich gefragt, wie Euer Feind wissen konnte, wo Ihr seid. Es wäre möglich, daß ein Helfer, vielleicht der Schlangenpriester, Euch durch einen magischen Spiegel oder dergleichen aufzuspüren vermag. Dieser Talisman ist ein Vermächtnis aus uralter Zeit. Er wurde im – soviel bekannt ist – ältesten Kloster unseres Ordens hergestellt, dem in Leng. Er ist das mächtigste, von Menschenhand geschaffene Schutzmittel in unserem Besitz. Er wird es unmöglich machen, daß man Euch durch Zauber aufspürt. Ihr werdet in einem magischen Spiegel oder einer Kristallkugel nicht mehr zu sehen sein. Gegen irdische Augen haben wir zwar keinen Sichtschutz, doch wenn Ihr vorsichtig seid und Euch für einen anderen ausgebt, müßtet Ihr Elbenheim unerkannt erreichen können. Hängt Euch den Talisman um den Hals und nehmt ihn nie ab, damit Ihr nicht wieder für Zauberei sichtbar werdet. Er wird Euch übrigens auch gegen Angriffe der Art schützen, denen wir vergangene Nacht ausgesetzt waren. Eine durch Magie erschaffene Kreatur kann Euch nichts mehr anhaben. Doch immer noch wird Euer Feind imstande sein, Euch durch jene um Euch zu treffen, denn sie kann der Talisman nicht ebenfalls schützen.«
Arutha schlang das dünne Band mit dem winzigen Bronzehammer um den Hals und bedankte sich.
Der Abt erhob sich. »Ishap beschütze Euch, Hoheit! Und wisset, daß Ihr bei uns in Sarth immer Zuflucht finden könnt.«
Noch mal bedankte Arutha sich und verließ den Abt und Bruder Anthony. Während er zu seiner Schlafkammer zurückkehrte und sein Reisebündel zusammenrollte, dachte er über alles nach, was er erfahren hatte. Was auch immer geschah, er würde nicht ablassen, alles zu tun, um Anita zu retten.